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John Jagos Geist



Siebentes Kapitel - Das Verteidigungsmaterial

Als wir durch den Sitzungssaal gingen, um uns nach den für uns bestimmten Stühlen zu begeben, kamen wir an der Tribüne vorüber, aus welcher die Gefangenen zusammen.standen.

Silas beachtete uns nicht. Ambrosius machte uns ein freudiges Zeichen des Erkennens und legte dann die Hand auf die Barriere vor sich hin. Naomi war gerade groß genug, dieselbe zu erreichen und ergriff sie, als wir unter ihm vorübergingen.

»Ich weiß, daß Du unschuldig bist,« flüsterte sie ihm zu und verließ ihn mit einem liebevollen Blick der Ermutigung, um mir nach unserem Platz zu folgen. Ambrosius verlor keinen Augenblick seine Selbstbeherrschung. Ich hatte vielleicht Unrecht, aber ich hielt dies für ein schlechtes Zeichen.

Die Sachlage, wie sie sich für die Anklage gestaltete, sprach sehr gegen die Verdächtigten.

Ambrosius und Silas wurden angeklagt, John Jago mittelst des Knüttels oder einer anderen Waffe ermordet und den Körper zum Zweck der Zerstörung in brennenden Kalk geworfen zu haben. Als Beweis dieser letzteren Behauptung wurden das Messer, welches der Verstorbene beständig bei sich geführt hatte, und die Metallknöpfe, welche als zu seinem Rocke gehörig erkannt wurden, vorgelegt. Man zog daraus den Schluß, daß diese unzerstörbaren Substanzen und einige Überreste der größeren Knochen allein der Wirkung des brennenden Kalkes entgangen seien. Nachdem auch ärztliche Zeugen vernommen worden, welche diese Theorie unterstütztem indem sie die Knochen für menschliche erklärten, schritt die Anklage zunächst zu dem Beweise, daß der Vermisste von den beiden Brüdern ermordet und in den brennenden Ofen geworfen worden sei, um ihre Schuld zu verbergen.

Alle Zeugenaussagen stimmten in Betreff der hartnäckigen Feindschaft überein., welche die Brüder gegen den Verstorbenen an den Tag gelegt, der drohenden Sprache, welcher sie sich beständig gegen ihn bedient hätten, und ihres wiederholten heftigen Streits mit ihm, welcher in der ganzen Gegend zum öffentlichen Skandal geworden wäre und bei einer Gelegenheit mit einem Schlag geendet hätte. Die schmachvolle Szene, welche unter meinem Fenster stattgefunden, der Umstand, daß der nämliche Knüttel, den ich unmittelbar nach dem Streit an Ambrosius zurückgegeben hatte, neben den menschlichen Überresten gefunden worden war — alles dieses und eine Menge kleinerer Nebenumstände, die von unverwerflichen Zeugen beschworen wurden, führte mit entsetzlicher Bestimmtheit zu dem Schluß, zu dem die Anklage gekommen war.

Ich beobachtete die Brüder, während sich das Gewicht der Beweise schwerer und schwerer an sie hing. Äußerlich wenigstens bewahrte Ambrosius noch immer seine Kaltblütigkeit, während Silas sich ganz verschieden von ihm verhielt. In seinem Geisterbleichen Antlitz, in seinen großen, knochigen Händen, welche die Barriere vor ihm krampfhaft umklammert hielten, in den entsetzten Blicken, mit denen er jeden neuen Zeugen anstarrte, malte sich die verächtlichste Furcht. Das Gefühl des Publikums richtete ihn auf der Stelle; der öffentlichen Meinung nach hatte er sich bereits selbst als schuldig verraten.

Den einzigen Vorteil, den die Verteidigung bei dem Kreuzverhör errang, betraf die verkohlten Knochenreste.

Über diesen Punkt scharf befragt, gab die Mehrzahl der medizinischen Zeugen zu, daß die Untersuchung eine etwas eilige gewesen und daß es nicht absolut unmöglich sei, daß die Knochen von einem Tiere und nicht von einem Menschen herrühren könnten. Der Präsident entschied darauf, daß eine abermalige Untersuchung stattfinden und die Zahl der Sachverständigen vermehrt werden sollte.

Hiermit endete die Voruntersuchung und die Gefangenen wurden wieder abgeführt. Silas war am Schluß des Verhörs der Art gebrochen, daß er beim Hinausgehen aus dem Sitzungssaal von zwei Männern unterstützt werden mußte. Ambrosius lehnte sich über die Barriere, um mit Naomi einige Worte zu wechseln, ehe er dem Kerkermeister folgte.

»Warte nur,« flüsterte er vertraulich, bis an mich die Reihe kommt zu sprechen!« Naomi warf ihm eine zärtliche Kusshand zu und drehte sich mit hellen Tränen in den Augen nach mir um.

»Warum lässt man ihn nicht gleich erzählen, was er zu erzählen hat?« fragte sie. »Es ist doch so offenbar wie irgend etwas, daß Ambrosius unschuldig ist. Es ist eine wahre Schande., ihn ins Gefängnis zurückzuschicken. Sind Sie nicht auch der Meinung?«

Wenn ich meine wahren Gedanken hätte verraten wollen, so hätte ich sagen müssen, daß nach meiner Meinung Ambrosius nichts bewiesen hatte, als daß er eine mehr als gewöhnliche Selbstbeherrschung besaß. Das konnte ich aber meiner kleinen Freundin unmöglich bekennen und lenkte Ihren Geist von der Frage über die Unschuld ihres Geliebten dadurch ab, daß ich ihr die nötige Erlaubnis zu erwirken vorschlug, um ihn am folgenden Tage im Gefängnis besuchen zu dürfen. Sofort trocknete sie ihre Tränen, und es ward mir ein leiser, liebenswürdiger Händedruck zu Teil.

»Ach, was Sie für ein guter Mensch sind,« rief die offenherzige Amerikanerin. »Wenn Sie einmal heiraten, so wird Ihre Frau es nicht bereuen, Ja gesagt zu haben.«

Mr. Meadowcroft bewahrte unverbrüchliches Stillschweigen auf dem Heimwege nach der Farm, auf welchen wir zu beiden Seiten seines Krankenwagens einhergingen. Als seine bisherige Zuversicht und Energie schien ihn unter den überwältigenden Schlägen, welche während der Gerichtssitzung auf ihn eingestürmt waren, verlassen zu haben. Seine Tochter tat in ihrem steifleinenen Mitgefühl mit Naomi uns ihre Ansicht nur dunkel durch Bibelstellen kund, welche, wenn sie überhaupt einen Sinn hatten, besagten, daß sie Alles vorausgesehen hatte, wie es gekommen, und daß nach ihrem Gefühl das Traurigste an der Sache war, daß John Jago unvorbereitet ins Jenseits hinüber gemußt hatte.

Am folgenden Morgen erhielt ich die nachgesuchte Erlaubnis, die Gefangenen besuchen zu dürfen.

Wir fanden Ambrosius noch immer voll Vertrauen auf ein für sich und seinen Bruder günstiges Resultat des gerichtlichen Verhörs und er war voll ebenso großen Eifers, die Geschichte, wie sie sich am Kalkofen begeben hatte, zu erzählen, als Naomi dieselbe zu hören. Der Gefängnisbeamte, welcher der Unterredung selbstverständlich beiwohnte, machte ihn darauf aufmerksam, daß das, was er sagte, zu Protokoll genommen werden und vor Gericht gegen ihn vorgebracht werden könnte.

»Nehmen Sie es in Gottes Namen zu Protokoll, Sir,« antwortete Ambrosius. »Ich habe Nichts zu fürchten, ich sage nur die reine Wahrheit.«

Damit wandte er sich zu Naomi und begann seine Erzählung, die ich so getreu als ich vermag wiedergeben will.

»Ich will Dir auch gleich zu Anfang ein Bekenntnis ablegen, mein Mädchen,« hub er an. »Nachdem Mr. Lefrank uns an jenem .Morgen verlassen hatte, fragte ich Silas, wie er zu meinem Stock gekommen sei. Darauf erzählte er mir, was zwischen ihm und John Jago unter Mr. Lefranks Fenster geschehen und was die Veranlassung dazu gewesen wäre. Ich gestehe es offen, Naomi, ich war eifersüchtig und dachte das Schlimmste von Dir und John.«

Hier fiel ihm Naomi ohne Umstände in die Rede.

»War es das, weshalb Du so unhöflich mit mir sprachst, als wir Dich am Gehölz fanden?« fragte sie.

»Ja.«

»Und weshalb Du ohne Kuss von mir schiedst, als Du nach Narrabee gingst?«

»Deshalb.«

»Dann bitte dafür um Verzeihung, ehe Du ein Wort weiter sprichst.«

»Ich bitte um Verzeihung.«

»Sage, daß Du Dich wegen Deines Betragens schämst!«

»Ich schäme mich vor mir selbst,« wiederholte Ambrosius mit reuiger Miene.

»So, nun magst Du fortfahren. Nun bin ich zufrieden gestellt.«

Ambrosius fuhr fort: »Im Gespräch vertieft, begaben wir uns auf unseren Weg nach der Lichtung an der entgegengesetzten Seite des Gehölzes und das Unglück wollte es, daß wir den Pfad einschlagen, welcher an dem Kalkofen vorbeiführt. Als wir um die Ecke bogen, stießen wir auf John Jago, welcher sich auf seinem Wege nach Narrabee befand. Ich war zu wütend auf ihn, ich gestehe es, um ihn ruhig vorüber zu lassen. Ich sagte ihm derb meine Meinung, die er, gereizt wie er wahrscheinlich noch war, ebenso derb erwiderte. Ich bekenne, ich drohte ihm mit dem Stock, aber ich kann es auch beschwören, daß ich ihm kein Leid antun wollte. Du weißt von Silas Hand her, daß John Jago mit dem Messerziehen schnell fertig ist. Er hat im Westen gelebt, wo man stets irgend eine Waffe in der Tasche trägt. Es ist sehr wahrscheinlich, daß er mir ebenso wenig ein Leid zufügen wollte, aber konnte ich dessen sicher sein? Als er mit dem gezogenen Messer auf mich zu trat, ließ ich den Stock fallen und packte ihn. Mit einer Hand entriss ich ihm das Messer, mit der anderen fasste ich ihn an dem Kragen seines alten, mürben Rockes und schüttelte ihn, daß ihm sein Gebein unter der Haut rasselte. Ein großes Stück des Rockes blieb mir in der Hand und ich warf erst dies und dann das Messer in den brennenden Kalk; und wenn Silas mich nicht gehindert hätte, ich glaube, John Jago wäre hinterdrein geflogen. Silas aber hielt mich fest und rief ihm zu: »Machen Sie sich aus dem Staube und kommen Sie nicht wieder, wenn Sie nicht in dem Kalkofen verbrannt werden wollen! Einen Augenblick stand er mit wogender Brust, seinen zerrissenen Rock fest zusammen haltend da, und blickte uns an. Dann sagte er in eisigem, vollkommen ruhigem Tone: ›Manches Scherzwort wird unverhofft zur Wahrheit, Mr. Silas. Ich werde nicht wiederkommen.‹. Damit drehte er sich um und ging davon. Wir standen wie zwei Narren da und sahen uns an. ›Du glaubst doch nicht an das, was er sagt?‹ fragte ich. ›Ah bah, erwiderte Silas, der ist zu verliebt in Naomi, um nicht wiederzukommen!‹. »Was hast Du, Naomi?«

Ich hatte ebenfalls bemerkt, daß Naomi beiden Worten, welche Silas erwidert hatte, zusammengezuckt und bleich geworden war.

»Was soll ich haben?« entgegnete sie.

Dein Bruder hat kein Recht, sich Freiheiten mit meinem Namen herauszunehmen. Erzähle weiter. Hatte Silas noch mehr zu bemerken?«

»Ja, er sah in den Ofen hinab und sagte.: ›Warum hast Du das Messer fortgeworfen, Ambrosius?‹ ›Wie soll man wissen, warum man etwas tut, wenn man im Zorn ist,‹ versetzte ich. ›Ich an Deiner Stelle hätte es behalten,‹ meinte er, ›es ist ein vortreffliches Messer.‹ Ich nahm den Knüttel vom Boden auf und sagte: ›Wer behauptet denn schon, daß es verloren ist?‹ damit kletterte ich an dem Ofen hinauf und fing mit dem Stock darin herum zu stochern an, um es so nahe zu bringen, daß wir es mittels einer Schaufel oder sonst etwas herausholen konnten. ›Gib mir Deine Hand,‹ sagte — ich zu Silas, ›damit ich mich weiter vorbeugen kann, dann will ich es gleich haben.‹ Aber es gelang dennoch nicht, und statt das Messer zubekommen, wäre ich beinahe selbst in den brennenden Kalk gefallen. Die Dämpfe mußten mich betäubt haben. Alles, was ich weiß, ist.,daß mir schwindelig wurde und ich den Stock fallen ließ, und hätte mich Silas nicht zurück gerissen, so wäre ich ihm unfehlbar nach gestürzt. ›Gib es auf,‹ sagte Silas. ›Wenn ich Dich nicht gehalten hätte, so wäre John Jagos Messer dennoch Dein Tod geworden.‹ Er führte mich am Arme fort und wir setzten unseren Weg nach dem Gehölze fort. An der Stelle, wo Ihr uns fandet, machten wir Halt und ließen uns auf dem gefüllten Baumstamm nieder. Wir sprachen noch weiter über John Jago und kamen überein abzuwarten, was er tun würde, und mittlerweile über den Vorfall ganz zu schweigen. Als wir noch darüber beratschlagten, wurden wir von Dir und Mr. Lefrank überrascht und Du hattest ganz Recht., als Du vermutetest, daß wir etwas vor Dir zu verheimlichen suchten. Jetzt kennst Du das Geheimnis.«

Er machte eine Pause und ich benutzte dieselbe, um eine Frage, die erste, die ich mir erlaubte, an ihn zu richten.

»Befürchteten Sie oder Ihr Bruder schon damals die Anklage, welche jetzt gegen Sie erhoben worden ist?« fragte ich.

»Es kam uns nicht im Entferntesten in den Sinn.« erwiderte Ambrosius. »Wie hätten wir voraussehen sollen, daß die Nachbarn den Kalkofen durchsuchen und uns so viel Schlechtes nachsagen würden? Alles, was wir fürchteten, war, daß der Vater von dem Streit hören und erbitterter denn je auf uns sein würde. Mir war noch mehr als Silas daran gelegen, die Sache geheim zu halten, weil ich Naomi eben so sehr als den Vater zu berücksichtigen hatte. Versetzen Sie sich in meine Lage, Sir, und Sie werden mir zugeben, daß die Häuslichkeit sich für mich nicht besonders reizend gestaltete, wenn John Jago wirklich von der Farm wegblieb und es herauskam, daß ich daran Schuld sei.«

Dies erklärte allerdings sein Betragen, es stellte mich aber dennoch nicht ganz zufrieden.

»Sie glauben also,« fuhr ich fort, »daß John Jago seine Drohung von der Farm fortzubleiben, ausgeführt hat und sich in diesem Augenblick lebend irgendwo verbirgt?«

»Ganz sicher,« sagte Ambrosius.

»Ganz sicher,« wiederholte Naomi.

»Glauben Sie an das Gerücht, demzufolge er aus der Reise nach New-York gesehen worden ist?«

»Ich glaube fest daran, und mehr noch, ich glaube, ich war ihm auf der Spur. Es lag mir so viel daran, ihn zu finden und ich hätte ihn auch sicher gefunden, wenn man mir gestattet hätte, in New-York zu bleiben.«

Ich sah Naomi an.

»Ich glaube es auch,«l sagte sie.»John Jago verbirgt sich absichtlich.«

»Meinen Sie, daß er sich vor Ambrosius und Silas fürchtet?«

Sie zauderte.

»Vielleicht fürchtet er sie,« sagte sie dann mit eigentümlicher Betonung.

»Aber Sie halten es nicht für wahrscheinlich ?«

Sie zögerte wieder. Ich drang weiter in sie.

»Glauben Sie, daß es irgend einen andern Grund für sein Verschwinden gibt?«

Sie schlug die Augen nieder und antwortete mit eigensinnigem, fast trotzigem Ausdruck:

»Ich kann es nicht sagen.«

Ich wandte mich an Ambrosius

»Haben Sie uns sonst noch etwas mitzutheilen?« fragte ich.

»Nein, ich habe Ihnen alles erzählt, was ich weiß.«

Ich stand auf, um mit dem Advokaten zusprechen., den ich für unsere Sache gewonnen hatte. Er hatte uns geholfen, den Zulassungsbefehl zum Gefängnis auszuwirken, und uns dorthin begleitet. Während Ambrosius seine Geschichte vortrug, hatte er bei Seite sitzend stumm zugehört und die Wirkung beobachtet, welche dieselbe auf den Gefängnisbeamten und auf mich hervorbrachte.

»Glauben Sie, daß dies zur Verteidigung dienen kann ?« fragte ich ihn leise.

»Dies und nichts anderes, Mr. Lefrank. Unter uns, was halten Sie davon ?«

»Unter uns, ich glaube, daß sie vor die Geschworenen kommen werden.«

»Auf Anklage wegen Mord.«

»Ja, auf Anklage wegen Mord.«


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