John Jagos Geist
Sechstes Kapitel - Der Kalkofen
Mr. Meadowcroft gewann zuerst die Sprache wieder.
»Es muß Jemand nach Johns Verbleiben forschen,« sagte er.
»Ohne einen Augenblick zu verlieren,« setzte seine Tochter hinzu.
Ambrosius trat plötzlich aus der dunkeln Ecke der Stube hervor und sagte:
»Ich will es tun.«
Silas war ihm gefolgt.
»Und ich will Dich begleiten.«
»Einer von Euch ist genug!« entschied Mr. Meadowcroft mit Ansehen, »wenigstens für den Augenblick. Geh’ Du« Ambrosius. Dein Bruder kann vielleicht später gebraucht werden.Wenn ein Unglück passiert ist — was Gott verhüten möge — werden wir in mehr als einer Richtung Nachforschungen anstellen müssen. Silas, Du bleibst auf der Farm.«
Die Brüder gingen zusammen aus dem Zimmer — Ambrosius, um sich reisefertig zumachen, Silas, um ihm ein Pferd zu satteln. Naomi schlüpfte hinter ihnen hinaus. Auf diese Weise mit Mr. Meadowcroft und seiner Tochter allein gelassen, die sich beide in Angst um den Vermissten verzehrten, es aber unter dem Anschein frommer Resignation zu verbergen suchten, zog ich mich, sobald ich es höflicherweise konnte, nach meinem Zimmer zurück. Als ich die Treppe zu demselben hinaufstieg, entdeckte ich Naomi, halb verborgen in einer von einem, altmodischen Fenster gebildeten Nische auf dem Flur des ersten Stockes. Meine mutige, kleine Freundin war tief bekümmert. Ambrosius hatte nicht so zärtlich wie sonst Abschied von ihr genommen, und sie war mehr als jemals überzeugt, daß Ambrosius etwas vor ihr geheim halte.
Wir Alle erwarteten mit ängstlicher Spannung den nächsten Tag. Dieser aber hüllte das Geheimnis nur in noch tieferes Dunkel.
Das Pferd, auf welchem Ambrosius nach Narrabee geritten, ward von einem Groom des dortigen Wirtshauses nach der Farm zurück.gebracht. Dazu übergab er einen Brief von Ambrosius, der uns von Neuem in Bestürzung versetzte. Weitere Nachfragen hätten aufs Bestimmteste ergeben, daß der Vermisste Narrabee nicht betreten hätte. Die einzige erlangte Auskunft über sein Verbleiben wäre eine durchaus unzuverlässige aus dritter Hand.. Es würde gesagt, daß ein Mann, dessen Beschreibung im Allgemeinen auf John Jago passte, am Tage vorher in einem Waggon der Bahnlinie nach New-York gesehen worden sei. Auf diese obgleich unbestimmte Information hin, hätte Ambrosius sich entschlossen, seine Nachforschungen bis New-York auszudehnen, um sich von der Wahrheit des Gerüchts zu überzeugen.
Dieses auffallende Vorgehen erregte bei mir den unabweislichen Verdacht, daß wirklich etwas Ernstes vorgefallen sein mußte. Ich behielt meinen Zweifel für mich, war aber von dem Augenblick an darauf vorbereitet, die ernsthaftesten Folgen aus dem Verschwinden John Jagos entstehen zu sehen. Sie zeigten sich noch an demselben Tage.
Die Neuigkeit von dem, was auf der Farm vorgefallen, hatte nun Zeit gehabt, sich in der Gegend zu verbreiten.. Auf die feindseligen Gefühle unter den Männern bereits aufmerksam geworden, hatten die Nachbarn auch von dem bedauerlichen Auftritt, der unter meinem Schlafzimmerfenster stattgefunden, wahrscheinlich durch die dabei anwesend gewesenen Arbeiter Kenntnis erhalten. Die öffentliche Meinung spricht sich in Amerika ohne die geringste Rücksicht auf etwaige Folgen frei und unumwunden aus, und die öffentliche Meinung behauptete in diesem Falle, daß der verschollene Mann das Opfer eines Fallstricks geworden, und machte einen oder beide Brüder Meadowcroft für sein Verschwinden verantwortlich. In dieser vernunftgemäßen Anschauung von der Sache wurde die öffentliche Meinung im Laufe des Tages durch das Gerücht nicht wenig bestärkt, daß ein Methodistenprediger, der sich kürzlich in Morwick niedergelassen hatte, und in dem ganzen Distrikt die größte Achtung genoss, geträumt habe, John Jago wäre ermordet und sein Leichnam auf der Farm versteckt worden. Noch bevor es Abend geworden, entstand der allgemeine Ruf nach einer Untersuchung, ob der Traum auf Wahrheit beruhe. Nicht nur in der nächsten Umgegend, sondern auch in der Stadt Narrabee selbst verlangte es die Volksstimme gebieterisch, daß auf Morwick Farm Nachforschungen nach John Jagos sterblichen Überresten angestellt würden.
Unter der schrecklichen Wendung, welche die Angelegenheit nun genommen hatte, erwies Mr. Meadowcroft, der Vater, eine Geistesstärke und Energie, auf die ich nicht gefasst gewesen war.
»Meine Söhne haben ihre Fehler,« sagte er, »große Fehler, und keiner weiß das besser als ich. Meine Söhne haben sich schlecht und undankbar gegen John Jago benommen. Das leugne ich ebenfalls nicht. Aber Ambrosius und Silas sind keine Mörder. Stellt Eure Nachforschungen an! Ich fordere sie, ja, ich bestehe darauf, nach dem, was gesagt worden ist, um der Ehre meiner Familie und meines Namens willen.«
Die Nachbarn nahmen ihn beim Wort.
Die Sektion für Morwick organisierte sich auf der Stelle. Das souveräne Volk trat in ein Komitee zusammen, hielt Reden, wählte kompetente Personen, um das öffentliche Interesse zu wahren, und die Nachforschungen begannen schon am folgenden Tage. Das ganze Verfahren, wie lächerlich formlos es auch vom legalen Standpunkte betrachtet erschien, wurde von diesem merkwürdigen Volke mit einem so ernsten und strengen Pflichtgefühl gehandhabt, als wenn es von dem höchsten Tribunal des Landes damit beauftragt worden wäre. —
Naomi begegnete der Kalamität, welche das Haus betroffen, mit derselben ruhigen Entschlossenheit wie ihr Oheim. Des Mädchens Mut wuchs in dem Maße, als die Umstände ihn erheischten. Ihre einzige Unruhe galt Ambrosius.
»Er hätte zurückkommen sollen,« sagte sie zu mir. »Die Menschen hier herum sind schlecht genug, seine Abwesenheit als ein Bekenntnis seiner Schuld auszulegen.«
Sie hatte Recht. Bei der Stimmung welche unter der Bevölkerung herrschte, war Ambrosius Abwesenheit an sich schon ein verdächtigender Umstand.
»Wir könnten nach New.York telegraphieren,« meinte ich, »wenn Sie nur wüßten, wo ihn eine Depesche möglicherweise finden würde.«
»Ich weiß, in welchem Hotel die Meadowcrofts gewöhnlich in New.York logieren,« erwiderte sie. »Nach meines Vaters Tode ward ich auch dort hingewiesen, um Miß Meadowcroft zu erwarten, bis sie mich nach Morwick abholen konnte.«
Wir beschlossen daher.nach jenem Hotel zu, telegraphieren. Ich schrieb die Depesche und Naomi sah mir dabei über die Schulter zu, als wir durch eine fremde Stimme dicht hinter uns erschreckt wurden.
»Ah, das ist also seine Adresse,« sagte die Stimme. »Wir waren schon in größter Verlegenheit deshalb.«
Der Sprecher war mir gänzlich fremd. Naomi erkannte ihn als einen der Nachbarn.
»Wozu brauchen Sie seine Adresse,« fragte sie scharf.«
»Ich glaube, Miß, wir haben die Überreste John Jagos gefunden,« versetzte der Mann. »Silas ist schon festgenommen und nun fehlt uns noch Ambrosius, denn Beide sind des Mordes verdächtig.«
»Das ist eine Lüge, eine schändliche Lüge,« rief Naomi zornig.
Der Mann wandte sich an mich.
»Führen Sie sie in jenes Zimmer, Sir, man lasse sie sich selbst überzeugen.« Wir traten zusammen in das anstoßende Gemach.
In einer Ecke desselben saß Mr. Meadowcroft in tief gebeugter Haltung, neben ihm seine Tochter. Sie hielt seine Hand und wir sahen, wie über ihr strenges, steinernes Gesicht stille Tränen rannten. Auf einem Fenstersitz ihnen gegenüber kauerte Silas Meadowcroft. Sein unsteter Blick und seine schlaff herabhängenden Arme verrieten deutlich seine innere Angst. Einige Personen, welche bei den Nachforschungen sich beteiligt hatten, saßen in seiner Nähe und bewachten ihn. Die Hauptmasse aber der im Zimmer anwesenden Fremden stand um einen Tisch in der Mitte desselben zusammengedrängt. Als ich mich mit Naomi näherte, machte man Platz und vergönnte uns den vollen Anblick einiger darauf befindlichen Gegenstände.
In der Mitte der verschiedenartigen Dinge lag ein kleiner Haufen verbrannter Knochen, um welchen sich ein Messer, zwei Metallknöpfe und ein teilweise verbrannter Knüttel gruppierten. Das Messer wurde von den Arbeitern der Farm als dasjenige erkannt, welches John Jago beständig bei sich geführt und mit welchem er auch Silas Meadowcrofts Hand verletzt hatte. In Betreff der Knöpfe war Naomi selbst gezwungen zu erklären, daß das absonderliche Gepräge darauf ihre Aufmerksamkeit auf John Jagos Rock gelenkt hatte, und was den Stock anlangte, so erkannte ich, verbrannt wie er war, ohne Mühe den eigentümlich geschnitzten Griff. Es war der schwere, büchene Knüttel, den ich Silas aus der Hand genommen und Ambrosius, welcher ihn als sein Eigentum reklamiert, übergeben hatte. Auf mein Befragen teilte man mir mit, daß die Knochen, das Messer, die Knöpfe und der Knüttel zusammen in einem gegenwärtig benutzten Kalkofen auf der Farm gefunden worden seien.
»Wird es Ernst?« fragte mich Naomi leise, als wir von dem Tisch zurücktraten.
Es wäre eine Grausamkeit gewesen, sie jetzt zu täuschen.
»Ja,« flüsterte ich zurück. »Es wird Ernst.«
Das Untersuchungskomitee tat seine Schritt ein strengster Ordnung. Es wurden sofort die erforderlichen Meldungen bei dem Friedensrichter gemacht und dieser erließ den Verhaftsbefehl. Noch in derselben Nacht befand sich Silas hinter Schloß und Riegel, und ein Beamter ward abgeschickt, um Ambrosius in New-York zu verhaften.
Ich meinerseits tat das Wenige, was ich vermochte, um der Familie nützlich zu sein. Mit Meadowcrofts und seiner Tochter still.schweigender Einwilligung begab ich mich nach Narrabee und vermochte den ersten Anwalt des Städtchens, die Verteidigung zu übernehmen. Nachdem dies getan war, blieb nichts übrig, als auf Nachricht von Ambrosius zuwarten und auf das Verhör vor dem Untersuchungsrichter, welches sofort stattfinden sollte. Ich will keinen Versuch machen, die Stimmung zu beschreiben, welche während dieser furchtbaren Zeit der Erwartung im Hause herrschte und nur soviel sagen, daß Naomis Benehmen mich in der Ansicht bestärkte, daß sie einen edlen Charakter besaß. Ich war mir über den Zustand meiner Empfindungen damals nicht klar, jetzt aber glaube ich, daß ich in jener Zeit Ambrosius um seine Braut zu beneiden anfing.
Zwei Tage später fand die Voruntersuchung statt. Ambrosius und Silas wurden des vorbedachten Mordes an John Jago angeklagt. Ich erhielt eine gerichtliche Vorladung als Zeuge auf Naomis Verlangen nahm ich das arme Mädchen zu der Gerichtssitzung mit und blieb während der Verhandlungen an ihrer Seite. Auch mein Gastfreund in seinem Krankenstuhl und seine Tochter waren anwesend.
Das war das Resultat meiner Reise über den Ozean, um Ruhe zu suchen, und so widerlegten die Verhältnisse meine anfängliche vorschnelle Annahme, daß mir hier ein sehr einförmiges Leben bevorstände.
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