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Das versteckte Geld

I

Parson Tibbald, ein Friedensrichter, der nur einen Tagesritt von der alten Stadt York entfernt wohnte, überraschte seine Familienmitglieder eines Morgens damit, dass er sich beim Frühstück ohne Appetit zeigte. Auf die Frage seiner Frau, ob ihm das Essen nicht schmecke, antwortete er:

»Meine tägliche Arbeit ist nicht mehr nach meinem Geschmack. Zum ersten Mal, seit ich einer der Friedensrichter Ihrer Majestät bin, kommt eine Mordanklage vor mich und der Angeklagte ist einer unserer Nachbarn.«

Die Person in dieser armseligen Notlage war Thomas Harris, ein Gastwirt, der des Mordes an James Gray, einem Reisenden, der in seinem Haus übernachtet hatte, angeklagt war.

Die Zeugen gegen ihn waren seine eigenen Angestellten: Elias Morgan, abwechselnd als Kellner, Stallknecht und Gärtner angestellt, und Maria Mackling, das Zimmermädchen.

Als Zeuge gegen seinen Herrn hatte Morgan erklärt, dass er Thomas Harris auf des Reisenden Bett gesehen habe, als er diesen erwürgte. Aus Angst davor, was geschehen könne, wenn er in dem Zimmer bliebe, täuschte Morgan vor, hinabzugehen. Als er heimlich zurückkehrte, lugte er durch das Schlüsselloch einer Tür eines daneben angrenzenden Schlafgemachs hindurch und sah den Hauswirt die Taschen von James Gray durchwühlen.

Harris antwortete darauf, dass alle Nachbarn ihn als einen ehrlichen Mann kannten. Er hatte Gray in einem Anfall vorgefunden und hatte sich erfolglos darum bemüht, dessen Sinne wieder herzustellen. Der Arzt, der die Leiche untersucht hatte, unterstützte diese Behauptung, indem er erklärte, er habe keine Anzeichen von Gewalteinwirkung gefunden. Der Meinung des Friedensrichters nach war der Fall gegen Harris nun gescheitert und der Gefangene wäre rehabilitiert worden, wenn nicht das Zimmermädchen als Zeuge aufgerufen worden wäre.

Maria Mackling machte folgende Aussage:

»An dem Morgen, an dem mein Kollege Mr. Harris beobachtete, wie er James Gray erdrosselte, war ich hinten im Waschhaus, welches auf den Garten zeigt. Ich sah meinen Herrn im Garten und überlegte, was er dort zu so früher Stunde wollte. Ich schaute ihm nach.

Er war einige Yards von dem Fenster weg, als ich ihn eine Handvoll Goldstücke aus seiner Tasche nehmen sah und er sie in etwas einwickelte, was aussah wie ein Stück Leinwand. Danach ging er weiter zu einem Baum in einer Ecke des Gartens, grub ein Loch unter dem Baum und versteckte in diesem das Geld. Schicken Sie den Constable mit mir zum Garten und sehen wir, ob ich nicht die Wahrheit sage.«

Der gute Parson Tibbald aber wartete erst eine Weile, um seinem Nachbarn die Möglichkeit zu geben, dem Zimmermädchen zu antworten.

Thomas Harris erschreckte alle, indem er blass wurde und es ihm misslang, sich intelligent gegen die ernste Aussage des Mädchens zu verteidigen. Folglich wurde der Constable mit Maria Mackling in den Garten geschickt – und dort unter dem Baum wurden die Goldstücke gefunden.

Der Friedensrichter hatte jetzt nur noch eine Möglichkeit. Er erklärte dem Untersuchungsgefangenen den Prozess zur nächsten Geschworenenversammlung.

II

Nachdem die Zeugen ihre Aussagen vor dem Richter und der Jury wiederholten, wurde Thomas Harris gefragt, ob er etwas zu seiner Verteidigung zu sagen habe.

In diesen Tagen erlaubte das gnadenlose Gesetz den Gefangenen nicht den Beistand eines Anwalts. Harris war auf sich allein gestellt. Während seiner Gefangenschaft hatte er die Zeit gefunden, seinen Geist zu ordnen und im Voraus zu überlegen, wie er seinen eigenen Fall angemessen darlegen könnte. Nach einer feierlichen Beteuerung seiner Unschuld schritt er mit folgenden Worten voran:

»Bei meiner Untersuchung vor dem Friedensrichter überraschte mich die Aussage meines Zimmermädchens. Ich schämte mich, zuzugeben, was ich nun entschlossen bin, zu gestehen. Hohes Gericht, ich bin von Natur aus ein habgieriger Mensch, vom Geld besessen, habe Angst vor Dieben und ich verdächtige Leute um mich herum, die wissen, dass ich wohlhabend bin. Ich gebe zu, dass ich tat, was andere geizige Menschen vor mir getan haben: Ich versteckte das Gold, wie das Mädchen sagte. Aber ich vergrub es heimlich zu meiner eigenen Sicherheit. Jeder Farthing des Geldes ist mein Eigentum und wurde ehrlich verdient.«

So lautete im Wesentlichen seine Verteidigung. Nach dieser Aussage fasste der Richter den Fall zusammen.

Seine Lordschaft ging besonders auf die Umstände des Versteckens des Geldes ein, führte die Schwäche der Gründe an, die der Gefangene für sein Verhalten angegeben hatte, und überließ es der Jury zu entscheiden, was sie glauben wollten – die Aussage, die bei der Zeugenvernehmung von den Zeugen gegeben worden war, oder die Aussage von Harris. Die Jury schien eine Beratung in diesem Fall für reine Zeitverschwendung zu halten. In zwei Minuten befanden sie den Gefangenen schuldig des Mordes an James Gray.

Wenn ein Mann gerichtlich trotz zweifelhafter Aussagen nach nur zwei Minuten Beratung zum Tode verurteilt werden würde, würden unser Parlament und die Presse sein Leben retten. In den schlimmen alten Zeiten aber wurde Thomas Harris gehängt. Er begegnete seinem Schicksal mit Festigkeit und beteuerte mit seinem letzten Atemzug seine Unschuld.

III

Fünf oder sechs Monate nach der Hinrichtung kehrte ein Engländer, der im Auslandseinsatz gewesen war, in seine Heimat zurück.

Zwölf Jahre lang war er weg gewesen und schickte sich nun an, seine Familienmitglieder aufzusuchen, die noch im Land der Lebenden weilen könnten. Dieser Mann war Antony Gray, ein jüngerer Bruder des verstorbenen James.

Er schaffte es, die Schwester seiner Mutter und ihren Mann zu finden, zwei kinderlose alte Leute mit schwacher Gesundheit.

Von dem Mann, der zwar bei dem Prozess anwesend gewesen war, der aber nicht als Zeuge berücksichtigt worden war, hörte Antony die schreckliche Geschichte, wie sie eben erzählt wurde. Die Aussage des Doktors und die Verteidigung von Thomas Harris machten einen starken Eindruck auf ihn. Er stellte eine Frage, die beim Prozess hätte gestellt werden sollen.

»War mein Bruder James reich genug, dass er eine Handvoll Goldstücke mit sich schleppte, als er im Gasthaus übernachtete?«

Über James und seine Angelegenheiten wusste der alte Mann wenig bis gar nichts. Die gute Frau, die besser unterrichtet war, antwortete: »Er hatte meines Wissens nie mehr als ein letztes Pfund zu jeder Zeit seines Lebens in der Tasche.«

Antony, der sich an die Erläuterung des Richters von seines Bruders Tod erinnerte, fragte als nächstes, ob seine Tante je gehört hatte, dass James jemals einen Anfall gehabt habe. Sie äußerte den Verdacht, dass James in dieser Hinsicht gelitten habe.

»Seine Mutter und er«, erklärte sie, »hielten diese Krankheit meines Neffen (wenn er sie hatte) geheim. Als sie beide bei uns einmal zu Besuch waren, wurde er wie tot auf der Straße liegend gefunden. Seine Mutter und er sagten, es war ein Unfall, der durch einen Sturz herbeigeführt wurde. Alles, was ich dir sagen kann, ist, dass der Doktor, der ihn wieder zu seinem Bewusstsein brachte, es einen Anfall nannte.«

Nachdem er kurz überlegt hatte, wünschte Antony noch eine weitere Frage zu stellen.

Er fragte nach dem Namen des Dorfes, in dem das Gasthaus, das einst von Thomas Harris geführt wurde, lag. Nachdem er diese Information erhalten hatte, stand er auf, um Lebwohl zu sagen. Sein Onkel und seine Tante wollten wissen, warum er sie so plötzlich verließ.

Auf dies gab er eine ziemlich merkwürdige Antwort: »Ich würde gerne Bekanntschaft mit zwei der Zeugen beim Prozess machen, und ich will versuchen, ob ich im Dorf etwas über sie erfahren kann.«

IV

Der Diener und die Dienerin, die bei Thomas Harris angestellt waren, waren anständige Leute und ihnen wurde erlaubt, ihre Stellungen bei der Person zu behalten, die der Nachfolger des Gasthauses wurde. Unter dem neuen Besitzer hatte das Geschäft abgenommen. Der Ort wurde mit einem Mord verbunden, und Vorurteile dagegen lebten in den Gedanken der Reisenden weiter. Die Betten waren alle leer, als eines Abends ein Fremder ankam, der sich als ein Angler ausgab und seine Fähigkeiten in dem Forellenbach, der nahe des Dorfes vorbeirann, unter Beweis stellen wollte.

Er war ein gut aussehender Mann, noch jung, mit anständigen Manieren, und mit einer aufrechten Haltung, welche den Gastwirt vermuten ließ, dass er einmal in der Armee gedient hatte. Jeder im Dorf mochte ihn; großzügig gab er sein Geld aus und er war besonders nett und entgegenkommend zu den Dienern.

Elias Morgan begleitete ihn regelmäßig auf seinen Fischerausflügen. Maria Mackling schaute nach seinem Bettzeug mit außerordentlicher Sorgfalt; sie verstand es, ihn beständig an der Treppe zu treffen und liebte die Komplimente, die der gut aussehende Gentleman ihr bei diesen Gelegenheiten machte.

In dem Austausch von Vertrauen, das folgte, erzählte er Maria, dass er ledig war und darauf setzte sie ihn darüber in Kenntnis, dass das Zimmermädchen und der Kellner heiraten wollten. Sie warteten nur, um eine bessere Arbeitsstelle zu finden und Geld genug zu verdienen, um ein eigenes Geschäft anzufangen.

In der dritten Woche, als der Fremde im Gasthaus wohnte, verschlechterte sich die Beziehung zu einem der beiden Diener. Der Fremde hatte die Eifersucht von Elias Morgan erregt.

Dieser schickte sich an, Maria zu beobachten und machte Entdeckungen, die ihn so in Rage brachten, dass er seiner Verlobten nicht nur mit Gewalt begegnete, sondern auch vergaß, Respekt gegenüber dem Gast seines Herrn zu wahren. Der freundliche Gentleman, der solch herablassende Freundlichkeit gegenüber seinen Untergebenen gezeigt hatte, offenbarte nun ein widerspenstiges Temperament.

Er schlug den Kellner nieder. Elias stand mit einem bösen Schimmer in seinen Augen wieder auf. Er sagte:

»Der Mann, der einst dieses Haus besaß, schlug mich nieder, und er lebte, Sir, um es zu büßen.«

Sich durch diese drohenden Worte verratend, verließ Elias das Zimmer.

Nachdem er auf diese Weise erfahren hatte, dass seine Verdächtigung des einen Zeugen gegen den unglücklichen Harris wohlbegründet war, stellte Antony Gray seine nächste Falle, um die Frau zu ertappen und erreichte ein Ergebnis, das er nicht in Erwägung zu ziehen gewagt hatte.

Er hatte für eine private Unterredung mit Maria Mackling gesorgt und stellte sich nun als reuiger Sünder dar. »Ich habe Angst«, sagte er, »dass ich Sie unschuldig erniedrigt habe in der Wertschätzung ihres eifersüchtigen Lieblings, ich werde mir nie selbst vergeben können, wenn ich so unglücklich gewesen bin, ihrer Heirat ein Hindernis in den Weg gelegt zu haben.«

Maria belohnte den hübschen, alleinstehenden Gentleman mit einem Blick, der eine bescheidene Sorge, eine Position in seiner Wertschätzung zu erhalten, ausdrückte.

»Ich muss Ihnen vergeben, wenn Sie sich nicht selbst vergeben können«, antwortete sie weich. »In der Tat bin ich Ihnen Dank schuldig.

Sie haben mich vor einer Verbindung mit einem Unmenschen bewahrt. Und außerdem«, fügte sie hinzu, ihre Ruhe verlierend, »eines undankbaren Unmenschen. Von mir aus könnte Elias Morgan ins Gefängnis gesperrt werden und er hätte es redlich verdient.«

Antony tat sein bestes, um sie zu überzeugen, dies weiter auszuführen. Aber Maria war auf der Hut und verschob glaubhaft die Erklärung auf eine zukünftige Gelegenheit. Nichtsdestoweniger hatte sie bereits genug gesagt, um es zu ernsten Folgen kommen zu lassen.

Der eifersüchtige Kellner, immer noch ein selbsternannter Spion auf Marias Bewegungen, hatte in seinem Versteck alles gehört, was in der Unterredung vorgefallen war. Teils aus Rache, teils aus eigenem Interesse, entschied er sich, jedem Geständnis des Zimmermädchens vorzugreifen. Noch am selben Tag stellte er sich Parson Tibbald als reuiger Verbrecher und verzichtete darauf, die Gerichte zu bemühen, indem er eine Kronzeugenaussage machte.

V

Die schändliche Verschwörung, der Thomas Harris zum Opfer gefallen war, war nur aus dessen eigenen knauserigen Angewohnheiten geboren worden.

Aus reinem Zufall hatte die Dienerin ihn gesehen, wie er das Geld unter dem Baum vergrub und hatte den Diener von ihrer Entdeckung informiert.

Er hatte das Versteck untersucht, mit der Absicht, zu rauben, was seinem Liebling und ihm nutzen könnte, und fand die versteckte Summe zu wenig des Risikos wert, des Diebstahls angeklagt zu werden. Während sie auf ihre Zeit warteten, überwachten er und seine Komplizin die Einzahlungen, die in das Versteck ihres Herrn gemacht wurden. Am Tag, als James Gray im Gasthaus übernachtete, fanden sie, dass es genug Gold sei, um es zu stehlen.

Wie sie den Diebstahl ohne Risiko der Entdeckung verwirklichen sollten, war eine Schwierigkeit, die sich ganz von selbst löste.

In dieser Not erdachte Elias Morgan den teuflischen Plan, Harris des Mordes an dem Reisenden anzuklagen, der in einem Anfall gestorben war.

Das Misslingen der Falschaussage und die Aussicht auf Freilassung des Gefangenen erschreckten Maria Mackling.

Elias hatte sich in eine Situation gebracht, welche ihm die Anklage auf Meineid androhte. Die Frau wollte als Zeugin verhört werden, und nahm absichtlich den Tod ihres Herrn am Schafott hin, um die Sicherheit ihres Spießgesellen zu wahren.

Die beiden Schurken wurden zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Es ist nicht oft so, dass die poetische Gerechtigkeit, welche aus dem gedanklichen Gerichtssaal des Mitgefühls, das unsere Sympathien für die Darsteller vergibt, entsteht, Verbrechen straft. Aber in diesem Fall holte die Vergeltung die grausame Schuld tatsächlich ein. Elias Morgan und Maria Mackling starben beide im Gefängnis an der Krankheit, die heute als Gefängnisfieber bekannt ist.


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