Wilkie Collins - Logo - Klicken, um Navigationsmenü einzublenden
 

Blinde Liebe

Siebenundvierzigstes Kapitel

Der Doktor kam gerade zur rechten Zeit zum Diner und begrüßte den irischen Lord mit kräftigem Händeschütteln in der vortrefflichsten Laune. Er hatte die Taschen voll schlau eingefädelter Projekte, die er aber vorerst wohlweislich für sich behielt.

Er sah sich im Zimmer um und fragte nach Mylady. Lord Harry erwiderte, er sei von einem weiten Ausritt erst vor wenigen Minuten zurückgekommen; Iris werde wohl sogleich erscheinen.

Das Mädchen setzte die Suppe auf den Tisch und überbrachte zugleich die Meldung, dass ihre Herrin heftige Kopfschmerzen habe und deshalb nicht mit den Herren speisen könne.

Aus seinen eigenen ehelichen Erfahrungen wusste Mr. Vimpany natürlich ganz genau, was das zu bedeuten hatte. Er bat um die Erlaubnis, der leidenden Dame des Hauses eine angenehme und tröstliche Nachricht übersenden zu dürfen. Fanny möchte so freundlich sein und ihrer Herrin sagen, er habe, bevor er London verlassen, Erkundigungen über das Befinden Mr. Mountjoys eingezogen. Der Bericht habe durchaus günstig gelautet; es sei nichts von der Krankheit zurückgeblieben als die in solchen Fällen immer ziemlich lang anhaltende Schwäche. Nur aus diesem Grunde sei eine sorgfältige Pflege vorderhand noch notwendig.

»Vergessen Sie nicht, auch meine besten Empfehlungen an Lady Harry auszurichten!« rief er Fanny nach, als diese in mürrischem Stillschweigen das Zimmer verließ.

»Ich habe mich bei Ihrer Frau Gemahlin angenehm eingeführt«, bemerkte der Doktor mit einem Grinsen, das deutlich die eigene Befriedigung über sein Verfahren zu erkennen gab. »Vielleicht wird sie nun morgen mit uns essen. Reichen Sie mir den Sherry herüber!«

Die Erinnerung an das, was sich heute morgen am Frühstückstische zugetragen hatte, schien immer noch außerordentlich verstimmend auf Lord Harrys Geist zu lasten. Er sprach nur sehr wenig, und dieses wenige bezog sich ausschließlich auf das, worüber er seinem ärztlichen Freund schon in aller Ausführlichkeit geschrieben hatte.

Während einer Zwischenpause, in welcher die Bedienung der Tafel die Anwesenheit Fannys in der Küche nötig machte, nahm Mr. Vimpany die Gelegenheit wahr, einige ermunternde Worte zu sagen. Er habe das richtige Heilmittel für eine geistige Verstimmung mitgebracht. Er werde sich jedoch erst zu einer passenderen Zeit erklären. Lord Harry fragte ungeduldig, warum er denn seinen Bericht nicht jetzt gleich erstatten wolle. Wenn die Gegenwart des Mädchens störe, so würde es ja nur eines Wortes bedürfen, um sie aus dem Zimmer zu entfernen.

Der schlaue Doktor wollte jedoch davon durchaus nichts wissen.

Er hatte während seines ersten Besuches Fanny genau beobachtet und hatte die Entdeckung gemacht, dass sie ihm misstraue. Das Mädchen war schlau und argwöhnisch. Seitdem sie sich zu Tische gesetzt hatten, war es leicht ersichtlich, dass sie sich in der Absicht im Zimmer zu schaffen machte, um etwas von dem Gespräch der beiden Herren zu erlauschen unter einem oder dem andern Vorwande. Schickte man sie hinaus, so würde sie ohne Zweifel an der Tür horchen.

»Glauben Sie meinem Wort, Fanny Mere besitzt alle Eigenschaften zu einer Spionin«, schloss der Doktor.

Lord Harry war hartnäckig. Bedrückt von seiner verzweifelten pekuniären Lage, war er entschlossen, sofort zu hören, welche Hilfe Mr. Vimpany für seine Verlegenheiten entdeckt hätte.

»Sie haben doch, wenn ich mich nicht irre«, sagte er, »während Ihrer Studienjahre einige Zeit in Paris zugebracht? Nicht wahr?«

»Gewiss!«

»Nun also! Haben Sie denn Ihr Französisch ganz wieder verlernt?«

Der Doktor wusste sogleich, worauf Lord Harry abzielte, und antwortete, es sei um sein Französisch immerhin noch ganz leidlich bestellt. Eines indessen wünschte er vor allem zu wissen. Waren sie auch vollständig sicher, dass das Kammermädchen der Lady nicht schon so viel Französisch gelernt habe, um ihre Ohren zu gewissen Zwecken zu verwenden? Lord Harry konnte ohne Mühe die Bedenken des Doktors zerstreuen. Das Mädchen verstand so wenig von der Sprache des Landes, in dem sie jetzt lebte, dass sie nicht einmal imstande war, in den Kaufläden die einfachsten und gebräuchlichsten Waren zu verlangen; man musste es ihr jedes Mal französisch auf einen Zettel schreiben, wenn sie eine Besorgung machen sollte.

Das war entscheidend. Als Fanny wieder in das Speisezimmer zurückkam, erwartete sie eine Überraschung. Die beiden Herren hatten sich ihrer Nationalität entäußert und unterhielten sich in der fremden Sprache.

Als eine Stunde später häusliche Angelegenheiten das Mädchen in das Zimmer der Lady Harry führten, bemerkte sie einen traurigen, sorgenvollen Ausdruck in den Gesichtszügen ihrer Herrin.

»Ich glaubte, es wäre nur ein Vorwand«, sagte sie, »als Sie mir vor dem Essen den Auftrag an die beiden Herren erteilten. Sind Sie wirklich krank, Mylady?«

»Ich bin etwas angegriffen und verstimmt«, erwiderte Iris.

Fanny machte den Tee zurecht.

»Das kann ich begreifen«, sagte sie vor sich hin, als sie sich anschickte, das Zimmer wieder zu verlassen. »Bin ich doch selber verstimmt.«

Iris rief sie zurück und sagte:

»Ich habe die Worte gehört, die Sie soeben ausgesprochen haben, Fanny, dass Sie selbst verstimmt wären. Wenn Sie einfach nur von Ihren Sorgen gesprochen hätten, so würde ich Sie bedauert, aber sonst nichts weiter hinzugefügt haben. Wenn Sie aber wissen, welches meine Sorgen sind und wenn Sie sie teilen -«

»Was davon auf mich kommt, das ist der schlimmere, härtere Teil«, brach Fanny plötzlich los. »Es geht mir gegen das Gefühl, Mylady, Sie zu betrüben. Aber da der Anfang bereits gemacht ist, sollen Sie auch alles erfahren. Der Doktor hat mich schon beleidigt.«

»Schon beleidigt?« wiederholte Iris. »Erklären Sie mir deutlicher, wie ich das verstehen soll!«

»Sie sollen es mit einer Deutlichkeit erfahren, die nichts zu wünschen übrig lässt. Mr. Vimpany hat etwas - natürlich etwas Unrechtes und Schlechtes - meinem Herrn mitzuteilen, aber er wollte es nicht hier im Hause aussprechen.«

»Warum nicht?«

»Weil er argwöhnt, dass ich an der Tür horche und durch das Schlüsselloch sehe. Ich weiß nicht, ob er Sie auch im Verdacht hat, Mylady. ,Wenn ich etwas in meinem Leben gelernt habe', sagte er zum gnädigen Herrn, ,so ist es die Weisheitsregel, sehr vorsichtig bei allem zu sein, was man innerhalb von vier Wänden laut werden lässt, sobald Frauen im Hause sind. Was beabsichtigen Sie morgen zu tun?' fragte er dann. Mylord sagte, er habe einer Versammlung im Zeitungsbureau anzuwohnen. ,Ich werde mit Ihnen nach Paris fahren', sagte der Doktor. ,Das Zeitungsbureau ist nicht weit von dem Luxembourg-Garten entfernt. Dort werden Sie mich, sobald Sie mit Ihrem Geschäfte fertig sind, am Eingang finden. Was ich Ihnen zu sagen habe, sollen Sie dort hören.' Der gnädige Herr schien ärgerlich über diese Verzögerung zu sein. ,Was haben Sie mir denn eigentlich mitzuteilen?' fragte er. ,Ist es vielleicht wieder etwas Derartiges wie der Vorschlag, den Sie mir bei Ihrem letzten Besuche machten?' Der Doktor lachte. ,Bis morgen ist es nicht mehr lange hin.' sagte er. ,Geduld, Mylord, Geduld!' Es war nicht möglich, ihn zu einer weiteren Mitteilung zu bringen.«

»Aber woher«, fragte Iris im höchsten Erstaunen, »wollen Sie denn das alles so genau Wort für Wort wissen? Die beiden Herren können doch unmöglich ihre Privatangelegenheiten besprochen haben, während Sie bei Tische bedienten?«

Es trat eine Pause ein. Furcht und Scham stiegen verstohlen auf dem farblosen Gesicht des Mädchens auf.

»Es ist hart«, sagte Fanny endlich, »etwas zu bekennen, was mich in Ihrer guten Meinung herabsetzen wird, aber ich muss es tun. Ich habe Sie getäuscht, Mylady, und schäme mich dessen. Ich habe den Doktor getäuscht und rühme mich dessen. Mein Herr und Mr. Vimpany glaubten sicher zu sein, wenn sie französisch sprächen, während ich sie bediente. Ich verstehe französisch ebenso gut wie die beiden Herren.«

Iris wollte kaum ihren Ohren trauen.

»Warum aber in aller Welt haben Sie dann die Rolle einer Unwissenden, Ungebildeten gespielt?«

»Ich dachte«, erwiderte das Mädchen mit gesenktem Blick, »an einen Rat, der mir einst erteilt wurde.«

»Von einem Freunde?«

»Von einem Mann, Mylady, der der schlimmste Feind war, den ich jemals gehabt habe.«

Ihre einsichtsvolle Herrin wusste, wen sie meinte, und wünschte sie zu schonen. Fanny fühlte jedoch, dass sie ihrer Wohltäterin eine Erklärung schuldig sei. So berichtete sie denn eingehender über den, von dem sie soeben gesprochen. Er war ein Franzose, ihr Musiklehrer während der kurzen Zeit ihres Schulbesuches. Er hatte ihr die Heirat versprochen, und sie hatte sich überreden lassen, mit ihm zu entfliehen. Das wenige Geld, von dem sie lebten, verdiente sie mit der Nadel und er als Klavierspieler in einer Singspielhalle. So lange sie noch fähig war, ihn zu fesseln, und so lange sie noch auf die Einlösung seines Versprechens hoffte, machte er sich ein Vergnügen daraus, sie in seiner Muttersprache zu unterrichten. Als er sie verließ, enthielt der Abschiedsbrief unter anderem auch den besprochenen Rat.

»In Deiner Lebenslage«, hatte der Mann geschrieben, »ist die Kenntnis des Französischen noch ein seltener Vorzug. Mache aber daraus ein Geheimnis gegen jedermann. Vornehme Engländer haben die Gewohnheit, französisch miteinander zu sprechen, wenn sie nicht von ihren Untergebenen verstanden sein wollen. In Deinem zukünftigen Leben kannst Du auf die Weise hinter Geheimnisse kommen, die Dir bei geschickter Mischung der Karten ein Vermögen verschaffen können. Jedenfalls ist dies der einzige Besitz, den ich Dir zurücklassen kann.«

Das war das Abschiedsgeschenk des Schurken an die Frau gewesen, die er betrogen hatte.

Sie hatte ihn zu bitter gehasst, um seinen Rat zu befolgen. Sie erachtete es im Gegenteil für besser und für ihren Zweck dienlicher, gleich zu erwähnen, dass sie französisch lesen, schreiben und sprechen könne, als ihr eine mildherzige, gütige Freundin, die jetzt nicht mehr in England lebte, die erste Stelle als Kammermädchen verschaffte. Der Erfolg erwies sich nicht nur als eine herbe Enttäuschung, sondern er diente ihr auch als Warnung für spätere Zeiten. Etwas so Außergewöhnliches wie die Kenntnis einer fremden Sprache bei einer Engländerin in so untergeordneter Lebensstellung schien ihrer Herrin äußerst verdächtig. Namentlich aber gestaltete sich ihr Zusammenleben mit den anderen Dienstboten, die ihr die überlegenen Sprachkenntnisse nicht verzeihen konnten, unerträglich, und sie verließ ihre Stellung.

Von dieser Zeit an hatte sie die Verheimlichung ihrer Kenntnis der französischen Sprache als eine Notwendigkeit betrachtet. Sie würde unzweifelhaft dies alles schon früher ihrer jetzigen Gebieterin anvertraut haben, wenn sich gerade die Gelegenheit dazu geboten hätte. Aber Iris hatte sie niemals zu Mitteilungen über den dunkelsten Punkt in ihrem Leben ermutigt. Als ihre Herrin dann heiratete, misstraute Fanny dem Lord und seinem intimen Freunde, - waren sie nicht beide Männer? - dachte an den Rat, den ihr der abgefeimte Franzose gegeben, und beschloss, eine Probe damit zu machen, nicht aus dem niedrigen Motiv, das er angeführt hatte, sondern in dem Vorgefühl, dass ihr dies einmal dazu dienlich sein werde, Vimpany zu entlarven und dadurch ihrer Wohltäterin einen Dienst zu erweisen.

»Vielleicht, Mylady«, wagte Fanny hinzuzusetzen, »kann es noch zu Ihrem eigenen Besten dienen, wenn Sie zu niemand etwas davon sagen, dass Sie ein Kammermädchen haben, das französisch gelernt hat.«

Iris maß sie mit einem ernsten und kalten Blick.

»Muss ich Sie daran erinnern«, sagte sie, »dass Sie mir zu dienen vorgeben, indem Sie meinen Gatten hinters Licht führen?«

»Der gnädige Herr wird mich auf der Stelle fortschicken«, entgegnete Fanny, »wenn Sie ihm sagen, was ich Ihnen anvertraut habe.«

Das war unwiderleglich richtig. Iris zögerte. In ihrer gegenwärtigen Lage war das Mädchen die einzige Freundin, auf die sie sich verlassen konnte. Vor ihrer Verheiratung würde sie unter allen Umständen davor zurückgeschreckt sein, derartige Dienste sich zunutze zu machen, wie sie die rückhaltlose Dankbarkeit Fannys ihr jetzt anbot. Aber die moralisch verdorbene Umgebung, in der sie jetzt lebte, konnte auf ihr eigenes Tun unmöglich ohne Einfluss bleiben. Die Herrin ließ sich herab, mit ihrer Dienerin ein Bündnis zu schließen.

»Sei es denn!« sagte sie; »täuschen Sie den Doktor, und ich will mir immer ins Gedächtnis zurückrufen, dass es zu meinem Heile geschieht. Respektieren Sie jedoch Ihren Herrn, wenn Sie wollen, dass ich Ihr Geheimnis bewahren soll. Ich verbiete Ihnen, auf das zu horchen, was Mylord sagt, wenn er morgen mit Mr. Vimpany sprechen wird.«

»Ich werde ohnehin keine Gelegenheit haben, Mylady«, erwiderte Fanny, »das zu erlauschen, was außerhalb des Hauses verhandelt wird. Ich kann aber jedenfalls den Doktor beobachten. Wir können nicht wissen, was er zu tun vorhat, während der gnädige Herr sich in der Sitzung befindet. Ich werde den Versuch machen, ob es mir gelingt, dem Schurken durch die Straßen nachzufolgen, ohne dass er mich bemerkt. Bitte, schicken Sie mich daher morgen mit irgendeinem Auftrage nach Paris!«

»Sie setzen sich aber da einer schweren Gefahr aus«, erinnerte Iris sie, »wenn Mr. Vimpany Sie entdeckt!«

»Ich werde schon meine Vorkehrungen dagegen treffen«, lautete die vertrauensvolle Antwort.

Iris willigte ein.


Vorheriges Kapitel
Nächstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte