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Zwei Schicksalswege

Elftes Kapitel

Der Empfehlungsbrief

Ich betrachtete das Haus. Es war ein kleines Gasthaus von anständigem Aussehn. Endlich war es nun aber Zeit, das Gespräch über die Träume abzubrechen, wenn ich ihr noch in dieser Nacht von Nutzen sein wollte.

»Nach Allem, was Sie mir gesagt haben, will ich nicht weiter in Sie dringen, mir Ihr Vertrauen zu schenken, bis wir uns wiedersehn; nur das Eine sagen Sie mir, wie ich Sie von Ihren drückendsten Sorgen zu befreien vermag. Kann ich irgend etwas tun, um Ihre Pläne, welche sie auch sein mögen, zu fördern, bevor sie heut zur Ruhe gehn?«

Sie dankte mir herzlich, zögerte dann aber und sah verlegen die Straße auf und ab.

»Beabsichtigen Sie in Edinburgh zu bleiben?« fragte ich.

»O nein! Ich möchte nicht in Schottland bleiben, sondern viel weiter fortgehn, vielleicht nach London. Dort könnte ich ein besseres Unterkommen bei einer geachteten Modistin finden, wenn ich nur irgend eine Empfehlung hätte. Ich bin recht gewandt mit der Nadel, verstehe auch das Zuschneiden, selbst die Bücher könnte ich führen, wenn man mir das anvertrauen wollte.«

Die arme Seele hielt inne und blickte mich zweifelnd an, als wäre sie nicht einmal sicher mein Vertrauen zu gewinnen und das bewog mich mit der unüberlegten Raschheit eines Verliebten zu handeln.

»Ich kann Ihnen, wann Sie es wünschen die nötigen Empfehlungen geben,« sagte ich. »Auf der Stelle, wenn Sie es wollen.«

Ihre reizenden Züge wurden hell und freudig. »Ja, Sie sind mir wirklich ein Freund!« sagte sie herzlich, aber schon verdüsterte sich ihr Gesicht wiederum - sie sah meinen Vorschlag in einem andren Lichte. »Aber welches Recht habe ich denn,« fragte sie traurig, »Ihr Anerbieten anzunehmen.«

»Ich werde Ihnen den Brief gehen,« antwortete ich, »und es steht dann bei Ihnen ihn zu benutzen oder nicht.«

Ich zog ihren Arm wieder in den meinen und so betraten wir das Gasthaus.

Sie weigerte sich ängstlich. Was würde die Wirtin denken, wenn ihre Mieterin nachts mit einem fremden Herrn nach Hause käme. Aber die Wirtin stand schon vor uns. Unbekümmert um das was ich sagte oder tat, führte ich mich als einen Verwandten ein und erbat mir ein ruhiges Zimmer, um einen Brief schreiben zu können. Ein prüfender Blick schien die Wirtin davon überzeugt zu haben, dass sie es wirklich mit einem anständigen Herrn zu tun habe und so führte sie mich in eine Art von Wohnzimmer, das hinter der Schänkstube lag, setzte Schreibutensilien vor mich hin und verließ uns, indem sie meine Begleiterin mit einem Blicke maß, den eben nur eine Frau der andern zuwerfen kann.

Zum ersten Male war ich allein mit ihr in einem Zimmer. Das Bewusstsein ihrer peinlichen Lage hatte ihre Farbe erhöht, und ihren Augen stärkeren Glanz verliehen. So stand sie, die Hand auf den Tisch gestützt, verwirrt und unentschlossen da, während ich in dem Anblick ihrer schlanken, biegsamen Gestalt, die in ungesuchter Anmut vor mir stand, wahrhaft schwelgte. Ich schwieg, aber meine Augen sprachen ihr von meiner Bewunderung, die Schreibutensilien blieben unberührt stehen. Sie brach plötzlich das Schweigen, das eine Zeit lang gedauert haben mochte, weil in unsrer Lage ihr Instinkt sie wohl vor den Gefahren dieses Schweigens warnen mochte. Mit einiger Anstrengung wendete sie sich zu mir und sagte erregt: »Aber Sie brauchen den Brief doch nicht bei Nacht zu schreiben, mein Herr!«

»Warum nicht?«

»Weil Sie mich nicht kennen und sicher nicht eine Person empfehlen werden, die Ihnen ganz fremd ist und schlimmer als fremd. Ich bin in Ihren Augen nichts als eine elende Sünderin, die ein großes Verbrechen begehen wollte, indem sie versuchte sich das Leben zu nehmen. Wenn Sie wüssten, in welchem Elend ich mich damals befand, so würden Sie darin vielleicht eine Entschuldigung für mich finden und Sie sollen es erfahren. Für heute Abend ist es aber zu spät, da ich obenein sehr angegriffen bin und Ihnen Dinge zu sagen habe, mein Herr, die einem Mann gegenüber, für eine Frau schwer auszusprechen sind.«

Sie sagte nichts weiter und ließ den Kopf auf die Brust sinken, ihre Lippen bebten. Das Mittel sie zu beruhigen und zu trösten, war mir in die Hand gelegt, wenn ich mich seiner bedienen wollte und ohne Zögern ergriff ich es.

Sie hatte mir vor wenigen Stunden selbst angeboten mir zu schreiben, daran erinnerte ich sie jetzt und schlug ihr vor, mir, wenn sie sich dazu aufgelegt fühlen würde, die Geschichte ihrer Leiden in Form eines Briefes zu senden. »Inzwischen vertraue ich Ihnen vollständig und erbitte es mir als eine Gunst, dass ich Ihnen einen Beweis dafür geben darf. Noch ehe ich Sie heute Abend verlasse will ich Sie einer Modistin in London empfehlen, die an der Spitze eines großen Geschäftes steht.«

Bei diesen Worten tauchte ich meine Feder in das Tintenfass und gestehe ehrlich wie weit mich meine Verzauberung führte. Die Modistin von der ich sprach, war eine frühere Kammerjungfer meiner Mutter, die Mr. Germaine, mein Stiefvater mit einer Summe, die er ihr lieh, etabliert hatte. Ich benutzte ohne Bedenken die Namen meiner Eltern und schrieb meine Empfehlung in Ausdrücken, die zu verdienen die beste aller lebenden Frauen und die geschickteste aller vorhandenen Modistinnen, nicht erhoffen konnte. Wird man mich entschuldigen? Die wenigen Menschen, die es nicht ganz vergessen haben, dass sie auch einmal liebten, werden eine Entschuldigung für mich finden; was kommt auch darauf an, dass ich sie im Grunde nicht verdiene.

Ich gab ihr den offenen Brief zu lesen.

Ihr Erröten war reizend - ein dankbarer Blick war mein Lohn und für so manchen Augenblick in späterer Zeit eine süße Erinnerung. Zu meinem Erstaunen änderte dieses immer veränderliche Wesen wiederum sein Benehmen in einem Augenblick. Irgend ein neues Bedenken musste ihr aufgestiegen sein, denn sie erblasste, der sanfte Zug der Freude erstarrte allmälig auf ihrem Gesicht und sie sah mich mit einem unendlich traurigen Blick voll Verwirrung und Verzweiflung an. Indem sie den Brief vor mir auf den Tisch hinlegte, sagte sie schüchtern:

»Macht es Ihnen Mühe noch eine Nachschrift hinzuzufügen, mein Herr?«

Ich unterdrückte jeden Ausruf des Erstaunens so gut ich konnte und nahm die Feder zur Hand.

»Fügen Sie gütigst hinzu,« fuhr sie fort, »dass ich zuerst nur versuchsweise angestellt sein möchte. Ich wünsche nicht auf länger als -« ihre Stimme wurde leiser und leiser, so dass ich die letzten Worte kaum verstehen konnte - »als auf drei Monate gefesselt zu sein.«

Einige Wissbegierde über den Grund, weshalb sie meinem Empfehlungsbriefe diese eigentümliche Nachschrift zuzufügen wünschte, hätte wohl jeder empfunden, wenigstens jeder, der sich in meiner Lage befand.

»Haben Sie denn irgend eine andere Beschäftigung in Aussicht?« fragte ich.

»Nein,« antwortete sie, mit gesenktem Kopf, meinem Blicke ausweichend. Die niedrige Eifersucht erweckte in mir für einen Augenblick unwürdige Zweifel an ihr.

»Haben Sie einen entfernten Freund,« fuhr ich fort, »der Ihnen, wenn er Zeit gewinnt, bessere Dienste leisten kann, als ich?«

Sie erhob ihren edlen Kopf und ihre großen, schuldlosen, grauen Augen hefteten sich mit einem Blicke ruhigen Vorwurfs auf mich.

»Ich habe außer Ihnen keinen Freund in der Welt,« sprach sie, »aber um Gottes willen fragen Sie mich heute Abend nichts mehr.«

Ich erhob mich und gab ihr den Brief zurück, dem ich die Nachschrift in ihren eigenen Worten hinzugefügt hatte.

Wir standen beide an dem Tische und sahen einander einen Augenblick schweigend an.

»Wie soll ich Ihnen danken,« flüsterte sie weich, »o, mein Herr, ich will mich wahrlich des Vertrauen wert machen, das Sie in mich setzen!« Ihre Augen wurden feucht, die Farben wechselten lebhaft und das Gewand bewegte sich leicht über ihrem schön geformten Busen. In diesem Augenblick hätte ihr wohl kein Mensch von Fleisch und Blut widerstanden, wenigstens verlor ich jede Kraft mich zu beherrschen, ich schloss sie in meine Arme und flüsterte: »Ich liebe Dich!« indem ich sie leidenschaftlich küsste. Einen Augenblick lang, lag sie hilflos und zitternd an meiner Brust und ihre duftigen Lippen erwiderten meine Küsse - einen Augenblick später war Alles vorbei! Mit einem Schauder, der ihren ganzen Körper durchrieselte, riss sie sich von mir los und warf mir den Brief, den ich ihr eben gegeben, verächtlich vor die Füße.

»Wie können Sie es wagen meine schutzlose Lage so zu benutzen! Wie können Sie es wagen mich anzurühren!« rief sie aus. »Nehmen Sie Ihren Brief zurück mein Herr, ich will ihn nicht, wir werden uns nie wieder sprechen. O, wenn Sie wüssten, was Sie getan und wie tief Sie mich verwundet haben! Wie soll ich je meine Selbstachtung wiedergewinnen? Nie kann ich mir vergeben, was ich diesen Abend tat!« sagte sie und warf sich verzweifelt auf ein Sofa, das in ihrer Nähe stand. Aus tiefstem Herzensgrunde erbat ich ihre Verzeihung und versicherte sie meines Bedauerns und meiner Reue. Die Heftigkeit ihrer Erregung machte mich ernstlich besorgt für sie.

Nach einer Weile beruhigte sie sich und reichte mir als Zeichen ihrer Vergebung die Hand, indem sie sich mit bescheidener Würde erhob.

»Wollen Sie mir Zeit geben mein Unrecht zu sühnen,« bat ich, »und nicht gleich alles Vertrauen zu mir verlieren? Gestatten Sie mir Sie wiederzusehn, um Ihnen wenigstens beweisen zu können, dass ich Ihrer Verzeihung nicht unwert bin. Bestimmen Sie mir selbst die Zeit und lassen Sie, wenn es Ihnen wünschenswert erscheint, eine dritte Person dabei zugegen sein.«

»Ich werde Ihnen schreiben,« sagte sie.

»Morgen?«

»Ja, morgen.«

Ich hob den Empfehlungsbrief vom Boden auf.

»Machen Sie das Maß Ihrer Güte ganz voll,« sagte ich, »und nehmen Sie meinen Brief wiederum an.«

»Ich will es tun,« antwortete sie ruhig, »und ich danke Ihnen, dass Sie ihn schrieben. Nun aber verlassen Sie mich, bitte. Gute Nacht.«

Ich verließ sie mit meinem Briefe in der Hand, bleich und traurig und befand mich selbst in einem Gewirr widerstreitender Gefühle, die sich schließlich zu zwei herrschenden Regungen gestalteten: zur Liebe, die sie inbrünstiger denn je anbetete und zur Hoffnung, sie am andern Tage wiederzusehn.


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