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Namenlos



Zwölftes Capitel.

Früher als gewöhnlich am Morgen des Donnerstags, des Zweiundzwanzigsten Juli, erschien Mr. Clare in der Thür seines Häuschens und trat in den kleinen Gartenstreifen an seiner Wohnung.

Als er ein paar Mal hin- und zurückgegangen war, trat ein magerer, ruhiger Mann mit grauen Haaren zu ihm, dessen persönliche Erscheinung vollständig ohne besondere Kennzeichen irgend welcher Art war, dessen ausdrucksloses Gesicht und höflich ruhiges Benehmen Nichts boten, was Tadel verdiente und Nichts, was Widerwillen einflößte. Dies war Mr. Pendril, Dies war der Mann, von dessen Lippen das künftige Schicksal der Waisen auf Combe-Raven abhing.

—— Die Zeit rückt heran, sagte er, indem er nach den Buschanlagen hinübersah, als er zu Mr. Clare trat. Meine Bestellung zu Miss Garth ist zu elf Uhr: es fehlen nur noch zehn Minuten an der Stunde.

—— Wollen Sie allein mit ihr sprechen? fragte Mr. Clare.

—— Ich überließ die Entscheidung Miss Garth, nachdem ich sie vor Allem zuvor in Kenntniß gesetzt hatte, daß die Umstände, welche ich ihr zu entdecken haben würde, von einer sehr ernsten Art seien.

—— Und hat sie entschieden?

—— Sie gab mir schriftlich Nachricht, daß sie den beiden Töchtern meine Bestellung mitgetheilt und die Andeutung wiederholt habe, welche ich ihr gegeben habe. Die ältere von den Beiden scheut sich —— und wer kann sich darüber wundern? —— vor jeder Besprechung betreffs der Zukunft, welche ihre Gegenwart in einer so kurzen Frist als der Tag nach der Beerdigung ist, erheischt. Die jüngere scheint keine Meinung darüber geäußert zu haben. Wie ich mir denke, läßt sie sich von dem Beispiele ihrer Schwester dabei passiv leiten. Meine Unterredung wird daher mit Miss Garth allein stattfinden, und es ist mir ein großer Trost, Dies zu wissen.

Er sprach die letzten Worte mit mehr Nachdruck und Wärme, als er gewohnt zu sein schien. Mr. Clare blieb daher stehen und sah seinen Gast aufmerksam an.

—— Sie sind beinahe so alt als ich bin, mein Herr, sagte er. Hat alle Ihre langjährige Erfahrung als Anwalt Sie noch immer nicht hart gemacht?

—— Ich wußte noch nicht, wie wenig sie mich hart gemacht hat, erwiderte Mr. Pendril ruhig, bis ich gestern von London zurückkam, um bei der Beerdigung zugegen zu sein. Ich war nicht darauf gefaßt, daß die Töchter entschlossen waren, ihre Aeltern zum Grabe zu geleiten. Ich meine, ihre Gegenwart machte die Schlußscene dieses schrecklichen Unglücks doppelt peinlich und doppelt rührend; Sie sahen, wie die Menge Leute dadurch ergriffen wurde, ....und sie kannte den wahren Sachverhalt noch nicht, sie wußte Nichts von der grausamen Nothwendigkeit, die mich diesen Morgen in das Haus zurückführt. Das Gefühl dieser Nothwendigkeit und der Anblick jener armen Mädchen in einer Zeit, wo ich meine harte Pflicht gegen sie am Schmerzlichsten fühlte, erschütterten mich, wie ein Mann von meinen Jahren und meinem Lebensberufe nicht oft durch ein Unglück, welches da ist, oder eine Gefahr, welche droht, erschüttert wird. Ich habe mich heute früh noch nicht erholt, ich habe mich noch immer nicht selbst wieder gefunden.

—— Die Fassung eines Mannes, wenn er ein Mann ist, wie Sie, kommt mit dem Augenblicke, der sie von Ihnen fordert, sagte Mr. Clare. Sie haben doch gewiß Pflichten zu erfüllen gehabt, welche in ihrer Art so schwere Prüfungen waren, als die Pflicht, welche Ihnen heute früh obliegt.

Mr. Pendril schüttelte mit dem Kopfe.

—— Manche Pflichten, die eben so ernster Natur waren, manche Geschichten, die der Romantik mehr Stoff boten. Aber keine Pflicht, die eine solche Prüfung enthielte, keine Geschichte, die so hoffnungslos wäre, als diese.

Nach diesen Worten trennten sie sich. Mr. Pendril Verließ den Garten und ging auf dem Anlagenwege, der gen Combe-Raven führte, weiter. Mr. Clare trat in seine Behausung zurück.

Als er den Durchgang erreichte, blickte er durch die offene Thür seines kleinen Besuchszimmers und sah Frank darin sitzen in regungslosem Schmerz, das Haupt müde auf die Hand gelehnt.

—— Ich habe von Deinen Principalen in London Antwort erhalten, sagte Mr. Clare. In Erwägung des Vorgefallenen wollen sie das Anerbieten, das sie Dir gemacht haben, noch einen Monat offen erhalten.

—— Frank wechselte die Farbe und erhob sich in nervöser Aufregung vom Stuhle.

—— Sind meine Aussichten anders geworden? fragte er. Sollen Mr. Vanstones Pläne für meine Zukunft nicht mehr ausgeführt werden? Er sagte Magdalenen, daß sein letzter Wille für sie gesorgt habe. Sie wiederholte mir seine Worte, sie sagte, ich sollte wissen, was seine Güte und Großmuth für uns Beide gethan hätten. Wie kann sein Tod dabei Etwas ändern? Ist Etwas vorgefallen?

—— Warte, bis Mr. Pendril von Combe-Raven zurückkommt, sagte sein Vater. Frage ihn, mich frage nicht.

Die schnell bereiten Thränen traten Frank ins Auge.

—— Du wirst doch nicht hart gegen mich sein? bat er mit zagender Stimme. Du wirst doch nicht verlangen, daß ich nach London gehe, ohne Magdalenen zuvor gesehen zu haben?

Mr. Clare sah den Sohn gedankenvoll an und dachte eine kleine Weile nach, ehe er antwortete.

—— Du kannst Deine Thränen trocknen, sagte er. Du sollst Magdalenen sehen, ehe Du zurückgehst.

Er verließ das Zimmer, als er diesen Bescheid gegeben hatte, und zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. Die Bücher lagen bereit da zur Hand, wie gewöhnlich. Er öffnete eines derselben und setzte sich, um in der gewöhnlichen Weise zu lesen. Aber seine Aufmerksamkeit schweifte ab, und seine Augen sahen von Zeit zu Zeit nach dem leeren Stuhle gegenüber hin; dem Stuhle, auf welchem sein alter Freund und Nachbar so manches, manches Jahr vorher gesessen und sich mit ihm voll heiterer Laune herumdisputirt hatte. Nach einem Kampfe mit sich selbst schloß er das Buch.

—— Der verwünschte Stuhl! sagte er, er wird von ihm erzählen, und ich muß zuhören.

Er nahm seine Pfeife von der Wand und füllte sie, ohne es zu wissen, mit Tabak. Seine Hand zitterte, seine Augen wanderten zurück zu der alten Stelle, und ein schwerer Seufzer rang sich unwillkürlich aus seiner Brust. Der leere Stuhl war das einzige irdische Argument, für welches er keine Antwort fand: sein Herz gestand seine Niederlage ein und machte seine Augen thränenfeucht wider seinen Willen.

—— Er hat doch zuletzt die Oberhand über mich gewonnen, sagte der rauhe alte Mann. Es ist eine weiche Stelle in mir übrig, und er hat sie gefunden.

Mittlerweile trat Mr. Pendril in die Anlagen und verfolgte den Weg, welcher zu dem einsamen Garten und dem Verödeten Hause führte. Er begegnete an der Thür dem Bedienten, welcher anscheinend seine Ankunft erwartete.

—— Ich habe eine Bestellung zu Miss Garth. Ist sie bereit mich zu sprechen?

—— Ganz bereit, mein Herr.

—— Ist sie allein?

—— Ja, mein Herr.

—— In dem Zimmer, das Mr. Vanstones Arbeitszimmer war?

—— In demselben Zimmer, mein Herr.

Der Diener öffnete die Thür, und Mr. Pendril trat ein!

Die Erzieherin stand allein an dem Bibliotheksfenster. Der Morgen war drückend heiß, und sie schob den unteren Fensterflügel in die Höhe, [In England sind die Fenster meist Schiebefenster, aus einem oberen und einem unteren Theile bestehend, eine Einrichtung, wie wir sie bei uns annähernd in den Ladenfenstern haben. W.], um mehr Luft in das Zimmer zu lassen, als Mr. Pendril hereinkam.

Sie machten vor einander Verbeugungen mit einer so förmlichen Höflichkeit, daß sich dadurch auf beiden Seiten ein gewisses unliebsames Gefühl von Zurückhaltung aussprach. Mr. Pendril war einer Von den vielen Männern, welche auf den oberflächlichen Beobachter einen höchst unvortheilhaften Eindruck machen, sobald sie unter dem Einflusse starker geistiger Aufregung stehen, welche sie eben, weil sie müssen, zu beherrschen versuchen. Miss Garth auf der andern Seite hatte die unangenehm auf die Goldwage der Fürsichtigkeit gelegten Worte keineswegs vergessen, in welchen der Sachwalter auf ihren Brief zu antworten für gut befunden hatte. Die natürliche Bangigkeit, welche sie betreffs dieser ihrer Unterredung zum Voraus fühlte, wurde also durch ein günstiges Vorurtheil von dem Manne, welcher jene Unterredung nachsuchte, durchaus nicht gemildert. Als sie einander in der Stille des Sommermorgens gegenüber standen, Beide schwarz gekleidet, —— hier Miss Garths harte Züge, infolge des frischen Kummers eingefallen und hager, dort das kalte, farblose Angesicht des Anwaltes, aus dem jeder hervorstechende Ausdruck verbannt war, indem sich nur Geschäftsdrang, aber weiter gar Nichts aussprach: so würde es schwer gewesen sein, zwei Personen ausfindig zu machen, welche jedweder gewöhnlichen Sympathie äußerlich ferner gestanden hätten, als diese zwei, welche jetzt zusammen gekommen waren, die eine zu erzählen, die andere zu hören, was für Geheimnisse der Todte hinterlassen habe.

—— Ich muß es äußerst bedauern, Miß Garth, Ihnen in solcher Zeit wie diese ist, beschwerlich werden zu müssen. Allein Umstände ließen mir, wie ich Ihnen bereits entwickelt habe, keine andere Wahl.

—— Wollen Sie sich nicht eines Stuhles bedienen, Mr. Pendril? Sie wünschten mich in diesem Zimmer zu sprechen, glaube ich?

—— Nur in diesem Zimmer, da Mr. Vanstones Papiere hier aufbewahrt werden und ich es für nöthig finden möchte, mich mit einigen derselben zu beschäftigen.

Nach diesem formellen Austausch von Frage und Antwort setzten sie sich gegenüber an einen nahe beim Fenster stehenden Tisch. —— Der eine Theil wartete darauf, das Wort zu ergreifen, der andere wartete darauf, die Eröffnungen zu hören. Es war einen Augenblick lang still im Zimmer. Mr. Pendril brach dieses Stillschweigen, indem er die jungen Damen mit den gewöhnlichen Fragen und den gewöhnlichen Beileidsbezeugungen erwähnte. Miss Garth antwortete ihm mit derselben Förmlichkeit, in demselben höflichen Tone. Es trat eine zweite Pause in der Unterhaltung ein. Das Summen der Fliegen in den Immergrüngebüsch unter dem Fenster drang schläfrig in das Zimmer herein, und der schwere Schritt eines schwerfüßigen Wagenpferdes, welches auf der Landstraße an der Gartenmauer hintrabte, war in der Stille so hörbar, als wenn es Nacht gewesen wäre.

Der Advocat raffte seine schlaffen Lebensgeister entschlossen zusammen und sprach in diesem Sinne, als er die nächsten Worte vorbrachte.

—— Sie haben einigen Grund, Miss Garth, begann er nicht ganz zufrieden zu sein mit meinem früheren Benehmen gegen Sie, und zwar in einem Punkte. Während der tödtlichen Krankheit von Mrs. Vanstone richteten Sie einen Brief an mich, der gewisse Fragen enthielt, welche zu beantworten mir, so lange sie lebte, unmöglich war. Ihr beklagenswerther Tod entbindet mich der Zurückhaltung welche ich mir selbst auferlegt hatte, und gestattet mir oder vielmehr verpflichtet mich zu reden. Sie sollen erfahren, welche ernsten Gründe ich hatte, um Tag und Nacht hindurch zu wachen, in der Hoffnung, die Unterredung zu erhalten, welche unglücklicher Weise niemals statt gefunden hat. Zur Rechtfertigung Mr. Vanstones noch im Grabe werden Ihre eigenen Augen Sie überzeugen, daß er sein Testament gemacht hat.

Er erhob sich, schloß eine kleine eiserne Truhe in der Ecke des Zimmers auf und kehrte an den Tisch zurück mit einigen zusammen gebrochenen Bogen Papier, welche er vor Miss Garths Augen aus einander brach. Als sie die ersten Worte gelesen: »Im Namen Gottes, Amen!« wandte er den Bogen um und zeigte auf das Ende der nächsten Seite. Sie sah die wohlbekannte Unterschrift: »Andreas Vanstone.« Sie sah die gewöhnlichen Atteste zweier Zeugen und das Datum der Urkunde, der einer mehr als fünf Jahre zurückliegenden Zeit angehörte. Nachdem der Advocat ihr so die Ueberzeugung von der Formrichtigkeit des letzten Willens beigebracht hatte, kam er ihr zuvor, ehe sie ihn fragen konnte, und redete sie mit folgenden Worten an:

—— Ich darf Sie nicht täuschen, sagte er. Ich habe meine eigenen Gründe, um diese Urkunde vorzubringen.

—— Was für Gründe, mein Herr?

—— Sie sollen sie hören. Wenn Sie dann die Wahrheit kennen, so dürften diese Seiten dazu beitragen, Ihre Achtung vor dem Andenken Mr. Vanstones zu erhalten...

Miss Garth fuhr aus ihrem Stuhl zurück.

—— Was meinen Sie damit? fragte sie mit ernster Hast.

Er achtete nicht auf die Frage, sondern fuhr fort, als ob sie ihn gar nicht unterbrochen hätte.

—— Ich habe einen zweiten Grund, fuhr er fort, Ihnen das Testament zu zeigen. Wenn ich Sie dazu vermögen kann, gewisse Clauseln darin zu lesen, mit meiner Beihilfe, so werden Sie die Umstände selber herausfinden, welche ich Ihnen kundzuthun hierher gekommen bin, —— Umstände so peinlicher Art, daß ich kaum weiß, wie mein Mund sie Ihnen mittheilen soll.

Miss Garth sah ihm unverwandt ins Angesicht.

—— Umstände, mein Herr, welche die verstorbenen Aeltern oder die überlebenden Kinder angehen?

—— Welche beide, die Todten und die Lebenden angehen, antwortete der Advocat. Umstände, welche, wie ich bedauern muß zu sagen, die Zukunft von Mr. Vanstones unglücklichen Töchtern mit betreffen.

—— Warten Sie, sagte Miss Garth, warten Sie einen Augenblick.

Sie strich ihr altes graues Haar von ihren Schläfen zurück und kämpfte innerlich ihren Herzensjammer und die fürchterliche Schwäche des Schreckens nieder, welche vielleicht eine jüngere oder weniger entschlossene Frau überwältigt hätten. Ihre Augen, die vom Wachen trübe geworden waren, welche Kummersthränen geröthet hatten, suchten das unergründliche Angesicht des Rechtsgelehrten.

—— Seine unglücklichen Töchter?! wiederholte sie wie im Traume. Spricht er doch, als ob es ein noch schlimmeres Unglück gäbe, als das, welches sie zu Waisen gemacht hat...

Sie hielt wieder einen Augenblick inne und raffte ihren sinkenden Muth zusammen.

—— Ich will Ihnen Ihre harte Pflicht, mein Herr, nicht noch peinlicher machen, als ich verhüten kann, begann sie wieder. Zeigen Sie mir die Stelle in dem letzten Willen. Lassen Sie mich sie lesen und das Schlimmste erfahren.

Mr. Pendril wandte wieder zur ersten Seite um und deutete auf eine gewisse Stelle in den eingeklammerten Schriftzeilen.

—— Fangen Sie hier an, sagte er.

Sie versuchte anzufangen, sie versuchte seinem Finger zu folgen, wie sie ihm bereits bei den Unterschriften und den Daten gefolgt war. Allein ihre Sinne schienen an der Verwirrung ihres Geistes Theil zu nehmen, die Worte flossen ihr durcheinander und die Zeilen schwammen vor ihren Augen.

—— Ich kann Ihnen nicht folgen, sagte sie. Sie müssen es mir sagen oder vorlesen.

Sie rückte ihren Stuhl vom Tische ab und versuchte sich zu sammeln.

—— Halten Sie ein! rief sie, als der Advocat mit sichtbarer Ueberwindung und zögernd die Papiere selbst zur Hand nahm. —— Eine Frage erst. Sorgt das Testament für seine Kinder?

—— Sein letzter Wille sorgte für sie, als er es machte.

—— Als er es machte? (Etwas von ihrer angeborenen Derbheit brach bei ihr durch, als sie die Antwort wiederholte). Sorgt er jetzt für sie?

—— Nein.

Sie riß ihm das Testament aus der Hand und warf es in einen Winkel des Zimmers.

—— Sie denken wohl, sagte sie, mich so mehr zu schonen, aber Sie verschwenden Ihre Zeit und nutzen meine Kraft ab. Wenn der Wille unbrauchbar ist, so lassen Sie ihn dort liegen. Sagen Sie mir die Wahrheit, Mr. Pendril, die ganze Wahrheit und auf der Stelle mit eigenen Worten!

Er fühlte, daß es eine unnütze Grausamkeit wäre, diesem Ersuchen nicht zu willfahren. Es blieb keine andere Wahl zum Erbarmen, als auf der Stelle zu antworten.

—— Ich muß Sie an das heurige Frühjahr erinneren. Miss Garth. Können Sie sich des vierten März entsinnen?

Ihre Aufmerksamkeit schweifte wieder ab, ein Gedanke schien sich in dem Augenblicke, als er sprach, ihrer bemächtigt zu haben. Anstatt auf eine Frage zu antworten, stellte sie selbst eine Frage.

—— Lassen Sie mich die Aufklärung selber suchen, sagte sie, lassen Sie mich Ihnen vorgreifen, wenn ich es anders im Staude bin. Sein unnützes Testament, die Ausdrücke, in denen Sie von seinen Töchtern sprechen, der Zweifel, den Sie zu empfinden scheinen bezüglich meines fortdauernden Respects vor seinem Andenken, haben mir ein neues Licht gegeben. Mr. Vanstone ist als zu Grunde gerichteter Mann gestorben: ist es Das, was Sie mir zu sagen haben?

—— Weit entfernt, Mr. Vanstone ist gestorben und hinterläßt ein Vermögen von über achtzig Tausend Pfund, ein Vermögen, das in den besten Sicherheiten angelegt ist. Er lebte nach seinem Einkommen, aber niemals über dasselbe hinaus. Alle seine Schulden zusammen genommen würden noch nicht zweihundert Pfund betragen. Wenn er als zu Grunde gerichteter Mann gestorben wäre, so würde ich seiner sehr bedauert haben, aber ich hätte nicht gezögert, Ihnen die volle Wahrheit zu sagen. Jetzt aber nehme ich Anstand Lassen Sie mich eine Frage wiederholen, die Sie, glaube ich, überhörten, als ich sie zum ersten Male stellte. Leiten Sie Ihre Gedanken zurück zum Frühling dieses Jahres. können Sie sich des vierten März entsinnen?

Miss Garth schüttelte mit dem Kopfe.

—— Mein Gedächtnis; für Daten ist schlecht, wenn ich ausgezeichnet bei mir selber bin, sagte sie. Jetzt vollends bin ich zu verwirrt, um es sofort sicher angeben zu können. Können Sie Ihre Frage nicht anders stellen?

Er stellte sie in folgender Form:

—— Können Sie sich eines Familienereignisses im Frühlinge dieses Jahres entsinnen, welches Mr. Vanstone stärker als gewöhnlich zu berühren schien?

Miss Garth legte sich auf ihrem Stuhle etwas vor und sah Mr. Pendril aufgeregt über den Tisch an.

—— Die Reise nach London! rief sie aus. Es war mir mit dieser Reise nach London Von Anbeginn nicht recht richtig! Ja wohl! Ich entsinne mich, daß Mr. Vanstone einen Brief erhielt, ich erinnere mich, wie er ihn las und so ganz verwandelt aussah, daß er uns Alle erschreckte.

—— Bemerkten Sie ein äußerlich wahrnehmbares Einverständnis; beider, Mr. und Mrs. Vanstone, in Bezug auf den Inhalt des Briefes?

—— Ja wohl, bemerkte ich Das. Eins der Mädchen —— es war Magdalene —— erwähnte den Poststempel, einen Ort in Amerika. Jetzt fällt mir Alles wieder ein, Mr. Pendril. Mrs. Vanstone sah ängstlich aufgeregt aus in dem Augenblicke, wo sie den Ort trennen hörte. Den Tag darauf gingen Beide nach London. Sie sprachen sich aber darüber Weder gegen ihre Töchter, noch gegen mich näher aus. Mrs. Vanstone sagte nur, die Reise geschehe in Familienangelegenheiten. Ich vermuthete etwas Schlimmes; ich konnte mir aber nicht klar werden, was. Mrs. Vanstone schrieb mir aus London, indem sie angab, ihr Zweck sei einen Arzt zu befragen über den Stand ihrer Gesundheit, sie habe ihre Töchter nicht erschrecken wollen, sonst hätte sie vorher davon gesprochen. Etwas in dem Briefe war damals beinahe kränkend für mich. Ich dachte, es möchte wohl noch ein anderer Grund vorliegen, welchen sie vor mir verborgen hielte. That ich ihr Unrecht?´

—— Sie thaten ihr nicht Unrecht. Es war allerdings noch ein ganz anderer Grund vorhanden, den sie Ihnen verschwieg. Indem ich Ihnen nun diesen Beweggrund offenbare, offenbare ich Ihnen zugleich das schmerzliche Geheimniß, welches mich in dieses Haus geführt hat. Alles was ich gekonnt habe, Sie vorzubereiten, habe ich gethan. Lassen Sie mich Ihnen nun die Wahrheit in den deutlichsten und kürzesten Worten erzählen. Als Mr. und Mrs. Vanstone Combe-Raven im März des gegenwärtigen Jahres verließen ...

Ehe er seinen Satz vollenden konnte, unterbrach ihn eine plötzliche Bewegung von Miss Garth. Sie fuhr heftig zusammen und sah sich nach dem Fenster um.

—— Nur der Wind wars in den Blättern, sagte, sie mit schwacher Stimme. Meine Nerven sind so erschüttert, der geringste Anlaß erschreckt mich. Sprechen Sie weiter in Gottes Namen. Als Mr. und Mrs. Vanstone dieses Haus verließen,... sagen Sie mir mit klaren Worten warum gingen sie nach London?

In klaren Worten sagte Mr. Pendril zu ihr:

—— Sie gingen nach London, um sich trauen zu lassen. Mit diesen Worten legte er einen Streifen Papier auf den Tisch. Es war der Trauschein der verstorbenen Aeltern, und das Datum, das er trug, war der zwanzigste März, achtzehn hundert und sechsundvierzig.

Miss Garth rührte sich nicht, sprach nicht. Der Schein lag unbeachtet zwischen Beiden da. Sie saß da, Ihre Augen fest auf das Gesicht des Advocaten geheftet, ihr Geist war betäubt, ihre Stimme versagte den Dienst. Er sah, daß alle seine Bemühungen, um die Erschütterung dieser Enthüllung zu mildern, vergeblich gewesen waren. Er fühlte die dringende Wichtigkeit, sie wieder aufzurichten, und fest und deutlich vernehmbar wiederholte er die inhaltschweren Worte:

—— Sie gingen nach London, um sich trauen zu lassen, sagte er. Versuchen Sie sich zu ermannen, versuchen Sie erst die einfache Thatsache festzuhalten. Die Erklärung wird gleich hinterdrein folgen. Miss Garth, ich sage die traurige Wahrheit! Im Frühling dieses Jahres verließen sie das Haus, lebten vierzehn Tage in London in der strengsten Zurückgezogenheit und wurden nach Ablauf dieser Frist vermittelst Dispens getraut. Hier ist eine Abschrift des Trauscheines, welche ich selbst am vergangenen Montag erhielt. Lesen Sie den Tag der Trauung mit eigenen Augen. Es ist Freitag, der zwanzigste März, März dieses Jahres. ——

Als er auf den Schein zeigte, bewegte der schwache Luftzug in dem Gebüsch unter dem Fenster, welchen Miss Garth erschreckt hatte, abermals die Blätter. Er hörte es diesmal selbst und wandte das Gesicht, um den Wind über sein Gesicht fächeln zu lassen. Es kam kein Lüftchen, kein Luftzug, der stark genug war, daß er ihn fühlen konnte, strömte ins Zimmer.

Miss Garth erhob sich nun selbst unwillkürlich und las den Schein. Er schien keinen bestimmten Eindruck auf sie zu machen, sie legte ihn bei Seite mit einem verwirrten und gedankenlosen Blicke.

—— Zwölf Jahre, sagte sie mit leiser verzweiflungsvoller Stimme..., zwölf ruhige glückliche Jahre lebte ich bei dieser Familie. Mrs. Vanstone war meine Freundin, meine theure hochgeschätzte Freundin meine Schwester, kann ich wohl sagen. Ich kann es nicht glauben. Haben sie ein wenig Geduld mit mir, mein Herr; ich kann es noch immer nicht glauben.

—— Ich werde Ihnen zu Hilfe kommen, daß Sie es glauben lernen, wenn ich Ihnen mehr erzähle, sagte Mr. Pendril. Sie werden mich besser verstehen, wenn ich Sie zu der Zeit von Mr. Vanstones früherem Leben zurückführe... Ich will aber jetzt Ihre Aufmerksamkeit nicht gleich wieder in Anspruch nehmen. Lassen Sie uns ein Weilchen warten, bis Sie sich erholt haben.

Sie warteten einige Minuten. Der Advocat nahm einige Briefe aus der Tasche, beschäftigte sich aufmerksam mit denselben und steckte sie wieder ein.

—— Können Sie mich nun wieder anhören? fragte er freundlich.

Sie nickte mit dem Kopfe zur Antwort.

Mr. Pendril ging mit sich selbst einen Augenblick zu Rathe, dann sagte er:

—— Ich muß Sie in einem Puncte beruhigen. Wenn das Bild von Mr. Vanstones Charakter, welches ich im Begriff stehe Ihnen jetzt zu geben, in manchen Hinsichten nicht mit Ihren späteren Erfahrungen übereinstimmt, so beachten Sie wohl, daß, als Sie ihn vor zwölf Jahren kennen lernten, er ein Mann von vierzig Jahren war und daß, als ich ihn kennen lernte, er ein junges Blut von neunzehn war.

Seine nächsten Worte hoben den Schleier und ließen einen Blick thun, in die unwiderrufliche Vergangenheit.——


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