Ein Salomonisches Urtheil
Aus dem Englischen (Dickens, Christmas-Stories, 1861) übersetzt von Auguste Scheibe
Ich werde es als eine persönliche Gunst betrachten, begann der Erzähler, ein großer, starker, blonder, melancholisch aussehender und dürftig gekleideter Mann, der sich Heavysides nannte, seines Zeichens ein Zimmermann war und sich gebildeter ausdrückte, als man es nach seiner äußern Erscheinung erwartet hätte — ich werde es als eine persönliche Gunst betrachten, wenn Sie meine wunderliche Geschichte anhören und vor Allem so gut sein wollen, mich, mit Hülfe Ihrer Phantasie, als ein vor fünf Minuten geborenes Kind zu betrachten.
Ich glaube Sie bemerken zu hören, ich sei zu groß und schwer, als daß eine solche Vorstellung möglich wäre. Vielleicht haben Sie Recht, aber bitte, unterlassen Sie jede weitere Anspielung auf meine Größe und Schwere. Mein Gewicht ist das Unglück meines Lebens gewesen; es hat, wie Sie gleich hören werden, meine Stellung und meine Aussichten im Leben verdorben, ehe ich noch zwei Tage alt war.
Meine Geschichte beginnt vor einundreißig Jahren, Morgens elf Uhr mit dem großen Fehlgriffe meines Eintrittes in die Welt zur See, am Bord des Kauffartheischiffes „Adventure“, Capitän Gillop, fünfhundert Tonnen Last, gekupfert und mit einem praktischen Arzt am Bord.
Da ich mich Ihnen — wie eben geschieht — in dieser wichtigen Periode meines Lebens vorstelle, nämlich im Alter von fünf bis zehn Minuten, und da ich, um Sie nicht mit einer langen Erzählung zu belästigen, mich wieder verabschieden werde, ehe ich noch den ersten Zahn bekomme, so darf ich wohl ohne Weiteres eingestehen, daß meine Kenntniß der Vorgänge nur auf Hörensagen beruht. Dessenohngeachtet verdient mein Bericht vollen Glauben, denn er stützt sich auf die Aussagen Mr. Gillop's, Capitäns des Adventure (der mir seine Mittheilungen in einem Briefe machte), Mr. Jolly's, des praktischen Arztes an Bord des Adventure (welcher mir die Geschichte — ziemlich herzlos, wie ich glaube — in Form einer humoristischen Erzählung überlieferte), sowie auf die mündlichen Berichte von Mrs. Drabble, der damaligen Aufwärterin auf dem Adventure. Diese drei Personen waren in verschiedener Weise Augenzeuge — ich darf wohl sagen verblüffte Augenzeugen — der Vorgänge, die ich zu berichten habe.
Der Adventure segelte zu der Zeit, von der ich spreche, von London nach Australien. Jedermann weiß, wie ich voraussetze, daß vor dreißig Jahren die Goldfelder noch nicht entdeckt waren und daß es damals noch keins der berühmten Klipperschiffe gab. Man beschäftigte sich zu jener Zeit in den neuen Colonieen hauptsächlich mit dem Bauen von Häusern, und in den innern Theilen des Landes mit der Schafzucht; in Folge dessen bestanden denn auch die Passagiere am Bord unseres Schiffes fast bis auf den letzten Mann aus Bauhandwerkern und Schafzüchtern.
Ein Schiff von fünfhundert Tonnen, das volle Ladung hat, gewährt seinen Passagieren keine übermäßigen Bequemlichkeiten. Nicht daß die den besseren Ständen angehörigen Passagiere der ersten Cajüte besondern Grund zur Klage gehabt hätten aber der Ueberfahrtspreis, welcher sich auf eine hübsche runde Summe belief, machte sie zu Ausnahmen. Es standen sogar zwei oder drei Schlafcabinen in diesem Theil des Schiffes leer, denn die Zahl der Reisenden dieser Classe belief sich nur auf vier. Ihre Namen und ihre Qualitäten waren folgende:
Mr. Sims, ein Mann von mittleren Jahren, welcher auf Bauspeculationen ausging; Mr. Purling, ein schmächtiger, junger Mann, den man seiner Gesundheit wegen eine lange Seereise empfohlen hatte, und Mr. und Mrs. Smallchild, ein junges Ehepaar, mit einem mäßigen Vermögen, welches Mr. Smallchild durch Schafzucht in ein großes zu verwandeln trachtete. Dieser letztere Herr war dem Capitän als besonders guter Gesellschafter empfohlen worden — aber die See schien diese Eigenschaft einigermaßen beeinträchtigt zu haben; denn wenn Mr. Smallchild nicht sterbenskrank war, beschäftigte er sich mit Essen und Trinken, und aß und trank er nicht, so schlief er. Er war sehr geduldig und guter Laune und verstand es, sich mit wundervoller Geschwindigkeit in seine Koje zurückzuziehen, wenn ihn eine plötzliche Anwandlung des Uebels überfiel; — was aber seine gesellschaftlichen Talente betraf, so hörte ihn während der Ueberfahrt Niemand zehn Worte sprechen. Das war übrigens kein Wunder; denn der Mensch kann nicht sprechen, wenn ihm übel ist, er kann nicht sprechen, wenn er ißt oder trinkt, er kann es ebensowenig, wenn er schläft. Und daraus bestand Mr. Smallchild's Leben. Was Mrs. Smallchild betrifft, so verließ sie ihre Cabine vom ersten bis zum letzten Tage der Ueberfahrt nicht — aber Sie werden gleich mehr von ihr hören.
Diese vier Cajütenpassagiere hatten es, wie schon bemerkt, ziemlich bequem. Aber die armen Menschen im Zwischendeck — am Bord des Aventure auch in den besten Zeiten ein erbärmlicher Platz — waren, Männer, Frauen und Kinder, zusammengepfercht wie Schafe in einer Hürde, nur mit dem Unterschiede, daß nicht so gute, frische Luft über sie dahinstrich. Es waren Handwerker und ländliche Arbeiter, denen es in der alten Welt nicht mehr gefiel, über deren Zahl und Namen ich aber nichts Genaueres weiß. Es kommt auch nichts darauf an, denn es war nur eine Familie darunter, welche besonders zu nennen ist. Die Familie Heavysides nämlich. Diese Familie bestand aus Simon Heavysides, einem geschickten, rechtschaffenen Zimmermann, Martha Heavysides, seiner Frau, und sieben kleinen Heavysides, ihrer unglücklichen Nachkommenschaft. Sie werden, wenn ich recht vermuthe, nun den Schluß ziehen, dies wären mein Vater, meine Mutter und meine Geschwister gewesen? Aber übereilen Sie sich nicht, lassen Sie sich, wenn ich bitten darf, Zeit, ehe Sie diesen Umstand als gewiß annehmen.
Obgleich ich mich selbst — streng genommen — nicht am Bord befand, als das Schiff London verließ, so hatte sich mein böses Geschick, wie ich fest überzeugt bin, auf dem Adventure eingeschifft, um mich zu erwarten, und demgemäß gestaltete sich die Reise. Das Wetter war niemals schlechter gewesen. Wir hatten Stürme aus allen Richtungen des Compasses, welche mit leichteren widrigen Winden oder vollkommener Windstille wechselten. Der Adventure war seit drei Monaten unterwegs, Capitän Gillop's Heiterkeit begann sich zu trüben, und ich überlasse es Ihnen, zu beurtheilen, ob die Nachricht, welche er am Morgen des einundneunzigsten Tages aus der ersten Cajüte empfing, dazu angethan war, seine Stimmung zu verbessern. Es war wieder einmal Windstille eingetreten, und das Schiff drehte seinen Bug hülflos nach allen Richtungen der Windrose, als Mr. Jolly — dessen herzloser Erzählung ich die Gespräche wörtlich entnehme — auf Deck erschien.
Ich habe Ihnen eine Neuigkeit mitzutheilen, die Sie in Verwunderung setzen wird, sagte er lächelnd und sich die Hände reibend zu dem Capitän.
Obgleich Mr. Jolly so wenig Theilnahme für mein persönliches Unglück an den Tag gelegt hat, kann ich doch nicht in Abrede stellen, daß seine Gemüthsart seinem Namen entsprach. Kein Wetter, und wäre es noch so schlecht gewesen, keine noch so große Anstrengung konnte ihn um seine Laune bringen.
Ich versichere Sie, daß mich nur Eins in Verwunderung setzen könnte. Die Nachricht, daß wir günstigen Wind bekommen sollten, brummte der Capitän.
Wind ist's gerade nicht, den wir in Aussicht haben, aber einen neuen Cajütenpassagier, entgegnete Mr. Jolly.
Der Capitän schaute auf die weite See hinaus, auf welcher kein Schiff, und ebensowenig ein Streifen des tausende von Meilen entfernten Landes sichtbar war, — dann drehte er sich kurz nach dem Arzte um, blickte ihm scharf in die Augen, wechselte plötzlich die Farbe und fragte dann, was er meine.
Ich meine, daß wir einen fünften Cajütenpassagier bekommen, wiederholte Mr. Jolly mit einem Lächeln, das sich von einem Ohre zum andern erstreckte; einen Passagier, der durch Mrs. Smallchild, wie ich denke, heute gegen Abend eingeführt werden wird. Größe: nicht der Rede werth, Geschlecht: zur Zeit noch unbekannt, Sitten und Manieren: wahrscheinlich himmelschreiend.
Sie meinen doch nicht —? fragte der Capitän zurückweichend und blässer und blässer werdend.
Ja, ich meine! entgegnete Mr. Jolly ernsthaft mit dem Kopfe nickend.
Dann will ich Ihnen was sagen, entgegnete Capitän Gillop, plötzlich in wilden Zorn ausbrechend, ich will Ihnen sagen, daß ich das nicht dulde! Das verd — Wetter hat mich schon aus Leib und Leben heraus geärgert — und ich dulde es nicht! Machen Sie die Sache rückgängig, Jolly, — sagen Sie ihr, dazu hätten wir am Bord meines Schiffes keinen Platz. Was fällt ihr ein, uns eine solche Ueberraschung zu bereiten! Scandalös, scandalös!
Nein, nein, betrachten Sie die Sache nicht in diesem Lichte, wendete Mr. Jolly ein. Es ist ihr erstes Kind, und so konnte die arme kleine Frau unmöglich wissen — — hat sie erst etwas mehr Erfahrung, so —
Wo ist ihr Mann? unterbrach ihn der Capitän mit drohenden Blicken. Ihrem Mann will ich jedenfalls meine Meinung sagen!
Mr. Jolly zog, ehe er antwortete, seine Uhr zu Rathe.
Halb zwölf, sagte er dann. Lassen Sie mich ein wenig nachdenken. Mr. Smallchild's gewöhnliche Zeit, seine „Rechnung mit der See zu machen.“ In einer Viertelstunde wird er damit fertig sein, und fünf Minuten später wird er in festem Schlafe liegen. Um Ein Uhr wird er ein tüchtiges Frühstück zu sich nehmen und dann abermals schlafen gehen; halb drei Uhr wird er eine neue Aussprache mit der See halten und so fort bis zum Abend. Mit Mr. Smallchild ist nichts zu machen, Capitän. Ein merkwürdiger Mensch — verschwendet Stoff und ersetzt ihn sofort wieder in der bewundernswürdigsten Weise. Wenn wir noch vier Wochen auf dem Wasser bleiben, bringen wir ihn, glaube ich, im Zustande völliger Schlafsucht in den Hafen. — Holla! Was wollen Sie?
Während der Doktor sprach, hatte sich der Steward dem Quarterdeck genähert. Und, welch sonderbarer Zufall, auch dieser Mann zog, wie vorhin der Doctor, den Mund lachend von einem Ohr zum andern.
Sie werden im Zwischendeck verlangt, Sir, sagte er zu Mr. Jolly. Eine Frau, Namens Heavysides, befindet sich unwohl.
Unsinn! rief Mr. Jolly. Ha, ha, ha! Sie meinen doch nicht etwa —?
Ja, Sir, 's ist nicht anders, entgegnete der Steward mit aller Bestimmtheit.
Capitän Gillop blickte in stummer Verzweiflung um sich. Zum ersten Male seit zwanzig Jahren verlor er seine Seebeine; er taumelte zurück bis an das Bollwerk des Schiffes, schlug mit der Faust darauf, fand in dem Moment aber auch die Fähigkeit wieder, sich auszusprechen.
Das Schiff ist behext! schrie er wüthend. Halt! rief er, seine Fassung ein wenig wieder gewinnend, als der Doctor sich eilig entfernen wollte, um sich nach dem Zwischendeck zu begeben. Halt! Wenn dem so ist, Jolly, so schicken Sie mir ihren Mann hieher. Donnerwetter, Einem von ihnen will ich's wenigstens eintränken. Dabei drohte er wüthend mit der Faust in die leere Luft.
Zehn Minuten vergingen; dann kam stolpernd und auf dem rollenden Schiff herüber und hinüber schwankend ein langer, hagerer, melancholisch aussehender, blonder Mann mit römischer Nase, wasserblauen Augen und zahlreichen Sommersprossen im Gesicht daher. Es war Simon Heavysides, der intelligente Zimmermann, welcher seine Frau und sieben kleine Kinder an Bord hatte.
Er ist also der Mann, Er? rief der Capitän.
Das Schiff rollte gewaltig, und Simon Heavysides taumelte so plötzlich nach der andern Seite des Decks, als ob er lieber gleich über Bord in die See ginge, als daß er die Frage des Capitäns beantwortete.
Er ist also der Mann — Er? wiederholte der Capitän ihm folgend, ihn beim Kragen packend und ihn gegen das Bollwerk drückend. Seine Frau ist es also? Er infamer Hundsfott! Wie kann Er sich unterstehen, mein Schiff zu einer Wochenstube zu machen? Er hat einen Act der Meuterei begangen, oder doch etwas ganz Aehnliches. Ich habe Leute für weniger als das in Eisen legen lassen und hätte die größte Lust, es mit Ihm zu thun! Den Kopf in die Höhe, Er frecher Schlingel! Wie kann Er sich herausnehmen, Passagiere an Bord meines Schiffes einzuschmuggeln, über die ich keinen Contract mit Ihm abgeschlossen habe? Was kann Er zu seiner Vertheidigung sagen, ehe ich Ihm die Eisen anlegen lasse?
Nichts, Sir, entgegnete Simon Heavysides mit der demüthigsten Resignation in Blick und Ton. Was aber die Strafe anbetrifft, von der Sie eben sprechen, Sir, fügte er hinzu, so möchte ich nur bemerken, daß — da ich bereits sieben Kinder mehr habe, als ich zu versorgen weiß, und jetzt, um das Uebel ärger zu machen, noch ein achtes dazu kommt — daß mein Gemüth, mit Verlaub zu sagen, schon in Ketten und Banden liegt, und ich nicht weiß, ob es einen großen Unterschied machen wird, wenn Sie auch meinen Körper noch in Eisen legen.
Der Capitän ließ unwillkürlich den Kragen des Zimmermanns los. Die demüthige Verzweiflung desselben entwaffnete ihn gegen seinen Willen.
Warum gingen Sie zur See, warum haben Sie nicht gewartet, bis die Sache vorüber war? fragte er, so strenger konnte.
Was hätte das nützen sollen, Sir? entgegnete Simon. Bei Unsereinem ist so etwas ja kaum vorüber, so geht es von Neuem an. Ich sehe kein Ende in der Sache, fügte der unglückliche Zimmermann hinzu, nachdem er einen Moment demüthig und nachdenklich dagestanden hatte, kein Ende als das Grab!
Wer spricht hier vom Grabe? rief Mr. Jolly, der in diesem Augenblicke herbeikam. Wir haben es jetzt am Bord des Schiffes nicht mit Leuten zu thun, welche die Welt verlassen, sondern mit solchen, die zur Welt kommen. Capitän Gillop, diese Frau, Martha Heavysides, kann in ihrer gegenwärtigen Lage nicht in dem überfüllten Zwischendeck bleiben. Sie muß in eine der leeren Cabinen gebracht werden — und das je eher je besser.
Der Capitän fing wieder an, wild um sich zu blicken. Ein Zwischendeck-Passagier in einer seiner Staatscabinen! Das war eine Abweichung von der Regel, die alle Disciplin umzustürzen drohte! Noch einmal sah er den Zimmermann an, als ob er ihm im Geiste das Maß zu einer Garnitur Hand- und Fußeisen nehmen wollte.
Es thut mir leid, Sir, bemerkte Simon Heavysides höflich — es thut mir sehr leid, wenn ein Versehen von mir oder meiner Frau —
Schaffe Er mir Sein langes Gerippe aus den Augen und halte Er Sein Maul! donnerte der Capitän. Wenn wir Einen brauchen, der solche Dinge mit der Zunge abmacht, werden wir wieder nach Ihm schicken! — Geben Sie Ihre Befehle, Jolly, fuhr er resignirter fort, als Simon davon stolperte, und machen Sie das Schiff zur Kinderstube, sobald Sie wollen.
Fünf Minuten später — so eilig hatte es Mr. Jolly — erschien Martha Heavysides in Decken gehüllt und von drei Männern getragen, in horizontaler Lage auf Deck. Als die interessante Prozession an dem Capitän vorüberkam, prallte er mit allen Zeichen des Schreckens zur Seite, als ob nicht eine englische Frau und Mutter, sondern ein wilder Bulle an ihm vorbeigeführt würde.
Die Schlafkojen lagen zu beiden Seiten der Haupt-Cajüte; nach dem Bugspriet hin gesehen befand sich die, welche Mrs. Smallchild inne hatte, zur rechten Seite, ihr gegenüber, quartierte der Doctor Mrs. Heavysides ein. Dann wurde die Haupt-Cajüte durch ein ausgespanntes Stück Segeltuch in zwei Theile geschieden.
Der kleinere und vordere der auf diese Weise gebildeten Räume, welcher der auf Deck führenden Treppe zunächst lag, wurde dem Publikum zur freien Benutzung überlassen. Der größere war dem Doctor und seinen Mysterien geweiht. Als dann noch ein alter Waschkorb geleert, gereinigt, gut mit wollenen Decken ausgefüttert und auf diese Weise in eine Wiege umgewandelt war, als man dann diese Wiege in die innere Cajüte gebracht und so zwischen den beiden Schlafkojen aufgestellt hatte, daß sie zur Hand war, sobald man ihrer bedurfte, hatte Mr. Jolly seine äußeren und sichtbaren Vorbereitungen beendigt. Die männlichen Passagiere hatten sich sämmtlich auf das Deck geflüchtet, und der Doctor und die Aufwärterin wurden in ungestörtem Besitz der untern Räume gelassen.
Während der ersten Nachmittagsstunden schlug das Wetter zum Bessern um. Der Wind fing endlich an aus der richtigen Ecke zu wehen, und der Adventure schoß schlank und munter vor ihm her. Capitän Gillop, der sich zu der kleinen Gruppe der männlichen Passagiere auf dem Quarterdeck gesellt, hatte seine beste Laune wieder gefunden und forderte die Herren auf, seinem Beispiele zu folgen und, wie er jeden Nachmittag zu thun pflegte, eine Cigarre zu rauchen.
Wenn dies gute Wetter anhält, werden wir nicht mehr viele Mahlzeiten mit einander einnehmen und können unsere beiden kleinen Extra-Cajüten-Passagiere binnen acht Tagen auf dem festen Lande taufen, falls ihre Mütter damit einverstanden sind, sagte er. Sie sorgen sich doch nicht um Ihre liebe Frau, Sir?
Mr. Smallchild, an den diese Frage gerichtet war, hatte in manchen Punkten eine gewisse Aehnlichkeit mit Simon Heavysides. Er war zwar weder so groß, noch so mager wie Jener, aber er hatte ebenfalls eine römische Nase, blondes Haar und wasserblaue Augen. Mit Rücksicht auf seine Gewohnheiten zur See hatte er sich möglichst nahe an das Bollwerk auf einen Haufen alter Segel und Kissen gesetzt, so daß er seinen Kopf, wenn die Nothwendigkeit es erheischte, leicht darüber hinausbeugen konnte. Essen und Trinken, durch welches er seinen „Verlust an Stoff“ zu ersetzen suchte, sobald er der See seinen Tribut gezollt, lag ihm nahe zur Hand.
Es war etwas nach drei Uhr, und das Schnarchen, mit welchem Mr. Smallchild des Capitäns Frage beantwortete, bezeugte, daß er die Zeit des Tages, in welcher er sich durch Schlafen erholte, mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks inne hielt.
Welch ein gefühlloser Klotz dieser Mensch ist! sagte Mr. Sims, der mittelalterliche Passagier, indem er Mr. Smallchild einen verächtlichen Blick über das Verdeck hinüber zuwarf.
Wenn die See Ihnen so mitspielte, wie ihm, so würden Sie genau so gefühllos sein, entgegnete Mr. Purling.
Mr. Purling, ein Mann von Gefühl, widersprach Mr. Sims, der ein Geschäftsmann war, während der ganzen Reise bei jeder denkbaren Gelegenheit. Ehe sie aber diesmal ihren Disput über Mr. Smallchild fortsetzen konnten, wurden sie durch den Doctor unterbrochen, der aus der Cajüte heraufkam.
Irgend eine Neuigkeit von da unten, Mr. Jolly? fragte der Capitän besorgt.
Keine, entgegnete der Doctor. Ich komme, um den müßigen Nachmittag mit Ihnen zu verplaudern.
In der That verplauderte Mr. Jolly genau eine halbe Stunde. Nach Ablauf dieser Frist erschien Mrs. Drabble, die Aufwärterin, mit geheimnißvoller Miene und flüsterte dem Doctor in aufgeregter Weise zu: Bitte, kommen Sie gleich herunter, Sir.
Welche ist es? fragte Mr. Jolly.
Alle Beide, entgegnete Mrs. Drabble bedeutungsvoll.
Der Doctor machte ein ernstes Gesicht, die Aufwärterin sah ängstlich aus, und Beide verschwanden sofort.
Ich glaube, meine Herrn, sagte Capitän Gillop, indem er sich zu Mr. Purling, Mr. Sims und dem ersten Steuermann wendete, der eben zu der Gruppe getreten war, — ich glaube es wäre bei der Wendung, welche die Sache genommen hat, sehr zweckmäßig und passend, Mr. Smallchild zu wecken. Auch müßten wir, meiner Meinung nach, unter diesen Umständen dem andern Ehemanne die Aufmerksamkeit erweisen, ihn zu unterrichten und herbeizurufen. Lassen Sie es Mr. Heavysides hinunter sagen, Williams. — Mr. Smallchild, Sir, wachen Sie auf! Ihre Frau ...! Ich will mich hängen lassen, wenn ich weiß, wie ich es ihm beibringen soll!
Ja, ich danke Ihnen, entgegnete Mr. Smallchild, indem er schläfrig die Augen öffnete. Zwieback und kalter Speck, wie gewöhnlich. Nein, ich bin nicht hungrig. Ich danke Ihnen. Guten Abend! Damit schloß Mr. Smallchild die Augen wieder.
Ehe Capitän Gillop im Stande war, einen neuen Plan zur Ermunterung seines schlafsüchtigen Passagiers zu machen, näherte sich Simon Heavysides dem Quarterdeck.
Ich habe vorhin ein bischen scharf mit Ihnen gesprochen, Mann, sagte der Capitän. Ich war ärgerlich über das, was am Bord des Schiffes vorgeht. Aber ich werde es wieder gut machen, haben Sie keine Sorge. Ihre Frau befindet sich hier unten in einem Zustande, den man einen — interessanten nennt, und es ist in der Ordnung, daß Sie sich in der Nähe aufhalten. Ich betrachte Sie daher als Zwischendeck-Passagier in schwieriger Lage und gebe Ihnen die Erlaubniß, hier bei uns zu bleiben, bis Alles vorüber ist.
Sie sind sehr gütig, Sir, entgegnete Simon, und ich bin Ihnen und diesen Herrn auch sehr dankbar. Aber ich bitte Sie, zu bedenken, daß ich noch sieben Kinder im Zwischendeck habe, und daß Niemand da ist, der sich um sie kümmert, als ich. Meine Frau ist schon früher sieben Mal ungewöhnlich gut durchgekommen und ich zweifele nicht, daß auch das achte Mal Alles gut geht. Dabei wird es ihr aber eine Beruhigung sein, Herr Capitän, wenn sie weiß, daß ich aus dem Wege bin und mich um die Kinder kümmere — und deßhalb möchte ich mich Ihnen gehorsamst empfehlen, meine Herren! Mit diesen Worten machte Simon seine Verbeugung und kehrte zu seiner Familie zurück.
Nun, die beiden Ehemänner nehmen die Sache jedenfalls kaltblütig genug! sagte der Capitän. Der eine ist allerdings daran gewöhnt und der andere —
Hier wurde der Sprecher durch das Zuschlagen der Cajütenthür unten und darauf folgende eilige Fußtritte unterbrochen. Alle horchten in Stille und Aufmerksamkeit.
Lassen Sie das Schiff möglichst ruhig gehen, Williams! sagte Capitän Gillop zu dem Manne am Steuerrad. Meiner Ansicht nach ist es bei der Wendung, welche die Sache jetzt nimmt, am besten, wenn das Schiff so wenig stampft, als möglich.
So wurde der Nachmittag zum Abend, der Abend zur Nacht. Mr. Smallchild erfüllte den täglichen Kreislauf seiner Existenz auf dem Wasser so pünktlich wie gewöhnlich. Er kam zum momentanen Bewußtsein der Lage, in welcher Mrs. Smallchild sich befand, während er seinen Zwieback und kalten Speck aß, verlor dies Bewußtsein wieder, als der Moment nahte, um seine Rechnung mit der See abzuschließen, fand es abermals in der Zwischenzeit, ehe er einschlief, verlor es selbstverständlich, sobald seine Augen sich geschlossen hatten, und sofort durch den Abend und den ersten Theil der Nacht.
Simon Heavysides erhielt auf Veranstaltung des Capitäns von Zeit zu Zeit Nachricht und die Aufforderung: unbesorgt zu sein. Er dagegen ließ sagen: er sei unbesorgt und die Kinder verhielten sich ruhig, aber er näherte sich dem Quarterdeck nie in eigener Person. Mr. Jolly zeigte sich dann und wann einen Augenblick, sagte: Alles in Ordnung — nichts Neues! nahm eine kleine Erfrischung und verschwand darauf heiter und freundlich wie immer.
Der günstige Wind hielt an. Des Capitäns Laune blieb vortrefflich, der Mann am Steuer hielt das Schiff voll zarter Rücksicht so viel als möglich in ruhigem Gange. Es wurde zehn Uhr, der Mond ging auf und schien mit köstlicher Klarheit: der Abend-Grog wurde auf das Quarterdeck gebracht; der Capitän M. M. schenkte den Passagieren das Vergnügen seiner Gesellschaft, und noch immer passirte nichts. Noch zwanzig Minuten der Erwartung vergingen langsam, eine nach der andern — endlich wurde Mr. Jolly auf der Cajütentreppe sichtbar.
Zum großen Erstaunen der Passagiere auf dem Quarterdeck hielt der Doctor Mrs. Drabble, die Aufwärterin, fest am Arme und setzte sie ohne von dem Capitän und den übrigen Herren die geringste Notiz zu nehmen, auf den nächsten Sitz, der ihm zur Hand war. Dabei zeigte sein vom Monde beleuchtetes Gesicht den erstaunten Zuschauern den Ausdruck der äußersten Bestürzung.
Fassen Sie sich, Mrs. Drabble, sagte der Doctor im Tone unverkennbarer Unruhe. Bleiben Sie still, und lassen Sie die Luft über sich hinwehen. Kommen Sie zu sich — ums Himmels willen, beste Frau, kommen Sie zu sich!
Mrs. Drabble gab keine Antwort. Sie schlug ihre flachen Hände auf die Knie und starrte wie unter dem Eindrucke eines panischen Schreckens vor sich hin.
Was ist denn los? fragte der Capitän, sein Glas Grog erschreckt bei Seite setzend. Ist einer der beiden unglücklichen Frauen etwas geschehen?
Nicht das Geringste, entgegnete der Doktor. Beide befinden sich ausgezeichnet.
So ist mit den Kindern etwas passirt? fuhr der Capitän fort. Sind es etwa mehr, als Sie gedacht haben, Jolly? Zwillinge vielleicht?.
Nein, nein! erwiederte Mr. Jolly ungeduldig. Jede Partei ein Kind, beides Knaben, beide wohlgebildet und gesund. Urtheilen Sie selber, fügte er hinzu, als in diesem Moment die beiden neuen Cajütenpassagiere zum ersten Male anfingen, ihre Lungen zu probieren, und sie ihrer Bestimmung und Aufgabe in der befriedigendsten Weise entsprechend fanden.
Nun was zum Teufel ist dann mit Ihnen und Mrs. Drabble? rief der Capitän, welcher bereits wieder anfing ärgerlich zu werden.
Mrs. Drabble und ich, wir sind zwei unschuldige Menschen, die sich in der schauderhaftesten Klemme befinden! lautete Mr. Jolly's seltsame Antwort.
Der Capitän sowie Purling und Sims näherten sich dem Doctor mit entsetzten Blicken. Selbst der Mann am Steuer beugte sich, soweit er konnte, nach vorn, um zu hören, was da kommen sollte. Der einzige Mensch, welcher kein Interesse verrieth, war Mr. Smallchild, denn für ihn war wieder einmal die Zeit des Schlafens gekommen, und er schnarchte friedlich, während Zwieback und Speck in erreichbarer Nähe lagen.
Erzählen Sie uns das Schlimmste ohne Umschweife, Jolly, sagte der Capitän ungeduldig.
Der Doctor beeilte sich nicht, dieser Aufforderung Folge zu leisten. Seine ganze Aufmerksamkeit war vielmehr durch Mrs. Drabble in Anspruch genommen. Befinden Sie sich jetzt besser, gute Frau? fragte er besorgt.
In meinen Kopfe nicht! entgegnete Mrs. Drabble, indem sie abermals die Hände auf die Kniee fallen ließ. Eher schlimmer, als besser!
Hören Sie mich an, sagte Mr. Jolly in beschwichtigendem Tone. Ich werde Ihnen die ganze Sache nochmal in einigen einfachen Fragen vorlegen. Wenn Sie mich aufmerksam anhören, so werden Sie sich dabei Alles wieder ins Gedächtniß rufen, und dann nehmen Sie sich nur Zeit nachzudenken und sammeln Sie sich, ehe Sie antworten.
Mrs. Drabble beugte ihr Haupt in stiller Unterwerfung und lauschte. Jedermann auf Deck, mit Ausnahme Mr. Smallchild's, lauschte.
Nun also, beste Frau, Sie erinnern sich, daß die Verwirrung ihren Anfang in Mrs. Heavysides' Cabine nahm, welche auf der Steuerbordseite des Schiffes liegt?
So ist es, Sir, entgegnete Mrs. Drabble.
Gut. Wir gingen unzählige Male zwischen Mrs. Heavysides, d. h. der Steuerbord-Cabine, und Mrs. Smallchild, d. h. der Backbord-Cabine, hin und her und fanden endlich, daß Mrs. Heavysides, die einen Vorsprung gewonnen hatte, denselben auch behauptete. Als ich Ihnen zurief: Mrs. Drabble, hier ist ein derber Junge, kommen Sie und nehmen Sie ihn in Empfang! befand ich mich in der Steuerbord-Cabine, nicht wahr?
Steuerbord-Cabine, Sir, das kann ich beschwören, sagte Mrs. Drabble.
Gut, fahren wir fort. Hier ist ein derber Junge, sagte ich also, nehmen Sie ihn und legen Sie ihn in die Wiege. Und Sie nahmen ihn und legten ihn in die Wiege. Nun weiter: wo stand die Wiege?
In der Hauptcajüte, Sir, erwiderte Mrs. Drabble.
Richtig! Sie stand in der Hauptcajüte, weil wir in keiner der Schlafcabinen Raum dafür hatten. Sie legten das Steuerbord-Kind, mit andern Worten: das Kind der Heavysides, in die Wäschkorb-Wiege in der Hauptcajüte. Gut! weiter: wie stand die Wiege?
Quer durch das Schiff, Sir, sagte Mrs. Drabble.
Quer durch das Schiff; das heißt mit einer Langseite nach dem Stern und mit der andern Langseite nach dem Bug des Schiffes. Halten Sie das vorläufig fest — und nun folgen Sie mir ein wenig weiter. Nein, nein, sagen Sie nicht, daß Sie das nicht können und daß Ihnen der Kopf wirbelt. Meine nächste Frage wird Sie vollständig klar machen. Gehen wir also im Geiste um eine halbe Stunde weiter, Mrs. Drabble. Nach Ablauf einer halben Stunde hörten Sie meine Stimme wieder — ich rief: Mrs. Drabble, hier ist ein zweiter derber Junge, kommen Sie und nehmen Sie ihn in Empfang. Und Sie kamen nach der Backbord-Cabine und nahmen ihn in Empfang, nicht wahr?
Backbord-Cabine, Sir, ich bestreite es nicht, entgegnete Mrs. Drabble.
Immer besser! Ich sagte also: hier ist ein zweiter derber Junge, nehmen Sie ihn und legen Sie ihn in die Wiege neben Nummer Eins. Und Sie nahmen das Backbord-Kind, das heißt das der Smallchild's, und legten es zu dem Steuerbord-Kinde, das heißt zu dem der Heavysides' in die Wiege. — Und was geschah nun, nachdem Sie das gethan hatten?
Fragen Sie mich nicht, Sir! rief Mrs. Drabble, ihre ganze Selbstbeherrschung verlierens und verzweifelnd die Hände ringend.
Ruhig, gute Frau; ich werde Ihnen Alles so klar und deutlich darlegen, als ob Sie es gedruckt vor sich sähen. Bleiben Sie nur sitzen und hören Sie mich an. Gerade als Sie das Kind aus der Backbord -Cabine in die Wiege gelegt hatten, schickte ich Sie nach der Steuerbordseite, das heißt in Mrs. Heavysides' Cabine, um etwas zu holen, was ich in der Backbord-, das heißt in Mrs. Smallchild's Cabine brauchte. Ich behielt Sie dort eine kleine Weile bei mir, ließ Sie dann allein, ging in Mrs. Heavysides' Cabine und rief Sie dann, um mir etwas, was ich brauchte, aus der Smallchild'schen Cabine zu bringen. Aber ehe Sie noch den halben Weg durch die Hauptcajüte zurückgelegt hatten, rief ich Ihnen zu: Nein, bleiben Sie, wo Sie sind, Mrs. Drabble, ich komme zu Ihnen hinüber. Unmittelbar nachher wurden Sie durch Mrs. Smallchild alarmirt und kamen auf Ihren eigenen Antrieb zu mir herüber. Ich aber hielt Sie in der Mitte der Hauptcajüte auf und sagte: Mrs. Drabble, Sie verlieren den Kopf, setzen Sie sich nieder und sammeln Sie Ihre confusen Gedanken. Und Sie setzten sich nieder und versuchten es, sie zu sammeln —
Aber ich konnte es nicht, schob Mrs. Drabble in Parenthese ein. O mein Kopf, mein Kopf!
Sie versuchten es, Ihre Gedanken zu sammeln, und konnten es nicht, fuhr der Doctor unbeirrt fort. Die Folge davon war, daß ich, als ich aus der Smallchild'schen Cabine kam, um nach Ihnen zu sehen, Sie vor der Waschkorb-Wiege fand, die Sie auf den Tisch gesetzt hatten. Mit offenem Munde und mit beiden Händen in den Haaren starrten Sie auf die darin liegenden Kinder. Als ich fragte: Es ist doch keinem der beiden Burschen etwas geschehen, Mrs. Drabble? packten Sie mich beim Kragen und flüsterten mir ins rechte Ohr die Worte: Gott steh' uns bei, Mr. Jolly, ich kann die beiden Kinder nicht mehr unterscheiden und, weiß nicht, welches das Eine und welches das Andere ist.
Und ich weiß es noch nicht! rief Mrs. Drabble, in krampfhaftes Schluchzen ausbrechend. O mein Kopf, mein Kopf! Ich weiß es noch nicht!
Capitän Gillop und Gentlemen, sagte Mr. Jolly, indem er sich rundum drehte und die Zuhörerschaft mit dem Ausdrucke rathloser Verzweiflung ansah, das ist die Klemme, in der wir uns befinden, und wenn Sie je von einer schlimmeren gehört haben, so bitte ich Sie, dieses unglückliche Weib zu beruhigen, indem Sie es sagen.
Capitän Gillop sah Mr. Purling und Mr. Sims an. Mr. Purling und Mr. Sims sahen Capitän Gillop an. Alle Drei waren wie vom Donner gerührt — und das war kein Wunder.
Können Sie denn kein Licht in die Sache bringen, Jolly? fragte der Capitän, der sich zuerst wiederfand.
Wenn Sie wüßten, was ich da unten zu leisten hatte, würden Sie keine solche Frage an mich richten, Sir, entgegnete der Doctor. Bedenken Sie, daß ich für das Leben zweier Frauen und zweier Kinder einzustehen hatte, — bedenken Sie, daß ich dabei in zwei enge Schlafcabinen eingezwängt war, die kaum Raum genug zum Umdrehen boten, und die von zwei elenden kleinen Lampen gerade genug erleuchtet wurden, daß ich die Hand vor Augen sehen konnte. Bedenken Sie bei Alledem die Schwierigkeiten, denen ich als Arzt gegenüberstand, unter meinen Füßen das rollende Schiff und obendrein Mrs. Drabble, die ich zu beruhigen hatte. Bitte, erwägen Sie alles das, und sagen Sie mir dann, wie viel überflüssige Zeit ich finden konnte, um die beiden Knaben, Zoll für Zoll, zu vergleichen. — Zwei Knaben, die beide Nachts, eine halbe Stunde nach einander, auf der See, am Bord eines Schiffes, geboren sind. Ha, ha! Ich wundere mich über nichts, als daß alle fünf, die Mütter, die Kinder und der Doctor noch am Leben sind, um die Geschichte zu erzählen!
Keine Zeichen an dem Einen oder dem Andern, das Ihnen zufällig in die Augen gefallen wäre? fragte Mr. Sims.
Das müßten schon starke Zeichen gewesen sein, die mir bei der Beleuchtung und unter den obwaltenden Umständen hätten in die Augen fallen sollen, entgegnete der Doctor. Ich sah, daß beide starke, wohlgebildete Kinder waren, — das war Alles, was ich bemerken konnte.
Sind die Gesichter der Kinder entwickelt genug, um vielleicht eine Familienähnlichkeit anzudeuten? fragte Mr. Purling. Sehen Sie ihren Vätern oder ihren Müttern ähnlich?
Beide haben helle Augen und helles Haar, entgegnete Mr. Jolly mürrisch. Ueberzeugen Sie sich selbst.
Mr. Smallchild hat helle Augen und helles Haar, bemerkte Mr. Sims.
Und Mr. Heavysides hat helle Augen und helles Haar, fügte Mr. Purling hinzu.
Ich würde rathen, Mr. Smallchild zu wecken, Mr. Heavysides herbeizuholen und sie um die Kinder Kopf oder Schrift werfen zu lassen, entgegnete Mr. Sims.
Man soll keinen herzlosen Spott mit einem so heiligen Gefühl wie die Elternliebe treiben, erwiderte Mr. Purling. Ich würde rathen, die Stimme der Natur sprechen zu lassen.
Was meinen Sie damit, Sir? fragte Capitän Gillop neugierig.
Den mütterlichen Instinct, entgegnete Mr. Purling. Das mütterliche Gefühl, welches das eigne Kind durch Intuition erkennt.
Wirklich ein glücklicher Gedanke! rief der Capitän. Was sagen Sie zu der Stimme der Natur, Mr. Jolly?
Der Doctor hob ungeduldig die Hand empor. Er war noch immer bemüht, Mrs. Drabble's Gedächtniß durch eine Art von Kreuzverhör nach seiner Art aufzurütteln, was freilich nur die Folge hatte, sie noch hoffnungsloser zu verwirren.
Konnte sie sich die Korb-Wiege in ihrer ursprünglichen Stellung ins Gedächtniß rufen? — Nein. — Konnte sie sich erinnern, ob sie das Steuerbord-Kind, mit ändern Worten, das der Heavysides, an die Seite der Wiege gelegt hatte, welche nach dem Stern des Schiffes hin stand, oder an die nach dem Bug hin? — Nein. — Oder vermochte sie sich dieses Umstandes besser in Bezug auf das Backbord-Kind, das heißt auf das der Smallchilds, zu erinnern? — Nein. — Warum setzte sie die Wiege auf den Cajütentisch und verwirrte sich dadurch, nachdem sie schon verwirrt war, immer mehr? — Weil ihr plötzlich zum Bewußtsein kam, daß sie in der Confusion des Augenblickes vergessen hatte, welches das eine und welches das andere war, und weil sie die Kinder näher in Augenschein nehmen wollte. Aber sie konnte nichts sehen — und sie würde sich das bis an ihr Lebensende nicht verzeihen — und man sollte sie nur über Bord werfen, wenn man wollte, denn sie wäre eine elende Sünderin — und so ging es fort, bis selbst die Ausdauer des Doctors völlig erschöpft war und er Mrs. Drabble und damit die ganze Sache aufgab.
Ich sehe, es bleibt uns nichts übrig, als die Stimme der Natur, sagte der Capitän, sich an Mr. Purling's Idee anklammernd. Versuchen Sie es, Jolly, — Sie können nichts thun, als es versuchen.
Irgend etwas muß freilich geschehen, sagte der Doctor. Ich kann die Frauen nicht länger allein lassen, und sobald ich hinunter komme, werden auch beide nach ihren Kindern fragen. Bleiben Sie hier, Mrs. Drabble, bis Sie im Stande sind, sich sehen zu lassen, dann folgen Sie mir. Stimme der Natur! murmelte er verächtlich, als er die Cajütentreppe hinabstieg. Ich kann es ja versuchen, und man wird sich überzeugen, was auf diese Stimme der Natur zu geben ist!
Durch die Nacht begünstigt, und unter dem Vorwande, das Licht könne den Augen der Wöchnerinnen schaden, drehte Mr. Jolly die beiden düstern Lampen der Schlafcabinen bis auf einen Schimmer ein, nahm dann das erste der beiden unglücklichen Kinder, welches ihm unter die Hände kam, bezeichnete die Windel, in die es eingewickelt war, mit einem Tintenfleck und trug es in Mrs. Smallchild's Cabine, die er nur deßhalb wählte, weil sie die nähere war. Das zweite Kind, das durch keinen Tintenfleck gezeichnet war, wurde durch Mrs. Drabble zu Mrs. Heavysides getragen. Man ließ die beiden Kinder nun eine Weile bei den beiden Müttern — dann wurden Mütter und Kinder auf ärztliche Verordnung getrennt und abermals vereinigt, nur mit dem Unterschiede, daß das gezeichnete Kind diesmal zu Mrs. Heavysides und das ungezeichnete zu Mrs. Smallchild gebracht wurde.
Das Resultat war, daß das eine Kind in der Dunkelheit der Cabine genau dieselbe Wirkung hervorbrachte, wie das andere, und daß die Stimme der Natur, wie Mr. Jolly vorausgesagt, total unfähig befunden wurde, den schwierigen Fall, vor dem man stand, zu entscheiden.
Während der Nacht geht das Alles recht gut, sagte der Doctor, nachdem er die Erfolglosigkeit des von Mr. Purling vorgeschlagenen Experimentes pflichtschuldigst rapportirt hatte. Aber wenn der Morgen kommt und das Tageslicht, so daß man die Verschiedenheit der beiden Kinder sehen kann, dann müssen wir uns zu irgend etwas entschließen. Schöpften die beiden Mütter nur den leisesten Verdacht vom Stande der Sache, so könnte die dadurch hervorgebrachte nervöse Erschütterung die schlimmsten Folgen haben. Die Frauen müssen im Interesse ihrer Gesundheit getäuscht werden, bis sie wieder wohl sind. Wir müssen bis morgen für Jede ein Kind gewählt haben und dann an der Wahl festhalten, bis sie die Wahrheit hören dürfen. Die Frage ist nur, wer die Verantwortung tragen soll. Ich meinestheils mache mir sonst aus Kleinigkeiten nichts, aber ich gestehe aufrichtig, daß ich hier meine Bedenken habe.
Und ich als völlig Fremder, möchte mich ebenfalls nicht gern einmischen, sagte Mr. Sims.
Aus ganz gleichem Grunde würde auch ich mich der Sache fern zu halten wünschen, fügte Mr. Purling hinzu, zum ersten Male während der ganzen Reise einer Meinung seines natürlichen Feindes beipflichtend.
Warten Sie eine Minute, meine Herren, sagte Capitän Gillop. Ich glaube, ich habe das Mittel gefunden, die schwierige Angelegenheit ins rechte Geleis zu bringen. Wir müßten die ganze Sache den betreffenden Ehemännern erzählen und ihnen die Verantwortlichkeit zuschieben.
Ich glaube, sie werden dieselbe nicht übernehmen, bemerkte Mr. Sims.
Und ich glaube, Sie werden sie übernehmen, entgegnete Purling in seine alte Gewohnheit des Widerspruchs zurückfallend.
Thun sie es nicht, so bin ich Herr am Bord des Schiffes und werde, so wahr ich Thomas Gillop heiße, die Verantwortung tragen, sagte der Capitän fest.
Diese muthige Erklärung beseitigte für den Augenblick alle Bedenken, und man berathschlagte nun, was zunächst zu thun sei. Endlich beschloß man, geleitet von der letzten schwachen Hoffnung: daß einige Stunden ruhigen Schlafes das aus Rand und Band gegangene Gedächtniß von Mrs. Drabble wieder herstellen könne, bis zum nächsten Morgen gar nichts vorzunehmen. In der Morgendämmerung, oder mit andern Worten, ehe Mrs. Heavysides und Mrs. Smallchild die Kinder, welche sie in der Nacht bei sich gehabt, genau zu erkennen vermöchten, sollten die Säuglinge in die Hauptcajüte zurückgebracht werden. Mr. Purling, Mr. Sims und der erste Steuermann sollten, zum Beistand des Doctors und des Capitäns, als Zeugen gegenwärtig sein, und der so constituirte Gerichtshof sollte, in Anbetracht der Dringlichkeit des Falles, Punkt 6 Uhr Morgens zusammentreten.
Diesem Beschlusse gemäß nahm die Verhandlung am andern Morgen bei schönem Wetter und günstigem Wind ihren Anfang. Mr. Jolly unterwarf Mrs. Drabble zum letzten Male, unterstützt von dem Capitän und in Gegenwart der Zeugen, einem Kreuzverhör. Aber nichts war aus der unglücklichen Aufwärterin herauszubringen. Der Doctor erklärte ihre Gedanken-Verwirrung für chronisch, und der Capitän, sowie die Zeugen stimmten ihm einmüthig bei.
Das nächste Experiment, welches man versuchte, war, daß man den Ehemännern eine offene Mittheilung über den Stand der Dinge machte. Man fand Mr. Smallchild wieder einmal beschäftigt, seine Morgenrechnung mit der See zu ordnen, und die ersten articulirten Worte, die man von ihm vernahm, lauteten: Verwünschter Zwieback und Anchovis! Weitere Versuche, ihn zum Sprechen zu bringen, vermochten ihn nur zu dem ungeduldigen Verlangen: man möge ihn lieber gleich über Bord werfen und die beiden Säuglinge dazu. Auch die ernstesten Vorstellungen hatten keinen bessern Erfolg. Machen Sie die Sache ab, wie Sie wollen, erwiderte Mr. Smallchild schwach.
Sie überlassen es also mir, dem Capitän des Schiffes, die Angelegenheit zu ordnen? fragte Capitän Gillop.
Keine Antwort.
Nicken Sie mit dem Kopfe, Sir, wenn Sie nicht sprechen können.
Mr. Smallchild nickte, mit dem Kopfe auf dem Kissen, ringsum — und schlief ein.
Gilt das als Einwilligung, daß ich die Sache in die Hand nehme? fragte Capitän Gillop die Zeugen.
Die Zeugen antworteten mit einem entschiedenen Ja.
Dann wiederholte man dieselbe Procedur mit Simon Heavysides, welcher, wie es von einem Manne seiner Intelligenz nicht anders zu erwarten war, mit einem Vorschlage antwortete, wie sich seiner Meinung nach die ganze Schwierigkeit beseitigen ließe.
Capitän Gillop und Gentlemen, begann er mit geläufiger Zunge und melancholischer Höflichkeit, vor Allem möchte ich wünschen, daß auf Mr. Smallchild mehr Rücksicht genommen würde, als auf mich. Ich bin nämlich gern bereit, auf das Kind, welches es auch immer sein möge, zu verzichten, und mache, mit Verlaub, den Vorschlag, daß Mr. Smallchild beide Kinder bekommt, damit er ganz sicher ist, das seinige zu haben.
Der einzige Widerspruch, welcher gegen diesen geistreichen Vorschlag erhoben wurde, ging von dem Doctor aus, welcher Simon sarkastisch fragte, was seiner Meinung nach wohl Mrs. Heavysides dazu sagen würde?
Der Zimmermann gestand, daß er daran noch nicht gedacht habe, und daß es nur zu wahrscheinlich sei, sie werde der vorgeschlagenen Abmachung unübersteigliche Hindernisse in den Weg legen. Auch die Zeugen waren sämmtlich der Meinung, und Heavysides wurde sammt seiner Idee entlassen, nachdem er noch vorher voll Dankbarkeit seine Bereitwilligkeit ausgesprochen, Alles in die Hände des Capitäns zu legen.
Meine Herren, begann dieser, nächst den Ehemännern bin ich, der Commandeur des Schiffes, wohl als Derjenige zu betrachten, welchem die Verantwortlichkeit zufällt. Ich habe die Sache nach allen Seiten erwogen und bin bereit, sie auf mich zu nehmen. Die Stimme der Natur, die Sie in Vorschlag brachten, Mr. Purling, hat sich als trügerisch erwiesen. Um die Kinder Kopf oder Schrift werfen zu lassen, wie Sie vorschlugen, Mr. Sims, entspricht nicht meinen Ansichten über das, was in einer so ernsten Angelegenheit passend und schicklich ist. Nein, meine Herren, ich habe einen andern Plan und werde diesen jetzt versuchen. Folgen Sie mir hinunter in die Vorrathskammer des Steward.
Die Zeugen sahen einander voll Verwunderung an und folgten ihm.
Saunders, begann der Capitän, sich an den Steward wendend, bringen Sie Ihre Wage herbei.
Die Wage war eine der gewöhnlichen Küchenwagen, an der einen Seite mit einer messingenen Schale, in welche man den zu wiegenden Gegenstand legte, an der andern mit einer starken eisernen Platte, auf welche die Gewichte gestellt wurden. Saunders stellte diese Wage auf einen kleinen, reinlichen Tisch, der, um das Zerbrechen von Geschirr zu verhüten, nach dem Kugel- und Pfannensystem eingerichtet, jeder Bewegung des Schiffes schaukelnd folgte.
Legen Sie ein reines Staubtuch in die Schale, befahl der Capitän, und dann sich zu dem Doctor wendend, fuhr er fort: Thun Sie mir den Gefallen, die Thüre der Schlafcabinen zu schließen, damit die Frauen nichts hören, und bringen Sie mir die beiden Säuglinge hierher.
O, Sir! rief Mrs. Drabble, welche diesen Vorbereitungen im vollen Bewußtsein ihrer Schuld zugesehen hatte, — o, thun Sie den armen kleinen Würmern nichts! Wenn irgend Jemand leiden muß, so lassen Sie es mich sein!
Halten Sie gefälligst den Mund, Mrs. Drabble, und geben Sie sich überhaupt Mühe, über das zu schweigen, was hier vorgenommen wird, wenn Ihnen Ihre Stelle lieb ist, entgegnete der Capitän. Wenn die Mütter nach ihren Kindern fragen, so sagen Sie, sie sollten dieselben binnen zehn Minuten wieder haben.
Der Doctor kam indessen herein und stellte den Korb mit den Kindern auf den Fußboden nieder. Capitän Gillop setzte seine Brille auf und nahm die beiden unschuldigen Wesen die da vor ihm lagen, genau in Augenschein.
Sechs von der einen Sorte geben genau ein halbes Dutzend von der andern, sagte er endlich. Ich sehe keinen Unterschied zwischen ihnen. Doch warten Sie ein bischen. Da ist doch ein Unterschied. Das eine hat einen kahleren Kopf, als das andere. Gut, mit diesem wollen wir anfangen. Schälen Sie diesen Säugling aus seinen Hüllen und legen Sie ihn in die Wagschale.
Der kahlköpfige Säugling protestirte — natürlich in der ihm eigenen Sprache — aber vergeblich. Binnen zwei Minuten lag er auf dem Rücken in der Schale, auf dem reinlichen Staubtuche, das ihn vor der Kälte des Metalls schützte.
Wiegen Sie genau, Saunders, fuhr der Capitän fort, wenn's nöthig ist bis aufs Achtelloth. Meine Herren, überwachen Sie diesen Vorgang gewissenhaft, denn er ist von großer Wichtigkeit.
Während der Aufwärter wog und die Zeugen zusahen, verlangte Capitän Gillop von dem ersten Steuermann des Schiffes das Log-Buch und Tinte und Feder.
Wie viel wiegt das Kind, Saunders? fragte der Capitän, das Buch aufschlagend.
Sieben Pfund ein und ein Viertel Loth, entgegnete Saunders.
Ist das richtig, meine Herren? fuhr der Capitän fort.
Ganz richtig! entgegneten die Zeugen.
Das kahlköpfige Kind, als Numero Eins bezeichnet, wiegt sieben Pfund ein und ein Viertel Loth, wiederholte der Capitän, diese Angabe in das Buch eintragend. Gut. Legen Sie nun das kahlköpfige Kind in den Korb zurück und entkleiden Sie das mit dem behaarten Kopfe.
Der Säugling mit dem behaarten Kopfe protestirte, wie der erste, — ebenfalls in seiner Sprache — aber ebenso vergeblich.
Wie viel wiegt er, Saunders? fragte der Capitän.
Sechs Pfund vierzehn und dreiviertel Loth, erwiderte der Aufwärter.
Ist das richtig, meine Herrn? fragte der Capitän.
Ganz richtig, entgegneten die Zeugen.
Kind mit dem behaarten Kopfe, bezeichnet als Numero Zwei, wiegt sechs Pfund vierzehn und dreiviertel Loth, wiederholte und schrieb der Capitän. Danke Ihnen, Jolly, — damit wären wir fertig. Wenn Sie das andere Kind in den Korb zurückgelegt haben, so sagen Sie Mrs. Drabble, daß bis auf weiteren Befehl keines von Beiden herausgenommen werden darf; und dann haben Sie die Gefälligkeit, zu diesen Herrn und zu mir auf das Quarterdeck zu kommen. Wir dürfen, falls sich eine Discussion zwischen uns erheben sollte, nicht riskiren, in den Schlafkojen gehört zu werden.
Mit diesen Worten begab sich der Capitän auf Deck, und der erste Steuermann mit Log-Buch, Tinte und Feder folgte ihm.
Nun, meine Herren, begann der Capitän, nachdem der Doctor sich wieder zu ihnen gesellt hatte, wird mein erster Steuermann die Sitzung eröffnen, indem er Ihnen aus dem Log-Buche einen Bericht über diesen Vorgang vorliest, den ich eigenhändig von Anfang bis zu Ende eingetragen habe. Wenn Sie finden, daß Alles, auch die Eintragung über das Gewicht der Kinder mit der Wahrheit übereinstimmt, so werde ich Sie mit der Bitte behelligen, das Protokoll als Zeugen zu unterschreiben.
Der erste Steuermann las die Erzählung, und die Zeugen unterschrieben sie, als völlig wahrheitsgetreu. Capitän Gillop räusperte sich nun und redete seine erwartungsvollen Zuhörer folgendermaßen an:
Sie werden mit mir darin übereinstimmen, daß Gerechtigkeit Gerechtigkeit ist, und daß sich Gleich zu Gleich gesellen muß. Hier mein Schiff, ein Schiff von fünfhundert Tonnen Last, ist mit Masten und Takelwerk auf diese Last und Größe eingerichtet. Wäre es ein Schooner von hundertfünfzig Tonnen, so würde ihn selbst die unerfahrenste Landratte unter Ihnen nicht mit solchen Masten und Segeln versehen. Wäre es dagegen ein Indienfahrer von tausend Tonnen, würden dann diese Masten, so tüchtige Stecken sie auch sind, für ein solches Schiff hinreichend sein? Gewiß nicht. Ein Schooner muß getakelt sein wie ein Schooner und ein Schiff wie ein Schiff in richtigen und passenden Verhältnissen. Auf den Standpunkt dieses Princips habe ich mich nun in dieser schwierigen Lage gestellt — und meine Entscheidung lautet: man gebe das schwerste Kind der schwersten der beiden Frauen, und theile der leichteren, wie sich daraus schon von selbst ergiebt, das andere zu. Nach Verlauf einer Woche werden wir, wenn das Wetter aushält, so Gott will im Hafen sein, und wenn es ein besseres Auskunftsmittel als das meinige giebt, um aus dieser Klemme herauszukommen, so mögen die Advocaten und Geistlichen des Festlandes dasselbe finden und in Anwendung bringen.
Mit diesen Worten schloß der Capitän seine Rede, und das versammelte Concilium nahm den unterbreiteten Vorschlag mit der Einstimmigkeit von Männern an, welche nicht die leiseste Idee ihr eigen nennen, durch die sie Opposition machen könnten.
Zunächst wurde nun Mr. Jolly, als die einzige Autorität in diesem Punkte, aufgefordert, die Frage des Gewichtes zwischen Mrs. Smallchild und Mrs. Heavysides zu entscheiden, und er beantwortete sie ohne einen Moment des Besinnens zu Gunsten der Frau des Zimmermanns und zwar auf den unanfechtbaren Grund hin, daß sie von beiden Frauen die größere und stärkere wäre.
Demnach wurde der haarlose Säugling, bezeichnet als Numero Eins, in Mrs. Heavysides' Cabine gebracht, und der behaarte, bezeichnet als Numero Zwei, wurde Mrs. Smallchild zugesprochen. Die Stimme der Natur erhob weder in dem einen noch in dem andern Falle den leisesten Widerspruch gegen das Princip, nach welchem die Kinder vertheilt worden waren. Noch vor sieben Uhr konnte Mr. Jolly berichten, daß Mütter und Söhne, Backbord wie Steuerbord, so glücklich und zufrieden wären, wie nur irgend vier Menschen an Bord wünschen könnten es zu sein; und der Capitän entließ das Concilium mit den Abschiedsworten:
Und nun wollen wir die Leesegel aufsetzen, meine Herren, und unsern Weg nach dem Hafen so schnell als möglich zurückzulegen suchen. Saunders, das Frühstück in einer halben Stunde, und reichlich! Daß diese unglückliche Mrs. Drabble heute zum letzten Male von der Angelegenheit gehört hat, bezweifle ich; und wir müssen versuchen, ihr beizustehen und ihr durchzuhelfen, wenn wir können. Im Uebrigen ist die Sache, insoweit wir daran betheiligt sind, zu Ende, und die Geistlichen und Advocaten des Festlandes mögen sie weiter ausmachen.
Aber die Geistlichen und Advocaten machten nichts aus, schon aus dem einfachen Grunde, weil nichts auszumachen war. Nach zehn Tagen erreichte das Schiff den Ort seiner Bestimmung, und man theilte nun den Müttern den Vorgang mit. Jede von ihnen betete ihren Säugling nach den Erfahrungen der letzten zehn Tage an, — und Beide befanden sich in derselben Lage, wie Mrs. Drabble; Keine wußte welcher der Einen und welcher der Anderen gehörte.
Noch einmal wurde Alles versucht. Zuerst hörte man den Doctor, der indessen nur wiederholen konnte, was er bereits ausgesagt. Zweitens nahm man seine Zuflucht zu der persönlichen Aehnlichkeit, eine Beweisführung, die daran scheiterte, daß beide Väter helle Augen, helles Haar und römische Nasen besaßen, während beide Kinder ebenfalls helle Augen und helles Haar, aber ganz unbedeutende Nasen hatten. Drittens nahm man Mrs. Drabble ins Verhör. Dasselbe begann und endete mit harten Reden von der einen und Strömen von Thränen auf der anderen Seite, aber ohne Resultat. Viertens nahm man die Entscheidung des Gesetzes in Anspruch, aber bei dem völligen Mangel eines Anhaltspunktes für die richterliche Untersuchung war auch hier nichts zu erreichen. Fünftens und letztens appellirte man an die Väter, was aus dem einfachen Grunde zu nichts führte, weil Beide von der Sache, um die es sich handelte, nicht das Geringste wußten. Die barbarische Entscheidung des Capitäns durch das Gewicht blieb die einzige denkbare, und in Folge dessen stehe ich hier, ein Mann in niederer Lebensstellung, der keinen Pfennig in der Tasche hat.
Ja, ich bin der haarlose Säugling von damals. Meine außerordentliche Schwere bestimmte mein Lebensschicksal. Die Väter und Mütter behielten die Kinder, welche ihnen der Capitän nach seinem Princip zugetheilt, weil sie nichts Anderes zu thun wußten. Mr. Smallchild, der, wenn er nicht die Seekrankheit hatte, ein kluger Mann war, machte sein Glück. Simon Heavysides fuhr fort, seine Familie zu vermehren, und starb im Armenhause.
Urtheilen Sie selbst — wie Mr. Jolly sagen würde — wie sich die Zukunft der beiden auf der See geborenen Knaben im späteren Leben gestalten mußte. Ich, der kahlköpfige Säugling, habe seit Jahren nichts von dem behaarten Kinde gesehen und gehört. Der Mann soll klein von Gestalt sein, wie Mr. Smallchild — aber ich weiß zufällig, daß er dem Gesicht nach dem seligen Heavysides sprechend ähnlich ist. Ich dagegen habe die lange Figur des Zimmermanns, aber ich besitze nichts destoweniger die Smallchild'schen Augen und Haare.
Machen Sie nun daraus, was Sie können. Sie werden finden, daß es schließlich auf Eins hinausläuft. Smallchild junior geht es gut in der Welt, weil er sechs Pfund vierzehn drei Viertel Loth wog, — Heavysides junior geht es schlecht, weil er sieben Pfund ein und ein Viertel Loth im Gewicht hatte. Das ist das Ende von der Geschichte.