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Die Blinde



Dreizehntes Kapitel - Leider ein Aufschub der Heirath.

Wir blieben allein zurück, da Nugent die beiden Aerzte an die Garteupforte geleitete. Natürlich mußte jetzt Oscar’s Abwesenheit Lucilla’s Aufmerksamkeit erregen. Als sie eben in Ausdrücken von ihm sprach, die es mir nicht leicht gemacht haben würden, sie zu beruhigen, wurden wir durch das Geschrei des Baby unterbrochen, welches aus dem Garten zu uns hinauf drang. Ich eilte ans Fenster und blickte hinaus.

Frau Finch hatte wirklich ihren verzweifelten Entschluß zur Ausführung gebracht, den beiden Aerzten aufzulauern, um sie über Baby’s Augen zu consultiren. Da sah ich sie in ihrem Unterrock und mit ihrem Shawl« während ihr Roman und ihr Schnupftuch auf dem Rasen lagen, die Augenärzte auf dem Wege nach dem Wagen verfolgend Ohne sich um das Unpassende eines solchen Gebahrens zu kümmern, nahm Herr Grosse Reißaus. Er stopfte sich vor dem Gekreisch des Kindes die Ohren mit den Fingern zu und lief so rasch seine kurzen Beine ihn tragen konnten. Nugent lief ihm Voraus, um so rasch als möglich die Gartenpforte zu öffnen. Der respectable Herr Sebright, dem seine — Standeswürde nicht zu laufen gestattete, bildete die Arrièregarde. So oft Frau Fiuch ihn erreichte, hielt sie ihm das Baby entgegen; aber eben so oft protestirte Herr Sebright mit einer höflich abwehrenden Handbewegung. Nugent schlug mit schallendem Gelächter die Gartentür weit auf. Herr Grosse stürzte durch die offene Pforte und verschwand; Herr Sebright folgte Herrn Grosse und Frau Finch versuchte es, Herrn Sebright zu folgen, als plötzlich der Pfarrer erschien. Durch den Lärm, der in das Heiligthum seines Arbeitszimmers drang, aufgescheucht und erschreckt, war er in den Garten hinabgestiegen und brachte seine Frau auf einmal zur Ruhe durch die im tiefsten Baß an sie gerichtete Frage:

»Was hat dieser unpassende, störende Austritt zu bedeute?«

Der Wagen fuhr davon und Nugent schloß die Gartenpforte wieder.

Nugent wechselte mit dem Pfarrer einige für mich unverständliche Worte, die sich vermuthlich auf den Besuch der beiden abgereisten Aerzte bezogen.

Nach einer Weile wandte Herr Fluch, allem Anschein nach durch etwas, was Nugent ihm gesagt hatte, beleidigt, diesem den Rücken und wandte sich an Oscar, der offenbar nur auf die Abfahrt der Aerzte gewartet hatte, um sich wieder zu zeigen und jetzt eben wieder auf dem Rasen erschien. Der Pfarrer gab ihm vertraulich den Arm, winkte seiner Frau mit der Hand und gab ihr seinen anderen Arm. Majestätisch zwischen den beiden dem Hause zuschreitend, machte der Ehrwürdige Finch seine Autorität bald gegen Oscar, bald gegen seine Frau geltend. Seine gewaltiges Baßstimme drang, unharmonisch von dem Gewimmer des müden Kindes begleitet, deutlich an mein Ohr.

Der Papst von Dimchurch hub an mit folgenden furchtbaren Worten:

»Oscar! ich bitte Sie, wohl zu merken, daß ich meinen Protest gegen diesen gottlosen Versuch, mit den Augen meiner unglücklichen Tochter zu experimentiren, aufrecht erhalte. Liebe Frau, laß es Dir, bitte, gesagt sein, daß ich Deine unpassende Verfolgung zweier fremder Augenärzte nur in Rücksicht auf Deinen gegenwärtigen Zustand entschuldige. Nach Deinem achtvorletztem Wochenbett, warst Du, wie ich mich erinnere, in einem so hysterischen Zustande, daß Du ganz unzurechnungsfähig wurdest. Schweig! Du bist jetzt wieder in einem Zustande hysterischer Unzurechnungsfähigkeit. Oscar! ich muß es um meiner selbstwillen ablehnen, irgendeiner Berathung, welche etwa dem Besuch dieser beiden Aerzte folgen möchte, beizuwohnen. Ich bin aber nicht abgeneigt, Ihnen zu Ihrem eigenen Besten zu rathen. Ich stehe fest auf meinen Füßen, stellen Sie sich auch fest auf die Füße. Frau, seit wann hast Du nichts gegessen? Seit zwei Stunden? Bist Du sicher, daß es zwei Stunden her ist? Gut. Du mußt ein Beruhigungsmittel nehmen. Ich verordne Dir, ein warmes Bad zu nehmen und darin zu bleiben, bis ich zu Dir komme. — Oscar! mein guter Junge, es fehlt Ihnen an moralischem Gewicht. Versuchen Sie es, sich jedem Plan meiner unglücklichen Tochter, oder ihrer Rathgeber, welcher noch fernere Ausgaben von ärztlichem Honorar und fernere Besuche von Aerzten nach sich ziehen würde, entschlossen zu widersetzen. Frau, Du badest bei achtundzwanzig Grad Wärme; und nimmst eine halbliegende Stellung ein. — Oscar, ich autorisire Sie, wenn Sie der Sache auf keine andere Weise Einhalt thun können, mein moralisches Gewicht in die Wagschale zu werfen. Sie dürfen gern sagen: Ich widersetze mich dieser Sache mit Genehmigung des Herrn Finch. Herr Finch scundirt mir so zu sagen. Liebe Frau, versteh’ mich recht, was ich mit dem Dir verordneten Bade bezwecke. Schweiß ist eine milde Wirkung auf Deine Haut. Eines der Mädchen soll dabei Deine Stirn beobachten. Sobald sie feuchten Schweiß auf derselben bemerkt, soll sie mich holen. — Oscar, Sie werden mich wissen lassen, zu welchem Entschluß sie da oben in dem Zimmer meiner Tochter gelangen, nachdem man nicht nur gehört haben wird, was Sie zu sagen haben, sondern nachdem Sie mein moralisches Gewicht in die Wagschale geworfen haben werden. — Frau, nach dem Bade wirst Du Dich nur leicht kleiden. Ich verbiete Dir mit Rücksicht auf Deinen Kopf alles Enge, sei es nun eine Schnürbrust oder sei es Bänder um die Taille. Aus demselben Grunde verbiete ich Dir, Gamaschen anzuziehen. Du wirst weder Thee trinken, noch reden, sondern lose gekleidet auf dem Rücken liegen. Du wirst —«.

Was die unglückliche Frau noch weiter thun sollte, konnte ich nicht mehr hören, da Herr Finch mit ihr um die Ecke des Hauses bog.

Oscar wartete an der Thür unseres Flügels bis Nugent wiederkam, um mit ihm in das Wohnzimmer zu gehen, wo wir ihrer Rückkehr harrten.

Nach einigen Minuten erschienen die Brüder.

Während der ganzen Zeit, wo die Aerzte im Hause gewesen waren, hatte ich bemerkt, daß Nugent sich ängstlich zurückhielt. Nachdem er einmal die Verantwortlichkeit übernommen hatte, ein ärztliches Urtheil über Lucilla’s Augenleiden herbeizuführen, schien er entschlossen, sich darauf zu beschränken und sich nach diesem ersten Stadium der Angelegenheit nicht weiter in dieselbe zu mischen. Und jetzt wieder, als wir uns zusammengefunden hatten, um Lucilla’s Entschluß, zum Aeußersten zu schreiten, zu discutiren und vielleicht zu bekämpfen, weigerte sich Nugent abermals, sich mit der Angelegenheit zu befassen.

»Ich habe Oscar mitgebracht«", sagte er zu Lucilla, »und ich habe ihm gesagt, wie weit die beiden Augenärzte in ihren Ansichten über Ihren Fall auseinandergehen. Er weiß auch, daß Sie entschlossen sind, sich von der günstigeren Auffassung des Herrn Grosse leiten zu lassen — weiter weiß er nichts.«

Hier brach er plötzlich ab und setzte sich abseits von uns an einen Platz am andern Ende des Zimmers. Lucilla forderte Oscar sofort auf, sich über sein Benehmen zu erklären.

»Warum hast Du Dich von uns fern gehalten?« fragte sie. »Warum bist Du in dem wichtigsten Augenblick meines Lebens nicht bei mir geblieben?«

»Weil ich das Peinliche meiner Lage zu schmerzlich empfand«, antwortete Oscar. »Halte mich nicht« für rücksichtslos gegen Dich, Lucilla. Wenn ich mich nicht fern gehalten hätte, würde ich mich vielleicht nicht haben beherrschen können.«

Mir schien diese Antwort viel zu geschickt, als daß sie Oscar im Augenblick hätte eingefallen sein können. Ueberdies sah er bei den letzten Worten seinen Bruder an. Es schien trotz der kurzen Zeit, die zwischen unserer Rückkehr in’s Haus und ihrem Eintritt in’s Zimmer verflossen war, mehr als wahrscheinlich daß Nugent Oscar seinen Rath gegeben und ihm gesagt hatte, wie er sich verhalten solle.

Lucilla nahm seine Entschuldigung mit der graciösesten Freundlichkeit an.

»Herr Sebright erklärt«, sagte sie zu Oscar, »daß mein Augenlicht für immer verloren ist; Herr Grosse dagegen will dafür einstehen, daß eine Operation mir das Augenlicht wiedergeben wird. Brauche ich Dir zu sagen, welchem von beiden ich glaube? Wenn es mir nachgegangen wäre, so hätte Herr Grosse mich operiren müssen, ehe er nach London zurückkehrte.«

»Hat er sich geweigert das zu thun?«

»Ja.«

»Warum?«

Lucilla theilte ihm die Grunde mit, auf welche bin der deutsche Augenarzt den Aufschub als unerläßlich bezeichnet hatte. Oscar hörte aufmerksam zu und sah seinen Bruder wieder an, bevor er antwortete:

»Wie ich höre, würde Dein Entschluß, die Operation sofort zu wagen, die Folge haben, daß Du sechs Wochen lang in einem dunklen Zimmer eingesperrt sitzen und dann noch sechs fernere Wochen ganz nach der Anweisung des Arztes leben müßtest. Hast Du Dir überlegt, Lucilla, das das einen abermaligen Aufschub unserer Heirath um mindestens drei Monate bedeuten würde?«

»Wenn Du an meiner Stelle wärest, Oscar, so würdest Du die Wiederherstellung Deiner Augen durch nichts, selbst nicht durch Deine Heirath verzögern lassen. Bitte mich nicht zu überlegen, mein Liebster. Ich kann nichts überlegen, als daß sich mir die Aussicht eröffnete, Dich zu sehen.«

Diese furchtlos offene Geständniß brachte ihn zum Schweigen. Er saß zufällig gerade dem Spiegel gegenüber, so daß er sein eigenes Gesicht sehen konnte. Der arme Junge schob plötzlich seinen Stuhl so, daß er dem Spiegel den Rücken zukehrte.

Ich sah Nugent an und überraschte ihn dabei, wie er es versuchte, dem Blick seines Bruders zu begegnen. Seine Eingebung war es, wie ich mich jetzt fest überzeugt hielt, der Oscar gefolgt war, als er eine Schwierigkeit erhob, die mich von dem Augenblick an, wo die Frage der Operation zuerst an uns herangetreten war, präoccupirt hatte.

Ich muß hier einschalten, daß Oscar’s und Lucilla’s Heirath in Folge einer gefährlichen Erkrankung der Tante Lucilla’s noch auf ein anderes Hinderniß gestoßen war und bereits einen neuen Aufschub hatte erleiden müssen. Fräulein Batchford, die selbstverständlich zur Hochzeit eingeladen war, hatte in ihrer Antwort sehr rücksichtsvoll darum gebeten, es möge doch um ihretwillen die Heirath nicht verschoben werden. Lucilla hatte sich jedoch entschieden geweigert, ihre Hochzeit zu feiern, während die Frau, die ihr eine zweite Mutter gewesen, im Sterben liege. Der Pfarrer hatte Lucilla im Hinblick auf das Geld des reichen Fräulein Batchford in ihrem Entschluß bestärkt, und Oscar war genöthigt gewesen, sich zu fügen. So hatten die Dinge vor etwa drei Wochen gestanden. Die letzten Nachrichten aber meldeten, daß die alte Dame nicht nur wiederhergestellt, sondern daß sie auch in vierzehn Tugend wohl genug sein werde, die Hochzeit mitzumachen. Das Hochzeitskleid lag bereit, der Vater der Braut war bereit, die Trauung zu vollziehen, als plötzlich wie ein Verhängniß die Frage der Operation auftauchte und mit einem neuen, mindestens dreimonatlichen Aufschub drohte. Dazu nehme man die neue Verlegenheit, die sich daraus ergeben mußte, wenn einerseits Lucilla auf ihrem Entschluß und andererseits Oscar darauf beharrte, die in Folge der ärztlichen Behandlung seiner epileptischen Zufälle mit ihm vorgegangene Veränderung seiner Hautfarbe vor ihr zu verbergen. Die Folge davon mußte sein, daß Lucilla, wenn die Operation gelänge, vor, anstatt nach der Hochzeit, die Täuschung die man sich gegen sie erlaubt hatte herausfand. Wie sie aber diese so entdeckte Täuschung aufnehmen würde, das vorauszusehen, vermochte der Scharfsinn keines Einzigen unter uns.

Das war unsere Situation, als wir nach der Abreise der Aerzte in unserm häuslichen Parlamente versammelt saßen.

Als Nugent sah, daß es unmöglich war, seinem Bruder ein Zeichen zu geben, blieb ihm nichts anderes übrig, als zum ersten Mal thätig einzugreifen.

»Erlauben Sie mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, Lucilla«, sagte er, »daß es Ihre Pflicht ist, auch die andere Seite ins Auge zu fassen, bevor Sie sich entschließen. Erstens ist es doch gewiß hart für Oscar, seinen Hochzeitstag wieder aufschieben zu müssen. Zweitens aber ist Herr Grosse bei all’ seiner Geschicklichkeit doch nicht unfehlbar. Es ist immer möglich, daß die Operation mißlingt und daß Sie schließlich zu der traurigen Einsicht gelangen, Ihre Hochzeit ganz unnützer Weise um drei Monate verschoben zu haben. Bedenken Sie es wohl! Wenn Sie die Operation bis nach Ihrer Heirath verschieben, werden Sie allen Interessen gerecht und rücken die Zeit, wo Sie werden sehen können, nur um etwa einen Monat hinaus.«

Lucilla schüttelte ungeduldig den Kopf. »Wenn Sie blind wären«, antwortete sie, »würden Sie den Zeitpunkt, wo Ihnen Ihr Augenlicht wiedergegeben werden soll, aus freien Stücken nicht um einen Augenblick verschieben wollen. Sie bitten mich, mir die Sache zu überlegen? Ich bitte Sie, daran zu denken, wie viele Jahre ich verloren habe. Ich bitte Sie, sich die Glückseligkeit vorzustellen, die ich in dem Augenblick, wo Oscar mit mir am Altar stehen wird, empfinden werde, wenn ich den Gatten, dem ich mich für’s Leben antrauen lasse, sehen kann. Die Sache auf einen Monat verschieben? Sie könnten mich ebenso gut bitten, auf einen Monat zu sterben. Ist es nicht der Tod, hier blind zu sitzen und zu wissen, daß wenige Stunden von mir entfernt ein Mann weilt, der mir mein Augenlicht wiedergeben kann? Ich sage es Euch Allen gerade heraus, wenn Ihr fortfahrt, Euch mir in dieser Angelegenheit zu widersetzen, so stehe ich für nichts. Wenn Herr Grosse nicht vor Ende der Woche wieder nach Dimchurch berufen wird, so weiß ich, daß ich meinen freien Willen habe und werde ich zu ihm nach London gehen!«

Beide Brüder sahen mich an.

»Haben Sie nichts zu sagen, Madame Pratolungo?« fragte Nugent.

Oscar war zu schmerzlich aufgeregt, um zu reden. Leise kam er zu mir herangeschlichen, knieete bei mir nieder und küßte mir mit flehenden Blicken die Hand.

Mag mich für herzlos halten, wer will. Ich blieb auch von diesem Appell an mein Herz völlig ungerührt. Man bemerke wohl, daß Lucilla’s Interesse jetzt mit dem meinigen durchaus Hand in Hand ging. Ich war von Anfang an entschlossen, sie nicht heirathen zu lassen, ohne daß sie von der Entstellung ihres Verlobten Kunde erlangt habe. Wenn sie das that, was sie in den Stand setzen würde, diese Entdeckung selbst zu rechter Zeit zu machen, so würde sie mir damit die Erfüllung einer sehr peinlichen und undankbaren Pflicht ersparen und würde, wie ich es wollte, in vollkommner Kenntniß der Wahrheit heirathen. Bei dieser Sachlage konnte ich mich nicht für berufen halten, die Bemühungen der Zwillingsbrüder, sie zu einer Aenderung des Entschlusses zu bewegen, zu unterstützen.

Im Gegentheil mußte ich mich für berufen halten, sie in ihrem Entschluß zu bestärken.

»Ich finde nicht«, sagte ich, »daß ich hier irgend ein Recht habe, mich einzumischen. An Lucilla’s Stelle, nach einundzwanzigjähriger Blindheit, würde auch ich der Rücksicht auf die Wiederherstellung meiner Sehkraft jede andere Rücksicht opfern.«

Oscar stand sofort auf und trat, ersichtlich sehr aufgebracht gegen mich, an’s Fenster, Lucilla’s Gesicht strahlte von Dankbarkeit. »Ah«, sagte sie, »Sie verstehen mich.«

Auch Nugent stand auf. Er hatte in Oscar’s Interesse zuversichtlich darauf gerechnet, daß Lucilla’s Heirath der Wiederherstellung ihres Gesichts vorangehen werde. Diese Berechnung war jetzt völlig vereitelt. Die Heirath hing lediglich davon ab, wie Lucilla gesonnen sein würde, nachdem sie die Wahrheit erfahren habe. Ich sah Nugent’s Gesicht sich verfinstern, als er nach der Thür ging.

»Madame Pratolungo«, sagte er, »vielleicht werden Sie noch einmal das Verfahren, das Sie eben eingeschlagen haben, bereuen. Thun Sie, was Sie wollen, Lucilla, ich habe nichts mehr zu sagen.«

Er verließ das Zimmer mit einer Miene ruhiger Unterwerfung unter die Macht der Umstände, die ihm vortrefflich zu Gesicht stand. Jetzt wie immer war es unmöglich, ihn bei einem Vergleich mit seinem Bruder anders als im Vortheil zu finden. Oscar trat offenbar in der Absicht, Nugent zu folgen, vom Fenster zurück. Aber schon nach dem ersten Schritt stand er wieder still. Es blieb ihm noch ein letzter Versuch zu machen übrig. Das moralische Gewicht des Ehrwürdigen Finch war noch nicht in die Wagschale geworfen.

»Noch eines mußt Du wissen, Lucilla«, sagte er, »bevor Du Deinen Entschluß fassest. Ich habe Deinen Vater gesprochen und er hat mich gebeten, Dir mitzutheilen, daß er entschieden gegen das Experiment sei, welches Du mit Dir anstellen lassen willst.«

Lucilla seufzte ungeduldig. »Es ist nicht das erste Mal«, seufzte sie, »daß ich mich nicht der Sympathie meines Vaters erfreue. Der Widerspruch meines Vaters thut mir leid, aber er überrascht mich nicht, — überrascht bin ich von Deinem Benehmen!« fügte sie hinzu, indem sie plötzlich die Stimme erhob. »Du, der Du mich liebst, bist in dem Augenblick, wo ich an der Schwelle eines neuen Lebens stehe, nicht mit mir einverstanden. Guter Gott! Sind unsere Interessen bei dieser Angelegenheit denn nicht dieselben? Ist es Dir nicht der Mühe werth, zu warten, bis ich Dich bei dem feierlichen Gelübde, Dich zu lieben, Dir zu gehorchen und zu ehren, ansehen kann? Können Sie das begreifen?« appellirte sie plötzlich an mich. »Warum versucht er es, Schwierigkeiten zu erheben? Warum erfaßt er nicht die Sache mit demselben Eifer wie ich?«

Ich wandte mich nach Oscar um. Jetzt war der Augenblick für ihn gekommen, wo er sich ihr zu Füßen werfen und sein Bekenntniß ablegen mußte. Hier bot sich ihm eine Gelegenheit, wie sie Vielleicht nie wiederkehren würde. Ich bedeutete ihm ungeduldig durch Zeichen, diese Gelegenheit zu ergreifen. Er versuchte es — ich will ihm die Gerechtigkeit, die ich ihm seiner Zeit versagte, nachträglich widerfahren lassen — er versuchte es. Er trat auf sie zu, kämpfte mit sich, sagte: »Mein Benehmen hat einen bestimmten Grund, Lucilla« und hielt inne. Der Athem versagte ihm; er kämpfte wiederum sich; er brachte noch mühsam einige Worte hervor. »Einen Grund«, fuhr er fort, »den ich Dir zu gestehen mich bis jetzt gefürchtet habe —« und hielt dann Weder inne, während ihm die Schweißtropfen von der fahlen Stirn rannen.

Lucilla wurde ungeduldig, »Was ist denn das für ein Grund«, fragte sie in scharfem Ton.

Dieser Ton raubte ihm den letzten Rest von Entschlossenheit. Plötzlich wandte der unglückliche Mensch sein Gesicht von ihr ab und ergriff im letzten Moment wieder eine Ausflucht.

»Ich kann Deinen zuversichtlichen Glauben an Herrn Grosse nicht theilen«, sagte er mit schwacher Stimme.

Lucilla stand bitter enttäuscht auf und öffnete die die: Thür, die zu ihrem Zimmer führte. »Wenn Du blind wärest, würde ich Deinen Glauben und Deine Hoffnung getheilt haben. Es scheint, ich habe zu viel von Dir erwartet. Ich will Dir Zeit lassen, zu lernen!«

Sie ging in ihr Zimmer und schloß die Thür hinter sich. Ich vermochte es nicht länger auszuhalten. Ich stand auf, fest entschlossen, ihr zu folgen und ihr zu sagen, was er ihr zu sagen unterlassen hatte. Schon hatte ich die Hand aus den Thürgriff gelegt, als ich plötzlich von Oscar zurückgehalten wurde. Ich kehrte mich und und sah ihn schweigend an.

»Nein!« sagte er, den Blick fest auf mich geheftet und mit seiner Hand meinen Arm festhaltend: »Wenn ich es ihr nicht selbst sage, soll es ihr Niemand sagen.«

»Sie soll nicht länger getäuscht werden«, antwortete ich, »Sie muß und soll es erfahren. Lassen Sie mich.«

»Sie haben mir versprochen, nicht ohne meine Erlaubniß zu reden. Ich verbiete Ihnen zu reden!«

Ich schlug ihm mit den Fingern der Hand, die ich frei hatte, ein Schnippchen ins Gesicht und sagte: »Soviel liegt an meinem Versprechen. Ihre verächtliche Schwäche gefährdet Ihr eigenes Glück nicht minder als Lucilla’s.« Ich wandte mich wieder nach der Thür um und rief »Lucilla!«

Krampfhaft packte er meinen Arm. Ein lauernder Teufel, dem ich noch nie in die Augen gesehen « grinste mich plötzlich aus denselben an.

»Wenn Sie es ihr sagen«, flüsterte er wüthend durch die Zähne, »so werde ich Sie gerade in’s Gesicht Lügen strafen! Wenn Sie desperat sind, kann ich es auch sein.« Einerlei, ob ich mich einer niedrigen Handlung schuldig mache; ich werde auf meine Ehre beschwören, daß es nicht wahr ist. Sie haben ja gehört, was sie von Ihnen in Browndown gesagt hat; sie wird mir mehr glauben als Ihnen!«

Lucilla trat aus ihrem Zimmer und blieb erwartungsvoll auf der Schwelle stehen.

»Was giebt’s?« fragte sie ruhig.

Ein Blick auf Oscar genügte, um mich zu überzeugen, daß er, wenn ich auf meinem Entschluß beharrte, seine Drohung ausführen werde. Es giebt kein gewissenloseres und schwerer zu behandelndes Wesen, als einen charakterschwachen Menschen, den man zur Verzweiflung gebracht hat. Trotz meines Zornes schreckte ich vor dem Gedanken zurück, ihm Schande zu bereiten, wie ich es jetzt hätte thun muss, wenn ich seinem Trotz mit gleichem Trotz begegnet wäre. Aus Erbarmen für beide gab ich nach.

»Ich muß vielleicht noch, ehe es dunkel wird, ausgehen, liebes Kind«, sagte ich zu Lucilla. »Kann ich irgendetwas im Dorf für Sie ausrichten?«

»Ja«, sagte sie, »wenn Sie ein wenig warten wollen, können Sie einen Brief auf die Post mitnehmen.«

Sie trat wieder in ihr Zimmer zurück und schloß die Thür hinter sich.

Als wir allein waren, vermochte ich Oscar weder anzusehen, noch mit ihm zu reden; aber er brach das Schweigen.

»Sie haben sich Ihres mir gegebenen Versprechens erinnert«, sagte er, »und daran haben Sie gut gethan.«

»Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen«, antwortete ich, »ich werde auf mein Zimmer gehen.«

Mit unbehaglichen Blicken sah er mir nach.

»Ich werde schon mit ihr reden«, murmelte er trotzig vor sich hin, »wenn mir der rechte Moment gekommen scheint.«

Eine kluge Frau würde sich dadurch nicht haben hinreißen lassen, noch ein Wort weiter zu sagen. Aber acht ich bin leider keine kluge Frau, das heißt, nicht immer.

»Wenn mir der rechte Moment gekommen scheint«,, wiederholte ich mit dem Ausdruck meiner ganzen Verachtung. »Wenn Sie ihr nicht die Wahrheit gestehen, bevor der deutsche Augenarzt wieder herkommt, so haben Sie den rechten Moment für immer verpaßt. Er hat uns auf das Entschiedenste erklärt, daß sobald die Operation einmal gemacht sei, monatelang nachher nichts gesprochen werden dürfe, was Lucilla aufregen könnte. Die vollständigste äußere und innere Ruhe ist die unerläßliche Bedingung zur Wiederherstellung ihres Gesichts. Sie werden bald genug eine triftige Entschuldigung für Ihr Schweigen finden, Herr Oscar Dubourg!«

Der Ton, in dem ich diese letzten Worte sprach, reizte ihn.

»Sparen Sie Ihre höhnenden Worte, Madame!« brach er zornig aus. »Es ist mir einerlei, wie Sie über mich denken. Lucilla liebt mich und Nugent fühlt mit mir.«

Mein leidenschaftliches Temperament ließ mich ihm sofort die erbarmungsloseste Antwort geben, die sich denken ließ.

»O, die arme Lucilla «, sagte ich, »wie viel glücklicher hätte sie werden können. Wie schade, wie ewig schade ist es, daß sie nicht Ihren Bruder statt Ihrer heirathet.«

Er wand sich unter dieser Antwort, als wenn ich ihm einen Messerstich versetzt hätte. Er ließ den Kopf auf die Brust sinken, fuhr von mir zurück wie ein geschlagener Hund und verließ schweigend das Zimmer.

Kaum war ich allein, als mein Zorn sich abkühlte. So sehr ich mich auch bemühte, diesen Zorn durch die Erinnerung an seine schnöden Worte wach zu halten, es ging nicht, ich mußte widerwillig bereuen, was ich gesagt hatte.

Im nächsten Augenblick war ich draußen auf der Treppe, um ihn womöglich einzuholen.

Es war zu spät. Ich hörte die Gartenpforte zuschlagen, noch ehe ich aus dem Hause war. Zweimal trat ich an das Gitter, um ihm zu folgen und zweimal trat ich wieder zurück, aus Furcht, die Sache noch schlimmer zu machen.

Endlich kehrte ich sehr unzufrieden mit mir selbst in’s Wohnzimmer zurück.

Die erste willkommene Unterbrechung meiner Einsamkeit ward mir nicht durch Lucilla, sondern durch die alte Amme zu Theil. Zillah erschien mit einem eben für mich aus Browndown angelangten Brief, bessert Adresse von Oscar’s Hand geschrieben war. Ich öffnete den Brief und las was folgt:

»Madame Pratolungo! Sie haben mich tiefer betrübt, als ich es sagen kann. Ich weiß, daß mich sehr ernste Vorwürfe treffen und bitte Sie von Herzen um Verzeihung, wenn ich Sie durch meine Worte oder Handlungen beleidigt habe; aber ich kann Ihr hartes Urtheil über mich nicht als gerecht anerkennen. Wenn Sie wüßten, wie ich Lucilla anbete, würden Sie Nachsicht mit mir haben, würden Sie mich besser verstehen. Ihre letzten grausamen Worte klingen mir noch immer fort in den Ohren. Ich kann Sie nicht wiedersehen, ehe Sie sich über diese Worte näher gegen mich erklärt haben. Sie haben mich in’s tiefstem Herzen getroffen, als Sie diesen Abend sagten, Lucilla würde einer glücklicheren Zukunft entgegengehen, wenn sie meinen Bruder anstatt meiner heirathete. Ich hoffe, daß das nicht Ihr Ernst war und bitte Sie, mir in einer Zeile zu sagen, ob ich zu dieser Annahme berechtigt bin oder nicht.«

Ihm in einer Zeile sagen? War es nicht absurd, daß er, der mich in einigen Minuten erreichen konnte, den kalten formellen Weg einer schriftlichen Mittheilung einer ungezwungenen mündlichen Unterhaltung vorzog? Warum kam er nicht und sprach mit mir? Wir würden auf viel angenehmere Weise und viel rascher mit einander in’s Reine gekommen sein. Wie dem auch sein mochte, ich beschloß nach Browndown zu gehen und mich mündlich mit dem armen, schwachen, gutmeinenden und schlechtberathenen Jungen auszusöhnen. War es nicht lächerlich, Oscar’s Worte, die er in einem Zustande krankhafter, nervöser Aufregung gesprochen hatte, ernst zu nehmen? Der Ton, in dem sein Schreiben abgefaßt war, schmerzte mich tief. Es war einer jener kühlen Abende, wie sie in England im Juni nicht selten sind. Im Kamin brannte ein kleines Feuer. Ich ballte das Briefchen zusammen und warf es, wie ich meinte, in’s Feuer. Im Laufe dieser Erzählung wird es sich zeigen, daß ich den Brief in der That nicht in das Kamin, sondern in den Fender warf. Dann setzte ich meinen Hut auf und eilte, ohne auch nur einen Augenblick an Lucilla oder den Brief, den ich für sie auf die Post mitnehmen sollte, zu denken, nach Browndown.

Was glaubt man wohl, wo ich ihn traf? In seinem Zimmer eingeschlossen. Seine krankhafte Blödigkeit, es war in der That nichts anderes, ließ ihn gerade vor der persönlichen Erklärung, welche mit einer Person von meinem Temperament die einzige mögliche Art der Auseinandersetzung war, zurückschrecken. Ich mußte ihm drohen, gewaltsam in sein Zimmer eindringen, bevor ich ihn dazu bringen konnte, sich mir zu zeigen und mir die Hand zu reichen.

Sobald ich ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand, brachte ich rasch genug alles wieder in Ordnung. Ich glaube wirklich, er war in Folge seiner selbstquälerischen Vorstellungen halb von Sinnen, als er mir an der Thür von Lucilla’s Zimmer gedroht hatte, mich Lügen zu strafen.

Ich brauche mich bei der Schilderung dessen, was zwischen uns vorging, nicht aufzuhalten. Hier will ich nur so viel sagen, daß ich, wie der Leser bald sehen wird, später sehr dringende Veranlassung hatte, es zu bedauern, daß ich Oscar’s Wunsch, ich möge mich schriftlich und nicht mündlich wieder mit ihm versöhnen, nicht gewillfahrt hatte. Wenn ich das, was ich jetzt zu ihm sagte, um meine kränkenden Aeußerungen wieder gut zu machen, geschrieben hätte, so hätte ich mir und Anderen vielleicht viel Schmerzliches ersparen können. Jetzt bestand der einzige Beweis, daß ich ihn wieder versöhnt hatte, für mich darin, daß er mir, als ich ihn verließ, an der Thür herzlich die Hand reichte.

»Haben Sie Nugent getroffen?« fragte er mich, als er mit mir durch den Vordergarten des Hauses ging.

Ich war auf einem Nichtwege durch den Hintergarten anstatt durch das Dorf nach Browndown gegangen.

Nachdem ich ihm das gesagt, fragte ich ihn, ob Nugent nach dem Pfarrhause zurückgekehrt sei.

»Er ist wieder hingegangen, um Sie zu sehen«, antwortete Oscar.

»Warum?«

»Nur aus gewohnter Freundlichkeit. Er theilt Ihre Ansichten. Er lachte, als er hörte, daß ich Ihnen einen Brief geschrieben habe, und eilte sofort in seiner Herzensgüte zu Ihnen, um meinetwegen mit Ihnen zu reden. Wenn Sie durch’s Dorf gegangen wären, würden Sie ihn getroffen haben.

Als ich im Pfarrhaus wieder anlangte, fragte ich Zillah. Nugent war, als er mich nicht zu Hause getroffen hatte, nach dem Wohnzimmer hinan gelaufen, hatte dort einige Minuten auf mich gewartet, war dann des Wartens überdrüssig geworden und wieder fortgegangen. Ich fragte dann nach Lucilla. Wenige Minuten nachdem Nugent fortgegangen, war sie aus ihrem Zimmer getreten und hatte gleichfalls nach mir gefragt. Als sie hörte, daß ich nicht zu Hause sei, hatte sie Zillah einen Brief auf die Post zu bringen gegeben und war dann wieder in das Schlafzimmer gegangen. Ich stand, während ich mit der Amme sprach, zufällig am Kamin und blickte in die verglimmende Asche. Da war, wie ich mich jetzt deutlich erinnere, keine Spur mehr von Oscar’s Brief zu sehen. Ich schloß also einfach, daß ich das, was ich gethan zu haben glaubte, wirklich gethan, daß ich den Brief in’s Feuer geworfen habe.

Als ich bald nachher zu Lucilla ging, um mich bei ihr dafür zu entschuldigen, daß ich vergessen habe, ihren Brief mit auf die Post zu nehmen, fand ich sie, von den Ereignissen des Tages ermüdet, im Begriff zu Bett zu gehen.

»Es wundert mich nicht, daß Sie keine Lust hatten, länger auf mich zu warten«, sagte sie. »Das Schreiben dauert immer lange bei mir. Aber diesen Brief hielt ich mich für verpflichtet, wenn irgend möglich, selbst zu schreiben. Können Sie rathen, mit wem ich correspondire? Ich habe es fertig gebracht, liebe Freundin, »ich habe an Herrn Grosse geschrieben.«

»Schon?«

»Worauf sollte ich noch warten? Was war da noch zu überlegen? Ich habe Herrn Grosse geschrieben, daß unsere Familienberathung zu Ende sei und daß ich ich ihm auf so lange, wie er es für nöthig hielte, gänzlich zur Verfügung stelle. Und ich habe ihn daran aufmerksam gemacht, daß er mich, wenn er es versuchen sollte, die Sache hinauszuschieben, nur zu der Unannehmlichkeit treiben würde, zu ihm nach London zu kommen. Ich habe ihm das nachdrücklichst an’s Herz gelegt, das kann ich Sie versichern. Morgen Nachmittag bekommt er meinen Brief und übermorgen wird er, wenn er ein Mann von Wort ist, hier sein.«

»O, Lucilla, doch nicht, um die Operation an Ihren Augen vorzunehmen?«

»Ja wohl, um die Operation vorzunehmen.«


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