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Namenlos



Erstes Buch.

Auf Combe-Raven in Somersetshire.

Erstes Capitel.

Die Zeiger der Uhr im der Hausflur zeigten auf halb Sieben früh. Das Haus war ein Landsitz in West-Somesetshire, welcher Combe-Raven (Rabenschlucht) hieß. Der Tag war der vierte März, das Jahr achtzehn hundert und sechs und vierzig.

Kein Ton außer dem einförmigen Tik-tak der Uhr und dem dummen Schnarchen eines großen Hundes, der auf einer Matte vor der Thür des Speisesaales lag, störte die geheimnißvolle Morgenstille der Flur und der Treppe. Wer waren die Schläfer dort oben in den höheren Regionen des Hauses? —— Mag denn das Haus seine Geheimnisse selbst entschleiern, und Einer nach dem Andern, wie sie von ihren Schlafgemächern die Treppe heruntersteigen, mögen die Schläfer sich selber vorführen.

Wie die Uhr ein Viertel vor Sieben zeigte, erwachte der Hund und schüttelte sich. Nachdem das Thier vergeblich auf den Bedienten gewartet, von dem es gewohnt war hinausgelassen zu werden, lief es auf den Hausflur unruhig von einer verschlossenen Thür zur andern, kehrte dann in großer Verlegenheit zu seiner Matte zurück und machte sich der schlafenden Familie durch ein langes klägliches Geheul bemerklich.

Bevor die letzten Töne seiner Klage verhallten, knarrte die eichene Treppe in den oberen Regionen des Hauses unter den Tritten einer langsam herabsteigenden Person.

Eine Minute später wurde die erste der Dienerinnen sichtbar, einen dunkelbraunen Wollenshawl um die Schultern; denn der Märzmorgen war nicht eben sonnig, und Rheumatismus war für die Köchin ein alter Bekannter.

Die Köchin nahm das erste schmeichelnde Endgegenwedeln des Hundes so unfreundlich als möglich auf, öffnete langsam die Hausthür und ließ das Thier hinaus. Es war ein stürmischer Morgen. Ueber einem freien Platze und hinter einer Nadelholzpflanzung bahnte sich die aufgehende Sonne ihren Weg durch Haufen zerrissener grauer Wolken; schwere Regentropfen fielen da und dort einzeln nieder; der Märzwind sauste um die Ecken des Hauses, und die nassen Bäume schwankten träge hin und her.

Jetzt schlägt es sieben Uhr; und nun folgen die Zeichen des erwachenden Lebens im Hause schneller aufeinander.

Die Hausmagd kommt herunter, ein langes, schmächtiges Mädchen, dem die Frühjahrestemperatur roth an der Nase geschrieben steht. Das Kammermädchen folgt, ein junges, pfiffiges, pralles, aber noch etwas verschlafenes Kind. Die nächste ist die Küchenmagd, geplagt mit Kopfreißen und daraus kein Hehl machend. Der Letzte von Allen ist der Bediente, der ganz erbärmlich gähnend zum Vorschein kommt; das lebendige Conterfei eines Menschen der fühlt, wie er um seine süße Nachtruhe betrogen worden ist.

Die Unterhaltung der Dienerschaft, wie sie vor dem nach und nach ins Brennen kommenden Küchenfeuer beisammen war, bezog sich auf ein jüngstes Familienereigniß und blieb bei der Frage stehen: Hat Thomas, der Bediente; etwas von dem Concert zu Cliston gesehen, bei welchem den Abend vorher sein Herr und die beiden jungen Töchter des Hauses zugegen waren?

—— Ja.

Thomas hatte das Concert gehört; er hatte Geld erhalten, um auf einen der hinteren Plätze zu gehen.

Es war ein lautes Concert. Es war ein heißes Concert. Es war an der Spitze der Programme als ein »großes Concert« beschrieben.

Ob es sich nun wirklich verlohnte, um es zu hören, sechzehn englische Meilen auf der Eisenbahn zu reisen mit der sich daran knüpfenden Verschärfung, auf der Rückfahrt halb zwei Uhr Morgens neunzehn Meilen auf der Landstraße zu machen: Das war eine Frage, welche er seinem Herrn und den jungen Fräulein zur Entscheidung überlassen wollte. Seine eigene Meinung wäre mittlerweile, ohne daß er sich einen Augenblick zu bedenken brauche:

Nein.

Weitere Fragen, welche seitens aller weiblichen Dienstleute der Reihe nach an ihn gerichtet wurden, brachten keine andere Mittheilung irgend welcher Art aus ihm heraus.

Thomas konnte keines von den Liedern nachsingen, eben sowenig eines von den Kleidern der Damen beschreiben.

Seine Zuhörer gaben ihn daher hoffnungslos auf, und das Küchengeplauder wandte sich wieder seinen gewöhnlichen Unterhaltungsstoffen zu, bis die Uhr Acht schlug und die versammelte Dienerschaft in Bewegung gerieth und sich trennte, indem Jedes an seine Morgenverrichtung ging.

Ein viertel nach acht —— und nichts rührte sich. Jetzt schlug es halb —— und schon machten sich mehr Lebenszeichen in der Gegend der Schlafgemächer hörbar.

Das nächste Familienglied, das die Treppe herunter kam, war Mr. Andreas Vanstone, der Herr vom Hause.

Ein Mann, groß, stark und von gerader Haltung, mit hellen blauen Augen und gesunder blühender Gesichtsfarbe, sein Jagdkoller von braunem Plüsch nachlässig und verkehrt zugeknöpft, sein kläffender kleiner schottischer Dachshund hinter ihm her bellend, ohne von ihm zur Ruhe verwiesen zu werden; wie er die eine Hand in der Westentasche, mit der andern fröhlich wie im Tacte auf das Treppengeländer schlagend, dabei ein Liedchen summend, die Treppe hernieder stieg: so zeigte Mr. Vanstone schon im Aeußern seinen Charakter offen für Jedermann erkennbar. Ein ruhiger, gemüthlicher, hübscher, launiger Gentleman, welcher auf des Lebens Sonnenseite seinen Weg zu wandeln hatte und der Nichts mehr wünschte, als daß er den Genossen seiner irdischen Pilgerfahrt ebenfalls auf der Sonnenseite begegnen möchte. Wenn man ihn nach den Jahren schätzte, So war er über die Fünfzig hinaus. Beurtheilte man ihn nach seinem allezeit leichten Herzen, nach seinem starken Körper und seiner Lebenslust, so war er eigentlich nicht älter als die meisten Männer, die erst über die Dreißig hinaus sind.

—— Thomas! rief Mr. Vanstone und nahm seinen alten Filzhut und seinen dicken Ausgehstock von dem Tische in der Flur. Das Frühstück heute um Zehn. Die jungen Damen werden nach dem Concert von gestern Abend schwerlich früher herunterkommen. —— Uebrigens wie gefiel denn Dir das Concert, Dir selbst, he? Du meinst, es war »groß?« Ganz recht. Das war es. Nichts als Getöse abwechselnd mit Gelärm; all die Frauen herausgeputzt, wie es nur menschenmöglich war; erstickende Hitze, blendendes Gaslicht und nirgends mehr Platz für einen Menschen! Ja, ja, Thomas, »groß« ist das rechte Wort für das Alles, angenehm und gemüthlich gewiß nicht. —— Nach diesem Bekenntniß seiner Meinung pfiff Mr. Vanstone seinem Dachsköter, schwenkte den Stock in der Hausthür in lustiger Verachtung des Regens und machte sich durch Wind und Wetter auf, um seinen Morgenspaziergang anzutreten.

Die Zeiger, die unvermerkt. ihren stetigen Weg um das Zifferblatt der Uhr beschrieben, zeigten nun auf zehn Minuten vor Neun. Ein anderes Mitglied der Familie wurde jetzt auf der Treppe sichtbar, Miss Garth, die Gouvernante.

Einem aufmerksamen Auge konnte es nimmermehr entgehen, daß sie eine Dame aus dem Norden war. Ihre hart gezeichnete Physiognomie, die männliche Gewandtheit und Bestimmtheit in allen ihren Bewegungen; ihre fortwährende Ehrbarkeit in Blick und Haltung: Alles verrieth ihre Abstammung und Erziehung an der Nordgrenze. Obschon wenig älter als vierzig Jahre hatte sie doch schon ganz weißes Haar und trug über demselben die schlichte Haube einer alten Frau. Weder ihr Haar noch ihr Kopfputz standen mit ihrem Gesichte im Widerspruche: letzteres sah älter aus, als sie war. Die schwere Schrift des Kummers hatte es in vergangener Zeit tief durchfurcht. Das Selbstbewußtsein ihres Schrittes die Treppe herab, der zu befehlen gewohnte Blick, mit dem sie sich umschaute, sprachen deutlich genug von ihrer Stellung in Mr. Vanstones Familie. Dies war ersichtlich keine von der verlassenen, verfolgten, demüthiglich abhängigen Classe der Gouvernanten. Hier hatte man eine Frau vor sich, die in sicherer und ehrenvoller Stellung bei ihrer Herrschaft lebte, eine Frau, welcher man es ansah, daß sie im Stande war, jegliche Aeltern in England energisch zurechtzuweisen, wenn dieselben sie etwa unter ihrem Werthe schätzen sollten.

—— Frühstück um Zehn? wiederholte Miss Garth, als der Diener durch die Klingel herbeigerufen kam und die Befehle des Hausherrn berichtet hatte. O, ich wußte, was von dem Concert von gestern Abend kommen würde. Wenn Leute, die auf dem Lande leben, öffentliche Vergnügungen mitmachen und protegieren wollen, so vergelten diese Vergnügungen das wieder, indem sie die Familie auf ganze Tage hinterdrein aus ihrer Ordnung bringen. Sie sind auch aus Ihrer Ordnung, Thomas, ich sehe es ja selbst, Ihre Augen sind so roth wie die eines Frettchens [Kleines wieselartiges Thier zur Kaninchenjagd W.], und Ihre Halsbinde sieht aus, als hätten Sie mit ihr sich schlafen gelegt. Bringen Sie den Kessel um drei Viertel aus Zehn und, wenn Sie sich im Laufe des Tages nicht besser befinden, so kommen Sie zu mir, ich will Ihnen Etwas eingeben. ——

—— Es ist ein guter Junge, wenn man ihn nur gewähren läßt, setzte Miß Garth im Selbstgespräch hinzu, als Thomas gegangen war. Aber er ist nicht stark genug zu Concertbesuchen von zwanzig Meilen Entfernung. Ich sollte ja gestern Abend auch mit ihnen gehen. Ja, da könnt Ihr lange warten!

Es schlug Neun, und der Minutenzeiger rückte dann noch zwanzig Minuten weiter, ehe wieder Schritte auf der Treppe sich hören ließen. Nun erschienen zwei Damen, die zusammen ins Frühstückszimmer herabstiegen, Mrs. Vanstone und ihre älteste Tochter.

Wenn die persönlichen Reize von Mrs. Vanstone in einer früheren Lebenszeit lediglich auf ihrer angeborenen englischen Schönheit in Farbe und Frische beruht hätten, so mußte sie schon lange die letzten Reste ihres Ichs verloren haben; aber ihre Schönheit als junge Frau hatte sich nicht auf die gewöhnlichen nationalen Reize beschränkt, und sie war noch immer im Besitze von Vorzügen, welche sich weit seltener finden. Obschon sie in ihrem vierundvierzigsten Jahre stand, obschon sie in früheren Zeiten durch den frühzeitigen Verlust von mehr als einem ihrer Kinder und durch lange Krankheitsanfälle, die Folgen des Kummers über jene Verluste früherer Jahre, geprüft worden war, so bewahrte sie doch das schöne Ebenmaß und die weiche Feinheit der Züge, die einst mit dem alles verklärenden Glanze und der Jugendfrische ihrer Schönheit ein so herrliches Ganze bildeten, welche letztere sie freilich nun auf immerdar verloren hatte. Ihre älteste Tochter, die eben an ihrer Seite die Treppe niederstieg, war der Spiegel, in welchem sie sich selber aus früheren Jahren wiedererkennen und den Wiederschein ihrer eigenen Jugend erblicken konnte. Da lag in dichten Flechten auf der Tochter Haupt das schwere dunkle Haar, das bei der Mutter immer stärker mit Grau sich mischte; da auf der Tochter Wangen glühte das lieblich hingehauchte Roth, welches auf denen der Mutter verblichen war, um nie wieder aufzublühen. Miss Vanstone hatte schon die erste Reife des Weibes erreicht: sie hatte ihr sechs und zwanzigstes Jahr vollendet. Wenn sie den dunklen majestätischen Charakter der Schönheit ihrer Mutter erbte, so hatte sie doch deren Reize schwerlich alle geerbt. Obgleich der Schnitt ihres Angesichts derselbe war, waren doch die Züge kaum so zart, auch jenes Ebenmaß fehlte. Sie war auch nicht so groß. Sie hatte die dunklen braunen Augen ihrer Mutter, groß und sanft mit dem stetigen Glanze, den Mrs. Vanstones Blick verloren hatte, und dennoch lebte in ihnen nicht so viel Theilnahme, waren in ihrem Ausdruck nicht jene Feinheit und Tiefe der Empfindung: er war zart und weiblich, aber verschleiert durch eine gewisse ruhige Zurückhaltung, von der das Gesicht ihrer Mutter frei war. Wenn wir es wagen dürfen, Dies schärfer ins Auge zu fassen, werden wir nicht die Bemerkung machen, daß die moralische Kraft des Charakters und die höheren geistigen Fähigkeiten in den Aeltern oft geheimnißvoll abzunehmen scheinen auf dem Wege der Uebertragung auf die Kinder? In dieser Zeit böser nervöser Erschöpfung und allmälig weitergreifender Nervenschwäche ist es doch wohl möglich, daß dasselbe Gesetz —— nicht so oft zwar, geben wir gern zu —— auch für die leiblichen Vorzüge seine Geltung hat?

Mutter und Tochter stiegen langsam die Treppe herunter, die erstere in Dunkelbraun gekleidet, einen indischen Shawl um die Schulter geworfen, die andere einfacher in Schwarz, mit einem glatten Kragen und Manschetten, auf dem Kleide ein dunkel-orangegelbes Band vorn am Busen. Als sie durch die Flur schritten und in das Frühstückszimmer traten, war Miss Vanstone noch ganz voll von dem alles Andere in den Hintergrund stellenden Thema des gesterabendlichen Concerts.

—— Ich bedaure sehr, Mama, daß Du nicht bei uns warst, sagte sie. Du bist so stark und so wohlauf gewesen seit dem letzten Sommer, Du hast Dich wieder um viele Jahre jünger gefühlt, so daß ich glaube, die Anstrengung wäre nicht zu groß für Dich gewesen.

—— Vielleicht nicht, meine Liebe, aber es war ebenso gerathen, das Sichere zu wählen.

—— Ganz gewiß, bemerkte Miss Garth, welche sich jetzt an der Thür des Frühstückszimmers zeigte. Sehen Sie Nora an (guten Morgen, meine Theure!) sehen Sie, sage ich, nur Nora an. Ein vollständig zerschelltes Wrack, ein leibhafter Beweis Ihrer Klugheit und der meinigen, daß wir zu Hause blieben. Das schlechte Gas, die üble Luft, die späte Zeit, was können Sie da Gutes erwarten? Sie ist auch nicht von Eisen, daher hat sie nun zu leiden. Nein, meine Theure, Sie dürfen es nicht leugnen. Ich sehe, Sie haben sich Kopfweh geholt.

Noras dunkles, hübsches Gesicht erhellte sich zu einem Lächeln, dann hüllte es sich wieder in seine gewöhnliche ruhige Zurückhaltung.

—— Ein klein wenig Kopfweh; nicht halb so groß, um mich das Concert bereuen zu lassen, sagte sie und ging dann vor sich hin an das Fenster.

An dem fernen Ende eines Gartens mit Gehege ruhte der Blick auf einem Strom und einigen Pächterwohnungen, die jenseits desselben lagen, und auf der Oeffnung einer bewaldeten Felsschlucht (in Somersetshire ein »Combe« genannt), welche hier die Hügel, die den Hintergrund schlossen, durchbrach. In nicht großer Entfernung sah man einen Streifen Landstraße, welcher sich über die sanften Bodenwellen des offenen Feldes hinschlängelte, und auf diesem Streifen wurde die stattliche Figur Mr. Vanstones deutlich erkennbar, der eben von seinem Morgenspaziergange nach Hause zurückkehrte. Er schwenkte fröhlich seinen Stock, als er seiner ältesten Tochter am Fenster ansichtig wurde. Sie nickte ihm zu und winkte ihm anmuthig und hübsch mit der Hand zum Gegengruß, aber mit einer Art altmodischer Förmlichkeit, wie sie einer so jungen Dame seltsam zu Gesichte stand und auch zu einer Begrüßung nicht passen wollte, die doch dem Vater galt.

Die Hausuhr schlug die heute vorgerückte Frühstücksstunde. Als der Minutenzeiger fünf Minuten weiter zeigte, wurde eine Thür in dem oberen Theile des Hauses zugeschlagen, eine helle jugendliche Stimme ließ sich mit lieblichem Gesange vernehmen, leichte rasche Schritte eilten die oberen Stufen herunter, hüpften in leichten Sprüngen auf den ersten Absatz, und eilten dann noch schneller den unteren Theil der Treppe herab. Einen Augenblick später, und die jüngere von Mr. Vanstones beiden Töchtern, den einzigen am Leben gebliebenen Kindern, wurde auf der alten braunen Eichentreppe schnell wie ein Lichtstrahl sichtbar und stellte sich, die letzten drei Stufen mit einem Satze überspringend, athemlos im Speisezimmer ein, um den Familienkreis vollzählig zu machen.

Durch eins der seltsamsten Naturspiele, die die Wissenschaft noch unerklärt gelassen hat, hatte sie, das jüngste von Mr. Vanstones Kindern, keine erkennbare Aehnlichkeit mit ihren beiden Aeltern. Wie war sie zu ihrem Haar gekommen? Wie war sie zu ihren Augen gekommen? Auch Vater und Mutter hatten sich selbst diese Fragen vorgelegt, als sie zur Jungfrau heranwuchs, und waren sehr in Verlegenheit sie zu beantworten. Ihr Haar war von dem rein hellbraunen Ton, nicht vermischt mit Flachsgelb oder Gelb oder Roth, das man eher auf dem Gefieder eines Vogels als auf dem Haupte eines Menschlichen Wesens findet. Es war sanft und reich und wallte von ihrer Stirn hernieder in regelmäßigen Flechten, doch für Manche war es ohne Reiz und Leben, bei seinem gänzlichen Mangel an Schattierung, in der einförmigen Reinheit seiner ganz hellbraunen Farbe. Ihre Augenbrauen und Wimpern waren um einen Schatten dunkler als ihr Haupthaar und schienen für veilchenblaue Augen wie geschaffen, die ihren höchsten Zauber üben, wenn sie gepaart sind mit einer schönen Gesichtsfarbe. Aber hier gerade war der Punkt, wo ihr Gesicht sein Versprechen in der auffallendsten Weise nicht hielt. Die Augen, welche hätten dunkel sein sollen, waren unbegreiflicher und störenderweise von heller Farbe, sie waren von jenem farblosem Grau, das, obschon wenig anziehend an sich, doch den selten ausgleichenden Vorzug besitzt, die feinsten Gedankenschattierungen, die zartesten Gefühlssteigerungen, die tiefste Leidenschaft mit einer Durchsichtigkeit des Ausdrucks aussprechen zu können, mit der dunkle Augen nicht wetteifern können. Solchergestalt völlig sich selbst widersprechend im oberen Theile ihres Gesichts, war sie kaum weniger in Widerstreit mit den bestehenden Gesetzen der Harmonie in dem unteren. Ihre Lippen hatten die echte weibliche Zartheit des Schnittes, ihre Wangen die liebliche Rundung und schwellende Frische der Jugend, aber der Mund war zu groß und fest, das Kinn zu stark ausgeprägt und zu groß für ihr Geschlecht und ihr Alter. Ihre Gesichtsfarbe war von derselben Farbmonotonie, die ihr Haar kennzeichnete, sie war von derselben sanften, warmen, milchweißen Schönheit ohne eine Nuance von Farbe auf den Wangen, ausgenommen, wenn sie eine ungewöhnliche Körperanstrengung oder eine plötzliche geistige Aufregung hatte. Das ganze Gesicht, das so auffallend war durch seine starken Gegensätze, erhielt noch ein besonderes Interesse durch seine außerordentliche Beweglichkeit. Die großen blitzenden hellgrauen Augen standen kaum einen Augenblick still, alle Schattierungen des Ausdrucks zogen fortwährend über das schön geformte, immer wechselnde Gesicht mit einer schwindelnden Schnelligkeit, mit welcher Schritt zu halten einer nüchternen Beobachtung nicht möglich war. Die übersprudelnde Lebenskraft des Mädchens machte sich in dessen ganzer Erscheinung von Kopf bis zu Fuß geltend. Ihre Gestalt, höher als die ihrer Schwester, höher als der gewöhnliche Durchschnitt der Frauengröße, belebt von einer solchen verführerischen, schlangenartigen Behendigkeit, so leicht und neckisch anmuthig, daß ihre Bewegungen unwillkürlich an die eines jungen Kätzchens erinnerten; ihre Gestalt war schon so vollkommen entwickelt, daß Niemand, der sie sah, gedacht hätte, sie zähle erst achtzehn Jahre. Sie blühte in der vollen physischen Reife des zwanzigsten Jahres, blühte kraft ihrer unvergleichlichen Gesundheit und Stärke natürlich und unwiderstehlich. Hier lag in That der Hauptgrund ihres seltsam gearteten Wesens. Ihr jäher, halsbrecherischer Lauf die Haustreppe herab, die feurige Lebhaftigkeit aller ihrer Bewegungen, das unausgesetzte Sprühen ihres Gesichtsausdrucks, der reizende Frohsinn, der ihr die Herzen der ruhigsten Leute im Sturme eroberte, sogar das unverhohlene Gefallen an glänzenden Farben, das sich in ihrem prachtvoll gestreiften Morgenanzug, in ihren flatternden Bändern, in den großen Scharlachrosetten auf ihren zierlichen kleinen Schuhen kund gab: Alles schrieb sich aus derselben Ursache her, aus der überströmenden körperlichen Gesundheit, die jeden Muskel schwellte, die jeden Nerven spannte und das warme junge Blut prickelnd durch ihre Adern trieb, wie das Blut eines heranwachsenden Kindes.

Bei ihrem Eintritt in das Frühstückszimmer wurde sie mit dem gewöhnlichen Tadel empfangen, welchen ihre flatterhafte Mißachtung aller Pünctlichkeit von den langmüthigen Häuptern des Hauses herausfordern mußte. Nach Miss Garths Lieblingsausdruck »war Magdalene mit allen Sinnen aus die Welt gekommen, nur nicht mit dem Ordnungssinne.« ——

Magdalene! War es nicht ein wunderlicher Name, den man ihr da gegeben hatte? Wunderlich fürwahr und doch unter gar nicht außerordentlichen Umständen ausgewählt. Den Namen hatte eine von Mr. Vanstones Schwestern getragen, welche in zartem Alter gestorben war, und so hatte er in liebevoller Erinnerung an sie seine zweite Tochter so genannt, gerade so wie er seine ältere Tochter Nora nannte um seiner Gattin willen. Magdelene! Und war der große Frauenname aus der Bibel, der uns an eine düstere Frauengestalt erinnert, der in seinen ersten Beziehungen trübe Gedanken von Reue und Einsiedlerleben in uns erweckt, war der Name wirklich wie die Zeit sich erfüllte, so unpassend beigelegt worden? Wirklich hatte dies so durch und durch sich selbst widersprechende Mädchen sonderbarerweise einen Gegensatz; mehr, indem sie einen Charakter entwickelte, der mit ihrem Taufnamen im schroffsten Contrast stand!

—— Wieder zu spät! sagte Mrs. Vanstone, als Magdalene noch außer Athem sie küßte.

—— Wieder zu spät! stimmte Miss Garth ein, als Magdalene dann zu ihr kam. Sind Sie wohl? fuhr sie fort, indem sie dem Mädchen vertraulich an das Kinn griff, mit einer halb ironischen, halb zärtlichen Aufmerksamkeit, welche verrieth, daß die jüngste Tochter bei all ihren Fehlern doch der Liebling der Gouvernante war. —— Sind Sie wohl? Und was hat Ihnen das Concert von gestern Abend angethan? Welche Art von Leiden hat jene Ausschreitung diesen Morgen für Ihren Körper zur Folge gehabt?

—— Leiden?! wiederholte Magdalene, die eben wieder zu Athem und zugleich wieder zum Gebrauch ihrer Zunge gekommen war. Ich weiß nicht, was das Wort bedeutet; wenn es etwa auf mich geht, so bin ich ausnehmend wohl. Leiden? Ich bin gleich zu einem Concert für heute Abend bereit, zu einem Ball für morgen und einem Schauspiel für übermorgen. O, rief Magdalene, indem sie sich in einen Stuhl warf und mit hastiger Bewegung ihre Hände übers Kreuz auf den Tisch legte, wie liebe ich das Vergnügen! ...

—— Sieh mal an, das ist auf jeden Fall deutlich gesprochen! sagte Miss Garth. Ich denke, Pope wird Sie gemeint haben, als er seine berühmten Verse schrieb:

Vertheilt ist Scherz und Ernst in Männerbrust,
Doch jede Frau im Herzen fröhnt der Lust.
[Men some to business, some to pleasure take,
But every woman is at heart a rake.
]

—— Ein kleiner Teufel ist sie! rief Mr. Vanstone, der eben, die Hunde hinterdrein, ins Zimmer trat, als Miss Garth ihr Citat zum Besten gab. Gut; lebt und lernt. Wenn Ihr Alle der Lust fröhnt, Miss Garth, werden die Geschlechter vertauscht und auf den Kopf gestellt werden, und uns Männern wird nichts übrig bleiben, als zu Hause zu hocken und Strümpfe zu stopfen. —— Doch frühstücken wir nun!

—— Wie gehts Dir, Papa? sagte Magdalene und fiel Mr. Vanstone so ungestüm um den Hals, als ob er nur einer etwas größeren Art Neufundländer angehörte und bloß dazu da wäre, sich mit der Tochter nach deren Gefallen herumzutummeln. —— Ich lebe für das Vergnügen, meint Miss Garth, und wahrlich ich möchte zu einem andern Concert gehen, oder in ein Schauspiel, oder zu einem Balle, wenn Du es lieber willst, oder zu einer andern Vergnügung, wobei ich ein neues Kleid anziehen und unter eine Menge Leute kommen und mich vom Lichterglanz umstralen lassen, kurz über und über in einem Meere von Wonne schwelgen kann. Es ist mir Alles recht, wenn wir nur nicht um elf Uhr zu Bett zu gehen brauchen.

Mr. Vanstone saß unter dem überströmenden Redefluss seiner Tochter ruhig da, wie ein Mann, der es schon gewohnt ist, von dieser Seite her mit Worten überschwemmt zu werden. —— Wenn ich mir die Wahl der Vergnügungen für nächste Zeit vorbehalten darf, versetzte der würdige Herr, so denke ich, ein Schauspiel wird besser sein, als ein Concert. Die Mädchen haben sich erstaunlich ergötzt, meine Liebe, fuhr er zu seiner Gattin gewendet fort, mehr als ich, muß ich gestehen. Es war eben nicht meine Sache. Man führte ein Musikstück auf, das vierzig Minuten dauerte. Dasselbe hatte drei Pausen, und bei jeder dachten wir, es wäre aus, und klatschten, froh, daß wir es überstanden hatten; aber es begann zu unserm großen Erstaunen und Mißbehagen immer wieder, bis wir uns in Verzweiflung drein ergaben und uns Alle nach Jericho hinweg wünschten. Nora, meine Liebe! als wir den Vierzig-Minuten-Lärm hatten mit den drei Pausen, wie nannte man das Stück?

—— Eine Symphonie, Papa, erwiderte Nora.

—— Ja, Du lieber alter Gothe, eine Symphonie von dem großen Beethoven! fügte Magdalene hinzu. Wie kannst Du nur sagen, daß Du Dich nicht daran erfreut hättest? Hast Du die gelb aussehende fremdländische Dame vergessen, mit dem unaussprechlichen Namen? Erinnerst Du Dich nicht mehr, was sie für Gesichter machte beim Singen? und wie sie sich verneigte und immer wieder verneigte, bis sie die närrischen Leute dahin hatte, daß sie sie noch einmal riefen? Sieh her, Mama, sehen Sie her, Miss Garth!

Sie nahm einen leeren Teller vom Tische, um ein Notenblatt vorzustellen, hielt ihn vor sich in der Weise der Concertsängerinnen und gab nun eine Nachahmung der Grimassen und Verneigungen der unglücklichen Sängerin, so treu dem Original abgelauscht, zum Besten, daß ihr Vater vor Lachen den Leib hielt und sogar der Bediente (der eben mit dem Briefbeutel hereintrat) gleich das Zimmer wieder verlassen mußte und die Unschicklichkeit beging, draußen vor der Thür ganz hörbar als Echo seines Herrn mitzulachen.

—— Briefe, Papa. Ich brauche den Schlüssel, sagte Magdalene, welche von der mimischen Scene am Frühstückstische an den Nebentisch zu dem Briefbeutel eilte, indem sie wieder mit der ihr bei allen Handlungen eigenthümlichen Leichtigkeit abbrach.

Mr. Vanstone suchte in den Taschen und schüttelte das Haupt. Obschon seine jüngste Tochter ihm sonst m nichts weiter ähnlich war, so sah man doch leicht, woher Magdalenens Mangel an Ordnungssinn kam.

—— Ich muß gestehen, ich habe ihn in der Bibliothek gelassen, bei meinen anderen Schlüsseln, sagte Mr. Vanstone. Geh und sieh einmal nach, meine Liebe. ——

—— Du solltest wirklich Magdalenen verweisen, brachte Mrs. Vanstone vor und wandte sich an ihren Gatten, als ihre Tochter das Zimmer verlassen hatte. Diese schauspielerischen Einfälle nehmen bei ihr immer mehr überhand, und sie spricht mit Dir in einem so leichtfertigen Tone, daß man es ohne Aergerniß nicht mehr mit anhören kann.

—— Genau dasselbe, was ich selbst gesagt habe, bis ich müde wurde, es zu wiederholen —— bemerkte Miss Garth. Sie behandelt Mr. Vanstone, als wäre er eine Art jüngerer Bruder von ihr.

—— Du bist freundlich gegen uns in jeder Art, Papa, und Du gibst Magdalenens aufgewecktem Geiste freundlich nach, nicht wahr? sagte die ruhige Nora, indem sie die Partie ihres Vaters und ihrer Schwester nahm, so anscheinend unabsichtlich, daß wenige Beobachter die wirkliche ursprüngliche Regung wahrzunehmen im Stande gewesen wären.

—— Ich danke Dir, meine Liebe, sagte der gutmüthige Mr. Vanstone. Ich danke Dir für Dein gutes Wort. Was Magdalene betrifft, fuhr er fort zu seiner Gattin und Miss Garth sich wendend, so ist sie ein unbändiges Füllen. Laßt dies in seinem Gehege nur springen und ausschlagen nach Herzenslust. Es ist Zeit genug, sie zu zäumen, wenn sie ein wenig älter ist.

Die Thür ging auf, und Magdalene kam mit dem Schlüssel zurück. Sie schloß den Briefbeutel auf dem Nebentische auf und schüttete die Briefe auf einen Haufen. Sie sortirte sie in weniger als einer Minute und kam dann, beide Hände damit voll, an den Frühstückstisch und vertheilte die Briefe rings herum mit der geschäftsmäßigen Fingerfertigkeit eines Londoner Briefträgers.

—— Zwei für Nora, sagte sie an, indem sie bei der Schwester anfing. Drei für Miss Garth. Keinen für Mama. Einen für mich. Und die anderen sechs alle für Papa. ——— Du fauler lieber Alter, Du beantwortest nicht gern Briefe, nicht wahr? fuhr Magdalene fort, indem sie den Briefträgerton fallen ließ und wieder den der Tochter annahm. Wie wirst Du im Bibliothekszimmer brummen und hin und her laufen und gar bald wünschen: Wenn es doch nur keine Briefe auf der Welt gäbe! Und wie roth wird Dein liebes altes ödes Haupt werden bei der Plage, die Antworten zu schreiben! Und wie viele von den Antworten wirst Du auf morgen verschieben, bei alle dem! —— Das Bristoler Theater ist eröffnet, Papa, rannte sie schlau und plötzlich ihrem Vater ins Ohr; ich sah es in der Zeitung, als ich in die Bibliothek ging, um den Schlüssel zu holen. Laß uns morgen Abend gehen!

Während seine Tochter um ihn her plauderte, ordnete Mr. Vanstone mechanisch seine Briefe, legte sich die ersten vier in eine Reihe und las die Adressen ohne Theilnahme; als er aber zum fünften kam, richtete sich seine Aufmerksamkeit, die sich bis dahin Magdalenen zugewendet hatte, plötzlich ausschließlich auf den Poststempel des Briefes.

Sich über ihn beugend, ihr Haupt auf seine Schulter legend, konnte Magdalene den Stempel so deutlich sehen als der Vater selbst: —— New Orleans.

—— Ein amerikanischer Brief, Papa! sagte sie. Wen kennst Du in New-Orleans?

Mrs. Vanstone horchte auf und sah begierig ihren Mann an, als Magdalene diese Worte sprach.

Mr. Vanstone sagte nichts. Er nahm ruhig den Arm seiner Tochter von seinem Halse weg, als ob er wünschte, nicht unterbrochen zu werden. Sie kehrte daher an ihren Platz beim Frühstückstische zurück. Ihr Vater wartete mit dem Briefe in der Hand eine Weile, ehe er ihn öffnete; ihre Mutter sah ihn dabei mit einer Miene aufmerksamer gespannter Erwartung an, was Miss Garth und Nora so wenig, als Magdalenen entging.

Nach einem minutenlangen Zögern öffnete Mr. Vanstone den fraglichen Brief.

Sein Gesicht wechselte sofort die Farbe, als er die ersten Zeilen gelesen; seine Wangen verfärbten sich zu einem matten Gelbbraun, welches bei einem weniger blühenden Manne Aschgrau gewesen sein würde; seine Miene nahm augenblicklich einen düsteren Ausdruck an und wurde finster. Nora und Magdalene ängstlich harrend sahen nur die Veränderung, die mit ihrem Vater vorgegangen. Miss Garth allein bemerkte die Wirkung, welche diese Veränderung auf die aufmerksam gewordene Frau vom Hause ausübte.

Es war nicht eine Wirkung, wie sie oder jemand Anderes sie vorausgesetzt haben würde. Mrs. Vanstone sah eher aufgeregt, als beunruhigt aus. Eine schwache fliegende Röthe auf ihren Wagen, die Augen blitzend, rührte sie den Thee in ihrer Tasse in einer unruhigen und ungeduldigen Art und Weise, die ihr sonst fremd war.

Magdalene kraft ihrer Eigenschaft als verzogenes Kind war wie gewöhnlich die Erste, welche das Schweigen unterbrach.

—— Was gibt es, Papa? fragte sie.

—— Nichts, erwiderte Mr. Vanstone mit scharfem Tone, ohne sie anzusehen.

—— Ich glaube aber doch, daß es Etwas gibt, beharrte Magdalene. Ich glaube sogar, es sind schlimme Nachrichten, Papa, in dem Briefe aus Amerika.

—— Es ist Nichts in dem Briefe, was Dich angeht, sagte jetzt Mr. Vanstone.

Das war die erste directe Zurückweisung, die Magdalene seitens ihres Vaters je erfahren hatte. Sie sah ihn mit einer ungläubigen Ueberraschung an, die unter weniger ernsten Umständen ohne Widerrede arg verlegen ausgesehen haben würde.

Weiter wurde Nichts gesprochen. Zum ersten Male vielleicht in ihrem Leben saß die Familie um den Frühstückstisch in peinlichem Stillschweigen. Mr. Vanstones gesunder Morgenappetit war vergangen, ebenso seine gesunde Morgenlaune. Er brach zerstreut ein paar Bissen vom trocknen Röstbrode ab aus dem Körbchen neben sich, trank zerstreut seine erste Tasse Thee aus, verlangte dann eine zweite, die er aber unberührt vor sich stehen ließ.

—— Nora, sagte er nach einer Pause, Du brauchst nicht auf mich zu warten. Magdalene, meine Liebe, Du kannst gehen, wenn Du willst.

Seine Töchter erhoben sich augenblicklich, und Miss Garth folgte bedächtig ihrem Beispiele. Wenn ein Mann von leichter Gemüthsart sich in seiner Familie doch einmal geltend macht, so thut die Seltenheit der Kundgebung unfehlbar ihre Wirkung, und der Wille des sonst so leichtgemuthen Mannes ist Gesetz.

—— Was muß denn vorgefallen sein? wisperte Nora, als sie die Thür des Frühstückzimmers hinter sich hatten und über die Flur gingen.

—— Was hat nur Papa vor, daß er so bös mit mir ist? rief Magdalene, die nur über ihre eigene eben erfahrene Kränkung aufgeregt war.

—— Darf ich wohl erfahren, was Sie für ein Recht hatten, in Ihres Vaters Privatangelegenheiten einzudringen? entgegnete Miss Garth.

—— Was für ein Recht? wiederholte Magdalene. Ich habe keine Geheimnisse vor Papa, wie kommt Papa dazu, welche vor mir zu haben? Ich betrachte mich beleidigt!

—— Wenn Sie sich doch lieber als zurechtgewiesen ansehen wollten, dafür, daß Sie sich nicht um Ihre Sachen bekümmern, sagte Miss Garth, die kein Blatt vor den Mund nahm, so würden Sie der Wahrheit ein wenig näher kommen. O, Sie sind gerade so, wie die andern Mädchen heutzutage. Keine einzige von Euch Hunderten weiß, wie verkehrt sie mit sich selber daran ist.

Die drei Damen traten in das Morgenzimmer, und Magdalene erkannte den Tadel von Miss Garth dadurch an, daß sie die Thüre zuschlug.

Eine halbe Stunde verging, und weder Mr. Vanstone, noch seine Gattin verließen das Frühstückszimmer. Der Bediente, der nicht wußte, was vorgefallen war, kam herein, um den Tisch abzuräumen, fand aber seinen Herrn und die Frau nebeneinander in eifrigem Gespräche und verließ daher augenblicklich das Gemach. Eine weitere Viertelstunde verstrich, bevor die Thür des Zimmers sich öffnete und die vertrauliche Besprechung zwischen Herr und Frau vom Hause zu Ende war.

—— Ich höre Mama aus der Flur, sagte Nora. Vielleicht kommt sie, um uns etwas zu erzählen.

Mrs. Vanstone trat ins Zimmer, als noch die Tochter sprach. Die Farbe auf ihren Wangen war dunkler, und der Glanz halbverwischter Thränen war in ihren Augen sichtbar. Ihr Schritt war hastiger, ihre Bewegungen schneller als gewöhnlich.

—— Ich bringe Neuigkeiten, meine Lieben, die Euch überraschen werden, sagte sie zu ihren Töchtern. Euer Vater und ich gehen morgen nach London.

Magdalene faßte ihre Mutter mit sprachlosem Erstaunen beim Arme; Miss Garth ließ ihre Arbeit in den Schoß sinken, sogar die gesetzte Nora sah auf ihre Füße, und wiederholte betroffen die Worte: .... Gehen nach London.

—— Ohne uns! setzte Magdalene hinzu.

—— Euer Vater und ich, wir gehen allein, sagte Mrs. Vanstone. Vielleicht auf drei Wochen, aber nicht länger. Wir gehen —— sie hielt inne —— wir gehen in dringender Familienangelegenheit (Laß mich los, Magdalene.) Es ist eine unerwartet eingetretene Nothwendigkeit, —— ich habe heute viel zu schaffen, —— Mancherlei bis morgen in Ordnung zu bringen. Nun, nun, meine Liebe, laß mich gehen.

Sie legte ihren Arm weg, küßte die jüngste Tochter auf die Stirn und verließ plötzlich das Zimmer wieder. Selbst Magdalene sah, daß ihre Mutter sich heute nicht darauf einließ, weitere Fragen anzuhören oder zu beantworten.

Der Morgen verging langsam, und von Mr. Vanstone war nichts zu sehen. Mit der rücksichtslosen Neugier ihres Alters und Charakters entschloß sich Magdalene, trotz des Verbots von Miss Garth und der Vorstellungen ihrer Schwester nach dem Bibliothekszimmer zu gehen und dort ihren Vater aufzusuchen. Als sie die Thür öffnen wollte, war sie von innen verschlossen. Sie sagte: Ich bin’s nur, Papa, und wartete aus eine Antwort.

—— Ich bin beschäftigt, meine Liebe, war die Antwort. Störe mich nicht.

Anderseits war auch Mrs. Vanstone nicht zugänglich. Sie blieb in ihrem eigenen Zimmer mit den Dienstmädchen um sich, vertieft in endlose Vorbereitungen zur bevorstehenden Abreise. Die Mädchen, bisher in dieser Familie an plötzliche Entschließungen und unerwartete Befehle nicht gewöhnt, waren linkisch und verwirrt, wie sie diese Weisungen erhielten. Sie liefen unnöthiger Weise aus einer Stube in die andere und verloren Zeit und Geduld, indem sie einander auf der Treppe stießen. Wenn ein Fremder in das Haus gekommen wäre an diesem Tage, so würde er wohl gedacht haben, daß ein unerwartetes Unglück vorgefallen wäre, anstatt einer unerwarteten Reise nach London. Nichts blieb in der gewohnten Ordnung. Magdalene, welche gewohnt war, den Vormittag am Piano zuzubringen, wanderte unruhig auf der Treppe und in den Gängen hin und her und aus einem Zimmer ins andere, wenn es dort »gut Wetter« zu geben schien. Nora, deren Leselust in der Familie sprichwörtlich geworden war, nahm ein Buch nach dem andern von dem Tische und aus dem Schranke und legte alle wieder weg, weil sie ihre Aufmerksamkeit nicht fesseln konnten. Sogar Miss Garth spürte an sich den Alles durchdringenden Einfluß der Störung des Hauswesens und saß allein beim Kamin des Morgenzimmers, ihr Haupt hin- und herschüttelnd, die Arbeit bei Seite gelegt.

—— Familienangelegenheiten? dachte Miss Garth, indem sie über Mrs. Vanstones allgemein gehaltene Mittheilung nachsann. Ich habe nun meine zwölf Jahre auf Combe-Raven gelebt, und dies sind die ersten Familienangelegenheiten, die sich zwischen Aeltern und Kinder gestellt haben, so lange ich denken kann. Was soll das bedeuten? Eine Veränderung? Ich merke, ich werde alt. Ich mag Veränderungen nicht leiden.



Kapiteltrenner

Zweites Capitel.

Zehn Uhr am nächsten Morgen standen Nora und Magdalene allein in der Flur von Combe-Raven und sahen den Wagen abfahren, welcher Vater und Mutter nach der Londoner Eisenbahn bringen sollte.

Bis zum letzten Augenblick hatten beide Schwestern einige weitere Aufklärung über jene »Familienangelegenheit« zu erhalten gehofft, auf welche Mrs. Vanstone Tagsvorher so kurz angespielt hatte. Keine solche Erklärung war gegeben worden. Sogar die Erregtheit beim Abschiednehmen unter Umständen, welche in den häuslichen Erinnerungen der Aeltern und der Kinder ganz neu waren, hatte das entschlossene Schweigen von Mr. und Mrs. Vanstone nicht zu erschüttern vermocht. Sie waren unter den wärmsten Zärtlichkeitsbeweisen abgereist, unter immer und immer wiederholten herzlichen Abschiedsumarmungen, aber ohne von Anfang bis zuletzt ein Wort fallen zu lassen über den Grund ihrer jähen Reise.

So wie das Geräusch des wegfahrenden Wagens plötzlich bei einer Wendung der Straße verstummt war, sahen sich die Schwestern einander ins Angesicht. Jede fühlte und Jede verrieth auf ihre Weise die herbe Empfindung, sich zum ersten Male von dem Vertrauen ihrer Aeltern ausgeschlossen sehen zu müssen. Noras gewöhnliche Verschlossenheit verhärtete sich zu bitterem Schweigen, sie setzte sich auf einen der Stuhle in der Halle und schaute mit düsterem Blick durch die offene Hausthür. Magdalene wie gewöhnlich, wenn ihr Wesen aufgeregt war, machte ihrem Mißvergnügen in den offensten Worten Luft.

Mir ist es einerlei, wer es hört, aber ich meine, wir sind Beide schmählich mißhandelt!

Mit diesen Worten folgte die junge Dame dem Beispiel ihrer Schwester, indem sie sich ebenfalls auf einen Stuhl in der Flur niederließ und durch die offene Hausthür ins Freie schaute.

Gerade in demselben Augenblick trat Miss Garth aus dem Morgenzimmer in die Flur. Ihre rasche Beobachtung zeigte ihr die Notwendigkeit, sich hier nützlich ins Mittel zu legen, und ihr richtiges Tactgefühl ließ sie sogleich den Weg dazu finden.

—— Sehen Sie mich an, Sie Beide, wenn Sie wollen, und hören Sie mich an, sagte Miss Garth. Wenn wir Alle Drei hübsch gemüthlich und froh mit einander leben wollen, jetzt wo wir allein sind, so müssen wir ein Jedes zu seiner gewohnten Beschäftigung zurückkehren und die alte Lebensweise wieder aufnehmen. Das ist gerade heraus gesagt, der Stand der Dinge. Nehmen Sie die Situation an, wie sie ist, um den französischen Ausdruck zu gebrauchen. Ich bin hier, um Ihnen mit meinem Beispiele vorauszugehen. Ich habe soeben ein vortreffliches Mittagsessen zur gewöhnlichen Zeit bestellt. Ich gehe nun zu meinem Arzneikasten, um der Küchenmagd etwas einzugeben, ein ungesundes Mädchen, dessen Kopfschmerz im Magen sitzt. Mittlerweile werden Sie, Nora, meine Theure, Ihre Arbeit und Ihre Bücher wie gewöhnlich in der Bibliothek finden. Und Sie, Magdalene, denke ich, werden nun aufhören, Knoten in Ihr Taschentuch zu knüpfen und lieber Ihre Finger auf der Claviatur des Piano üben. Wir werden um Eins etwas essen und dann die Hunde ausführen. Seien Sie Beide so lebendig und munter, wie Sie mich sehen. Wohl an, stehen Sie gleich mit auf. Wenn ich diese verdüsterten Gesichter noch länger mit ansehen soll, so werde ich, so wahr ich Garth heiße, Ihre Mutter schriftlich um meine Entlassung bitten und mit dem gemischten Zuge um 12 Uhr 40 Minuten zu meiner Familie zurückkehren.

Indem Miss Garth ihre Ansprache mit diesen Worten schloß, führte sie Nora an die Bibliothekthür, schob Magdalene in das Morgenzimmer und ging dann ihren eigenen Wge nach der Gegend des Arzneikastens.

In dieser halb scherzenden, halb ernsthaften Weise war sie gewohnt, eine Art freundschaftlicher Autorität über Mr. Vanstones Töchter auszuüben, nachdem ihre eigentlichen Dienste als Gouvernante nothwendig ihre Endschaft erreicht hatten. Nora hatte, was wohl kaum erst gesagt zu werden braucht, lange schon aufgehört, ihre Schülerin zu sein, und auch Magdalene hatte jetzt ihre Erziehung vollendet. Allein Miss Garth hatte zu lange und zu vertraut unter Mrs. Vanstones Dach gelebt, als daß man sie aus bloßen formellen Erwägungen gehen lassen mochte, und der erste Wink in Bezug aus Ehren Weggang, den sie für ihre Pflicht hielt fallen zu lassen, wurde mit einer so warm empfundenen Ablehnung zurückgewiesen, daß sie ihn nie wiederholte, es sei denn zum Scherz. Die ganze Führung des Hauswesens war von der Zeit an in ihre Hände gelegt worden, und zu diesen Pflichten fügte sie aus freiem Antriebe die freundschaftliche Beihilfe, die sie Nora bei der Lectüre geben konnte, und die Aufsicht über Magdalenens musicalische Uebungen. Das war die Stellung, in welcher Miss Garth Mr. Vanstones Familie angehörte.

Gegen den Nachmittag hin hellte sich das Wetter auf. Halb zwei Uhr schien die Sonne recht schön, und die Damen verließen das Haus, um, begleitet von den Hunden, ihren Spaziergang zu machen.

Sie gingen über den Fluß und stiegen durch den kleinen Felsenpaß nach den Hügeln im Hintergrunde hinan; dann wendeten sie sich wieder links und kehrten auf einer Seitenstraße zurück, die durch das Dorf Combe-Raven führte.

Als sie in Sicht der ersten Häuser kamen, stießen sie auf einen Mann, der am Wege rastete und aufmerksam erst Magdalene, dann Nora ansah. Sie bemerkten nur, daß er nicht groß war, einen schwarzen Anzug hatte und ihnen vollständig fremd erschien, und setzten ihren Weg nach Hause fort, ohne mehr an den ruhenden Fußwanderer zu denken, den sie auf dem Wege vorher getroffen hatten.

Nachdem sie das Dorf verlassen hatten und wieder auf der gerade auf ihr Haus führenden Straße waren, überraschte Magdalene Miss Garth durch die Mittheilung, daß der schwarzgekleidete Fremde umgekehrt war, nachdem sie an ihm vorüber waren, und ihnen nun gefolgt sei.

—— Er hält sich an Noras Seite auf der Straße, setzte sie ärgerlich hinzu. Ich bin nicht der anziehende Gegenstand, ich kann nichts dafür.

Ob der Mann ihnen wirklich folgte oder nicht, machte wenig Unterschied, denn sie waren jetzt dicht am Hause. Als sie durch das äußere Gitter traten, sah sich Miss Garth um und sah, daß der Fremde seine Schritte beschleunigte, offenbar in der Absicht, sie anzureden. Als sie Das bemerkte, ließ sie die jungen Damen allein mit den Hunden voraus in das Haus treten, während sie selber am Thore wartete, was da kommen sollte.

Es war gerade nur so viel Zeit übrig, als nöthig, um diese Weisung auszuführen, bevor der Fremde das Landhaus erreichte. Er nahm höflich den Hut vor Miss Garth ab, als sie sich umdrehte Wonach sah er dem Gesichte nach aus? Er sah aus wie ein verarmter Geistlicher.

Wenn wir sein Bild von oben bis unten geben wollen, so fängt sein Conterfei mit einem hohen Hute an, der mit einem breiten Streifen Trauerband von zerknittertem Krepp umgeben war. Unter dem Hute war ein mageres, langes, blasses Gesicht tief von Blatternarben durchfurcht und merkwürdig genug durch Augen von verschiedener Farbe, das eine gallengrün, das andere gallenbraun, beide scharf und geistreich, gekennzeichnet. Sein Haar war eisengrau und sorgfältig an den Schläfen aufgebürstet. Wangen und Kinn standen in schönblauer Blüte durch die Klinge des Barbiers, seine Nase war kurz und komisch, seine Lippen lang, dünn und fein, an den Winkeln aufgekräuselt durch ein sanftes launiges Lächeln. Sein weißes Halstuch war hoch, steif und —— braun; der Kragen, noch höher, steifer und —— brauner als ersteres, streckte seine rauhen Spitzen auf beiden Seiten seines Kinnes empor. Weiter unten war der Anzug der kleinen flinken Gestalt ganz schwarz, aber ärmlich und abgetragen. Sein Frack war um den Leib fest zugeknöpft, öffnete sich aber stolz an der Brust. Seine Hände waren mit schwarzen Baumwollhandschuhen, die an den Fingern sorgfältig ausgebessert waren, bedeckt; sein Regenschirm, obschon an dem Stabe bis auf das letzte Theilchen eines Zolles abgetragen, wurde nichtsdestoweniger sorgsam in einer Wachstuchhülle bewahrt. Die Stirnansicht von ihm war diejenige, wo er am ältesten aussah; wenn man ihn aber von der Seite nahm, so konnte man ihn auf Fünfzig und da herum schätzen. Ging man hinter ihm her, so sahen Rücken und Schultern bei ihm jung genug aus, um für Fünfunddreißig zu gelten. Seine Haltung und Gebärden waren durch eine salbungsvolle Heiterkeit ausgezeichnet. Wenn er die Lippen öffnete, sprach er in einem schönen Baß, mit leichtem Redefluß und sorgfältiger Beachtung der rednerischen Betonung von mehrsilbigen Wörtern Beredtsamkeit strömte von seinen mildgekräuselten Lippen, und so ärmlich er aussah, so war er doch reichlich in immergrüne Blumen voll Höflichkeit eingehüllt von Kopf bis zu Fuß.

—— Dies ist die Wohnung von Mr. Vanstone, nicht wahr? begann er mit einer Handbewegung nach dem Haus deutend. Habe ich die Ehre, ein Mitglied von Mr. Vanstones Familie vor mir zu sehen?

—— Ja, erwiderte die wahrheitsliebende Miss Garth. Sie sprechen mit der Gouvernante von Mr. Vanstones Töchtern.

Der beredte Mann trat einen Schritt zurück, bewunderte Mr. Vanstones Gouvernante, trat dann wieder einen Schritt vor und setzte die Unterhaltung fort.

—— Und die zwei jungen Damen, fing er an, die beiden Fräulein, welche mit Ihnen gingen, sind ohne Zweifel Mr. Vanstones Töchter? Ich erkannte die dunklere von den Beiden und zugleich die ältere wie ich glaube, an der Aehnlichkeit mit ihrer hübschen Mutter. Die jüngere Dame ——

—— Sie sind vermuthlich mit Mrs. Vanstone bekannt? sagte Miss Garth und unterbrach den Redefluß des Fremden, der bei Lichte besehen nach ihrer Meinung freimüthig genug sich ergoß. Der Fremde erwiderte die Unterbrechung durch eine seiner höflichen Verbeugen und überflutete dann Miss Garth in seiner nächsten Rede, als ob nichts vorgefallen wäre.

—— Die jüngere Dame, fuhr er fort, schlägt nach ihrem Vater, denke ich? Ich versichere Ihnen, ihr Gesicht machte mich betroffen. Indem ich es mit dem freundschaftlichen Interesse betrachte, das ich an der Familie nehme, hielt ich es für sehr merkwürdig. Ich sagte zu mir selbst: Reizend, eigenthümlich, merkwürdig! Nicht ihrer Schwester ähnlich, auch nicht der Mütter ähnlich. Ohne Zweifel das Ebenbild ihres Vaters?

Noch einmal versuchte Miss Garth die Flut von Worten des Mannes zu unterbrechen. Es war deutlich, er kannte Mr. Vanstone nicht, nicht einmal von Ansehen; andernfalls hätte er ja nicht den Irrthum begangen, daß Magdalene ihrem Vater ähnlich wäre. Kannte er Mrs. Vanstone besser? Er hatte Miss Garths Frage über diesen Punct unbeantwortet gelassen. Bei allen Heiligen, wer war er denn? Bei dem Gotte der Unverschämten, was wollte er?!

—— Sie sind wohl ein Freund der Familie, obschon ich mich Ihres Gesichts nicht entsinne, sagte Miss Garth. Was wünschen Sie, wenn ich bitten darf? Kamen Sie hierher, um Mrs. Vanstone einen Besuch zu machen?

—— Ich hatte schon früher das Vergnügen, mit Mrs. Vanstone in Verbindung zu stehen, antwortete der Mann, im Ausweichen und Complimente machen ein erfahrener Meister. Wie befindet sie sich?

—— So wie gewöhnlich, versetzte Miss Garth, welche fühlte, daß ihre Höflichkeit nun bald auf die Neige ging.

—— Ist sie zu Hause?

—— Nein.

—— Wird sie lange wegbleiben?

—— Abgereist na London mit Mr. Vanstone.

Das lange Gesicht des Mannes wurde noch länger. Sein gallenbraunes Auge sah verlegen aus, und sein gallengrünes Auge folgte dessen Beispiele. Seine Haltung wurde ersichtlich unsicher, und die Wahl seiner Worte wurden noch sorgfältiger denn zuvor.

—— Wird Mrs. Vanstones Abwesenheit vielleicht längere Zeit dauern? fragte er.

—— Sie wird über drei Wochen dauern, erwiderte Miss Garth. Ich denke, Sie haben nun genug gefragt, fuhr sie fort, indem zuletzt ihr Unmuth wieder die Oberhand in ihr zu gewinnen begann. Seien Sie so gut, gefälligst ihr Anliegen und Ihren Namen zu sagen. Haben Sie eine Mittheilung für Mrs. Vanstone; gut, ich schreibe heute Abend an Mrs. Vanstone und kann sie mit an sie besorgen.

—— O tausend Dank! Ein sehr annehmbares Anerbieten. Erlauben Sie mir dasselbe sogleich anzunehmen.

Er war nicht im Mindesten von dem Ernste in Miss Garths Blick und Rede betroffen; er war einfach erfreut über ihr Erbieten und zeigte Dies mit der einnehmendsten Offenheit. Dies Mal gab das gallengrüne Auge den Ton an und dem andern gallenbraunen Auge das leuchtende Beispiel wiederhergestellter Heiterkeit. Seine gekräuselten Lippen nahmen eine neue, sanfte Biegung nach oben an, er drückte s einen Schirm lebhaft unter den Arm und brachte aus der Brust seines Fracks eine große altmodische Brieftasche zum Vorschein. Aus dieser nahm er einen Bleistift und eine Karte, zögerte und dachte einen Augenblick nach, schrieb dann schnell Etwas aus die Karte und legte diese mit der höflichsten Gewandtheit von der Welt in Miss Garths Hand.

—— Ich werde mich persönlich tief verpflichtet fühlen, wenn Sie mich durch Einschluß dieser Karte in Ihren Briefe ehren wollen, sagte er. Es ist nicht nöthig, daß ich Sie noch mit einem Auftrage belästige. Mein Name wird vollkommen genügen, Mrs. Vanstone an eine kleine Familiensache zu erinneren, die ihr ohne Zweifel aus dem Gedächtniß entschwunden ist. Nehmen Sie meinen besten Dank. Dies ist ein Tag von angenehmen Ueberraschungen für mich gewesen. Ich habe das Land hier herum recht hübsch gefunden; ich habe Mrs. Vanstones beide reizende Töchter gesehen, ich bin mit einer ehrenwerthen Lehrerin in Mr. Vanstones Familie bekannt geworden. Ich wünsche mir Glück; ich bitte um Entschuldigung, Ihre werthvolle Zeit in Anspruch genommen zu haben; genehmigen Sie die Versicherung meiner Ergebenheit —— ich wünsche Ihnen einen guten Morgen!

Er setzte seinen hohen Hut aus. Sein braunes Auge zwinkerte, sein grünes Auge zwinkerte, seine gekräuselten Lippen lächelten süß. In einem Augenblick wandte er sich um. Sein jugendlicher Rücken erschien im besten Lichte, seine lebhaften kleinen Beine trugen ihn trippelnd in der Richtung des Dorfes hinweg. Eins, zwei, drei —— jetzt war er an der Wendung der Straße. Vier, fünf, sechs —— und er war verschwunden.

Miss Garth sah auf die Karte in ihrer Hand nieder und blickte wieder auf in hellem Staunen. Der Name und die Adresse des geistlich aussehenden Fremden (beide mit Bleistift geschrieben) lauteten wie folgt:

Hauptmann Wragge. Postamt Bristol.



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Drittes Capitel.

Als sie ins Haus trat, machte Miss Garth gar keinen Versuch, ihre ungünstige Meinung in Bezug auf den schwarzgekleideten Herrn zu verbergen. Sein Zweck war ohne Zweifel, von Mrs. Vanstone eine Geldunterstützung zu erlangen. Was er bei ihr für Ansprüche darauf hatte, das war ihr allerdings noch nicht klar, wenn es nicht etwa der Anspruch als armer Verwandter derselben war. Hatte Mrs. Vanstone jemals vor ihren Töchtern den Namen des Hauptmann Wragge ausgesprochen? Keine von Beiden konnte sich ihn je gehört zu haben erinneren. Hatte Mrs. Vanstone jemals auf irgend welche arme Verwandte angespielt, welche von ihr Unterstützung bezögen? Im Gegentheil, sie hatte in früheren Jahren erwähnt, daß sie zweifle, überhaupt noch Verwandte zu haben, die am Leben wären. Und doch hatte Hauptmann Wragge deutlich erklärt, daß der Name auf seiner Karte Mrs. Vanstone eine »Familiensache« ins Gedächtniß zurückrufen werde. Was sollte das heißen? Eine falsche Angabe seitens des Fremden, ohne ersichtlichen Grund, eine solche zu machen? Oder gar noch ein zweites Geheimniß, das der geheimnißvollen Reise nach London auf dem Fuße folgte?

Alle Wahrscheinlichkeit schien auf einen gewissen verborgenen Zusammenhang zwischen den »Familienangelegenheiten«, die Mr. und Mrs. Vanstone so plötzlich vom Hause weggeführt hatten, und der »Familiensache« hinzudeuten, die mit dem Namen des Hauptmann Wragge verknüpft war. Miss Garths Zweifel vom Tage vorher kamen ihr stärker denn zuvor in den Sinn, als sie den Brief an Mrs. Vanstone mit der Karte des Hauptmanns im Einschluß versiegelte.

Mit umgehender Post kam die Antwort an.

Stets die am Frühesten aufstehende Dame im Hause, war Miss Garth allein im Frühstückszimmer, als der Brief ankam. Der erste Blick auf den Inhalt desselben überzeugte sie von der Nothwendigkeit, daß er, bevor irgend welche unbequeme Fragen an sie gerichtet würden, auf ihrem Zimmer aufmerksam durchgelesen sein wollte. Indem sie durch das Dienstmädchen an Nora bestellen ließ, daß sie doch diesen Morgen den Thee bereiten möchte, ging sie die Treppe hinauf, um auf ihrem Zimmer allein und ungestört zu bleiben.

Mrs. Vanstones Brief war ziemlich lang. Der erste Theil desselben bezog sich auf Hauptmann Wragge und ging ohne Rückhalt auf alle diesen Mann selbst und die Gründe, die ihn nach Combe-Raven geführt hatten, betreffenden Einzelheiten ein.

Es er ab sich aus den Angaben von Mrs. Vanstone, daß ihre Mutter zwei Mal verheirathet war. Der erste Gemahl ihrer Mutter war ein gewisser Doctor Wragge gewesen, ein Witwer mit kleinen Kindern, und eines von diesen Kindern war eben jener so gar nicht militärisch aussehende Hauptmann dessen Adresse »Postamt Bristol« war. Mrs. Wragge hatte von ihrem ersten Gatten keine Kinder; sie hatte nachmals Mrs. Vanstones Vater geheirathet. Aus dieser zweiten Ehe war Mrs. Vanstone selber die einzige Frucht. Sie hatte ihre beiden. Aeltern, als sie noch jung war, verloren, und im Laufe der Jahre war von den Verwandten mütterlicherseits einer nach dem andern gestorben (diese Verwandten aber waren ihre nächsten lebenden Angehörigen gewesen). Sie stand nun nach dem vorliegenden Briefe allein noch da ohne Verwandte in der Welt, ausgenommen vielleicht einige Vettern, die sie nie gesehen und von deren Dasein sie zur Zeit keine bestimmte Kenntniß hatte.

Was hatte unter diesen Umständen Hauptmann Wragge denn für Familienansprüche an Mrs. Vanstone?

Durchaus keinerlei. Als der Sohn von ihrer Mutter erstem Manne von dessen erster Ehefrau konnte er, selbst wenn man die Rücksicht aufs Aenßerste treiben wollte, unmöglich jemals in die Reihe von Mrs. Vanstones entferntesten Verwandten aufgenommen werden [D. h. nach englischen Begriffen. W.]. Indem er dies auch recht gut wußte (fuhr der Brief fort), war er doch nichtsdestoweniger dabei geblieben, sich ihr als eine Art Blutsverwandter aufzudrängen, und sie war schwach genug gewesen, seiner Zudringlichkeit nachzugeben, lediglich aus Furcht, er könnte sich sonst bei Mr. Vanstone selber einführen und ohne Scheu Mr. Vanstones Großmuth brandschatzen. Indem es ihr natürlich nur unangenehm sein konnte, wenn ihr Gatte belästigt und wahrscheinlich noch obendrein betrogen werden sollte, von einer Person, die, wenn auch ohne Berechtigung, einen nahen Verwandtschaftsgrad mit ihr selber vorgab, so war es seit Jahren ihre Gewohnheit gewesen, den Hauptmann aus ihrer eigenen Börse zu unterstützen, unter der Bedingung, daß er niemals in ihr Haus käme und daß er sich nicht unterstehen sollte, sich in irgend einer Weise Mr. Vanstone zu nähern.

Mrs. Vanstone gab gern zu, daß sie darin nicht klug gehandelt habe; aber sie war, wie sie im weiteren Verlaufe des Schreibens entwickelte, um so mehr zu dieser Handlungsweise veranlaßt gewesen, als sie seit ihrer frühen Jugend aus Erfahrung gewußt habe, wie der Hauptmann auf Kosten bald dieses, bald auf Kosten jenes Gliedes der Familie ihrer Mutter lebte. Im Besitze von Fähigkeiten, die ihn vielleicht es zu einer ausgezeichneten Stellung hätten bringen lassen, was für eine Laufbahn er auch hätte ergreifen mögen —— so war er doch nichtsdestoweniger von Jugend auf für alle seine Verwandten eine Schande gewesen. Er war aus dem Milizregimente ausgestoßen worden, in welchem er eine Offiziersstelle bekleidete. Er hatte einen Beruf nach dem andern versucht und hatte in jedem mit Schimpf und Schande bestanden. Er hatte in der niedrigsten und kläglichsten Bedeutung des Wortes sich durch geschwindelt. Er hatte ein armes Mädchen geheirathet, welche in einem gewöhnlichen Speisehause als Kellnerin gedient hatte und unverhofft zu etwas Gelde gekommen war, und hatte deren kleines Vermögen unbarmherzig bis auf den letzten Heller durchgebracht. Gerade herausgesagt war er ein unverbesserlicher Taugenichts, und er hatte nur einen üblen Streich mehr auf sein Sündenregister gebracht, wenn er jetzt unverschämt genug war, die Bedingung zu brechen, unter der ihn Mrs. Vanstones bisher unterstützt hatte. Sie hatte sofort unter der auf seiner Karte angegebenen Adresse an ihn geschrieben und ihn so deutlich und dergestalt zurecht gewiesen, daß er, wie sie hoffte und wünschte, sich niemals wieder einfallen lassen würde, ihrem Hause zu nahe zu kommen. Solchergestalt schloß Mrs. Vanstone den ersten ausschließlich auf Hauptmann Wragge bezüglichen Theil ihres Briefes.

Obschon die Mittheilungen welche er enthielt, eine Schwäche Mrs. Vanstones Charakter offenbar machten, welche Miss Garth trotz ihres vieljährigen vertrauten Umgangs mit derselben ihr nimmer zugetraut hätte, so nahm sie doch die Erklärung ohne Weiteres an und gab sich damit zufrieden; indem sie dieselbe um so lieber hinnahm, als sie ohne jede Unzuträglichkeit der erwachten Neugier der beiden jungen Fräulein im Wesentlichen mitgetheilt werden konnte. Namentlich aus diesem letzten Grunde las sie die erste Hälfte des Briefes mit dem angenehmen Gefühl einer gewissen Befriedigung durch. Ganz und gar verschieden davon war der Eindruck, den die zweite Hälfte, je weiter sie las und als sie den Brief zu Ende gelesen hatte, auf sie hervorbrachte.

Die zweite Hälfte des Briefes war dem Zwecke der Londoner Reise gewidmet.

Mrs. Vanstone begann damit, sich auf die langjährige vertraute Freundschaft zu beziehen, die zwischen Miss Garth und ihr selbst bestanden hätte. Sie glaubte es ihr als Freundin schuldig zu sein, ihr offen die Beweggründe vorzulegen, welche sie dazu vermocht hätten, mit ihrem Gemahl vom Hause weg zu reisen. Miss Garth habe sich zwar zart genug nichts merken lassen, müsse aber doch im Herzen sehr überrascht gewesen sein und noch sein, von dem Geheimnisse, welches die jähe Abreise umgeben habe, und sie werde sich die Frage vorgelegt haben, was Mrs. Vanstone mit Familienangelegenheiten zu schaffen habe (in ihrer, was Verwandte anlangt, so unbehelligten Stellung), welche doch nur allein Mr. Vanstone persönlich angehen mußten.

Ohne diese Angelegenheiten weiter zu berühren, was sie eben weder gern mochte, noch brauchte, fuhr Mrs. Vanstone fort zu erklären, sie werde alle Vermuthungen von Miss Garth, wenigstens soweit sie selbst dabei in Rede komme, durch ein offenes Geständniß mit einem Male beseitigen. Ihr Zweck dabei, daß sie ihren Gatten nach London begleitete, sei gewesen, einen gewissen berühmten Arzt aufzusuchen und ihn ins Geheim zu befragen über gewisse sehr zarte und zugleich Besorgniß erregende Umstände ihrer Gesundheit. In deutlicheren Worten, diese Besorgniß erregenden Umstände bedeuteten nichts Geringeres, als die Möglichkeit, daß sie vielleicht wieder Mutterfreuden genießen würde.

Als sich dieser Gedanke ihr zuerst aufgedrängt habe, habe sie ihn lediglich als einen Wahn betrachtet. Der lange Zeitraum, welcher vergangen sei nach der Geburt ihres letzten Kindes, die schwere Krankheit, welche sie nach dem in frühester Jugend erfolgtem Tode jenes Kindes ergriffen habe, das Lebensalter, in dem sie nun stehe: Alles veranlaßte sie, den Gedanken sofort, als er in ihrer Seele entstanden war, zurückzuweisen. Er war aber wieder und wieder gekommen, trotz ihres Widerwillens Sie habe nun die Nothwendigkeit erkannt, die erste ärztliche Autorität darüber zu Rathe zu ziehen, und habe doch zugleich um Alles in der Welt ihre Töchter nicht erschrecken mögen, indem sie einen Londoner Arzt ins Haus kommen ließ. Dies ärztliche Gutachten, unter den schon erwähnten Umständen angerufen, lag nun vor. Ihre Vermuthung habe sich als richtig herausgestellt, und der Ausgang, welcher voraussichtlich gegen Ende des Sommers stattfinden könnte, sei nun in ihrem Alter und bei ihren eigenthümlichen Zuständen ein Gegenstand ernster Besorgnisse für die Zukunft, um nicht noch Schlimmeres anzudeuten, für sie geworden. Der Arzt habe sein Möglichstes gethan, sie zu beruhigen, allein sie habe das Bedeutungsschwere seiner Fragen deutlicher, als er geahnt, erkannt und wisse, daß er mit mehr als gewöhnlicher Besorgniß in die Zukunft schaue.

Nachdem sie diese Einzelheiten enthüllt, bat Mrs. Vanstone, daß selbige zwischen ihr und der Adressatin ein Geheimniß bleiben möchten. Sie habe es nicht über sich vermocht, Miss Garth ihre Vermuthungen mitzutheilen, bis sich diese Vermuthungen als wahr erwiesen hätten, und sie erschrecke nun mit noch größerem Widerwillen vor dem Gedanken, ihre Töchter irgendwie betreffs ihrer selbst in Unruhe und Bestürzung zu versetzen. Es würde das Beste sein, für jetzt ganz von der Sache zu schweigen und getrost den Sommer herankommen zu lassen. Mittlerweile würden sie hoffentlich am dreiundzwanzigsten des Monats Alle wieder beisammen sein, Mr. Vanstone habe dies als Tag ihrer Rückkehr festgesetzt. Mit dieser Andeutung und den gewöhnlichen Aufträgen brach der Brief plötzlich und verwirrt ab.

Im ersten Augenblicke war ein natürliches Mitgefühl für Mrs. Vanstone die einzige Empfindung, deren sich Miss Garth bewußt war, als sie den Brief weggelegt hatte. Alsbald aber tauchte in ihrer Seele ein leiser Zweifel auf, der sie verstimmte und verwirrte. War die Erklärung, die sie eben gelesen hatte, wirklich eine genügende und so vollständig, also wofür sie ausgegeben wurde? Soweit die Thatsachen für sich selbst sprachen, gewiß nicht.

Am Morgen ihrer Abreise hatte Mrs. Vanstone das Haus ohne Frage in guter Laune verlassen. In ihrem Alter und bei ihrem Gesundheitszustande eine Reise zu einem Arzte, war eine solche, in dieser Laune ausgeführt, in Einklang zu bringen mit der Reise, die sie vor hatte? Oder aber hatte vielleicht jener Brief aus New-Orleans, der Mr. Vanstones Abreise veranlaßt hatte, einen Antheil daran, daß die Reise seiner Frau ebenfalls nöthig wurde? Warum hätte sie sonst so begierig aufgeschaut in dem Augenblicke, wo ihre Tochter den Poststempel erwähnte? Den angeführten Beweggrund ihrer Reise auch wirklich zugegeben, mußte nicht ihr Benehmen an dem Morgen, wo der Brief geöffnet wurde, und ferner an dem Morgen der Abreise das Vorhandensein irgend eines andern Motivs, das ihr Brief aber verschwieg, vermuthen lassen?

Wenn es so war, so war der Schluß, der sich daraus ergab, ein sehr betrübender. Mrs. Vanstone hatte, weil sie fühlte, was sie ihrer langen Freundschaft mit Miss Garth schuldig war, offenbar das vollste Vertrauen auf sie gesetzt, wenigstens in der einen Sache, während sie doch in der andern ganz unbefangen das unverbrüchlichste Stillschweigen beobachtete. —— Bei ihrem eigenen offenen Charakter und ihrer Geradheit bei allen Handlungen hütete sich Miss Garth, ihre Vermuthungen unentwegt bis zu diesem Punkte zu verfolgen, weil sie es für eine Art Treuebruch gegen ihre erprobte und hochgeschätzte Freundin hielt, wenn sie noch länger bei sich darüber nachgrübelte.

Sie schloß den Brief in ihr Pult ein, erhob sich schnell, um sich den vorübergehenden Anforderungen des Tages zu widmen, und ging wieder in das Frühstückszimmer hinab. Unter so manchen Räthseln war doch wenigstens eine sichere Thatsache, nämlich die: Mr. und Mrs. Vanstone wollten den dreiundzwanzigsten des Monats zurückkommen. Wer konnte sagen, welche neue Enthüllungen mit ihnen kommen würden?



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Viertes Capitel.

Es kamen keine neuen Enthüllungen mit ihnen, keine der an ihre Rückkunft geknüpften Voraussetzungen ging in Erfüllung. Ueber den einen verbotenen Gesprächsstoff ihrer Londoner Reise waren weder der Herr noch die Frau vom Hause zum Sprechen zu bringen. Was auch immer ihre Absicht gewesen sein mochte, sie hatten, so schien es ganz, sie nach Wunsch erreicht; denn Beide kamen zurück, unverändert in Blick und Haltung. Mrs. Vanstones Wesen war in sein angeborenes ruhiges Gleichgewicht zurückgekehrt: Mr. Vanstones unerschütterliche Heiterkeit thronte so ruhig und unbekümmert wie sonst auf seiner Stirn. Das war das einzige bemerkbare Ergebniß ihrer gemeinschaftlichen Reise, keines weiter. War das tief verborgene Geheimniß undurchdringlich, verborgen für immer?

In dieser Welt kommt Alles »an das Licht der Sonnen«. Das Gold, das Jahrhunderte unbemerkt im Schoße der Erde lag, verräth sich eines Tages selbst der Oberwelt. Sand wird zum Angeber und verräth den Fuß, der über ihn hinging; Wasser wirft an die geschwätzige Oberfläche den Leichnam dessen aus, der darin ertrunken war. Das Feuer sogar liefert in der Asche, die es hinterläßt, den Nachweis, welches der Stoff gewesen, den es verzehrte. Der Haß zerbricht das Geheimschloß der Gedanken, indem er aus den Pforten der Augen springt, und die Liebe findet den Judas, der sie durch einen Kuß verräth. Sehen wir wohin wir wollen, das unentrinnbare Gesetz der Entdeckung ist ein Naturgesetz: die beständige Bewahrung eines Geheimnisses ist ein Wunder, das die Welt niemals geschaut hat.

Wie sollte das jetzt im Hauswesen auf Combe-Raven noch verborgene Geheimniß nach dem Rathschlusse der Vorsehung sich selbst verrathen? Durch welches neu eintretende Ereigniß in dem Alltagsleben des Vaters, der Mutter und der Töchter sollte das Gesetz der Entdeckung den Weg zur Enthüllung bahnen? —— Der Weg wurde gebahnt (ohne daß es die Aeltern sahen und die Kinder wußten) durch das erste Ereigniß nach der Rückkehr von Mr. und Mrs. Vanstone, ein Ereigniß, welches dem ersten Anscheine nach kein Interesse von größerer Wichtigkeit bot, als die gewöhnliche Sitte eines Morgenbesuchs.

Drei Tage nachdem der Herr und die Frau von Combe-Raven zurückgekehrt waren, waren die weiblichen Familienglieder in dem Morgenzimmer beisammen. Die Aussicht aus den Fenstern ging auf den Blumengarten und das Buschwerk hinaus, welches letztere an der Außenseite mit einem Staket umgeben und von dem Heckengange dahinter durch ein Gatterthor zugänglich war. Bei einer Pause in der Unterhaltung wurde die Aufmerksamkeit der Damen plötzlich auf das Thor gelenkt, durch den scharfen Ton der eisernen Klinke, welche ins Schloß fiel. Es war Jemand von dem Heckengange in das Gebüsch getreten, und Magdalene stellte sich sofort an das Fenster, um des Besuchers durch die Bäume zuerst ansichtig zu werden.

Wenige Minuten darauf ward die Gestalt eines Herrn sichtbar, da wo der Baumgang in den gewundenen Gartenweg mündete, der zu dem Hause führte. Magdalene sah ihn aufmerksam an, ohne sofort zu erkennen, wer es war. Als er aber näher kam, brach sie in Erstaunen aus und machte, indem sie sich rasch zu ihrer Mutter und Schwester umdrehte kund, der Herr im Garten sei kein Anderer als »Mr. Francis Clare«.

Der so angekündigte Besuch war der Sohn von Mr. Vanstones ältestem Gesellschafter und nächstem Nachbar.

Mr. Clare der Vater bewohnte eine kleine anspruchslose Besitzung, die gerade an der Außenseite des Gebüschzaunes lag, welcher Letztere die Grenze des Grund und Bodens von Combe-Raven bezeichnete. Da er der jüngeren Linie einer sehr alten Familie angehörte, so war das einzige werthvolle Erbtheil seiner Vorfahren der Besitz einer prachtvollen Bibliothek, die nicht allein alle Zimmer in seiner bescheidenen kleinen Wohnung füllte, sondern auch durchgehends an den Treppen und in den Gängen aufgestellt war. Mr. Clares Bücher bildeten das einzige vorherrschende Interesse in seinem Leben. Er war schon seit vielen Jahren Witwer und machte kein Hehl daraus, daß er sich als Philosoph über den Verlust seiner Gattin zu trösten gewußt habe. Als Vater betrachtete er seine aus drei Söhnen bestehende Familie als ein unabwendbares häusliches Uebel, welches unaufhörlich das Allerheiligste seines Studierzimmers und die Sicherheit seiner Bücher bedrohe. Wenn die Knaben in die Schule gingen, sagte Mr. Clare zu ihnen: »Gott befohlen!« für sich selber aber: »Gott sei Dank!« Was sein kleines Einkommen und noch kleineres Hauswesen anlangte, so sah er Beides aus demselben selbstironisirenden und gleichgültigen Gesichtspuncte an. Er nannte sich selbst einen armen Mann mit einem Stammbaum. Die ganze Führung des Hauswesens überließ er einer alten schlappigen Frau, die sein einziger Dienstbote war, unter der Bedingung, daß sie sich nie unterfange, seinen Büchern mit einem Borstwisch nahe zu kommen vom ersten bis zum letzten Tage des Jahres. Seine Lieblingsdichter waren Horaz und Pope, seine Leibphilosophen Hobbes und Voltaire. Er machte sich nur mit Widerwillen Bewegung in frischer Luft und ging dann immer bis zu derselben abgemessenen Anzahl Schritte auf dem häßlichsten steilsten Wege der Nachbarschaft Er war von krummem Rücken, aber raschem lebhaften Wesen. Er konnte Radieschen vertragen und auf grünen Thee schlafen. Seine Ansichten von der Natur des Menschen waren die des Diogenes, gemildert durch Rochefoucaults Lebensanschauung; seine persönlichen Gewohnheiten waren im höchsten Grade unsauber, und am Liebsten rühmte er sich, über alle menschlichen Vorurtheile hinaus zu sein.

So war der wunderliche Kauz in seinem äußern Wesen. Was für edlere Eigenschaften er vielleicht unter dieser Außenseite barg, das hatte bis jetzt Niemand herausbekommen. Mr. Vanstone versicherte zwar steif und fest: »Mr. Clares schlimmste Seite sei seine Außenseite,« stand aber mit dieser seiner Meinung vereinzelt da unter den Nachbarn. Die Beziehungen zwischen diesen so ganz verschiedenen beiden Männern hatten schon viele Jahre gedauert und waren wohl nahe genug, um als Freundschaft bezeichnet werden zu können. Sie hatten sich gewöhnt, an gewissen Abenden in der Woche in dem Studierzimmer des Cynikers zusammen zu rauchen und sich dort über alle erdenklichen Gegenstände ernst zu unterhalten, Mr. Vanstone die Keule kühner Behauptungen schwingend, Mr. Clare mit dem scharfkantigen Rüstzeug der Sophisten ausparirend. Sie stritten sich gewöhnlich Abends und kamen den andern Morgen auf dem neutralen Grund und Boden des Gebüsches wieder zusammen, um sich zu versöhnen. Das Band des in solch wunderlicher Art zwischen beiden stattfindenden Verkehrs wurde auf Seiten Mr. Vanstones dadurch ein noch stärkeres, daß derselbe an seines Nachbars drei Söhnen einen herzlichen Antheil nahm, eine Theilnahme, welche für diese Söhne um so werthvoller war, als sie sahen, daß eines von den Vorurtheilen, die ihr Vater überwunden hatte, auch das Vorurtheil zu Gunsten seiner eigenen Kinder war.

—— Ich sehe auf meine Kinder, pflegte der Philosoph zu sagen, mit vollkommen unparteiischen Augen; ich lasse den zufälligen Umstand ihrer Geburt außer allem Betracht und finde sie daher in jeder Hinsicht mittelmäßig. Die einzige Entschuldigung, welche ein armer Edelmann für seinen Anspruch, im neunzehnten Jahrhundert leben zu dürfen, haben kann, ist, daß er sich durch außerordentliche Fähigkeiten hervorthue. Meine Kinder sind aber von frühester Jugend auf Hohlköpfe gewesen. Wenn ich ihnen einiges Vermögen geben könnte, so würde ich Frank einen Fleischer, Cecil einen Bäcker und Arthur einen Gewürzkrämer werden lassen, da dies die einzigen Berufe des Menschen sind, von denen ich weiß, daß sie immer gebraucht werden. Wie die Sachen aber stehen, habe ich eben kein Geld, um ihnen fortzuhelfen, und sie haben nicht das Zeug, sich selbst fortzuhelfen. Sie kommen mir vor, wie drei menschliche Pleonasmen in schmutzigen Jacken und lärmenden Stiefeln, und wenn sie nicht selber die Gesellschaft von ihrem Anblicke befreien und davon laufen, weiß ich wahrlich nicht, was mit ihnen angefangen werden soll.

Zum Glück für die Knaben waren Mr. Vanstones Ansichten noch ganz in den gewöhnlichen Vorurtheilen befangen. Auf seine Befürwortung und durch seinen Einfluß wurden Frank, Cecil und Arthur mit Freistellen in einer Schule von gutem Rufe untergebracht. An Festtagen hatten sie die Erlaubniß, sich in Mr. Vanstones Park herumtummeln zu dürfen und wurden auch im Hause unter Beihilfe von Mrs. Vanstone und deren Töchtern gezogen und gebildet. Bei solchen Gelegenheiten pflegte Mr. Clare manchmal von seiner Wohnung in Schlafrock und Pantoffeln herüber zu kommen und durch die Fenster oder über den Zaun geringschätzig nach den Knaben zu sehen, als ob es drei wilde Thiere wären, welche sein Nachbar zu zähmen versuchte.

«— Sie und Ihre Frau, Sie sind ein Paar vortreffliche Leute, pflegte er zu Mr. Vanstone zu sagen. Ich habe alle Achtung vor Ihrem ehrenwerthen Vorurtheil zu Gunsten dieser meiner Kinder. Allein Sie befinden sich betreffs ihrer ganz ungeheuer im Irrthume, wahrhaftig! Ich will keinen Anstoß geben, ich spreche ganz unparteiisch; aber merken Sie auf meine Worte, Vanstone: es wird aus allen Dreien Nichts werden, Sie mögen für sie thun, was Sie nur wollen.

In späteren Jahren, als Frank das Alter von siebzehn Jahren erreicht hatte, trat die seltsame Vertauschung der bezüglichen Stellungen als Vater und als Freund noch auffallender zu Tage, als zuvor. Ein Kunstbaumeister im Norden von England, der Mr. Vanstone gewisse Verpflichtungen schuldig war, erklärte seine Bereitwilligkeit, Frank unter den günstigsten Bedingungen von der Welt unter seine Leitung zu nehmen. Als man dies Anerbieten erhielt, trug Mr. Clare wie gewöhnlich seine Eigenschaft als Franks Vater auf Mr. Vanstone über und legte der väterlichen Begeisterung seines Nachbars vom Standpunkte des objektiven Beobachters Zügel an.

—— Es ist die schönste Aussicht für Frank, welche jemals sich bieten konnte, rief Mr. Vanstone mit der ganzen Wärme väterlicher Theilnahme.

—— Mein lieber Alter, er wird nicht darauf eingehen, versetzte Mr. Clare mit der eisigen Ruhe eines gar nicht betheiligten Freundes.

—— Aber er soll darauf eingehen, beharrte Mk. Vanstone.

—— Sagen Sie, er soll einen mathematischen Kopf bekommen, entgegnete Mr. Clare; sagen Sie, er soll Betriebsamkeit, Ehrgeiz und Beharrlichkeit bekommen. Bah, bah, Sie sehen ihn nicht mit so Unparteiischen Augen an, als ich. Ich sage Ihnen, keine Spur von Betriebsamkeit, von Ehrgeiz, von Beharrlichkeit! Frank ist aus lauter Negationen zusammengesetzt, da haben Sie es!

—— Zum Teufel mit Ihren Negationen! schrie Mr. Vanstone. Ich schere mich den Kuckuck um Negationen oder Affirmationen. Frank soll diese glänzende Stelle haben, und ich mache mit Ihnen die Wette, um was Sie wollen, es wird zu seinem Besten ausschlagen!

—— Ich bin nicht reich genug, um für gewöhnlich Wetten zu machen, erwiderte Mr. Clare, aber ich habe im Hause irgendwo eine Guinee, und diese Guinee will ich verwetten, Frank kommt wieder in unsere Hände zurück, wie ein schlechter Schilling.

—— Es gilt! sagte Mr. Vanstone. Nein, warten Sie eine Minute! Ich möchte dem Charakter des braven Burschen das Unrecht nicht anthun, auf denselben so wenig Geld zu setzen. Ich setze fünf gegen eins, Frank spielt in diesem Berufe seinen Trumpf aus! Sie sollten sich schämen, von ihm so zu sprechen, wie Sie es jetzt gethan. Was für einen philosophischen Hocuspocus Sie dafür vorbringen werden, mag ich nicht wissen; aber soviel ist gewiß, Sie bringen mich schließlich immer dazu, daß ich seine Partie nehmen muß, als ob ich der Vater wäre, nicht Sie.

—— O ja, lassen Sie Sich Zeit, Sie werden Sich schon herausreden! Ich werde Ihnen keine Zeit lassen, ich mag Nichts wissen von Ihrer tüfteligen Vertheidigung! Schwarz ist Weiß, wenn nach Ihnen ginge. Das läßt mich sehr ruhig, es ist doch Schwarz trotz alledem. Sie würden durch Ihre Reden neunzehn aus dem Dutzend herausbringen! Ich werde noch mit der heutigen Post an meinen Freund schreiben und Ja sagen in Franks Interesse.

Dies waren die vorhergehenden Umstände, unter denen Mr. Francis Clare nach dem Norden von England ging, um in einem Alter von siebzehn Jahren in die Welt zu treten als zukünftiger Kunstbaumeister.

Von Zeit zu Zeit machte Mr. Vanstones Freund Ersterem Mittheilungen über den neuen Schützling. Frank erhielt das Lob eines ruhigen, anständigen, strebsamen jungen Menschen, aber es wurde auch berichtet, daß er nur langsam die Anfangsgründe der Ingenieurkunst begreife. Andere Briefe von späterem Datum schilderten ihn als vorschnell an sich selbst Verzweifelnd. Man habe ihn aus diesem Grunde nach einer im Baue begriffenen neuen Eisenbahn geschickt, um zu sehen, ob Wechsel des Ortes ihn vorwärts bringen könnte, und es sei denn auch dieser Versuch in jeder Beziehung erfolgreich ausgefallen, nur wohl nicht hinsichtlich seiner Berufsarbeiten, die immer noch langsame Fortschritte machten. Weitere Nachrichten zeigten seine Abreise an der Seite eines zuverlässigen Bauführers nach einigen öffentlichen Bauten in Belgien an, deuteten den allgemeinen Vortheil an, den er augenscheinlich von dieser neuen Stellung habe, rühmten seine ausgezeichnete Führung und Geschicklichkeit, welche sich ganz besonders nützlich erweise zur Erleichterung des geschäftlichen Verkehrs mit den Ausländern, übergingen aber die Hauptfrage, seine gegenwärtigen Fortschritte in der Wissenschaft, mit geheimnißvollem Stillschweigen. Diese Berichte und viele andere, welche ähnlich lauteten, wurden alle von Franks väterlichem Freunde Franks leiblichem Vater gewissenhaft zur Beachtung vorgelegt. Bei jeder Gelegenheit triumphierte Mr. Clare über Mr. Vanstone, und stritt sich Mr. Vanstone mit Mr. Clare.

—— Eines schönen Tages werden Sie wünschen, jene Wette nicht gemacht zu haben, sagte der cynische Philosoph.

—— Eines schönen Tages werde ich Gott sei Dank die Genugthuung haben, Ihre Guinee in die Tasche zu stecken, rief sein warmblütiger Freund.

Zwei Jahre waren so seit Franks Abreise vergangen. Noch ein Jahr später, und der Erfolg sprach für sich selbst und erledigte die Frage.

Zwei Tage nach Mr. Vanstones Rückkehr von London wurde er von der Frühstückstafel abgerufen, bevor er Zeit gehabt hatte, einen Blick auf die mit der Frühpost gekommenen Briefe zu werfen. Indem er sie alle in eine der Taschen seines Jagdkollers steckte, nahm er später im Laufe des Tages, wo sich Gelegenheit dazu fand, eine Handvoll heraus. Diese Handvoll Umfaßte den ganzen Briefwechsel mit einer einzigen Ausnahme, und diese Ausnahme war ein Schlußbericht von dem Baumeister, welcher ihm anzeigte, daß die Beziehungen zwischen ihm und seinem Schützling zu Ende seien, und daß Frank sofort in seines Vaters Haus zurückkehren werde.

Während noch diese wichtige Anmeldung, ohne daß Jemand eine Ahnung davon hatte, ruhig in Mr. Vanstones Tasche steckte, war schon der Gegenstand derselben auf der Heimreise unterwegs, so schnell die Eisenbahn ihn nur bringen konnte. Um halb elf Uhr in der Nacht, als Mr. Clare einsam studierend über seinen Büchern und bei seinem grünen Thee saß, neben sich zur Gesellschaft seine schwarze Lieblingskatze, hörte er Schritte auf dem Gange, die Thür ging auf, und Frank stand vor ihm.

Gewöhnliche Menschen wären darüber erstaunt gewesen. Allein die Ruhe des Philosophen war durch eine solche Kleinigkeit, als die unerwartete Rückkehr seines ältesten Sohnes war, nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er hätte nicht mit größerer Gelassenheit von seinem gelehrten Folianten aufblicken können, wenn Frank erst drei Minuten, statt drei Jahre abwesend gewesen wäre.

—— Gerade wie ich es voraus gesagt hatte, sagte Mr. Clare. Unterbrich mich nicht mit Erklärungen und erschrecke die Katze nicht. Wenn etwas zu essen in der Küche ist, so nimm es und geh zu Bett. Morgen kannst Du hinüber nach Combe-Raven gehen und Mr. Vanstone Folgendes ausrichten:

—— Grüße vom Vater, mein Herr, und ich bin wieder in Ihre Hände zurückgekommen wie ein schlechter Schilling, wie er immer von mir vorausgesagt habe. Er behält seine Guinee und nimmt Ihre fünf und hofft, Sie werden sich ein andermal merken, was er sagt.

—— Das ist Dein Auftrag. Mache die Thüre hinter Dir zu. Gute Nacht.

Unter solchen traurigen Aussichten erschien Mr. Francis Clare am nächsten Morgen auf Combe-Raven und näherte sich etwas ungewiß über den seiner harrenden Empfang langsam der Einfassung des Hauses.

Es war gewiß nicht zu verwundern, wenn Magdalene ihn nicht sogleich erkannt hatte, als er zuerst sichtbar wurde. Er war fortgegangen als ein etwas träger Bursche von siebzehn Jahren, er kam zurück als ein junger Mann Von zwanzig. Seine schlanke Gestalt hatte nun Stärke und Ansehen gewonnen und sich der Mittelgröße genähert. Das kleine regelmäßige Gesicht, das er von seiner Mutter geerbt haben sollte, hatte sich gerundet und war voll geworden, ohne die merkwürdige Zartheit des Schnitts verloren zu haben. Sein Bart war noch im ersten Flaum, und um die Wangen ließen sich die ersten schwachen Spuren eines entstehenden Backenbartes hier und da blicken. Seine sanften unstäten braunen Augen würden einem Mädchengesicht besser gestanden haben, sie ermangelten des rechten geistigen Lebens und der Festigkeit, um sich für das Gesicht eines Mannes zu schicken. Seine Hände hatten dieselbe unstäte Gewohnheit, als seine Augen; sie waren bald in dieser, bald in jener Lage, immer spielend und tändelnd mit irgend einem aufgelesenen kleinen Gegenstande. Er war ohne Zweifel hübsch wohl gewachsen und von gebildetem Wesen; aber keinem aufmerksamen Beobachter konnte es entgehen, daß der vollkräftige alte Familienschlag in den späteren Geschlechtern herabgekommen war, und daß Mr. Francis Clare von seinen Vorfahren nicht das Wesen, sondern höchstens das Ansehen geerbt hatte.

Als das Erstaunen, das durch sein Erscheinen erregt worden, sich zum Theil wieder gelegt hatte, wurde nach dem verlorenen Briefe gesucht. Er fand sich in dem tiefsten Schlupfwinkel von Mr. Vanstones weiter Tasche und wurde nun von dem Hausherrn sofort durchgelesen.

Das rein Thatsächliche, wie es der Baumeister schilderte, war folgendes. Frank sei nicht im Besitze derjenigen Fähigkeiten erfunden worden, welche ihn für seinen neuen Beruf geschickt machten, und es sei unnöthig, damit Zeit zu verlieren, daß man ihn noch länger bei einem Fache festhielt, für das er nicht berufen sei. Da dies nach einer Probe von drei Jahren, die beiderseitige Ueberzeugung sei, so habe der Meister es eben für das Gerathenste gehalten, seinen Schützling nach Hause zurückzuschicken und seinem Vater und seinen Freunden das Ergebniß ruhig vorzustellen. Auf irgend einem andern Felde, auf das er sich mit mehr Befähigung lege, und für das er eine wirkliche Liebe mitbringe, werde er ohne Zweifel den Fleiß und die Ausdauer zeigen, welche er in dem Berufe, den er eben fallen gelassen, an den Tag zu legen, allzubald den Muth verloren habe. Was seine Persönlichkeit anlange, so sei er bei männiglich, wer ihn kannte, beliebt gewesen, und sein künftiges Fortkommen auf einem andern Berufsfelde sei der herzliche Wunsch der vielen Freunde, die er sich im Norden erworben habe. —— Das war im Wesentlichen der Bericht, und damit schloß er.

Viele würden die Darstellung des Ingenieurs vielleicht zu gesucht und wortreich gefunden haben, hätten ihn wohl gar in Verdacht gehabt, als versuche er eine schlechte Sachlage zu bemänteln, und würden so ernstliche Zweifel in Bezug auf Franks Zukunft gehegt haben. Mr. Vanstone war aber zu warmblütiger —— die Dinge leicht nehmender Gemüthsart und dabei zu sehr besorgt, er möchte etwa seinem alten Gegner einen Fingerbreit mehr nachgeben, denn nöthig sei, als daß er den Brief in einem solchen ungünstigen Lichte angesehen hätte. War Frank Schuld daran, daß nicht das Zeug in ihn gelegt war, aus dem man Baumeister macht? Waren nicht andere junge Männer anfangs an einer falschen Laufbahn in die Welt hinausgetreten? Sehr Viele begannen, so wie er, und kamen doch darüber hinaus und leisteten dann noch Erstaunliches. Mit diesen Erläuterungen zu dem Briefe klopfte der gutherzige Herr Frank auf die Schulter und sagte:

—— Nur getrost, mein Junge, wir wollen eines Tages schon mit Deinem Vater quitt werden, obschon er dies Mal die Wette gewonnen hat.

Das dergestalt vom Hausherrn gegebene Beispiel wurde sofort von der Familie befolgt, mit der einzigen Ausnahme von Rom, deren unverbesserliche Förmlichkeit und Gemessenheit sich in eben nicht sehr gefälliger Art und Weise in ihrem dem Besucher gegenüber sehr zurückhaltenden Benehmen aussprach. Die Uebrigen, Magdalene voran (die in früherer Zeit Franks Lieblingsgespielin gewesen war), verfielen ohne Zwang in ihr altes freundschaftliches Verhältniß zu ihm. Er war für Alle »Frank«, nur Nora bestand darauf, ihn »Mr. Clare« anzureden. Sogar die Erzählung, die er nun aufgefordert wurde von dem Empfange von gestern Abend bei seinem Vater zu geben, vermochte nicht Noras Ernst zu entfernen. Sie saß mit ihrem düsteren hübschen Gesicht beständig abgewandt da, ihre Augen niedergeschlagen und die reiche Färbung ihrer Wangen war wärmer und tiefer, als gewöhnlich. Die Anderen alle, selbst Miss Garth mitgerechnet, fanden die Bewillkommnungsanrede des alten Mr. Clare an seinen Sohn von unwiderstehlicher Komik. Der Lärm und die Heiterkeit hatten ihren Höhenpunct erreicht, als der Diener eintrat und die ganze Gesellschaft verstummen machte durch die Anmeldung von Besuchen im Empfangszimmer.

—— Mr. Marrable, Mrs. Marrable und Miss Marrable von Evergreen Lodge in Clifton.

Nora erhob sich so rasch, als ob die neuen Ankömmlinge eine erwünschte Erleichterung für ihre Seele wären. Mrs. Vanstone war die nächste, die ihren Stuhl verließ. Diese Beiden gingen zuerst weg, um die Besuche zu empfangen. Magdalene, die die Gesellschaft ihres Vaters und Franks vorzog, bat dringend, fortbleiben zu dürfen, aber Miss Garth legte, nachdem sie ihr fünf Minuten zugegeben hatte, Beschlag auf sie und nahm sie mit aus dem Zimmer. Frank erhob sich, um sich zu verabschieden.

—— Nein, nein, sagte Mr. Vanstone, ihn zurückhaltend. Gehe nicht. Diese Leute werden nicht lange bleiben. Mr. Marrable ist ein Kaufmann in Bristol. Ich bin ein oder ein paar Mal mit ihm zusammen gewesen, als die Mädchen mich nöthigten, sie nach Clifton in Gesellschaft zu führen. Eine bloße Bekanntschaft, weiter Nichts. Komm und rauche eine Cigarre im Gewächshause. Zum Henker alle Besuche, sie machen Einem das Leben sauer. Ich will mich erst im letzten Augenblicke mit einer Entschuldigung sehen lassen, und Du sollst mir in guter Entfernung folgen, zum Beweis, daß ich wirklich bereits anderweitig beschäftigt war.

Indem Mr. Vanstone diese sinnreiche Kriegslist Frank vertraulich zuflüsterte, nahm er dessen Arm und führte ihn hinten ums Haus herum. Die ersten zehn Minuten ihres traulichen Aufenthaltes im Treibhause vergingen, ohne daß irgend etwas vorfiel. Nach Verlauf dieser Zeit schien urplötzlich durch die Fenster das Bild einer flüchtigen Gestalt in hellen Gewändern herein, die Thür flog auf, Blumentöpfe fielen herunter, wie in Huldigung vor einem Frauenkleide, und Mr. Vanstones jüngste Tochter stürzte in jähester Eile auf ihn los, nach ihrem ganzen Aussehen das Conterfei einer Person, die plötzlich von Sinnen gekommen ist.

—— Papa, der Traum meines ganzen Lebens ist in Erfüllung gegangen, rief sie, sobald sie sprechen konnte. Ich werde durch das Dach des Gewächshauses fliegen, wenn mich nicht Jemand unten festhält. Die Marrables haben eine Einladung mitgebracht. Rathe, lieber Alter, rathe, was sie in Evergreen Lodge vorhaben!

—— Einen Ball, versetzte Mir. Vanstone, ohne sich einen Augenblick zu besinnen.

—— Ein Liebhabertheater! schrie Magdalene, und ihre helle jugendliche Stimme schallte wie eine Glocke durch das Gewächshaus; ihre losen Aermel fielen zurück und zeigten ihre runden Arme bis zu den Ellenbogengrübchen, als sie ihre Hände verzückt über dem Kopfe zusammenschlug.

—— »Die Eifersüchtigen« heißt das Stück, Papa, »Die Eifersüchtigen« von dem berühmten Ich weiß nicht wer, und ich soll mitspielen! Das Einzige auf der ganzen Welt, das ich mir immer am Meisten gewünscht habe. Es kommt nur auf Dich an. Mama schüttelt den Kopf, Miss Garth blickt Dolche, und Nora ist so mürrisch, wie gewöhnlich; aber wenn Du Ja sagst, so müssen sie alle Drei nachgeben und mich thun lassen, was ich will. Sage Ja! bat sie, indem sie sich sanft an den Vater anschmiegte und ihre Lippen mit einer zärtlichen Innigkeit an sein Ohr legte, als sie die nächsten Worte lispelte. Sage Ja, und ich will dann ein gutes Kind sein mein Lebenlang!

—— Ein gutes Kind? wiederholte Mr. Vanstone —— Ein närrisches Kind, denke ich, wirst Du meinen. Laß diese Menschen ziehen mit ihren Theatergeschichten. Ich werde ins Haus gehen und mir einmal die Sache ansehen. Du brauchst die Cigarre nicht wegzuwerfen Frank! Du hast mit der Sache nichts zu thun und kannst hier bleiben.

—— Nein, das kann er nicht, sagte Magdalene. Er ist ebenfalls an der Sache betheiligt.

Mr. Francis Clare war bisher bescheiden im Hintergrunde geblieben. Er kam nun vor, sprachloses Erstaunen auf seinem Gesicht.

—— Ja wohl, fuhr Magdalene fort, indem sie seinen offen fragenden Blick mit vollkommener Ruhe beantwortete. Du sollst mitspielen. Miss Marrable und ich haben einen Trieb für die Sache und machten sie in fünf Minuten vollständig unter uns ab. Es sind noch zwei Rollen in dem Stück zu besetzen. Die eine ist Lucie, das Kammermädchen, das ist die Partie, welche ich mir gewählt habe —— mit Papas Erlaubniß, setzte sie hinzu, indem sie den Arm des Vaters mit schlauer Miene drückte, und er wird nicht Nein sagen, nicht wahr? Erstlich, weil er ein so gutes Alterchen ist, zweitens, weil ich ihn liebe, und er mich liebt; drittens, weil niemals eine Meinungsverschiedenheit zwischen uns stattfindet (ist’s nicht so?); viertens, weil ich ihm einen Kuß gebe, der ihm natürlich den Mund schließt und die ganze Geschichte erledigt. «O, ich Gute, ich komme von der Sache ab. Wo war ich stehen geblieben? Richtig, indem ich Frank erklärte ....

—— Ich bitte, entschuldige mich, begann Frank, der hier seine Weigerung vorbringen wollte.

—— Die zweite Person im Stück, fuhr Magdalene ohne die mindeste Notiz von dieser Weigerung zu nehmen fort, ist Falkland, ein eifersüchtiger Liebhaber mit schönem Redefluß. Miss Marrable und ich sprachen Falkland für uns im Fenstersitz durch, während die Anderen sich unterhielten. Sie ist ein herrliches Mädchen, so anregend, so aufgeweckt, so ganz und gar ungezwungen. Sie hat sich mir vertraut. Sie sagte:

—— Eine von unseren Sorgen ist es, daß wir einen Herrn ausfindig machen, welcher sich mit den häßlichen Schwierigkeiten des Falkland befreunden mag.

—— Darüber beruhigte ich sie. Sofort sagte ich ihr: Den Herrn habe ich bereits, und er soll sich gleich daran machen.

—— O, Himmel! wer ist’s denn?

—— Mr. Francis Clare.

—— Und wo ist er?

—— In diesem Augenblicke hier im Hause.

—— Wollen Sie so liebenswürdig sein, Miss Vanstone, ihn für uns zu gewinnen?

—— Ich will ihn gewinnen, Miss Marrable, mit dem größten Vergnügen.

—— Ich verließ den Fenstersitz eilte flugs in das Morgenzimmer, ich roch Cigarren ich folgte dem Geruche, und da bin ich.

—— Es ist mir sehr schmeichelhaft, daß man mich mitzuspielen auffordert, sagte Frank in großer Verwirrung. Aber ich hoffe, Du und Miss Marrable werdet mich entschuldigen....

—— Auf keinen Fall. Miss Marrable und ich sind beide bekannt durch die Festigkeit unseres Sinnes. Wenn wir sagen, Mir. Soundso wird die Rolle des Falkland sicherlich spielen, so meinen wir das sicherlich. Komm herein und laß Dich vorstellen.

—— Aber ich habe nie versucht, zu spielen. Ich weiß nicht, wie ich es machen soll.

—— Das thut nicht das Mindeste. Wenn Du es nicht weißt, so komm zu mir, und ich will Dir’s beibringen.

—— Du?! rief Mr. Vanstone aus. Was weißt denn Du selbst davon?

—— Papa, sei doch gescheidt! Ich habe die festeste Ueberzeugung in mir, daß ich jeden Charakter des Stückes, selbst den Falkland nicht ausgenommen, geben könnte. Laß mich nicht noch einmal anfangen, Franc. Komm und laß Dich vorstellen.

Sie faßte ihren Vater unterm Arm und wandte sich mit ihm nach der Thür des Gewächshauses. Im Gehen drehte sie sich um und sah nach, ob Frank auch folgte. Es war nur das Werk eines Augenblicks; aber in diesem Augenblicke sammelte ihre angeborene Willenskraft alle ihre Hilfsmittel, verstärkte sie durch den Einfluß ihrer Schönheit, befahl und eroberte. Sie sah lieblich aus: das Roth auf ihren Wangen flammte mit zartem Schmelz, das helle Vergnügen sah ihr strahlend und funkelnd aus den Augen; die Haltung ihrer Gestalt, wie sie sich plötzlich bloß mit dem Oberkörper umdrehte, enthüllte ihre zarte Büste, ihre milde Festigkeit, ihre verführerische schlangenartige Anmuth.

—— Komm! sagte sie mit coquett bittender Kopfbewegung. Komm, Frank!

Wenige Männer von Vierzig würden ihr in diesem Augenblicke widerstanden haben. Frank war am letzten Geburtstage erst Zwanzig geworden. Mit anderen Worten, er warf seine Cigarre weg und folgte ihr zum Gewächshause hinaus.

Als er sich umwandte und die Thür schloß, erwachte in dem Augenblicke, wo er sie aus dem Gesicht verlor, seine Abneigung, mit dem Liebhabertheater zu thun zu haben, aufs Neue. Am Fuße der Haustreppe hielt er wieder inne, knickte einen kleinen Zweig von einer Pflanze neben sich ab, brach ihn in der Hand entzwei und sah unruhig um sich, bald auf diese, bald auf jene Seite. Der Pfad zur Linken führte zur Wohnung seines Vaters, der Weg zur Flucht lag also offen. Warum sollte er ihn nicht einschlagen?

Während er noch zögerte, erreichten Mr. Vanstone und seine Tochter die Höhe der Treppe. Noch einmal sah sich Magdalene um, sah sich um in all ihrer unwiderstehlichen Schönheit, mit ihrem alle Welt besiegenden Lächeln. Sie bat wieder, und wieder folgte er ihr die Stufen hinauf und über die Schwelle. Die Thür schloß sich hinter ihnen. So mit einer kleinen Einladung auf der einen Seite, mit einer kleinen Gefälligkeit auf der andern, so ohne eine Ahnung in seinem Geiste, ohne einen Gedanken in ihrer Seele an das unter der Londoner Reise verborgene Geheimniß, nahmen sie den Weg, welcher zur Entdeckung des Geheimnisses führte, allerdings durch manches dunkle Irrsal, welches noch kommen sollte.



Kapiteltrenner

Fünftes Capitel.

Mr. Vanstones Fragen über die beabsichtigte dramatische Ausführung auf Evergreen Lodge wurden mit einer Erzählung der theatralischen Leiden beantwortet, von welchen Miss Marrable die unschuldige Ursache war, und wobei ihr Vater und ihre Mutter die Rollen der Hauptschlachtopfer spielten.

Miss Marrable war das härteste tyrannische Wesen, das es auf der Welt gibt: das einzige Kind. Sie hatte, seitdem sie den ersten Zahn bekam, ihrem unterwürfigen Vater und eben einer solchen Mutter nicht das kleinste verfassungsmäßige Vorrecht eingeräumt. Ihr siebzehnter Geburtstag war nun nahe bevorstehend; sie hatte beschlossen, ihn durch eine theatralische Aufführung zu feiern, hatte darnach ihre Befehle ertheilt und hatte bei ihren willfährigen Aeltern so vollständig wie immer Gehör gesunden. Mrs. Marrable opferte ihr Empfangszimmer, um dasselbe zu einer Bühne und einem Theater herrichten, beziehentlich Verwüsten zu lassen. Mr. Marrable sorgte für die Anstellung eines Sachverständigen von gutem Rufe, um den jungen Damen und Herren das Stück einzustudieren und alle Verantwortung auf seine Schultern zu nehmen, welche in mannigfacher Hinsicht da einzutreten pflegt, wo es gilt, aus einem gesellschaftlichen Chaos eine bühnenmäßige Welt zu schaffen. Nachdem sich der nur dem Namen nach als solcher geltende Hausherr und die Hausfrau ferner an das Abbrechen der Bekleidung und Beschädigen der Wände gewöhnt hatten und an das Pochen, Schlagen, Hämmern und Schreien, an das beständige Thüren zuschlagen und das Getrappel der unaufhörlich Trepp auf Trepp ab laufenden Schritte: glaubten sie närrisch genug, daß ihre Hauptleiden überstanden wären. Unschuldige, schwer sich rächende Selbsttäuschung! In einer bürgerlichen Gesellschaft ist die Bühne aufschlagen und das Stück wählen erst Eins, etwas ganz Anderes ist es aber, auch die Darsteller dazu ausfindig zu machen. Bis hierher hatten sich erst die kleinen Vorläufer der bei einer solchen Gelegenheit unvermeidlichen Leiden auf Evergreen Lodge gezeigt. Die wahren ernsten Störungen sollten alle erst kommen.

»Die Eifersüchtigen« waren als das Stück gewählt worden, und Miss Marrable nahm für sich selbstverständlich die Rolle der »Lydia Languish« in Anspruch. Einer von ihren Lieblingsstutzern versicherte sich des »Hauptmann Absolut«, und ein Anderer legte gewaltsam auf »Sir Lucins O’Trigger« Beschlag. Nach diesen Beiden kam eine gefällige Jungfer Base, welche die schwere dramatische Verantwortlichkeit der Partie von »Mrs. Malaprop« übernahm. Aber hier kam nun eine Stockung in die Rollenvertheilung. Neun sprechend auftretende Personen waren noch übrig, um besetzt zu werden; und mit dieser unvermeidlichen Nothwendigkeit begannen die ernsteren Verwickelungen.

Auf einmal wurden nun alle Freunde der Familie unverläßliche Personen, vielleicht zum ersten Male in ihrem Leben. Nachdem sie den Gedanken des Stückes gutgeheißen, lehnten sie ab, selber das Opfer zu bringen, daß sie darin auftraten, oder sie nahmen Rollen an und verzweifelten bei dem Einstudieren derselben, oder sie erboten sich freiwillig zu Rollen, von denen sie wußten, daß sie bereits anderweitig besetzt waren, und wiesen diejenigen zurück, die ihnen zugedacht waren, oder sie waren mit körperlichen Schwächen heimgesucht und wurden unglücklicherweise krank, wenn man sie zu Proben brauchte, oder sie hatten puritanisch sittenstrenge Verwandte im Hintergrunde und blieben, nachdem sie zu Anfang der Woche lustig in ihre Rollen hineingeschlüpft waren, am Ende der Woche unter dem Drucke ihrer gestrengen Familie reumüthig »weg wie Röhrwasser«. Mittlerweile hämmerten die Zimmerleute fort, und die Bühne erhob sich. Miss Marrable, deren Gemüthsart reizbar war, wurde unter der Anspannung beständiger Sorge und Angst hysterisch; der Hausarzt wagte nicht mehr einzustehen für die Folgen auf ihr Nervensystem, wenn etwas nicht gleich nach ihrem Willen geschah. Erneuerte Anstrengungen wurden nach jeder Richtung hin gemacht. Darsteller und Darstellerinnen wurden gesucht, und dabei verzweifelterweise alle Rücksicht auf das persönliche Geschick oder Nichtgeschick schlechterdings aus den Augen gesetzt. Die Noth, welche »kein Gebot kennt«, weder auf der Bühne noch außer derselben, nahm fürlieb mit einem jungen Menschen von achtzehn Jahren als Darsteller des »Sir Antonius Absolut,« und der Regisseur übernahm es, die unerläßlichen Runzeln durch die unbeschränkten Hilfsmittel der Bühnenkunst zu ergänzen. Eine Dame, deren Alter noch unerforscht geblieben, und deren persönliche Erscheinung sehr stark war, welche aber das Herz auf dem rechten Flecke hatte, ließ sich freiwillig anwerben, um die Partie der empfindsamen »Julie« zu spielen, und brachte dazu von Haus aus kein weiteres Bühnenerforderniß mit, als daß sie im gewöhnlichen Leben eine Perrücke trug. Dank diesen wirksamen Anstrengungen wurde endlich das Stück doch mit den gehörigen Darstellern besetzt, aber immer noch mit Ausnahme der unhandlichen Rollen der »Lucie«, des Kammermädchens, und des »Falkland« (Juliens eifersüchtiger Liebhaber). Herren kamen, sahen sich die Julie auf der Probe an, bemerkten deren Stärke und falsches Haar, vergaßen zu bemerken, daß sie ihr Herz auf dem rechten Flecke hatte, verzweifelten bei dieser Aussicht, entschuldigten sich und machten sich davon. Damen lasen die Rolle der »Lucie«, machten die Bemerkung, daß sie allerdings in der ersten Hälfte des Stückes sehr vorteilhaft erscheine, allein später in der zweiten Hälfte ganz und gar zurücktrete, konnten sich nicht dazu verstehen, vom Publicum in solcher Art und Weise aus dem Gesichte verloren zu werden, während alle Uebrigen Das voraus hatten, daß sie bis zu Ende sich auszeichneten, machten das Buch zu und sich mit Entschuldigungen davon. —— In acht Tagen sollte die Aufführung stattfinden. Eine Schlachtbank von gesellschaftlichen Duldern bei zweihundert stark, hatte zugesagt, Zuschauer zu werden; drei Hauptproben waren unerläßlich nothwendig, und doch waren noch immer zwei Rollen in dem Stück nicht besetzt! Mit dieser kläglichen Geschichte und den eifrigsten Entschuldigungen wegen ihrer sich nur auf eine oberflächliche Bekanntschaft stützenden Zumuthung erschienen die Marrables auf Combe-Raven, um die jungen Damen wegen einer »Lucie« und die ganze Welt wegen eines »Falkland« mit der Bettlerzähigkeit einer aufs Aeußerste gebrachten Familie zu brandschatzen.

Diese Darlegung der Umstände, gerichtet an einen Kreis, der einen Vater von Mr. Vanstones Gemüthlichkeit und eine Tochter von Magdalenens Sinnesart einschloß, hatte denn auch den Erfolg, den man gleich von vornherein vorhersagen konnte.

Das bedeutsame Schweigen, welches die Gattin und Miss Garth bewahrten, entweder mißverstehend oder unbeachtet lassend, gab Mr. Vanstone nicht allein Magdalenen Erlaubniß, dem bedrängten Liebhabertheater zu Hilfe zu kommen, sondern mahnt auch für Nora und sich selbst eine Einladung an, der Ausführung beizuwohnen. Mrs. Vanstone lehnte aus Gründen ihrer leidenden Gesundheit ab, sie zu begleiten, aber Miss Garth versprach mitzukommen, vorausgesetzt, daß sie zu Hause entbehrlich sein würde. Die ausgeschriebenen Rollen der »Lucie« und »Falklands«, welche die geängstigte Familie überall mit sich herumtrug, wie eine nebenbei aufgelesene Krankheit, wurden sofort ihren künftigen Darstellern behändigt. Franks schwache Weigerungsversuche wurden ungehört zurückgewiesen, die Tage und Stunden der Proben sorgfältig auf die Umschläge der Rollenhefte bemerkt, und die Marrables verabschiedeten sich unter einer förmlichen Dankesentladung, indem Vater, Mutter und Tochter die Ausdrücke ihrer Dankbarkeit mit freigebigster Hand vom Empfangszimmer bis zu dem Gartenthore auf den Weg streuten.

Sobald der Wagen abgefahren war, stellte sich Magdalene den Augen der Familie in einem ganz neuen Lichte dar.

—— Wenn noch mehr Besuche heute kommen sollten, sagte sie mit dem tiefsten Ernste in Blick und Gebärde, so bin ich nicht zu Hause. Dies ist eine weit ernstere Sache, als Ihr denkt. Frank, gehe irgendwohin auf die Seite, lies Deine Rolle für Dich durch und laß wo möglich Deine Aufmerksamkeit durch Nichts ablenken. Ich werde vor Abend für Niemand zugänglich sein. Wenn Du nach dem Thee —— mit Papas Erlaubniß —— wiederkommen willst, so will ich Dir meine Meinung über den Falkland sagen. Thomas! Was der Gärtner auch vorhat, er soll mir mit seiner Arbeit keinen Lärm unter meinem Fenster machen. Für den Rest des Nachmittags werde ich mich aufs Lernen legen, und je ruhiger dabei das Haus ist, desto dankbarer werde ich Jedermann sein.

Bevor Miss Garth die Batterie ihres Tadels abfeuern konnte, bevor der erste Ausbruch von Mr. Vanstones herzlichem Gelächter über seine Lippen kam, verneigte sie sich mit unerschütterlichem Ernst vor der Familie, stieg zum ersten Male die Haustreppe im Schritt hinauf, statt im Laufen, und verschwand oben in der Gegend der Schlafgemächer. Franks unbehilfliches Staunen über ihr Verschwinden trug ebenfalls wesentlich bei zur Komik des Auftritts. Er stand erst auf dem einen, dann auf dem andern Beine, indem er seine Rolle auf- und zublätterte und seinen Freunden im Kreise Erbarmen flehend ins Gesicht schaute.

—— Ich weiß, ich kanns nicht, sagte er. ... Darf ich nach dem Thee wieder vor kommen und Magdalenens Meinung hören? Ich danke Ihnen, ich will gegen Acht wieder herein sehen. Sagen Sie meinem Vater nichts von dieser Ausführung; ich würde sonst ewig davon reden hören müssen.

Dies waren die einzigen Worte, die er noch Besinnung hatte herauszubringen. Er ging wie im Traume, ohne zu wissen wohin, nach dem Gebüsch zu, die Rolle aufgeschlagen in der Hand herabhängen lassend, der unfähigste Falkland und der rathloseste Mensch unter der Sonne!

Franks Weggang ließ die Familie sich selber wiederfinden und war daher das Zeichen zu einem Angriff auf Mr. Vanstone wegen seiner eingefleischten Lässigkeit in der Handhabung seiner väterlichen Machtvollkommenheit.

—— Was konntest Du in aller Welt nur denken, Andreas, als Du Deine Einwilligung gabst? sagte Mrs. Vanstone. Offenbar war mein Schweigen Mahnung genug für Dich, Nein zu sagen.

—— Ein Mißgriff, Mr. Vanstone, stimmte Miss Garth ein, gethan in der besten Absicht, aber trotz alledem ein Mißgriff.

—— Es mag ein Mißgriff sein, sagte Nora, wie gewöhnlich ihres Vaters Partie ergreifend, aber ich sehe wirklich nicht ein, wie Papa oder ein Anderer an seiner Stelle unter Umständen wie diese hätte Nein sagen könnten.

—— Ganz recht, meine Liebe, bemerkte Mr. Vanstone. Die Umstände, wie Du es nennst, waren verzweifelt zu meinem Nachtheil. Hier standen diese unglücklichen Leute in ihrer Verlegenheit auf der einen Seite und Magdalene, die vor Verlangen brannte zu spielen, auf der andern. Ich kann nicht sagen, ich hätte muckerische Gründe dawider, ich habe überhaupt nichts Muckerisches an mir. Was für andere Entschuldigungen sollte ich denn vorbringen? Die Marrables sind Leute von guter Familie und machen in Clifton das größte Haus. Was kann ihr denn Schlimmes bei ihnen widerfahren? Wenn Ihr doch Vernunft oder dergleichen annehmen wolltet, —— warum soll nicht Magdalene thun können, was Miss Marrable thut? Seht Ihr, seht Ihr? Laßt die armen Dinger spielen und sich daran freuen, wir waren auch einmal in ihrem Alter, und es nutzt ja doch nichts, darüber Lärm zu machen —: das ist Alles, was ich Euch darüber zu sagen habe.

Mit dieser eigenthümlichen Vertheidigung seiner selbst schlenderte Mr. Vanstone wieder nach dem Gewächshause und rauchte noch eine Cigarre.

—— Ich habe es dem Vater nur nicht sagen mögen, begann Nora, indem sie unterwegs nach dem Hause der Mutter Arm nahm, aber die schlimme Folge dieses Spielens wird meines Erachtens die Vertraulichkeit sein, welche dadurch zwischen Magdalenen und Francis Clare gefördert wird.

—— Du hast ein Vorurtheil gegen Frank, meine Liebe, unterbrach sie Mrs. Vanstone.

Noras sanfte, schweigsame, hellbraune Augen senkten sich zu Boden: sie sagte nichts weiter. Ihre vorgefaßten Meinungen blieben unverändert; aber sie redete mit Niemand darüber. Sie hatte den großen Fehler einer verschlossenen Natur, den Fehler der Hartnäckigkeit und das große Verdienst, das Verdienst der Schweigsamkeit.

—— Was geht dir wohl jetzt durch den Kopf? dachte Miss Garth, indem sie einen scharfen Blick aus Noras düsteres niedergeschlagenes Gesicht warf. Du bist eine von der unerforschlichen Art. Ich lobe mir Magdalene mit all ihren Schrullen, durch diese kann ich das Tageslicht hindurch sehen. Du aber bist undurchsichtig wie die Nacht!

—— Die Nachmittagsstunden verstrichen, und noch blieb Magdalene in ihrem Zimmer eingeschlossen. Nicht mehr eilten unruhige Schritte über die Treppe, nicht mehr hörte man eine schnelle Zunge hier, da und aller Orten im Hause, von der Bodenkammer angefangen bis zur Küche herunter: das ganze Haus schien wie verwandelt, in derselben Weise wie sie selbst, das eine ewig unruhige Wesen in dem Familienstillleben, das so plötzlich daraus verschwunden war. Begierig, mit eigenen Augen sich von einer Umwandlung zu überzeugen, an welche zu glauben sie sich nach ihren früheren Erfahrungen nicht ohne Weiteres entschließen konnte, stieg Miss Garth zu Magdalenens Zimmer hinauf, pochte zwei Mal an die Thür, erhielt keine Antwort, öffnete und sah hinein.

Da saß Magdalene in einem Armsessel vor dem langen Spiegel, das ganze Haar aufgelöst um die Schultern. hängend; sie selbst ganz vertieft in das Studium ihrer Rolle und bequem in ihr Morgentuch eingehüllt, bis es Zeit war, sich für den Mittag anzukleiden. Und hinter ihr saß das Kammermädchen, langsam die langen schweren Locken ihrer jungen Herrin ausstrählend mit der schläfrigen Gelassenheit einer Magd, die bereits stundenlang zu diesem Amte verwendet worden ist. Die Sonne schien, und die grünen Fensterläden waren geschlossen. Das matte Licht fiel liebkosend auf die beiden sitzenden Gestalten, auf das kleine weiße Bett mit den Rosaschleifen, die dessen Vorhänge zusammenhielten, und das helle Kleid für die Mittagstafel, das quer darüber hin lag, auf das freundlich gemalte Badegeschirr mit seiner reinen Einfassung von weißem Email, auf das Toilettetischchen mit seinen funkelnden Nippsachen, seinen Krystallflaschen, seiner Silberglocke mit einem Amor als Griff, seinem Flitter von kleinen Luxusgegenständen, welche den Schrein eines Mädchenkämmerleins schmücken. Die prächtige Stille der Scene, in der Luft der kühlende Wohlgeruch von Blumen- und anderem Duft; die in sich versunkene Haltung Magdalenens, welche über ihr Buch Alles um sich her vergaß; die einförmige Regelmäßigkeit der Bewegung in des Mädchens Hand und Arm, wie sie leicht den Kamm durch das Haar ihrer Herrin zog und wieder zog ——: Alles machte denselben milden Eindruck einer süß behaglichen, müßigen Ruhe. Auf der einen Seite der Thür waren das breite, volle Tageslicht und der regelmäßige Gang des Familienlebens, auf der andern, darinnen, war das Traumgebilde paradiesischer Seligkeit, das Allerheiligste einer ungestörten Beschaulichkeit.

Miss Garth hielt auf der Schwelle an und sah schweigend in das Zimmer hinein.

Magdalenens seltsame Liebhaberei, sich das Haar zu allen Zeiten des Jahres und Lebens strählen zu lassen, gehörte zu den männiglich im Hause bekannten Sonderbarkeiten ihres Wesens. Es war einer von ihres Vaters Lieblingsscherzen, daß sie ihn, wie er bei solchen Gelegenheiten zu sagen pflegte, an ein Kätzchen gemahne, das sich den Rücken streicheln lasse und daß er immer, wenn das Kämmen endlich lange genug gedauert habe, von ihr ein zufriedenes Schnurren zu hören erwarte. So kühn auch der Vergleich erscheinen mag, so war er doch nicht ganz unpassend. Das feurige Temperament des Mädchens mußte das echt weibliche Vergnügen, welches sehr viele Frauen dabei empfinden, wenn der Kamm durch ihre Haare gleitet, zu einem üppigen Wohlbehagen steigern, welches sie in so heiter selbst vergessende, so müßiggängerisch tiefe Wonne ausgehen ließ, daß es allerdings unwillkürlich an das Behagen erinnerte, das eine Lieblingskatze beim Streicheln mit der Hand fühlen mag. Innig vertraut, wie Miss Garth mit dieser Eigenheit ihrer Schutzbefohlenen war, sah sie diese zum ersten Male in einem inneren Bezuge zu einer wie artigen geistigen Arbeit ihrer Magdalene. Da sie nun einigermaßen begierig war, zu wissen, wie lange schon das Kämmen und Einstudiren zusammen fortgegangen waren, so richtete sie diese Frage zuerst an die Herrin, und als sie von dieser Seite keine Antwort erhielt, in zweiter Linie an das Mädchen.

—— Den ganzen Nachmittag, Miss, in Einem fort, war die lebensmüde Antwort. —— Miss Magdalene sagt, es besänftige ihre Gefühle und kläre ihren Geist.

Da sie aus Erfahrung wußte, daß jede Einmischung unter solchen Umständen hier Vergeblich sein würde, wandte sich Miss Garth kurz um und verließ das Zimmer. Sie lächelte, als sie draußen auf dem Treppenabsatze war. Die Seele des Weibes versetzt sich zuweilen, aber nicht oft, in die Zukunft: Miss Garth beklagte in Gedanken schon Magdalenens künftigen Ehegatten ——

Bei der Mittagstafel zeigte die schöne Lernbegierige dem Auge der Familie den Anblick derselben Geistesabwesenheit. Bei allen gewöhnlichen Gelegenheiten würde Magdalenens Eßlust jene schwachgemuthen, empfindsamen Geister erschreckt haben, welche sich stellen, als kennten sie den hochwichtigen Einfluß nicht, den die Ernährung des Weibes auf die Hervorbringung der Schönheit hat. Bei dieser Gelegenheit aber wies sie ein Gericht nach dem andern zurück mit einer Entschlossenheit, welche ihr die Dornenkrone des heutzutage seltensten Märthrerthums, des Märtyrerthums des Magens, gewinnen konnte.

—— Ich habe die Rolle der Lucie nun begriffen, sagte sie mit der ernstesten Seelenruhe. Die nächste Schwierigkeit ist, Frank die Partie des Falkland begreiflich zu machen ... Ich sehe nicht ein, was es hier zu lachen gibt, Ihr würdet Alle ernst genug sein, wenn Ihr all die auf mir ruhende Verantwortlichkeit hättet. Nein, Papa.... keinen Wein heute, ich danke Dir. Ich muß meinen Kopf klar erhalten. Wasser, Thomas.... und noch etwas Suppe, denke ich, bevor sie weggetragen wird.

Als Frank Abends erschien, ohne von seiner Rolle auch nur den entferntesten Begriff zu haben, nahm sie ihn bei der Hand, etwa wie eine Schullehrerin in den mittleren Jahren einen trägen kleinen Knaben bei der Hand genommen haben würde. Die wenigen Anstrengungen, die er machte, um in den trostlos praktischen Zweck der Abendunterhaltung einige Abwechselung zu bringen, indem er mit einer Seitenschwenkung einen Anlauf zu Complimenten nahm, wies sie von sich ab mit der über Alles erhabenen Selbstbeherrschung einer zwei Mal so alten Person. Sie zwang ihm buchstäblich die Rolle auf. Ihr Vater schlief auf seinem Stuhle ein. Mrs. Vanstone und Miss Garth verloren ihr Interesse an der Sache, zogen sich ans andere Ende des Zimmers zurück und sprachen leise mit einander. Es wurde später und später. Aber immer wich und wankte Magdalene noch nicht in ihrer Aufgabe, fort und fort beharrte Nora mit derselben Ausdauer auf ihrer Macht, die sie den ganzen Abend hindurch ausgeführt hatte, vollends bis zu Ende. Das Mißtrauen verdüsterte mit seinem Schatten mehr und mehr ihr Angesicht, wenn sie so ihre Schwester und Frank ansah, wenn sie dieselben selbander so nahe beisammen sitzen sah, ihre Aufmerksamkeit auf ein und denselben Gegenstand gerichtet, Beide ein und demselben Ziele zustrebend. Die Uhr zeigte auf halb Zwölf, als endlich Lucie, die Aufgeweckte, Falkland, dem Unbehilflichen, gestattete, sein Aufgabebuch für diesen Abend zu schließen.

—— Sie ist wunderbar gescheidt, nicht wahr? sagte Frank, als er von Mr. Vanstone in der Hausthür Abschied nahm. —— Ich werde morgen wiederkommen und mehr von ihren Ansichten hören...., wenn Sie nichts dawider haben. Ich werde es niemals zu Stande bringen; sagen Sie ihr aber nicht, daß ich Ihnen dies gestanden habe. So schnell sie mir eine Rede eingelernt hat, eben so schnell schwindet mir die andere aus dem Kopfe. Das ist mißlich, nicht wahr? Gute Nacht!

Der übernächste Tag war der Tag der ersten Hauptprobe. An dem vorhergehenden Tage waren Mrs. Vanstones Gedanken traurig und trübe gewesen. In einer geheimen Unterredung mit Miss Garth hatte sie von freien Stücken den Gegenstand ihres Briefes aus London berührt, hatte mit einer Selbstanklage von ihrer Schwäche gesprochen, daß sie Hauptmann Wragges unverschämte Anmaßung der Blutsverwandtschaft mit ihr nicht zurückgewiesen, und hatte dann abermals den Zustand ihrer Gesundheit und die trübe Aussicht, die ihrer im Sommer harrte, in einem Tone der Hoffnungslosigkeit erwähnt, der sehr traurig anzuhören war. Darauf bedacht, ihren Muth zu heben, hatte Miss Garth den Gegenstand der Unterhaltung so schnell als möglich gewechselt, war auf die bevorstehende Theatervorstellung zu sprechen gekommen und hatte Mrs. Vanstones Gemüth in dieser Hinsicht vollkommen beruhigt, indem sie ihr anzeigte, daß sie gewillt sei, Magdalene zu jeder Probe zu begleiten und sie nicht aus den Augen zu lassen, bis sie wieder sicher in ihres Vaters Haus zurück sei. Als daher Frank an dem bedeutungsvollen Morgen auf Comb-Raven sich einstellte, stand Miss Garth fix und fertig bereit, um in der Von ihr improvisierten und eingeschobenen Rolle eines hundertäugigen Argus »Lucie« und »Falkland« zu dem Schauplatz ihrer Thaten zu geleiten. Die Eisenbahn brachte alle Drei bei ganz guter Zeit, nach Evergreen Lodge, und um ein Uhr begann die Probe.



Kapiteltrenner

Sechstes Capitel.

—— Ich hoffe doch, Miss Vanstone kann ihre Rolle? flüsterte Mrs. Marrable, indem sie sich in einem Winkel des Theaters ängstlich fragend an Miss Garth wendete.

—— Wenn Haltung und gewandte Bewegungen eine Schauspielerin machen, gute Madam, so wird Magdalenens Leistung uns Alle in Erstaunen setzen.

Mit dieser Erwiderung nahm Miss Garth ihre Arbeit heraus und setzte sich in der Mitte des Parterres nieder, um ihre Wache anzutreten.

Der Bühnenordner ließ sich das Buch in der Hand in einen Sessel dicht vor der Bühne nieder. Es war ein kleiner lebendiger Mann von einer milden und freundlichen Art, und er gab in der That das Zeichen zum Beginnen mit einem so ruhigen Interesse an der Vorstellung, als ob sie ihm Vorher gar keine Noth gemacht hätte und auch für die Zukunft keine Schwierigkeit in Aussicht stellte.

Die beiden Personen, welche das Lustspiel »Die Eifersüchtigen« eröffnen, »Fag« und »der Kutscher« erschienen auf den Bretern, sahen viel zu groß aus für den Leinwandhintergrund, der » eine Straße zu Bath« vorstellte, zeigten die gewöhnliche Unbehilflichkeit in Haltung und Bewegung ihrer eigenen Arme, Beine und Stimmen, machten verschiedene Male falsche Abgänge und drückten ihren vollständigen Beifall über ihre Mißerfolge durch herzliches Gelächter hinter der Scene aus.

—— Ruhe, meine Herren, wenns gefällig ist, bat sich der freundliche Regisseur aus. —— So laut Sie wollen, auf der Bühne, allein das Publikum darf Sie nicht hören hinter derselben. Miss Marrable, fertig? Miss Vanstone, fertig? Rasch mit »der Straße zu Bath« vor, es geht ja verkehrt! Sehen Sie hierher, Miss Marrable; mit dem ganzen Gesicht, wenn Sie so gut sein wollen. Miss Vanstone .... Er unterbrach sich hier selber plötzlich. —— Merkwürdig, sagte er halblaut, —— sie tritt dem Publikum ganz von selbst gerade gegenüber.

Lucie eröffnete die Scene mit diesen Worten:

—— In der That, gute Madame, ich habe die halbe Stadt durchlaufen, um es zu finden: ich glaube, es gibt in ganz Bath keine Leihbibliothek, in der ich nicht gewesen bin.

Der Regisseur war auf seinem Stuhle ganz starr vor Erstaunen.

—— So war ich lebe, sie spricht ja, ohne zu buchstabieren.

Das Zwiegespräch begann. Lucie brachte die Romane für Miss Lydia Languish’ Privatlectüre unter ihrem Mantel hervor. Der Regisseur erhob sich ermunternd auf die Füße. Wunderbar! Keine Uebereilung mit den Büchern, kein Fehlgriff mit denselben. Sie sah sich die Titel an, bevor sie dieselben ihrer Herrin meldete; sie legte »Humphry Clinker« auf »Die Thränen der Empfindsamkeit« mit einem kleinen Anfluge von Schelmerei, indem sie den Gegensatz hervorhob. Einen Augenblick später —— und sie meldete Juliens Besuch an, noch einen —— und sie sprach die lebhaften Kammermädchencomplimente; einen dritten —— und sie war weg von der Bühne, fort auf der im Buche vorgeschriebenen Seite. Der Regisseur drehte sich auf seinem Stuhle rundum und sah Miss Garth scharf an.

—— Verzeihen Sie, gute Dame, sagte er. —— Miss Marrable sagte mir, bevor wir anfingen, daß dies der jungen Dame erster Versuch sei. Das kann doch gewiß nicht der Fall sein?

—— Und doch, antwortete Miss Garth, indem sich der staunende Blick des Regisseurs auf ihrem Gesichte ebenfalls abspiegelte. —— War es denn möglich, daß Magdalenens unerklärlicher Fleiß in dem Lernen ihrer Rolle wirklich aus einem tieferen Interesse an dieser Beschäftigung, einem Interesse, welche eine natürliche Begabung für letztere Voraussetzte, entsprang?

Die Probe ging vorwärts. Die starke Dame mit der Perrücke (und dem trefflichen Herzen) stellte die empfindsame Julie mit einer hartnäckig festgehaltenen tragischen Auffassung dar und gebrauchte ihr Taschentuch in der ersten Scene in voller Zerstreutheit. Die Jungfer Base fühlte Mrs. Malaprops Sprachfehler so ernst und nahm sich deren Versehen so außerordentlich zu Herzen, daß sie mehr wie Buchstabirübungen, denn als irgend etwas Anderes klangen.

Der unglückliche junge Mann, welcher die Verzweiflung der Gesellschaft war, in der Person des »Sir Antonius Absolut« drückte das Alter und den Jähzorn seines Charakters durch fortwährendes Schlottern mit den Knieen und unaufhörliches Aufstoßen mit dem Stocke aus. Langsam und mit vielen Hindernissen, unter beständigen Unterbrechungen und endlosen Mißverständnissen schleppte sich der erste Act hin, bis Lucie wieder auftrat, um ihn in einem Selbstgespräch zu endigen, das ein Bekenntniß ihrer nur zum Schein angenommenen Einfalt und das Lob ihrer Verschmitztheit enthielt.

Hier bot das Bühnenmäßige der Situation Schwierigkeiten, wie sie Magdalene in der ersten Scene noch nicht entgegengetreten waren, und hier machte sie bei ihrer gänzlichen Unerfahrenheit mehr als einen handgreiflichen Fehler. Der Bühnenordner legte sich sofort ins Mittel und wies sie zurecht mit einem Eifer, den er keinem andern Mitgliede der Gesellschaft gegenüber an den Tag gelegt hatte. An der einen Stelle hatte sie eine Pause und auf der Bühne eine Wendung zu machen...., sie machte Beides. An einer andern hatte sie zu stocken, ihr Köpfchen zurückzuwerfen und keck ins Publikum zu schauen..., sie führte es aus. Als sie das Papier herausnahm, um das Verzeichniß der empfangenen Geschenke zu verlesen, konnte sie einen leichten Schlag darauf thun?.... Ja. Und mit einem kleinen Lachen beginnen?... Ja, nachdem sie es zwei Mal probiert. Konnte sie auch die verschiedenen Stücke mit einem schlauen Blick am Ende jedes Satzes gerade hinaus in das Parterre erzählen?... Ja, mitten hinein in das Parterre und so schlau, als Sie wollen. Das Antlitz des Regisseurs strahlte vor Beifall. Er drückte das Buch unter den Arm und klatschte froh in die Hände; die Herren, welche hinter der Scene zusammengedrängt standen, folgten seinem Beispiele; die Damen sahen einander an; schon kamen ihnen Zweifel in die Seele, ob sie nicht besser gethan hätten, wenn sie den angeworbenen Neuling ruhig in der Zurückgezogenheit des Privatlebens gelassen hätten. Zu sehr in ihre Rolle vertieft, um aus eine von ihnen zu achten, bat Magdalene um die Erlaubniß, das Selbstgespräch wiederholen zu dürfen und sich dadurch ihrer eigenen Verbesserung erst recht zu versichern. Sie ging es noch einmal ganz durch, dies Mal ohne einen Fehler von Anfang bis zu Ende. Der Regisseur pries ihre Aufmerksamkeit auf alle seine Winke in einem Ausbruche von ernstgemeintem Beifall, der ihm unwillkürlich entfuhr.

—— Sie kann einen Fingerzeig benutzen! —— rief der kleine Mann mit einem kräftigen Schlage seiner Hand auf das Bühnenbuch —— Sie ist eine gebotene Schauspielerin, wenn es je eine gegeben hat!

—— Das will ich nicht hoffen, sagte Miss Garth zu sich selbst. Mit diesen Worten nahm sie die Arbeit wieder auf, die sie in den Schoos hatte fallen lassen, und blickte auf dieselbe in einiger Verwirrung nieder. Als das Schlimmste, das sie sich als Folge dieser theatralischen Versuche gedacht hatte, hatte sie einen zu freien Umgang mit einigen der Herren voraus phrophezeit; hierin hatte sie sich aber getäuscht gesehen. Magdalene in der Eigenschaft als unbedachtes Mädchen war vergleichsweise leicht zu behandeln. Magdalene mit dem Charakter als geborene Schauspielerin, verhieß ganz andere ernste Schwierigkeiten für die Zukunft.

Die Probe wurde fortgesetzt. Lucie kam wieder auf die Bühne zu ihren Scenen im zweiten Act —— den letzten, in denen sie austrat —— mit Fag und Sir Lucius. Auch hier wieder verrieth sich Magdalenens Unerfahrenheit, und hier zeigte sich aufs Neue ihre Entschlossenheit, ihre eigenen Fehler selbst in die Hand zu nehmen und zu beseitigen, und setzte Jedermann in Erstaunen.

—— Bravo! riefen die Herren hinter der Scene, als sie ein Versehen nach dem andern tapfer überwandt.

—— Lächerlich, sagten die Damen, bei einer so kleinen Rolle, als die ihrige ist!

—— Gott mag es mir vergeben! dachte Miss Garth, als sie unwillkürlich derselben Meinung wurde, als die Anderen Alle. —— Ich möchte fast wünschen, daß wir papistisch wären, nur damit wir ein Kloster hätten, um sie morgen hineinzuthun!

Einer von Mr. Marrables Leuten kam, gerade als der Gouvernante dieser verzweifelte Stoßseufzer entfuhr, in das Theater. Sie schickte den Diener sofort hinter die Bühne mit der Botschaft:

—— Miss Vanstone hat ihre Rolle in der Probe beendigt, ersuchen Sie dieselbe, hierher zu kommen und sich zu mir zu setzen.

Der Mann kam alsbald mit einer höflichen Entschuldigung zurück:

—— Miss Vanstones herzliche Empfehlung, und sie bäte, sie zu entschuldigen: sie mache nämlich eben Mr. Clare fertig.

Sie machte ihn so gut fertig, daß er seine Rolle wirklich durchführte. Das Spiel der übrigen Herren war niederschlagend kläglich. Frank war gerade um einen Grad besser, er war doch nur leidlich mangelhaft, aber gewann durch den Vergleich mit den Anderen.

—— Dank der Mühe von Miss Vanstone, bemerkte der Ordner, welcher das Einstudieren mit angehört hatte. Sie riß ihn durch. —— Wir werden »matt« genug sein auf den Abend, wenn der Vorhang nach dem zweiten Acte fällt und das Publikum sie zum letzten Male gesehen hat. Es ist tausend Mal Schade, daß sie nicht eine bessere Rolle erhalten hat.

—— Es ist tausend Mal ein Glück, daß sie nicht mehr zu thun hat, als sie wirklich hat ——, murmelte Miss Garth, die ihn belauscht hatte. —— Wie die Dinge stehen, können die Leute ihr nicht den Kopf verdrehen mit Applaus. Sie ist im zweiten Acte nicht mehr beschäftigt: wenigstens ein Trost!

Kein gut geschulter Verstand macht seine Schlüsse in Ueberstürzung; Miss Garths Verstand war gut geschult; daher hätte Miss Garth, wenn sie ruhiger Ueberlegung hätte folgen wollen, über die Schwäche erhaben sein sollen, voreilige Schlüsse zu bilden. Sie hatte unter den gegenwärtigen Umständen diesen Fehler dennoch begangen. Um deutlich zu sprechen, hatte sie sich in Folge des tröstenden Gedankens, der sie überkam, der Annahme hingegeben, das Stück hätte nunmehr alle seine Klippen überwunden und sei jetzt in dem lange erwarteten ruhigen Fahrwasser angelangt. Das Stück hatte weder das Eine noch das Andere erreicht. Mißgeschick und die Familie Marrable waren noch immer unzertrennliche Schicksalsgefährten.

Als die Probe Vorüber war, bemerkte Niemand, daß die starke Dame mit der Perrücke sich im Stillen aus der Gesellschaft entfernt hatte, und als sie später an der Erfrischungstafel, welche Mr. Marrables Gastfreundschaft in einem Zimmer nahe beim Theater in Bereitschaft gehalten hatte, fehlte, ahnte Niemand, daß ihre Abwesenheit einen tieferen Grund hätte. Nicht eher, als bis die Damen und Herren sich zur nächsten Probe eingefunden hatten, sollte der wahre Stand der Sache der Gesellschaft offenbar werden. Zur bestimmten Stunde erschien keine Julie —— An ihrer Statt näherte sich Mrs. Marrable mit einem Briefe in der Hand aufgeregt der Bühne. Sie war für gewöhnlich eine Dame von gutmüthiger Art und guter Erziehung, sie war jeder hergebrachten schmeichelhaften Wendung, die in die englische Sprache eingeführt ist, Meisterin; allein wiederholtes Mißgeschick und der Einfluß des Theaters hatten schließlich zusammengewirkt, um die friedfertige Matrone aus dem Gleichgewichte zu bringen. Zum ersten Male in ihrem Leben ließ sich Mrs. Marrable zu heftigen Gebärden hinreißen und gebrauchte starke Ausdrücke. Sie reichte ihrer Tochter mit ausgestrecktem Arme und ernstem Gesichte den Brief hin.

—— Meine Liebe, sagte sie mit einer Art fürchterlicher Ruhe, wir stehen unter dem Einflusse eines Fluches.

Ehe das erstaunte Liebhabertheater sich eine Erklärung ausbitten konnte, wandte sie sich um und verließ das Zimmer. Das Kennerauge des Regisseurs folgte ihr mit dem Ausdruck der Achtung nach, er sah aus, als wäre er mit ihrem Abgange vom künstlerischen Standpuncte aus zufrieden.

Welch neues Unglück war denn über das arme Stück hereingebrochen. Das letzte und ärgste von Allem die starke Dame hatte ihre Rolle zurückgeschickt —— ——

Nicht etwa aus bösem Willen. Ihr Herz, das ja durchgehend auf dem rechten Flecke geblieben war, hatte sie noch immer auf dem rechten Flecke. Ihre Erklärung der Umstände, wenn nichts Anderes, war ein Beweis dafür. Der Brief begann mit einer thatsächlichen Erörterung. Sie hatte in der letzten Probe ganz unabsichtlich einige persönliche Bemerkungen belauscht, deren Gegenstand sie selber gewesen. Sie mochten sich auf ihr —— Haar und —— ihre Gestalt beziehen; oder vielleicht auch nicht. Sie wolle Mrs. Marrable durch die Wiederholungen derselben nicht betrüben. Auch wolle sie Namen nicht nennen, weil es ihre Art nicht sei, etwas Schlimmes noch übler zu machen. Der einzige Weg, den ihr die Rücksicht auf ihre Selbstachtung vorschreibe, sei ihre Rolle abzugeben. Sie legte sie daher an Mrs. Marrable bei, indem sie sich mehrfach entschuldigte wegen ihrer Anmaßung, einen jugendlichen Charakter »bei ihrem Alter«, wie es einem Herrn gefallen hatte sich auszudrücken, und »bei ihrem Haar und ihrer Gestalt« darzustellen, was Beides zu unvortheilhaft sei, wie einige Damen unzart genug gewesen anzudeuten. Eine jüngere und anziehendere Darstellerin der Julie werde sich ohne Zweifel leicht finden. Zugleich wolle sie allen betreffenden Personen vollkommen vergeben und bitte nur hinzufügen zu dürfen, daß sie dem Stücke aufrichtig den besten Erfolg wünsche. ——

Und vier Abende später sollte das Stück aufgeführt werden! Wenn jemals ein menschliches Unternehmen gute Wünsche, um es zu unterstützen, nöthig hatte, so war dies Unternehmen sicherlich kein anderes, als die Vorstellung des Liebhabertheaters auf Evergreen Lodge!

Ein Armstuhl wurde au die Bühne gebracht, und in diesen Armstuhl sank Miss Marrable, welche im Begriffe stand, hysterische Anfälle zu bekommen. Magdalene sprang bei den ersten Krämpfen vor, riß Miss Marrable den Brief aus der Hand und gebot sofort der drohenden Katastrophe Stillstand.

—— Sie ist ein häßliches, kahlköpfiges, boshaftes, altes Frauenzimmer —— sagte Magdalene, indem sie den Brief in Stücke riß und sie über die Köpfe der Gesellschaft fliegen ließ. —— Aber ich kann ihr Etwas erzählen, sie soll das Spiel doch nicht verderben. Ich will die Julie spielen!

—— Bravo! rief der Chor der Herren —— der ungenannte Herr, welcher das Unglück hatte mit anrichten helfen (mit einem Worte Mr. Fraucis Ehre) am Lautesten von Allen.

—— Wenn ich Ihnen die Wahrheit sagen soll, so fürchte ich mich nicht, es zu gestehen, fuhr Magdalene fort. —— Ich bin eine von den Damen, die sie meint. Ich sagte, sie hätte einen Kopf, wie ein Piops, und eine Brust, wie ein Sophakissen. Und das ist auch wahr.

—— Und ich bin die andere Dame, sagte die Jungfer Base. —— Aber ich sagte, sie sei zu stark für die Rolle.

—— Ich bin der Herr, stimmte Frank ein, durch das Beispiel der Anderen mit fortgerissen. —— Ich sagte Nichts, ich gab den Damen nur Recht.

Hier ersah sich Miss Garth ihre Gelegenheit und rief von dem Parterreraume nach der Bühne hinauf.

—— Hören Sie auf, hören Sie auf, sagte sie. Sie können auf diese Art die Schwierigkeit nicht entfernen. Wenn Magdalene die Julie spielt, wer soll da die Lucie geben!

Miss Marrable sank wieder in den Armstuhl zurück und bekam zum zweiten Male Krämpfe.

—— Unsinn! Wenn es weiter Nichts ist! schrie Magdalene. Die Sache ist ganz einfach. Ich will die Julie und Lucie zusammen spielen.

Sofort wurde der Regisseur darüber gehört. Man mußte Luciens erstes Auftreten weglassen und den kurzen Dialog über die Leihbibliotheksromane in ein Selbstgespräch für Lydia Languish verwandeln: das war die einzige erhebliche Schwierigkeit, welche sich der Ausführung von Magdalenens Plan entgegenstellte. Luciens zwei Sprechscenen am Ende des ersten und zweiten Actes waren, hinreichend weit entfernt von den Scenen, in denen Julie aufzutreten hatte, um Zeit zu lassen für die nöthigen Kleiderwechsel. Sogar Miss Garth konnte, so sehr sie sich bemühte, keine neuen Hindernisse finden.

Die Frage wurde in fünf Minuten abgemacht, und die Probe ging an. Magdalene lernte Juliens Bühnensituationen mit dem Buche in der Hand und kündigte dann auf der Heimfahrt an, daß sie vorhätte, die ganze Nacht auf das Einstudieren der neuen Partie zu verwenden. Frank drückte daher seine Besorgniß aus, daß sie dann nicht Zeit übrig haben werde, ihm selber über seine eigenen theatralischen Schwierigkeiten hinwegzuhelfen. Sie schlug ihn coquett mit der Rolle auf die Schulter. —— Du närrischer Mensch, was habe ich mit Dir zu thun? Du bist Juliens eifersüchtiger Liebhaber, Du machst immer der Julie den Kopf warm. Komm heute Abend und mach mir den Kopf warm, beim Thee. Du hast nicht mehr ein listiges altes Weib mit einer Perrücke vor Dir, um mit ihm zu spielen. Mein Herz hast Du jetzt zu brechen..., und ich will Dirs gelegentlich beibringen, wie man das anfängt.

Die vier dazwischen liegenden Tage vergingen bewegt und unter beständigen Proben zu Hause und auf der Bühne.

Der Abend der Ausführung kam heran; die Gäste versammelten sich; das große Theaterexperiment sollte sich nun bewähren. Magdalene hatte sich Alles aufs Beste zu Nutze gemacht, sie hatte gelernt, was der Regisseur ihr in dieser Zeit hatte lehren können. Miss Garth verließ sie, als die Ouvertüre begann, indem sie sich hinter der Scene seitwärts in eine Ecke setzte, ernst und schweigend, das Riechfläschchen in der einen und ihr Buch in der andern Hand, und sich entschlossen auf den Schicksalsspruch des Publikums am Ende gefaßt machte.

Das Stück begann unter all den von einer Theatervorstellung in bürgerlichen Kreisen unzertrennlichen Nebenumständen, ein überfüllter Zuschauerraum, eine africanische Hitze, Zerplatzen heißgewordener Glascylinder, Schwierigkeiten beim Aufziehen des Vorhangs. »Fag« und »der Kutscher«, welche die Scene eröffneten, verloren ihr Gedächtniß, sobald sie den ersten Fuß auf die Bühne gesetzt hatten, ließen daher die eine Hälfte ihres Zwiegespräches ungesprochen, kamen zu einer tödtlichen Pause, wurden hörbar von dem unsichtbaren Regisseur ermahnt, fortzufahren, und Ihren dabei fort, in jeder Beziehung gescheidter und klüger geworden, als sie angefangen hatten. Die nächste Scene führte Miss Marrable als »Lydia Languish« vor, anmuthig hingegossen, sehr hübsch, in schönen Kleidern, in sorgsamster Weise ihre Partie bis auf jedes Wort kennend, kurz im Besitze jedes persönlichen Hilfsmittels, außer ihrer Stimme. Die Damen bewunderten, die Herren applaudirten. Niemand hörte Etwas außer den Worten »Sprechen Sie lauter, Miss« von der Stimme geflüstert, welche bereits Fag und den Kutscher angetrieben hatte, »vorwärts zu kommen«. Ein Kichern erhob sich als Antwort unter den jüngeren Zuschauern, wurde aber sofort erstickt durch großmüthigen Applaus. Die Temperatur des Hauses erhob sich zur Wärme des Blutes, allein der volksthümliche Geschmack für Gewähren lassen war noch nicht aus ihm herausgetrieben.

Mitten in dieser Kundgebung trat Magdalene ganz ruhig zum ersten Male als »Julie« auf. Sie war sehr einfach in dunkle Farben gekleidet und trug ihr eigenes Haar; alle Bühnenkniffe und Kunstmittel (ausgenommen jedoch rothe Schtninke, von der sie jetzt nicht ein Tüpfelchen auf den Wagen duldete) wurden in Bereitschaft gehalten, um sie desto wirksamer in ihrer zweiten Rolle zu verkleiden. Die Einfachheit und Schönheit ihres Costüms, die sichere Selbstbeherrschung mit der sie über die dichten Reihen von Angesichtern vor ihr hinsah, rief ein leises erwartungsvolles Beifallsgemurmel hervor. Sie trug —— nachdem sie ein augenblickliches Zittern überwunden hatte, ihre Worte mit einer ruhigen Deutlichkeit der Aussprache vor, welche für jedes Ohr verständlich war, und welche zugleich den günstigen Eindruck befestigte, den ihre Erscheinung hervorgerufen hatte. Die einzige Seele im Publicum, die mit Kälte auf sie sah und lauschte, war ihre ältere Schwester. —— Ehe noch die Schauspielerin des Abends fünf Minuten auf der Bühne war, entdeckte Nora zu ihrem unbeschreiblichen Erstaunen, daß Magdalene die schwächliche Milde des Charakters der Julie mit einem kühnen Griffe individualisiert hatte, indem sie sich dazu keine geringere Person, als —— sie selbst zum Muster genommen hatte, um ihre Rolle darnach zu gestalten. Sie sah alle ihre persönlichen äußerlichen Eigenheiten in Bewegung und Haltung ohne Scheu nachgeahmt und sogar von Zeit zu Zeit den Ton ihrer Stimme so genau copirt daß die Worte sie erschreckten, als hätte sie selbst gesprochen und hätte ein Echo auf der Bühne. Die Wirkung dieser rücksichtslosen Aneignung von Noras Persönlichkeit zu theatralischen Zwecken, äußerte sich beim Publikum, das natürlich nur die Erfolge sah, in einem Beifallssturme, als Magdalene abtrat. Sie hatte ganz unbestreitbar zwei Triumphe gleich in ihrer ersten Scene. Durch einen geschickten Staatsstreich der Mimik hatte sie aus einem der albernsten Charaktere im englischen Drama eine lebensvolle Gestaltung gemacht und hatte ein Publicum von zweihundert armen Menschen zu Begeisterung erhoben, welche verurtheilt waren, der Segnungen der Ventilation zu entbehren und Alle in ihrer eigenen animalischen Wärme zu verbraten. Wo ist eine Schauspielerin von Beruf, welche viel mehr zu leisten im Stande gewesen wäre —— unter solchen Umständen?

Aber das Ereigniß des Abends sollte erst noch kommen. Magdalenens Wiedererscheinen in Verkleidung am Ende des Actes in der Rolle der »Lucie«, Haar und Augenbrauen falsch, mit frisch rothem Gesicht und Schönheitspflästerchen auf den Wangen, mit den heitersten Farben in ihrer Kleidung und der kecksten Lebendigkeit in Stimme und Gebärden... machte das Publikum richtig stutzig. Man sah auf die Programme, auf denen die Darstellerin der Lucie unter einem angenommenen Namen aufgeführt war, sah wieder auf die Bühne, durchschaute endlich die Verkleidung und machte nun seinem Erstaunen in einer neuen Salve von Applaus Luft, lauter und herzlicher als die erste. Nora selbst konnte dies Mal nicht leugnen, daß der Tribut des Beifalls ein wohlverdienter war. Hier lag ein seltenes Talent für dramatische Gestaltung vor, das sich fest seinen Weg bahnte durch all seine Versehen aus Mangel an Bühnenerfahrung, das sich in jedem Blick und jeder Bewegung dieses Mädchens von achtzehn Jahren, das die Breter zum ersten Male in seinem Leben betrat, klar und offenkundig für den blödesten Zuschauer aussprach. Wenn sie sich auch in manchen kleinen Erfordernissen ihrer Doppelaufgabe, die sie übernommen, vergriff, so hatte sie doch in der Hauptsache das Rechte getroffen, der Geltendmachung der scharfen Unterschiede beider Charaktere. Jedermann fühlte, daß hierin die Schwierigkeit lag, Jedermann sah, daß die Schwierigkeit überwunden war, Jedermann stimmte nun auch ein in den Enthusiasmus des Regisseurs in der Probe, der sie als geborene Schauspielerin begrüßt hatte.

Als die Zwischencourtine zum ersten Male fiel, hatte Magdalene das ganze Interesses und die Zugkraft des Stückes in ihrer Person vereinigt. Das Publikum applaudierte aus Höflichkeit Miss Marrable, wie es sich für die Gäste geziemte, die in ihres Vaters Hause versammelt waren, und ermunterte mit Humor die übrigen Mitglieder der Gesellschaft, um ihnen über eine Aufgabe hinwegzuhelfen, welcher sie allzumal offenbar mehr oder weniger nicht gewachsen waren. Aber wie das Stück vorrückte, konnte Nichts mehr die Zuschauer zu einem aufrichtigen, selbständigen Zeichen von Theilnahme veranlassen, als Magdalene nicht mehr auf den Brettern war. Das ließ sich nicht verhehlen. Miss Marrable und ihre Busenfreunde waren alle insgesamt von diesem angeworbenen Neuling, den sie erst inständig aufgefordert hatten ihnen zu helfen, in den Schatten gestellt, herabgedrückt zu der Rolle als verlorene Posten! Und Dies an Miss Marrables eigenem Geburtstage! Und Dies in ihres Vaters Hause! All dem häuslichen Mißgeschick, welche die undankbare Theaterunternehmung über die Familie Marrable verhängt hatte, ward nunmehr die Krone aufgesetzt durch Magdalenens sieghaften Erfolg.

Mr. Vanstone und Nora am Schlusse des Stückes unter den Gästen im Speisesaale lassend, ging Miss Garth hinter die Scene, scheinbar als ob sie nachsehen wolle, sich irgendwie nützlich zu machen, in Wahrheit aber forschend, ob sich Magdalene durch die Triumphe des Abends nicht etwa habe den Kopf verdrehen lassen. Es würde Miss Garth nicht überrascht haben, wenn sie ihren Schützling dabei getroffen hätte, wie sie mit dem Regisseur wegen ihres demnächstigen Auftretens auf einem öffentlichen Theater unterhandelte. Wie es sich aber in Wahrheit verhielt, fand sie Magdalenen auf der Bühne, indem sie mit einem anmuthigen Lächeln eine Karte entgegennahm, welche ihr der Regisseur mit einer schulgerechten Verbeugung überreichte. Als der kleine Herr Miss Garths stumm fragenden Blick bemerkte, beeilte sich derselbe zu erklären, daß diese Karte seine eigene wäre und daß er nur um die Vergünstigung gebeten, sich Miss Vanstones Empfehlung für künftige Gelegenheiten versichert halten zu dürfen.

—— Es ist nicht das letzte Mal, daß die junge Dame bei Liebhabertheatern betheiligt sein wird, darüber bin ich vollkommen mit mir im Klaren —— sagte der Regisseur. Und wenn ein Ordner bei nächster Gelegenheit gebraucht wird, so hat sie mir freundlich versprochen, ein gutes Wort für mich einzulegen. Ich kann allezeit unter dieser Adresse aufgefunden werden, Miss.

Indem er dies gesagt, verneigte er sich abermals und entfernte sich bescheiden.

Unbestimmter Verdacht hatte sich aber einmal in Miss Garth festgesetzt, und sie fühlte sich gedrungen, einen Blick auf die Karte zu werfen. Es ging aber kein harmloseres Stück Kartenpapier aus einer Hand in die andere. Die Karte enthielt nur den Namen des Regisseurs und unter demselben Namen und Adresse eines Londoner Theateragenten.

—— Verlohnt sich nicht des Aufhebens, sagte Miss Garth.

Magdalene erfaßte aber ihre Hand, bevor sie die Karte wegwerfen konnte, bemächtigte sich ihrer im nächsten Augenblicke und steckte sie in die Tasche.

—— Ich habe ihm versprochen, ihn zu empfehlen, sagte sie, und Das ist ein Grund, die Karte aufzubewahren. Wenn es auch zu weiter nichts ist, so wird sie mich an den glücklichsten Abend meines Lebens erinneren, und Das ist ein zweiter. Kommen Sie ——, rief sie, indem sie mit fieberhafter Fröhlichkeit ihre Arme um Miss Garth schlang, —— wünschen Sie mir Glück zu meinem Erfolge!

—— Ich will Ihnen Glück wünschen, wenn Sie ihn erst wieder verwunden haben, sagte Miss Garth. ——

In einer halben Stunde hatte Magdalene ihre Kleidung gewechselt, hatte sich zu den Gästen gesellt und war nun von einer Atmosphäre von Gratulationen empor getragen worden, hoch und unerreichbar für den überwachenden Einfluß, den Miss Garth ausüben konnte. Frank, säumig in allen seinen Handlungen, war auch der Letzte der darstellenden Gesellschaft, welcher das Bereich der Bühne verließ. Er machte keinen Versuch, Magdalenen in dem Speisesaale nahe zu kommen, aber er war in der Halle mit ihrem Mantel bereit, als die Wagen befohlen wurden und die Gesellschaft aufbrach.

—— Ach, Frank? sagte sie, indem sie sich nach ihm umsah, als er ihr den Mantel umhing; —— ich bin so betrübt, daß Alles vorüber ist! Komm morgen früh und laß uns mit einander reden.

—— In den Buschanlagen um Zehn? — fragte Frank flüsternd.

Sie zog die Kapuze ihres Mantels empor und nickte ihm fröhlich zu. Miss Garth, welche daneben stand, bemerkte die zwischen beiden gewechselten Blicke, obschon das Stimmengewirr der Abschied nehmenden Gäste sie verhinderte, die Worte zu verstehen. Es war eine sanfte, unleugbare Zärtlichkeit in Magdalenens angenommener Fröhlichkeit der Haltung, eine zutrauliche Bereitwilligkeit der Hand, als sie Franks Arm nahm und hinaus zum Wagen ging. Was sollte Das heißen? Hatte ihr vorübergehendes Interesse an ihm als ihrem Schüler auf der Bühne verrätherischerweise die Saat eines tieferen Interesses an ihm als Mann gesäet? Hatte das eitle theatralische Schattenspiel, jetzt wo es vorüber war, ernstere Folgen zu verantworten als eine unnütze Zeitverschwendung?

Die Züge auf Miss Garths Angesicht wurden härter und düsterer, sie stand mitten unter dem scherzenden Haufen um sie her allein. Noras warnende Worte, an Mrs. Vanstone im Garten gerichtet, kamen ihr wieder in den Sinn, —— und jetzt zum ersten Male dämmerte der Gedanke in ihr auf, daß Nora doch wohl die Folgen in ihrem wahren Lichte geschaut hatte.



Kapiteltrenner

Siebentes Capitel.

Den andern Morgen ganz früh begegneten einander Miss Garth und Nora im Garten und sprachen vertraulich zusammen. Die allein wahrnehmbare Folge ihrer Unterredung, als sie sich am Frühstückstische einfanden, war das absichtliche Schweigen Beider in Betreff des Themas der theatralischen Ausführung. Mrs. Vanstone verdankte, was sie über jene Abendunterhaltung hörte, einzig und allein ihrem Gatten und ihrer jüngsten Tochter. Die Erzieherin und die ältere Tochter hatten sich augenscheinlich entschlossen, den Gegenstand ganz bei Seite zu lassen.

Als das Frühstück vorüber war, und die Damen sich wie gewöhnlich zusammen in das Morgenzimmer begaben, fand es sich, daß Magdalene fehlte. Ihre Gewohnheiten waren aber so wenig an eine feste Regel gebunden, daß Mrs. Vanstone über ihre Abwesenheit weder Verwunderung, noch Unruhe empfand. Miss Garth und Nora aber sahen sich bedeutsam an und warteten stillschweigend. Zwei Stunden vergingen, und noch war Nichts von Magdalenen zu sehen. Nora stand auf, als es Zwölf schlug, und verließ ruhig das Zimmer, um nach ihr zu sehen.

Sie war nicht oben im Hause, um ihren Schmuck zu putzen und ihre Gewänder zu ordnen. Sie war auch nicht im Treibhause, nicht im Blumengarten, nicht in der Küche, um die Köchin zu plagen, nicht im Hofe, um mit den Hunden zu spielen. War sie vielleicht mit dem Vater ausgegangen? Mr. Vanstone hatte jedoch bei Tische seine Absicht ausgesprochen, seinem alten Gesellschafter, Mr. Clare, einen Morgenbesuch abzustatten und den sarkastischen Unwillen des Philosophen durch eine Erzählung von der Theatervorstellung heraufzubeschwören. Keine von den anderen Damen auf Combe-Raven wagte einen Fuß in jene Besitzung zu setzen. Doch Magdalene war ja zu Allem fähig, und Magdalene konnte also dorthin gegangen sein. Als dieser Gedanke Nora in den Sinn kam, trat sie in die Buschanlagen.

Bei der zweiten Wendung, da wo der Weg unter den Bäumen in seinen Krümmungen sich aus dem Gesichtskreise des Hauses entfernte, stand sie plötzlich Angesicht zu Angesicht Magdalenen und Frank gegenüber. Sie wandelten zusammen in der Richtung auf sie zu, Arm in Arm, ihre Köpfe nahe beisammen, ihre Unterhaltung offenbar in leisem Tone führend. Sie sahen verdächtig hübsch und seelenvergnügt aus. Beim Anblick Noras blickten Beide überrascht und blieben stehen. Frank nahm in Verwirrung den Hut ab und wandte sich rückwärts nach seines Vaters Besitzung zu. Magdalene ging vorwärts ihrer Schwester entgegen, indem sie unbefangen ihren zusammengeklappten Sonnenschirm von einer Seite zur andern schwenkte und unbefangen eine Melodie aus der Ouverture, welche vor dem Aufgehen des Vorhanges den Abend vorher gespielt worden war, trällerte.

—— Ist es schon Zeit zum zweiten Frühstück!? sagte sie und sah dabei auf ihrer Uhr nach. Gewiß nicht?

—— Seid Ihr, Du und Mr. Francis Clare, in den Anlagen allein gewesen seit zehn Uhr? fragte Nora.

—— Mr. Francis Clare! Wie lächerlich förmlich Du doch bist! Warum nennst Du ihn nicht Frank (Fränzel)?

—— Ich habe eine Frage an Dich gerichtet, Magdalene ——.

—— O ich Gute, wie finster blickst Du heute Morgen!

Ich glaube, Du bist böse auf mich. Hast Du mir noch nicht vergeben, daß ich gestern Abend Dich gespielt habe? Ich konnte nicht anders, meine Liebe; ich würde aus Julien Nichts haben machen können, hätte ich Dich nicht zum Muster genommen. Es ist durchaus nur eine Frage der Kunst. An Deiner Stelle würde ich mich geschmeichelt gefühlt haben durch diese Wahl.

—— An Deiner Stelle, Magdalene, hätte ich mich doch zwei Mal bedacht, ehe ich meine Schwester vor einem fremden Publicum mimisch dargestellt hätte.

—— Gerade darum that ichs, weil vor einem fremden Publicum! Wie konnten diese Leute Dich kennen? Also wohl an, sei nicht böse! Du bist acht Jahre älter, als ich, Du solltest mir mit wirklichem Humor vorangehen.

—— Ich will Dir mit Offenheit vorangehen. Ich bin mehr, als ich sagen kann, darüber betroffen, Dich gefunden zu haben, wie ich Dich eben jetzt hier gefunden habe!

—— Was soll da herauskommen, ich bin doch begierig? Du trifft mich zu Hause in den Anlagen, wie ich über das Liebhabertheater mit meinem alten Spielkameraden spreche, welchen ich schon kannte, als ich nicht größer war, als dieser Sonnenschirm. Und Das ist nun wohl eine schreiende Unschicklichkeit, nicht wahr? Honi soit qui mal y pense. Du wolltest vor einer Minute eine Antwort, da hast Du sie, meine Theure, in dem gewähltesten Normannisch-Französisch.

—— Es ist mein voller Ernst, Magdalene ——!

—— Das glaube ich recht gern. Niemand kann von Dir sagen, daß Du jemals scherztest.

—— Ich bin im Ernst betroffen ——.

—— O meine Liebe!

—— Es ist ganz unnöthig, mich zu unterbrechen. Ich halte es für Gewissenspflicht, Dir zu sagen —— und ich will Dir sagen, —— daß ich darüber betroffen bin, wie ich diese Vertraulichkeit zunehmen sehen muß. Ich bin betroffen, bereits ein heimliches Einverständniß zwischen Dir und Mr. Francis Clare bestehen zu sehen.

—— Armer Frank! Wie mußt Du ihn allem Anschein nach hassen. Was in aller Welt hat er Dir gethan?

Noras Selbstbeherrschung war, das zeigte sich, beinahe zu Ende. Ihre dunklen Wangen glühten, ihre feinen Lippen zitterten, ehe sie wieder sprach. Doch Magdalene schenkte ihrem Sonnenschirm mehr Aufmerksamkeit, als ihrer Schwester. Sie warf ihn hoch in die Luft und fing ihn wieder auf.

—— Eins ——! sagte sie und warf ihn wieder in die Höhe.

—— Zwei ——! und sie warf ihn noch höher.

—— Drei ——!

Bevor sie ihn zum dritten Male auffangen konnte, ergriff sie Nora leidenschaftlich beim Arme, und der Sonnenschirm fiel zwischen sie Beide auf die Erde nieder.

—— Du behandelst mich herzlos! sagte sie. Schäme Dich, Magdalene, schäme Dich!

Der unwiderstehliche Ausbruch einer verschlossenen Natur, welche sich dazu gedrängt sieht, ihre geheime Kränkung offen auszusprechen, ist von allen sittlichen Mächten diejenige, der am schwersten Widerstand geleistet werden kann. Magdalene war plötzlich zum Schweigen gebracht. Einen Augenblick faßten sich beide Schwestern, die so unähnlich waren in Gestalt und Wesen, einander fest ins Auge, ohne daß ein Wort gesprochen wurde. Einen Moment waren die tiefbraunen Augen der älteren und die hellgrauen Augen der jüngeren Schwester fest auseinander gerichtet, Beide forschend, fest und unnachgiebig Noras Angesicht veränderte sich zuerst, Noras Haupt wandte sich zuerst hinweg. Sie ließ ihrer Schwester Arm fallen, schweigend. Magdalene bückte sich und hob ihren Schirm wieder auf.

—— Ich versuche meine Ruhe zu behalten —— sagte sie —— und Du nennst mich herzlos, weil ich es thue. Du warst immer hart gegen mich und wirst es immer sein.

Nora schlug ihre zitternden Hände schnell zusammen. —— Hart gegen Dich! —— sagte sie in tiefem, traurigem Tone und seufzte bitterlich.

Magdalette wandte sich ein wenig zurück und stäubte mechanisch ihren Schirm mit dem Zipfel ihres Gartenmantels ab.

—— Ja! erwiderte sie verstockt. Hart gegen mich und hart gegen Frank.

—— Frank! wiederholte Nora, ging auf ihre Schwester zu und erbleichte so plötzlich, als sie vorher roth geworden. Sprichst Du von Dir und Frank, als wären Eure Interessen schon eins geworden? Magdalene! wenn ich Dich verletzte, verletzte ich ihn da? Ist er Dir so theuer und so nahe, daß Dies wirklich der Fall ist?

Magdalene wandte sich weiter und weiter rückwärts. Ein Zweig von einem Baume faßte ihren Mantel: sie drehte sich ärgerlich um, brach ihn ab und warf ihn zur Erde.

—— Was für ein Recht hast Du, mich zu fragen? brach sie plötzlich heraus. Ob ich Frank gern habe, oder ob nicht, was geht das Dich an?

Als sie diese Worte sprach, schritt sie plötzlich vor, um an, ihrer Schwester vorüber nach dem Hause zurückzukehren.

Nora, die immer bleicher und bleicher wurde, vertrat ihr den Weg.

—— Wenn ich Dich mit Gewalt festhalte —— sagte sie —— sollst Du stehen und mich anhören. Ich habe diesen Francis Clare überwacht; ich kenne ihn besser als Du. Er ist nicht Werth, daß Du Deinerseits auch nur einen Augenblick ernstlich für ihn fühlst; er ist unwerth der Theilnahme unseres lieben, guten, weichherzigen Vaters an seinem Schicksale. Ein Mann von Grundsätzen, von Ehre, von Dankbarkeit würde nicht zurückgekommen sein, wie er zurückgekommen ist, der Achtung verlustig —— ja der Achtung verlustig wegen gedankenloser Versäumniß seiner Pflicht. Ich beobachtete sein Gesicht, als der Freund, der es besser als ein Vater mit ihm gemeint hat, ihn tröstete und ihm vergab mit einer Milde, die er nicht verdiente: ich beobachtete sein Angesicht, und ich sah keine Scham, keine Niedergeschlagenheit darin ——, ich sah Nichts als einen Blick undankbarer, herzloser Ruhe. Er ist selbstsüchtig, er ist undankbar, er ist unedel ——, kaum zwanzig Jahre alt hat er schon die schlimmsten Fehler des gereiften Alters. Und das ist der Mann, mit welchem ich Dich ins Geheim zusammen finde —— der Mann, der einen solchen Platz, in Deiner Gunst hat, daß Du für die Stimme der Wahrheit über ihn Dein Ohr verschließest, sogar aus meinem Munde! Magdalene, das wird ein schlechtes Ende nehmen. Um Gottes Willen beschwöre ich Dich, nimm zu Herzen, was ich Dir gesagt habe und wache über Dich selber, ehe es zu spät ist!

Sie hielt plötzlich und athemlos inne und faßte ihre Schwester angstbeklommen bei der Hand.

Magdalene blickte auf sie mit unverhohlenem Erstaunen. —— Du bist so heftig —— sagte sie —— und so ganz außer Dir, daß ich Dich gar nicht wiedererkenne. Je ruhiger ich bin, desto härtere Worte erhalte ich zum Lohne. Du hast einen verkehrten Haß gegen Frank gefaßt, und Du zürnst mir auf eine ganz unvernünftige Weise dafür, daß ich ihn nicht mit hasse. Laß mich, —— Nora! Du thust mir wehe an der Hand.

Nora stieß die Hand von sich mit dem Ausdruck der Verachtung.

—— Ich werde Deinem Herzen nie wehe thun, sagte sie und wandte Magdalenen plötzlich den Rücken zu, als sie diese Worte sprach.

Es entstand eine augenblickliche Pause. Nora blieb in ihrer Stellung. Magdalene sah auf sie in Verwirrung hin, zauderte und ging dann vor sich hin nach dem Hause zu.

Bei der Wendung in dem Buschwege hielt sie an und sah sich unruhig um.

—— O Gott, Gott, dachte sie bei sich selber, warum ging nur auch Frank nicht, als ich es ihm sagte? ——

Sie zögerte und ging ein paar Schritte zurück.

—— Dort steht Nora und behauptet ihre Würde, so hartnäckig, wie immer.

Sie blieb wieder stehen.

—— Was kann ich Besseres thun? Ich hasse Zank und Streit: ich denke, ich will ein Ende machen.

Sie ging nahe an ihre Schwester heran und berührte sie an der Schulter. Nora rührte sich nicht.

—— Sie kommt nicht leicht in Aufregung, dachte Magdalene und berührte sie noch ein Mal, aber wenn sie ein Mal hineinkommt, wie lange hält das an! Komm doch! sagte sie, gib mir einen Kuß, Nora, und mach ein Ende. Willst Du mir kein anderes Fleckchen von Dir gönnen, meine Liebe, als hinten im Nacken? Gut, es ist ei allerliebster Nacken, er verdient eher einen Kuß, als der meine, und.... da hast Du den Kuß wider Deinen Willen!

Sie faßte Nora von hinten und führte jene Liebkosung wörtlich aus, vollständig außer Acht lassend, was eben erst vorgefallen war. Ihre Schwester war weit entfernt, das Gleiche zu thun. Gleichwohl hatte kaum eine Minute vorher die warme Aufwallung von Noras Herzen alle Dämme in ihrem inneren überstiegen. Hatte die eisige Ruhe sie schon wieder durchkältet? Das war schwer zu entscheiden. Sie sprach nichts mehr, sie veränderte ihre Stellung nicht, sie suchte nur hastig ihr Taschentuch. Als sie es herauszog, ließ sich ein Geräusch von näher kommenden Schritten in den entlegenen Theilen des Gebüsches vernehmen. Ein schottischer Dachshund kam in Sicht gelaufen, und eine fröhliche Stimme sang die ersten Strophen des Scherzliedes aus Shakespeares »Wie es Euch gefällt«.

[ Unter des Laubdachs Hut
Wer gerne mit mir ruht
Und stimmt der Kehle Klang
Zu lust'ger Vögel Sang:
Komm' geschwind! Geschwinde geschwinde!
Hier nagt und sticht
Kein Feind ihn nicht,
Als Wetter, Regen und Winde!
(Nach Schlegel und Tieck.) W.
]

—— Das ist der Vater! rief Magdalene. Komm, Nora, komm und geh ihm mit entgegen.

Anstatt ihrer Schwester zu folgen, schlug Nora den Schleier ihres Gartenhutes nieder, wandte sich nach der entgegengesetzten Seite und eilte in das Haus zurück.

Sie flog in ihr Zimmer, schloß sich ein und weinte bitterlich.



Kapiteltrenner

Achtes Capitel.

Als Magdalene mit ihrem Vater in den Buschanlagen zusammenkam, zeigte Mr. Vanstones Angesicht offenbar, daß, seitdem er am Morgen das Haus verlassen hatte, Etwas vorgefallen sein mußte, worüber er sich freute. Er antwortete auf die Frage, welche seine Tochter, neugierig wie immer, sofort an ihn richtete, indem er ihr erzählte, daß er soeben aus Mr. Clares Besitzung herkomme, und daß er an diesem so wenig verheißenden Orte eine erstaunliche Neuigkeit für die Familie auf Combe-Raven aufgelesen habe.

Beim Eintritt in das Studierzimmer des Philosophen hatte Mr. Vanstone diesen Morgen Letzteren noch bei seinem verspäteten Frühstück angetroffen, neben sich statt des sonst bei seinen Mahlzeiten ganz unvermeidlichen Buches einen offenen Brief. Er hielt den Brief empor, als der Besuch just ins Zimmer trat, und eröffnete die Unterhaltung damit, daß er Mr. Vanstone frug, ob seine Nerven in gutem Stande seien, und er sich stark genug fühle für den Eindruck einer schier ausbündigen Ueberraschung.

—— Meine Nerven? wiederholte Mr. Vanstone. Gott sei Dank, ich weiß Nichts von meinen Nerven. Wenn Sie mir Etwas zu erzählen haben, Eindruck hin, Eindruck her, heraus damit auf der Stelle.

Mr. Clare hielt den Brief noch ein wenig höher und sah seinen Gast über den Frühstückstisch hin finster an.

—— Was habe ich Ihnen immer gesagt? frug er mit der mürrischsten Feierlichkeit in Blick und Wesen.

—— Vielmehr, als ich in meinem Kopfe behalten konnte —— antwortete Mr. Vanstone.

—— In Ihrer Gegenwart und auch sonst, fuhr Mr. Clare fort, habe ich immer behauptet, daß die eine wahrhaft bedeutungsvolle Thatsache, welche die heutige Gesellschaft darbieten das außerordentliche Glück der Narren ist. Geben Sie mir einen einzelnen Narren, und ich will Ihnen sofort eine zusammengewürfelte Gesellschaft zeigen, welche diesen Günstling neun Mal unter zehn den Preis gewinnen läßt, ihn das eine zehnte Mal selbst dem weisesten Manne, der nur auf der Welt ist, mißgönnt. Blicken Sie, wohin Sie wollen: aus jedem hohen Posten sitzt ein Esel, auf dieser Stelle entrückt dem Bereiche der klügsten Leute dieser Welt, die ihn etwa herunterstoßen könnten. Ueber unserm ganzen gesellschaftlichen Systeme sitzt an höchster Stelle und gibt Gesetze die gefällige Unfähigkeit, pntzt vollständig straflos das Forscherlicht des Geistes aus und ruft tm Eulentone zur Antwort auf Beschwerden jeder Art: Seht, wie wohl wir uns im Dunkeln befinden! Eines Tages wird diese kühne Behauptung durch die That Lügen gestraft werden, und der ganze verrottete Bau der heutigen Gesellschaft wird krachend zusammenstürzen.

—— Gott bewahre uns! rief Mr. Vanstone und blickte um sich, als wäre der Umsturz schon im Anzuge.

—— Krachend zusammenstürzen, wiederholte Mr. Clare. Das ist mein Lehrsatz in wenig Worten. Was nun die merkwürdige Anwendung desselben anlangt, die dieser Brief enthält: da ist mein Schlinge! von Sohn....

—— Sie meinen doch nicht, daß Frank eine neue Aussicht hat? rief Mr. Vanstone aus.

—— Da ist dieser vollständig hoffnungslose Schlinge! Frank fuhr der Philosoph fort. Er hat in seinem Leben niemals Etwas dazu gethan, sich selber fortzuhelfen, und nun in nothwendiger Schlußfolgerung hat sich die Gesellschaft das Wort gegeben, ihn auf den Gipfel des Baumes zu heben. Er hat kaum Zeit gehabt, die Aussicht, welche er Ihnen zu verdanken hat, zu Schanden werden zu lassen, da kommt dieser Brief und wirft ihm zum zweiten Male den Glücksapfel vor die Füße. Mein reicher Anverwandter, welcher wegen seiner geistigen Fähigkeiten sich höchstens für den hintersten Nachtrab der Gesellschaft eignet und daher selbstverständlich an die Spitze der Letzteren gestellt ist —— ist so gut gewesen, sich meines Daseins aus der Welt zu erinneren, und hat mir seinen Einfluß zur Verfügung gestellt zu Gunsten meines ältesten Sohnes. Lesen Sie seinen Brief und merken Sie dann auf die Folge der Ereignisse. Mein reicher Vetter ist ein Tölpel, der mit Glück in Ländereien macht; er that Etwas für einen andern Tölpel, welcher in Politik macht; dieser kennt einen dritten Tölpel, der in kaufmännischen Geschäften macht. Letzterer kann Etwas thun für einen vierten Tölpel, der gegenwärtig in Nichts macht und der Frank heißt. So geht die Mühle. So ist der Rahm von allen menschlichen Ehren nur dazu da, daß die endlosen Schaaren der Narren ihn abschöpfen. Ich werde Frank morgen nach London aufpacken. Im Laufe der Zeit wird er uns wieder zu Händen kommen, wie ein schlechter Schilling. Dann werden ihm weitere Glücksumstände in den Schoos fallen, wie es seine verdienstvolle Unfähigkeit nothwendig mit sich bringt. Jahre werden vergehen, —— ich werde es nicht mehr erleben, eben sowenig Sie selbst ——, das thut Nichts Franks Zukunft ist nun einmal sicher auf die eine oder die andere Weise. Stecken Sie ihn in die Armee, die Kirche, Politik, wohin Sie wollen, und lassen Sie ihn seinen Weg machen. Er wird zuletzt doch General, Bischof, Staatsminister kraft der großen heutzutage geltenden Befähigung und Berechtigung zu den genannten Posten —— durch Nichtsthun. ——

Mit diesem Gesammtabriß von seines Sohnes weltlichen Aussichten warf Mr. Clare den Brief verächtlich über den Tisch und schenkte sich noch eine Tasse Thee ein.

Mr. Vanstone las den Brief mit reger Theilnahme und Herzensfreude. Er war geschrieben in dem Tone etwas förmlicher Herzlichkeit, aber die praktischen Vortheile, welche er zu Franks Verfügung stellte, waren außer allem Zweifel. Der Schreiber hatte Gelegenheit, sich des Einflusses eines in nicht gewöhnlicher Art bei einem großen Handlungshause in der Hauptstadt (London) betheiligten Freundes bedienen zu können, und er hatte diese seine werthvolle Verbindung zu Gunsten von Mr. Clares ältestem Sohne zu benutzen gewußt. Frank sollte im Comptoir nicht in der Eigenschaft eines gewöhnlichen Schreibers angestellt werden, er sollte »vorwärts gebracht werden« bei der ersten vorkommenden Gelegenheit, und der erste »gute Posten«, welchen das Haus entweder daheim oder im Auslande zu bieten hätte, sollte ihm zur Verfügung gestellt werden. Wenn er hübsche Fähigkeiten mitbrächte und nur einen gewöhnlichen Grad von Fleiß in der Handhabung derselben an den Tag legte, so sei sein Glück gemacht, und je eher er nach London zum Antritt geschickt werden könnte, desto besser würde es in seinem eigenen Interesse sein.

—— Wundervolle Neuigkeiten! rief Mr. Vanstone, indem er den Brief zurückgab. Ich bin erfreut, ich muß wieder heim gehen und es zu Hause erzählen. Das ist eine fünfzig mal bessere Aussicht, als die meinige war. Was zum Henker meinten Sie nur mit Ihrer »Mißwirthschaft im Staate«? Die Gesellschaft befindet sich nach meiner Ansicht ganz ungewöhnlich wohl. Wo ist Frank?

—— Er lungert umher, sagte Mr. Clare. Es ist eine von den unerträglichsten Eigenheiten solcher Schlingel, daß sie immerfort umher lungern. Ich habe meinen Schlingel heute früh noch nicht gesehen. Wenn Sie ihn irgendwo treffen, so geben Sie ihm einen Rippenstoß und sagen Sie ihm, daß ich ihn sehen will.

Mr. Clares Meinung von seines Sohnes Gewohnheiten konnte füglich seiner in der Form ausgesprochen werden; aber was das Thatsächliche anlangt, so traf es sich an diesem merkwürdigen Morgen, daß sie im Wesentlichen ganz und gar auf Wahrheit beruhte. Als nämlich Frank Magdalenen verlassen hatte, wartete Frank in den Buschanlagen in gemessener Entfernung, für den Fall, daß sie sich von der Gesellschaft ihrer Schwester losmachen und wieder zu ihm kommen würde. Mr. Vanstones Erscheinen unmittelbar nach dem Weggange Noras hatte ihn, anstatt zu ermuntern zum Vorschein zu kommen, veranlaßt, zu seines Vaters Wohnung zurückzukehren. Er schlenderte mißvergnügt heimwärts und fiel so seinem Vater geradewegs in die Hände, ganz und gar unvorbereitet auf die an diesem furchtbaren Orte seiner harrende Ankündigung seiner Abreise nach London.

Mittlerweile hatte Mr. Vanstone seine Nachricht ebenfalls, und zwar in erster Linie Magdalenen mitgetheilt, dann nach seiner Rückkehr ins Haus seiner Gattin und Miss Garth. Er war ein Mann von zu wenig Beobachtung, als daß er bemerkt hätte, wie Magdalene ganz unerwartet verwirrt wurde und Miss Garth ganz unerwartet freudig auflebte. Beide in Folge seiner Meldung von Franks Glückszug. Er sprach sich darüber ganz arglos aus, bis die Glocke zum zweiten Frühstück rief, und jetzt zum ersten Male bemerkte er Noras Abwesenheit. Sie ließ, als man bei Tische war, heruntersagen, ein Kopfweh halte sie auf ihrem Zimmer zurück. Als Miss Garth kurze Zeit darauf hinaufging, um ihr die Nachricht über Frank zu überbringen, schien Nora sonderbar genug nicht eben angenehm berührt, dies zu hören. Mr. Francis Clare sei nun schon bei einer andern Gelegenheit, bemerkte sie, weggegangen und doch wiedergekommen. Er werde wohl dies Mal auch wiederkommen, und zwar eher vielleicht, als Jemand von ihnen es dächte. Sie sprach sich darüber nicht weiter aus; über das, was in den Buschanlagen vorgefallen, ließ sie sich keine Sylbe entschlüpfen. Ihre undurchdringliche Verschlossenheit schien sich nach dem Gefühlsausbruche von dem Morgen nur noch verstärkt zu haben. Sie begegnete Magdalenen im Laufe des Tages, als ob Nichts vorgefallen wäre: eine förmliche Versöhnung fand zwischen Beiden nicht statt. Es war eine von Noras Eigenheiten daß sie allen Versöhnungsscenen welche offen vor sich gingen, immerdar auswich und lieber ihre Zuflucht zu Versöhnungen nahm, welche in der Stille geschahen. Magdalene sah deutlich an ihrem Blick und Wesen, daß sie zum ersten und letzten Male eine Einrede versucht habe. Ob der Beweggrund Stolz, Heimtücke, Mißtrauen gegen sich selbst oder mangelnde Aussicht auf Erfolg war, die Thatsache blieb außer allem Zweifel: Nora hatte sich entschlossen, für die Zukunft sich jeder Einmischung zu enthalten.

In den späteren Nachmittagsstunden schlug Mr. Vanstone seiner älteren Tochter eine Ausfahrt als das beste Mittel gegen ihr Kopfweh vor. Sie war gern bereit, ihren Vater zu begleiten. Dieser wünschte darauf wie gewöhnlich, daß Magdalene mitfuhren sollte. Magdalene war nirgends zu finden. Zum zweiten Male an dem Tage war sie für sich allein in die Anlagen gegangen. Bei dieser Gelegenheit hatte Miss Garth, welche, nachdem sie Noras Ansicht angenommen, von einem Extrem ins andere gefallen war, erst Frank ganz und gar übersehen hatte und nunmehr auf ein Mal ihn für fähig hielt, in fünf Minuten den Plan zu einer Entführung fertig zu bringen, sich erboten, sofort wegzugehen und ihr Möglichstes zu thun, die vermißte junge Dame aufzufinden. Nach einer längeren Abwesenheit kehrte sie unverrichteter Sache zurück, im Herzen vollkommen überzeugt, daß Magdalene und Frank sich ins Geheim irgendwo getroffen hätten, aber ohne das kleinste Stück eines Beweises zur Bestätigung dieses ihres Verdachtes. Inzwischen stand der Wagen vor der Thür, und Mr. Vanstone mochte nicht länger warten. Er und Nora fuhren also zusammen weg, und Mrs. Vanstone und Miss Garth saßen zu Hause bei ihrer Arbeit.

Ein halbe Stunde darauf trat Magdalene ruhig ins Zimmer. Sie war bleich und niedergeschlagen. Miss Garths Vorstellungen nahm sie mit trüber Miene und ohne sonderlich darauf zu achten, hin, gab an, daß sie im Holze gewesen, nahm einige Bücher zur Hand und legte sie wieder hin, seufzte ungeduldig und ging endlich fort in ihr Zimmer hinauf.

—— Ich denke, Magdalene fühlt die Rückwirkung von gestern, sagte Mrs. Vanstone ruhig. Es ist, wie wir gesagt haben. Nun die theatralischen Festlichkeiten vorüber sind, verlangt sie unbefriedigt nach mehr. Jetzt bot sich eine Gelegenheit dar, Mrs. Vanstone ein Licht aufzustecken, eine Gelegenheit, welche zu günstig war, als daß sie unbenutzt vorüber gehen durfte. Miss Garth befragte ihr Gewissen, ersah sich ihren Vortheil und nahm ihn auf der Stelle wahr.

—— Sie vergessen —— begann sie wieder —— daß ein gewisser Nachbar von uns morgen weggehen soll. Soll ich Ihnen die Wahrheit sagen? Magdalene ist unzufrieden über den Weggang Francis Clares.

Mrs. Vanstone sah mit einem anmuthigen verwunderten Lächeln von ihrer Arbeit auf.

—— Warum nicht gar? sagte sie. Es ist ganz natürlich, wenn Frank sich von Magdalenen angezogen fühlen sollte, aber ich kann mir nicht denken, daß Magdalene dies Gefühl erwidert. Frank ist ihr so unähnlich, so ruhig und ohne Leben, so unbehilflich und schwerfällig in manchen Stücken, der arme Mensch. Er ist hübsch, das weiß ich; aber er ist Magdalenen so durchaus unähnlich, daß ich es nicht für möglich halten kann, wahrhaftig nicht!

—— Meine liebe gute Gnädige! rief Miss Garth in großem Erstaunen, glauben Sie wirklich, daß sich die Menschen nur lieben, wenn ihre Charaktere ähnlich sind? In der weitaus größten Zahl von Fällen ist es gerade umgekehrt. Männer nehmen die unbedeutendsten Frauen und Frauen die unbedeutendsten Männer, von denen ihre Freunde nicht geglaubt hätten, daß sie sich um dieselben im Mindesten kümmern würden. Gibt es ein Wort, das man öfter spricht als: »Was kann Mr. Soundso nur in aller Welt veranlaßt haben, jene Frau zu nehmen?« oder: »Wie konnte Mrs. Soundso sich so an jenen Mann wegwerfen?« Hat Ihnen alle Ihre Lebenserfahrung noch nicht gezeigt, daß Mädchen eine ganz verkehrte Leidenschaft für Männer empfinden, welche ihrer ganz und gar unwürdig sind?

—— Sehr wahr —— versetzte Mrs. Vanstone ruhig. —— Ich vergaß das. Doch läßt sich das wohl nicht bestimmt voraussehen, nicht wahr?

—— Nicht bestimmt voraussehen, weil es alle Tage vorkommt! wandte Miss Garth mit Humor ein. Ich kenne eine hübsche Anzahl Menschen, welche ebenso aller Erfahrung zum Trotze urtheilen, welche des Morgens die Zeitungen lesen und des Abends leugnen wollen, daß es in unserm modernen Leben romantischen Stoff genug für Dichter und Maler gibt. Im Ernste, Mrs. Vanstone, Sie können meinen Worten glauben: Dank diesem leidigen Liebhabertheater macht Magdalene mit Frank dasselbe durch, was viele junge Damen vor ihr auch schon durchgemacht haben. Er ist ganz und gar ihrer unwerth, er ist in jeder Hinsicht ihr gerades Widerspiel, und gerade eben deshalb ist sie, ohne es zu wissen, verliebt in ihn. Sie ist entschlossen und Ungestüm, gescheidt und befehlerisch, sie ist keine von den Durchschnittsfrauen, welche einen Mann brauchen, zu dem sie aufblicken und in dessen Schutz sie sich stellen können; ihr Ideal ist —— vielleicht ihr selbst unbewußt —— ein Mann, den sie gängeln und hänseln kann. Gut! ein Trost ist, es gibt noch weit bessere Männer, sogar von dieser Art, als Frank ist. Es ist ein Glück, daß er fort muß, bevor wir noch mehr Noth mit ihm haben und bevor ein ernstliches Unglück geschehen ist.

—— Der arme Frank! sagte Mrs. Vanstone mit theilnehmendem Tone. Wir haben ihn gekannt von der Zeit an, wo er in der Jacke und Magdalene im Kinderröckchen umherliefen. Geben wir ihn noch nicht auf. Er wird doch dies zweite Mal gut thun.

Miss Garth sah voll Erstaunen auf.

—— Wohl, und wenn er gut thut ——, fragte sie. Was dann?

Mrs. Vanstone schnitt einen losen Faden an ihrer Arbeit ab und lachte hell auf.

——— Meine gute Freundin, sagte sie, es ist eine alte Bauernregel, daß wir gewarnt sein sollen, unsere Küchlein zu zählen, bevor sie ausgebrütet sind. Lassen Sie uns noch ein wenig warten, ehe wir unsere zählen.

Es war nicht leicht, Miss Garth zum Schweigen zu bringen, wenn sie im Drange einer festen Ueberzeugung ins Sprechen gekommen war; allein diese Erwiderung Verschloß ihr den Mund. Sie nahm ihre Arbeit wieder auf und blickte und dachte dabei Unaussprechliche Dinge.

Mrs. Vanstones Benehmen war unter diesen Umständen gewiß merkwürdig. Da auf der einen Seite war ein Mädchen mit großen persönlichen Reizen, mit seltenen Vermögensaussichten, mit einer so bedeutenden gesellschaftlichen Stellung, daß sich der beste Gentleman der Nachbarschaft sich nicht zu schämen brauchte, ihr einen Heirathsantrag zu machen, ein Mädchen, das sich jetzt wegwarf an einen unbedeutenden jungen Menschen ohne einen Pfennig im Vermögen, welcher bei seinem ersten Austritt ins Leben Nichts hatte erreichen können, und welcher, selbst wenn er bei seinem zweiten Versuche mehr Glück hatte, Jahre lang warten mußte, ehe er eine Stellung hatte, um eine junge Dame von Vermögen heirathen und ihr das gleiche Vermögen bieten zu können. Und dort aus der andern Seite war die Mutter dieses Mädchens, die durchaus nicht abgeschreckt war bei der Aussicht auf eine Verbindung, welche, um es am gelindesten auszudrücken, nicht entfernt wünschenswerth war, die ferner, wenigstens nach ihren Worten und Gebahren zu urtheilen, durchaus nicht der Ueberzeugung war, daß eine Heirath zwischen Mr. Vanstones Tochter und Mr. Clares Sohne eben keine schöne Folge des vertraulichen Verhältnisses beider jungen Leute sei, wie die Aeltern auf beiden Seiten wohl wünschen könnten! Es war im höchsten Grade sonderbar. Es war so unverständlich, als jenes frühere Geheimniß, jenes nunmehr vergessene Geheimnis die Reise nach London.

Am Abend erschien Frank und zeigte an, daß sein Vater ihn ohne Gnade verurtheilt habe, Combe-Raven mit dem Parlamentszuge morgen früh zu verlassen. Er brachte dies mit der Miene weicher Entsagung und Ergebung vor und hörte Mr. Vanstones überschwängliche Freudenbezeigungen betreffs seiner neuen Aussichten mit sanfter, aber lautloser Ueberraschung an. Sein schwermüthiges Schmachten in Blick und Haltung zeigte seine persönlichen Vorzüge in besonders vortheilhaftem Lichte. In seiner weiblichen Milde sah er an dem Abende hübscher denn je aus. Seine sanften braunen Augen wanderten mit schmelzender Weichheit im Zimmer umher; sein Haar war schön gebürstet, seine feinen Hände hingen über die Lehnen seines Sessels mit anmuthiger Lässigkeit herab. Er sah aus wie ein in Genesung begriffener Apollo. Niemals hatte er vordem die gesellschaftliche Kunst, die er gewöhnlich übte, die Kunst, sich der Gesellschaft in dem Charakter eines gut erzogenen Alps aufzuerlegen, welcher die Leute zu drücken geruhe, mit besserem Erfolge ausgeführt. Es war ohne Frage ein trübseliger Abend. Die Last der Unterhaltung fiel Mr. Vanstone und Miss Garth zu. Mrs. Vanstone war meistens still. Nora hielt sich hartnäckig im Hintergrund, Magdalene war ruhig und weniger lebhaft, als jemals zuvor. Von Anfang bis zuletzt blieb sie kalt auf ihrer Hut. Die wenigen bedeutungsvollen Blicke, welche sie auf Frank warf, leuchteten über ihn hin wie Blitze und waren vorüber, ehe ein Dritter dieselben bemerken konnte. Sogar als sie ihm den Thee brachte und sie dabei ihre Selbstbeherrschung für einen Augenblick insoweit verleugnete, daß sie der Versuchung nachgab, der Versuchung, der kein Weib widerstehen kann, den Mann zu berühren, den es liebt: sogar da hielt sie den Sahnegießer so geschickt, daß derselbe ihre Hand deckte. Franks Selbstbeherrschung war weit weniger gut geschult: sie dauerte nur so lange an, als er sich ruhig verhielt. Als er sich erhob, um zu gehen, als er den sanften Druck von Magdalenens Fingern um seine Hand fühlte und die Locke von ihrem Haar, die sie ihm in demselben Augenblicke zusteckte, wurde er ungeschickt und verwirrt. Er würde vielleicht Magdalenen und sich verrathen haben, wenn nicht Mr. Vanstone gewesen wäre, der in aller Unschuld seinen Rückzug deckte, indem er hinter ihm drein ging und ihn fortwährend auf die Schultern klopfte.

—— Gott gebe Dir seinen Segen, Frank! —— rief die freundliche Stimme, welche für Niemand in der Welt einen rauhen Ton hatte. Das Glück wartet auf Dich. Geh, mein Junge, geh nur frisch drauf los und gewinne es!

—— Ja, sagte Frank, Ich danke Ihnen. Es wird freilich im Anfange schwer sein, drauf los zu gehen und zu gewinnen. Uebrigens haben Sie mir immer gesagt, es ist die Sache eines Mannes, seine Schwierigkeiten im Sturme zu nehmen und keine Worte weiter darüber zu verlieren.... Zugleich wünschte ich freilich, ich fühlte mich nicht so schwach, wie es der Fall ist, in den Ziffern. Es ist sehr entmuthigend, sich so schwach zu fühlen in seinen Ziffern ...... O ja, ich will Ihnen schreiben und erzählen, wie es mit mir geht... Ich bin Ihnen für Ihre Güte sehr verbunden und bedaure sehr, daß es mit dem Baufache nicht ging. Ich denke, ich hätte das Baufach wohl noch lieber gehabt, als den Handel. Das kann nun Nichts mehr helfen, nicht wahr?.... Ich danke Ihnen nochmals. Leben Sie wohl.

So trieb er fort, willenlos in seine dunkle kaufmännische Zukunft hinein —— ebenso ziel- und hoffnungslos, ebenso äußerlich anständig, wie immer.



Kapiteltrenner

Neuntes Capitel.

Drei Monate vergingen. Während dieser Zeit verblieb Frank in London, kam seinen neuen Obliegenheiten nach und schrieb von Zeit zu Zeit versprochenermaßen an Mr. Vanstone, um ihm über sich selber Bericht zu erstatten.

Seine Briefe athmeten nicht etwa Begeisterung über seine kaufmännischen Beschäftigungen. Er schilderte sich als fort und fort herzlich schwach in Betreff der Zahlen. Er sei nun auch mehr denn je mit sich klar, —— jetzt wo es doch leider zu spät sei, —— daß er das Baufach dem Handel vorziehe. Trotz dieser seiner inneren Ueberzeugung, trotz der Kopfschmerzen, welche ihm das Sitzen auf einem hohen Schreibstuhle und das fortwährende Blicken über die Contobücher in ungesunder Luft verursache, trotz seines Mangels an Gesellschaft, seiner hastigen Frühstücke, seines schlechten Tisches in Speisehäusern sei, seine Sorgfalt im Dienst streng regelmäßig und sein Fleiß am Pulte unermüdlich. Man möge nur an den Vorstand der Abtheilung, in der er arbeite, sich wenden, wenn man eine Bestätigung dieser seiner Angaben haben wollte. Das war der allgemeine Sinn seiner Briefe, und Franks Adressat und Franks Vater waren über ihn in ihrer Meinung so weit auseinander, wie gewöhnlich. Mr. Vanstone nahm seine Briefe hin als eben soviel Beweise von der stetigen Entwickelung eines betriebsamen Strebens bei dem Schreiber derselben. Mr. Clare aber nahm seinen Standpunct gerade in der ihn kennzeichnenden entgegengesetzten Richtung.

—— Diese Londoner Menschen, sagte der Philosoph, machen mit solchen Schlingeln nicht viel Federlesens. Sie haben Frank einmal fest bei den Ohrläppchen gefaßt, er kann sich nicht vom Flecke rühren, und er macht nun aus der Noth eine Tugend.

Der Zeitraum von drei Monden als Probezeit für Frank in London vergingen in dem Hauswesen auf Combe-Raven weniger heiter als gewöhnlich.

Als der Sommer näher und näher rückte, wurde Mrs. Vanstones Lebensmuth trotz der kräftigen Anstrengungen die sie machte, um sich zu bezwingen, von Tage zu Tage geringer.

—— Ich thue mein Möglichstes, sagte sie zu Miss Garth; ich möchte meinem Gatten und den Kindern ein Beispiel von Fröhlichkeit geben, aber ich fürchte den Juli. ——

Noras geheime Sorgen um ihre Schwester machten sie selber, je weiter das Jahr vorrückte, noch ernster und unmittheilsamer als gewöhnlich. Sogar Mr. Vanstone verlor, als der Juli herankam, etwas von seiner gewöhnlichen geistigen Spannkraft. In der Gegenwart seiner Gattin nahm er sich zwar äußerlich zusammen, aber bei allen anderen Gelegenheiten hatte sich ein merklicher trüber Schatten auf seine Stirn gelagert und sein Benehmen verändert. Magdalene vollends war, nachdem Frank weggegangen war, so verändert, daß sie die allgemeine Gedrücktheit der Geister nur noch vermehrte, statt sie zu verscheuchen. Alle ihre Bewegungen waren langsam geworden, alle ihre gewöhnlichen Beschäftigungen wurden mit derselben lebensmüden Gleichgültigkeit betrieben, und sie brachte ganze Stunden einsam auf ihrem Zimmer zu. Das Interesse an ihrer Erscheinung erlitt empfindliche Einbuße, da sie sich nicht mehr in heitere Farben und mit Sorgfalt kleidete. Ihre Augen verloren ihre Beweglichkeit, ihre Nerven wurden reizbar, ihre Farbe veränderte sich auch zusehends nicht zum Besten: kurz, sie wurde sich und Allen um sie herum zur Last und zum Ueberdruß. —— So tapfer nun auch Miss Garth gegen diese wachsenden Schwierigkeiten im Hause ankämpfte, so litt doch ihr frischer Muth unter dieser Anstrengung. Ihre Gedanken kehrten öfterer und öfterer zu dem Märzmorgen zurück, wo der Herr und die Frau vom Hause nach London abgereist waren und wo das erste ernste Ereigniß seit einer Reihe von Jahren seine Schatten auf das Stillleben der Familie geworfen hatte. Wann sollten jene Schatten wieder weichen? Wann sollten jene Wolken, die den Umschwung hervorgebracht hatten, hinwegziehen und der Sonnenschein vergangener glücklicherer Tage bei ihnen wieder einkehren? ——

Der Lenz und der Frühsommer gingen vorüber. Der gefürchtete Julimonat kam mit seinen windstillen Nächten, seinen unbewölkten Morgen und seinen schwülen Tagen.

Am 15. des Monats ereignete sich Etwas, das Jedermann, nur nicht Nora, in Erstaunen setzte Zum zweiten Male ohne den geringsten in die Augen springenden Grund, zum zweiten Male ohne eine vorausgehende Anzeige oder Andeutung erschien Frank urplötzlich wieder im Hause seines Vaters!

Mr. Clares Lippen öffneten sich schon, um die Rückkehr seines Sohnes mit dem alten Liede vom »schlechten Schilling« zu begrüßen, schlossen sich aber wieder, ohne ein Wort vorzubringen. Es war in Franks Wesen eine auffallende Ruhe und Sicherheit, welche zu erkennen gab, daß er dies Mal ganz andere Nachrichten zu bringen hatte, als die von seiner Entlassung. Er beantwortete seines Vaters sardonisch forschenden Blick durch die sofortige Erklärung, daß ihm diesen Morgen auf dem Comtoir ein sehr wichtiger Antrag zu seinem künftigen Besten gemacht worden sei. Sein erster Gedanke sei gewesen, die Einzelheiten desselben brieflich zu melden, allein die Geschäftstheilhaber hätten bei besserer Ueberlegung gemeint, die nothwendige Entscheidung sei doch rascher zu erreichen durch eine persönliche Unterredung mit seinem Vater und seinen Freunden. Er habe daher seine Feder bei Seite gelegt und sich sofort auf die Eisenbahn gesetzt.

Nach dieser einleitenden Angabe ging Frank auf den Antrag selber, welchen seine Principale ihm gemacht hatten, näher ein, zeigte aber durch seine Mienen an, daß er denselben in jeder Hinsicht im Lichte einer kaum überwindlichen Schwierigkeit betrachte.

Die große Firma in der City von London hatte in Beziehung auf ihren Mitarbeiter eine Beobachtung gemacht, welche der Entdeckung aufs Haar ähnlich sah, die sich dem Baumeister in Bezug auf seinen Schutzbefohlenen aufgedrängt hatte. Bei dem jungen Manne war, wie sie es höflich ausdrückten, ein besonderes Reizmittel um ihn aufzustacheln, nöthig. Seine Principale hatten nun, indem sie dadurch ihrer Verpflichtung gegen den Herrn, welcher Frank empfohlen hatte ——, am Besten nachzukommen glaubten die Sache sorgfältig in Erwägung gezogen und waren zu dem Schluß gekommen, daß der einzige Erfolg versprechende Weg, Mr. Francis Clare nützlich zu verwenden, eine Entsendung desselben in einen andern Welttheil wäre.

In Folge dieser Entscheidung wurde ihm nun der Vorschlag gemacht, in das Haus ihres Geschäftsfreundes in China einzutreten und dort fünf Jahre zu bleiben, um sich an Ort und Stelle mit dem Theehandel und dem Seidengeschäft vollständig vertraut zu machen. Nach Ablauf dieser Zeit sollte dann er wieder in das Hauptgeschäft in London eintreten. Wenn er in China diese Gelegenheit gut benutzen würde, so käme er dann zwar noch immer als junger Mann zurück, allein geschickt für seine einträgliche Vertrauensstelle und zu der Aussicht berechtigt, in nicht ferner Zeit bei der Begründung eines eigenen Geschäfts von dem Hause unterstützt zu werden. Solches waren die neuen Aussichten, welche —» um Mr. Clares Gedankengang zu folgen »— sich dem immer widerwilligen, immer unbehilflichen, immer Undankbaren Frank jetzt aufdrängten. Es war keine Zeit zu verlieren. Die entscheidende Antwort mußte »Montag, den 20.« auf dem Comtoir sein; die Correspondenten in China mußten mit Post vom selbigen Tage Avis erhalten, und Frank sollte entweder dem Briefe mit erster Gelegenheit nachfolgen, oder auf diese Stelle zu Gunsten eines mehr Unternehmungslust zeigenden jungen Mannes Verzicht leisten.

Mr. Clares nahm diese Nachricht von außerordentlicher Tragweite in einer Weise auf, die in Erstaunen setzte. Die ruhmvolle Perspective von seines Sohnes Verbannung nach China schien ihm den Kopf schwindelig gemacht zu haben. Das feste Postament seiner Philosophie brach unter ihm zusammen, die gesellschaftlichen Vorurtheile gewannen wieder Einfluß auf seinen Geist. Er faßte Frank beim Arme und begleitete ihn nach Combe-Raven in höchst eigener Person und in der erstaunlichen Eigenschaft als Besucher dieses Hauses.

—— Da bin ich mit meinem Schlingel, sagte Mr. Clare, ehe die erstaunte Familie zu Worten kommen konnte. Hören Sie Alle hier seine Geschichte Sie hat mich zum ersten Male in meinem Leben mit der Anomalie seines Daseins wieder ausgesöhnt.

Frank erzählte nun kleinmüthigen Tones die chinesische Aussicht zum zweiten Male und versuchte, daran seinen eigenen Anhang von allerhand Aussetzungen und Bemängelungen zu knüpfen. Sein Vater unterbrach ihn gleich beim ersten Worte, zeigte mit einer keinen Widerspruch duldenden Miene nach Südosten —— von Somersetshire geradwegs nach China —— und sagte, ohne sich einen Augenblick zu besinnen:

—— Gehe!

Mr. Vanstone, welcher sich betreffs seines jungen Freundes schon in goldnen Zukunftsträumen sonnte und wiegte, stimmte von ganzem Herzen, wie ein Echo ein in jenes einsylbige Verdict. Mrs. Vanstone, Miss Garth, sogar Nora selbst sprachen in demselben Sinne. Frank war über diese schlechterdings einstimmige Harmonie der Meinungen, die er nicht erwartet hatte, versteinert, und Magdalene war zum ersten Male in ihrem Leben in Verlegenheit, was sie sagen und was sie thun sollte.

Was aber das wirkliche Ergebniß anlangte, so begann und endigte die Sitzung des Familienrathes mit der allgemeinen Meinung, daß Frank gehen sollte. Mr. Vanstones Gedankengang war aber durch die plötzliche Ankunft des Sohnes, den unerwarteten Besuch des Vaters und die Nachrichten, die sie Beide mitbrachten, so in Verwirrung gerathen, daß er sich für eine Verschiebung der Angelegenheit auf so lange, bis die nothwendigen mit der Abreise seines jungen Freundes verknüpften Anordnungen im Einzelnen erwogen wären, aussprach.

—— Wollen wir die Sache nicht lieber beschlafen? sagte er. Morgen werden unsere Köpfe ein wenig ruhiger und morgen wird auch noch Zeit genug sein, um aller Ungewißheit ein Ende zu machen.

Sein Vorschlag ward gern angenommen, und alle weiteren Verhandlungen wurden nun bis zum nächsten Tag ausgesetzt.

Jener nächste Tag sollte aber mehr Dinge zur Entscheidung bringen, als sich Mr. Vanstone träumen ließ.

Den andern Morgen früh nahm Miss Garth, nachdem sie den Thee wie gewöhnlich selbst bereitet hatte, ihren Sonnenschirm und ging in den Garten spazieren. Sie hatte schlecht geschlafen und dachte nun, einige Minuten draußen in frischer Luft zugebracht, bevor die Familie sich zum Frühstück einfände, würden sie für den Verlust ihrer Nachtruhe entschädigen.

Sie wanderte bis zur äußersten Grenze des Blumengartens und kehrte auf einem andern Wege um, welcher hinter einem zierlichen Lusthäuschen weg, das die Aussicht von einem Punkte der Lichtung über die Felder beherrschte, zurück führte. Ein kleines Geräusch, vergleichbar und doch auch wieder nicht vergleichbar dem Zirpen eines Vogels berührte ihr Ohr, wie sie an der Seite des Lusthäuschens ankam. Sie ging vorn herum nach dem Eingange zu, sah hinein und erblickte —— Magdalene und Frank ganz dicht und traulich bei einander sitzend. Zu Miss Garths Schrecken war Magdalenens Arm ganz unverkennbar deutlich um Franks Hals geschlungen und, was noch schlimmer war, die Stellung ihres Gesichts in dem Augenblick der Entdeckung zeigte außer allem Zweifel, daß sie eben dem Opfer des chinesischen Handels den ersten und köstlichsten Trost gespendet hatte, den ein Weib einem Manne gewähren kann. In deutlichen Worten, sie hatte gerade Frank einen Kuß gegeben. ——

Gegenüber einem solchen außerordentlichen Falle, wie er ihr jetzt entgegen trat, fühlte Miss Garth instinctmäßig, daß alle gewöhnlichen Tadelsworte hier nicht mehr am Platze wären.

—— Ich glaube, bemerkte sie, zu Magdalenen gewandt, mit der unbarmherzigen Selbstbeherrschung einer Dame in den mittleren Jahren, welche aus eigener Erfahrung vom Küssen durchaus keinen Anhalt für ihr Verhalten in diesem Falle hatte, —— ich glaube, Sie werden, welcherlei Entschuldigungen Sie auch in Ihrer schamlosen Dreistigkeit vorbringen mögen, doch nicht in Abrede stellen können, daß meine Pflicht mich nöthigt, Das, was ich eben gesehen habe, Ihrem Vater mitzutheilen?

—— Ich will Ihnen die Mühe ersparen, erwiderte Magdalene mit Fassung. Ich will es ihm selbst mittheilen.

Mit diesen Worten sah sie sich nach Frank um, welcher in einer Ecke des Lusthäuschens stand, drei Mal so rath- und hilflos als gewöhnlich.

—— Du sollst erfahren, was geschieht, sagte sie mit ihrem hellen Lächeln. Und Sie ebenfalls —— setzte sie für Miss Garth noch besonders hinzu, als sie auf dem Rückwege zum Frühstücke vor der Gouvernante vorbei wandelte.

Die Augen von Miss Garth folgten ihr voll Unwillen. Frank ersah sich seinerseits diese günstige Gelegenheit, um sich flugs hinweg zu schleichen.

Unter diesen Umständen konnte einer ehrbaren Frau weiter Nichts übrig bleiben als —— zu schaudern. Miss Garth legte denn auch in der That solchergestalt ihre Verwahrung ein und ging dann ins Haus zurück.

Als das Frühstück vorüber war, und nun Mr. Vanstones Hand eben in die Tasche glitt, um die Cigarrentasche zu suchen, erhob sich Magdalene mit einem bedeutsamen Blick auf Miss Garth und folgte ihrem Vater in die Flur.

—— Papa, sagte sie, ich habe diesen Morgen mit Dir V— allein zu sprechen.

—— Ei, ei, erwiderte Mr. Vanstone Worüber denn, liebes Kind?

—— Ueber...., Magdalene zögerte, suchte nach einem passenden Ausdruck und fand ihn. Ueber Geschäfte ——, sagte sie.

Mr. Vanstone nahm seinen Gartenhut von dem Tische in der Flur, schlug seine Augen in stummem Erstaunen auf und suchte in seinem Geiste die beiden ausbündig verschiedenartigen Ideen, Magdalene auf der einen und Geschäft auf der andern Seite, in Verbindung zu bringen, aber vergebens. Er gab es auf und ging in den Garten.

Seine Tochter nahm ihn beim Arme und wandelte mit ihm nach einem schattigen Sitze in einer entsprechenden Entfernung vom Hause. Sie stäubte die Bank, bevor ihr Vater sich darauf setzte, mit ihrer kleinen seidenen Schürze ab. Mr. Vanstone war an einen solchen außerordentlichen Aufwand von Aufmerksamkeit wie dieser gar nicht gewöhnt. Er setzte sich nieder und sah erstaunter aus, als je. Magdalene nahm sofort ihren Platz auf seinem Knie ein und legte ihr Haupt an seiner Schulter zurecht.

—— Bin ich schwer, Papa? fragte sie.

—— Ja, meine Liebe, das bist Du, aber nicht zu schwer für mich, sagte Mr. Vanstone. Laß meinetwegen Deinen Lockvogel los, wenn Dir's so gefällt. Nun? Was mag das wohl für ein Geschäft sein?

—— Es beginnt mit einer Frage.

—— So, in der That? Das überrascht mich nicht. Ein Geschäft mit Deinem Geschlecht, meine Liebe, beginnt alle Mal mit Fragen. Also nur zu.

—— Papa, hast Du die Absicht mich jemals heirathen zu lassen?

Mr. Vanstones Augen wurden weiter und weiter. Die Frage hatte nach seinem eigenen Ausdruck ihn förmlich verblüfft.—— Das ist ein Geschäft zum Närrisch werden! sagte er. Wie, Magdalene, was hast Du Dir in Deinen wunderlichen Kopf gesetzt?

—— Ich weiß es noch nicht genau, Papa. Willst Du mir auf meine Frage antworten?

v— Ich will, wenn ich es kann, meine Liebe; Du setzt mich da schön in Verwirrung. Gut, ich weiß nicht. .. Ja, ich glaube, ich muß Dich wohl eines Tages heirathen lassen, wenn wir einen guten Ehemann für Dich finden können. Wie heiß Dein Gesicht ist! Heb es doch auf und laß die Luft es anwehen. Du willst nicht? Gut —— mache es wie Du willst. Wenn über Geschäfte sprechen so viel ist, als Deine Wangen an meinem Bart reiben, so habe ich Nichts dagegen zu sagen. Nur zu, liebes Kind. Was ist die nächste Frage? Komm zum Hauptpunkte!

Sie war ein zu gescheidtes Mädchen, als daß sie etwas der Art gethan hätte. Sie ging um den entscheidenden Punct herum und berechnete dabei ihre Entfernung aus die Breite eines Haares.

—— Wir waren gestern Alle samt und sonders sehr überrascht, nicht wahr, Papa? Frank ist wunderbar glücklich, nicht wahr?

—— Er ist das glücklichste Thier, das mir jemals im Leben vorgekommen ist, meinte Mr. Vanstone: allein, was hat Das mit Deinem Geschäft zu thun? Ich muß sagen, Du machst Deinen eigenen Weg, Magdalene. Ich will des Teufels sein, wenn ich mich daraus zurecht finde!

Sie ging dem Punkte ein wenig näher.

—— Wird er wohl in China sein Glück machen? sagte sie. Es ist aber doch ein sehr weiter Weg, nicht wahr? Bemerktest Du, Papa, wie Frank gestern traurig und muthlos aussah?

—— Ich war von der Nachricht so überrascht, sagte Mr. Vanstone, und so verwundert über den Anblick von meines alten Clares scharfer Nase innerhalb meines Hauses, daß ich nicht sehr Acht gab. Jetzt bringst Du mich wieder darauf, ja. Ich glaube nicht, daß Frank sein eigenes Glück mit günstigen Augen ansah, durchaus nicht mit günstigen Augen.

—— Wunderst Du Dich darüber, Papa?

—— Ja wohl, meine Liebe, in der That, so ist es.

—— Hältst Du es nicht für hart, fortgeschickt zu werden aus fünf Jahre, um unter verhaßten Wilden Dein Glück zu machen und Deine Freunde daheim auf diese ganze lange Zeit aus den Augen zu verlieren? Denkst Du nicht, daß Frank uns schmerzlich vermissen wird? Hörst Du, Papa, denkst Du nicht?

—— Sachte, Magdalene! Ich bin ein wenig zu alt, daß mich diese Deine langen Arme zum Spaß erdrosseln . . . . . Du hast Recht, mein Herz. Nichts in der Welt ist ohne Schattenseite Frank wird allerdings seine Freunde in England vermissen, das läßt sich nicht leugnen.

—— Du hast Frank immer geliebt. Und Frank liebte Dich auch immer.

—— Ja, ja ein guter Kerl; ein ruhiger guter Junge. Frank und ich sind immer gut mit einander ausgekommen.

—— Ihr seid immer wie Vater und Sohn zusammen gewesen, ist Das nicht wahr?

—— Ja wohl, meine Liebe.

—— Vielleicht wirst Du es noch härter empfinden, wenn er fort ist, als jetzt?

—— Wahrscheinlich ich will es nicht verreden.

—— Vielleicht wirst Du dann wünschen, wäre er doch lieber in England zurück geblieben. Warum sollte er auch nicht eben so gut in England zurück bleiben und gut thun, als wenn er nach China ginge?

—— Mein Kind, er hat keine Aussichten in England. Ich wollte es ihm wohl zu seinem Besten wünschen. Ich wünsche dem Jungen alles Gute und von ganzem Herzen.

—— Darf ich ihm auch von ganzem Herzen Gutes wünschen, Papa?

—— Gewiß, meine Liebe, Deinem alten Spielkameraden, warum nicht? ... Was soll Das? Der Herr behüte mich, warum weint das Mädchen auf einmal? Man könnte denken, Frank würde auf Lebenszeit transportiert Du Gänschen! Du weißt doch so gut als ich selber, daß er nur nach China geht, um sein Glück zu machen.

—— Er braucht ja aber gar nicht sein Glück zu machen er kann was Besseres thun.

—— Den Teufel kann er! Wie denn, ich wäre doch begierig zu wissen wie?

—— Ich fürchte mich, es Dir zusagen. Ich fürchte, Du wirst mich auslachen. Willst Du mir versprechen, nicht zu lachen?

—— Alles was Du willst, meine Liebe. Ja, ich verspreche es Dir. Nun gut, heraus damit! Was soll Frank Besseres thun?

—— Er soll mich heirathen...

Wenn die Sommerlandschaft, welche sich damals vor Mr. Vanstones Augen urplötzlich in eine fürchterliche Winteransicht verwandelt hätte, wenn die Bäume alle ihre Blätter verloren und die grünen Fluren sich in einem Augenblicke mit Schnee bedeckt hätten: würde sein Antlitz schwerlich ein größeres Staunen ausgedrückt haben, als es aussprach, wie seine Tochter stammelnd jene letzten vier Worte sagte. Er versuchte, sie anzusehen, aber sie wehrte ihm beharrlich den Weg dazu, sie verbarg ihr Gesicht über seiner Schulter. War es ihr Ernst? Seine Wangen, fort und fort von ihren Thränen benetzt, antworteten statt ihrer. Es trat eine lange Pause und Stillschweigen ein; sie wartete —— mit ungewöhnlicher Geduld, sie wartete, bis er sprechen werde. Er erhob sich und sprach nun diese Worte:

—— Du überraschest mich, Magdalene; Du überraschest mich mehr, als ich sagen kann.

Bei dem veränderten Tone seiner Stimme, welcher sich zu ruhigem väterlichen Ernst verdüstert hatte, schlangen sich Magdalenens Arme noch enger als vorher um ihn.

—— Habe ich Dich unangenehm überrascht, Papa? —— fragte sie furchtsam. O sage nicht, daß ich Dich so überrascht habe! Wem soll ich denn mein Geheimniß offenbaren, wenn nicht Dir? Laß ihn nicht fortgehen, laß ihn nicht, ja nicht! Du wirst ihm das Herz brechen. Er fürchtet sich, es seinem Vater zu sagen, er, fürchtet sogar, Du möchtest böse auf ihn werden. Es ist Niemand da, der für uns sprechen kann, .... außer mir. Ach, laß ihn nicht fort! Thue es nicht um seinetwillen und sie flüsterte die nächsten Worte mit einem Kuß —— thu es nicht um meinetwillen!

Das milde Angesicht ihres Vaters wurde traurig, er seufzte und klopfte ihr zärtlich auf die schönen Wangen.

—— Sei nur stille, mein Kind, sagte er leise, sei stille.

Sie wußte nicht, wie ihm jedes ihrer Worte, jede ihrer Handlungen mehr Aufklärung geben mußte. Sie hatte ihn von ihrer Kindheit bis auf diesen Tag zu ihrem natürlichen Spielkameraden gemacht. Sie hatte im Kinderröckchen mit ihm herum gespielt, sie hatte sich im Mädchenkleide mit ihm herumgeschäkert. Er war niemals lange genug von ihr getrennt gewesen, daß die Veränderungen im Aeußern seiner Tochter seine Aufmerksamkeit erregt hätten. Seine ungekünstelte väterliche Theilnahme für sie hatte ihn glauben gemacht, daß sie ein höher aufgeschossenes Kind als andere sei, weiter hatte er sich Nichts träumen lassen. Und nun kam auf einmal in einem jähen Athem versetzenden Augenblicke die Ueberzeugung über ihn, daß sie ein Weib geworden. —— Er fühlte es an dem Sturme ihres gegen seine Brust gedrückten Busens, an dem nervösen Zittern ihrer Arme, die sie um seinen Hals geschlungen hielt. Die Magdalene seines unschuldigen Umganges —— ein Weib mit der Hauptleidenschaft seines Geschlechts, ein Weib, dessen Herz schon vergeben!

—— Hast Du lange darüber nachgedacht, meine Theure? fragte er, sobald er so viel Fassung gewonnen hatte, um wieder sprechen zu können. Bist Du darüber im Reinen ...?

Sie beantwortete die Frage, noch ehe er sie vollendet hatte.

—— Ich ..., ob ich ihn liebe? sagte sie. Ach welche Worte könnten mein Ja so ausdrücken, wie ich es sagen möchte! Ich liebe ihn ——!

Ihre Stimme wurde weich und zitterte, und ihre Antwort endigte in einem Seufzer.

—— Ihr seid sehr jung. Du und Frank, meine Liebe, seid Beide sehr jung.

Da hob sie zum ersten Male ihr Haupt von seiner Schulter empor. Gedanke und Wort kamen ihr in einem und demselben Augenblicke.

—— Sind wir viel junger, als Du und Mamma waret? fragte sie unter Thränen lächelnd.

Sie versuchte ihr Haupt wieder an die alte Stelle zu legen, aber als sie diese Worte sprach, faßte sie ihr Vater um die Brust, nöthigte sie, bevor sie es verhindern konnte, ihm ins Gesicht zu sehen und küßte sie in einem plötzlichen Zärtlichkeitsausbruche, der ihr aufs Neue die Thränen stromweis in die Augen trieb.

—— Nicht viel junger, mein Kind, sagte er mit tiefer gebrochener Stimme, —— nicht viel junger, als Deine, Mutter und ich waren.

Er hielt sie von sich ab, erhob sich von dem Sitze und wandte den Kopf schnell zur Seite.

—— Warte hier und beruhige Dich; ich will hinein gehen und mit Deiner Mutter sprechen.

Seine Stimme zitterte bei diesen letzten Worten, und er verließ sie, ohne sich ein einziges Mal umzusehen.

Sie wartete, wartete peinlich lange, und er kam nicht zurück. Zuletzt trieb sie die wachsende Angst ihm ins Haus nachzufolgen. Eine neue Bangigkeit machte ihr Herz erbeben, als sie zaghaft der Thür näher und näher kam. Niemals hatte sie so die Tiefen des einfachen Charakters ihres Vaters geschaut, aufgeregt, wie sie jetzt durch ihr Bekenntniß waren. Sie fürchtete sich vor der nächsten Begegnung mit ihm. Sie wanderte leise in der Flur hin und her mit einer ihr an sich selbst ganz neuen Schüchternheit, mit einer Angst vor der Begegnung und Ansprache ihrer Schwester oder Miss Garths, welche sie nervös aufgeregt auf das leichteste Geräusch im Hause achten ließ. Die Thür des Morgenzimmers öffnete sich, als sie gerade den Rücken gewendet hatte. Sie hielt jählings ihre Schritte an, als sie sich umsah und ihren Vater in der Halle erblickte: ihr Herz schlug schneller und schneller, und sie fühlte, wie sie erbleichte Ein zweiter Blick auf ihn, wie er näher zu ihr kam, beruhigte sie wieder. Er war ja wieder ruhig, obgleich nicht so heiter als gewöhnlich. Sie bemerkte, daß er ihr mit einer zuvorkommenden Milde in Wesen und Sprache begegnete, welche mehr seiner Art und Weise gegenüber ihrer Mutter, als seinem gewöhnlichen Verhalten gegen sie selbst, ähnlich war.

—— Geh hinein, meine Liebe, sagte er, indem er die Thür, die er eben hinter sich zugemacht, vor ihr öffnete. Erzähle Deiner Mutter Alles, was Du mir erzählt hast und noch mehr, wenn Du noch mehr zu sagen hast. Sie ist darauf mehr vorbereitet, als ich es war. Wir wollen Dies heute in Ueberlegung ziehen, Magdalene, und morgen sollst Du, soll Frank erfahren, was wir beschließen.

Ihre Augen leuchteten auf, als sie in sein Gesicht schauten und darin bereits die Entscheidung lasen, und strahlten in der doppelten Innigkeit ihrer Weiblichkeit und ihrer Liebe. Glücklich und schön in ihrer überströmenden Seligkeit, führte sie seine Hand an ihre Lippen und ging ohne Zagen in das Morgenzimmer. Dort hatten die Worte ihres Vaters ihr bereits den Weg bereitet, dort war der erste jähe Eindruck der Ueberraschung bereits vorüber und überwunden, und nur die angenehme Seite derselben war geblieben. Ihre Mutter war auch einmal in ihrem Alter gewesen und konnte also wissen, wie heiß sie Frank liebte. So dachte sie in ihren Gedanken über die ihrer harrende Unterredung, und sie hatte, außer daß ein gewisser ungewöhnlicher Zug von Zurückhaltung in Mrs. Vanstones erstem Empfange lag, richtig geahnt. Nach einer kleinen Weile wurden der Mutter Fragen immer zutraulicher und ungezwungener, wie sie die süßen, unvergessenen Erinnerungen des Mutterherzens ihr eingaben, sie lebte in den Antworten der Tochter noch einmal ihre eigenen jungen Tage voll Hoffnung und Liebe durch!

Den andern Morgen wurde die hochwichtige Entscheidung in Worten kund gethan. Mr. Vanstone nahm seine Tochter in das Zimmer der Mutter mit hinauf und legte ihr das Ergebniß der gestrigen Berathung und der über Nacht hinterdrein gekommenen Ueberlegung vor. Er sprach mit Voller Herzlichkeit und Fassung, aber mit weniger und ernsteren Worten als sonst. Dabei hielt er während der ganzen Unterredung die Hand seiner Gattin zärtlich in der seinigen.

Er zeigte Magdalenen an, daß weder er noch ihre Mutter sich berechtigt hielten, ihre Neigung für Frank zu tadeln.

Sie war zum Theil vielleicht eine natürliche Folge ihrer kindlichen Vertraulichkeit mit ihm gewesen, zum Theil aber auch die Wirkung des engern Zusammenseins Beider, welches die Theateraufführung nothwendig herbeigeführt hatte. Zugleich war es nun die Pflicht ihrer Aeltern, diese Neigung nach beiden Seiten, ernstlich um ihrer, der Tochter, selber willen ernst zu prüfen, da ja ihr künftiges Glück ihre eigene höchste Sorge war, dann auch um Franks willen, da sie verpflichtet waren, ihm Gelegenheit zu bieten, sich des auf ihn gesetzten Vertrauens würdig zu zeigen. Sie waren sich Beide bewußt, daß sie für Frank ein starkes Vorurtheil hatten. Das wunderliche Wesen seines Vaters hatte den jungen Mann zum Gegenstand ihres Mitleids und ihrer Fürsorge gemacht, schon von seinen frühesten Jahren an. Er und seine jüngeren Brüder hatten ja bei ihnen die Stellen derjenigen ihrer eigenen Kinder eingenommen, welche sie durch den Tod verloren hatten. Obgleich sie der festen Ueberzeugung waren, daß ihre gute Meinung von Frank wohlbegründet sei, so war es doch im Interesse des Glückes ihrer Tochter nothwendig geboten, die Richtigkeit dieser Meinung durch Feststellung gewisser Bedingungen und Anberaumung eines Jahres Aufschub zwischen der beabsichtigten Verheirathung und dem gegenwärtigen Zeitpunkte ernst auf die Probe zu stellen.

Während dieses Jahres sollte Frank auf dem Comtoir in London bleiben, indem man seine Principale zuvor benachrichtigte, daß Familienverhältnisse ihn verhinderten ihr Anerbieten der Stelle in China anzunehmen. Er sollte dieses Zugeständniß nur unter gewissen Bedingungen als eine Berücksichtigung der Neigung zwischen Magdalene und ihm selbst ansehen. Wenn er während des Probejahrs das auf ihn gesetzte Vertrauen nicht zu rechtfertigen wissen werde, welches Mr. Vanstone vermocht hatte, die ganze Verantwortung für Franks künftige Aussichten ohne Vorbehalt auf sich zu nehmen, so sollte von demselben Augenblicke an von dem Heirathsprojecte keine Rede mehr sein. Wenn aber andernfalls der Erfolg, welchen Mr. Vanstone mit Vertrauen erwartete, wirklich einträte, wenn Franks Prüfungsjahr seinen Anspruch auf das kostbarste Vertrauen, das man in seine Hände legen konnte, bewiese: dann sollte Magdalene selbst ihn mit Allem, was ein Weib hat und besitzt, belohnen, und die Zukunft, welche seine gegenwärtigen Principale ihm als den Lohn eines fünfjährigen Aufenthalts in China in Aussicht gestellt hätten, schon nach Jahresfrist durch den Brautschatz seiner jungen Frau verwirklicht werden. . . .

Als der Vater dieses Bild von der Zukunft entwarf, konnte Magdalene den Ausbruch ihrer Dankbarkeit nicht länger zurückhalten. Sie war tief gerührt, —— ihre Worte kamen aus dem tiefsten Grunde ihres Herzens. Mr. Vanstone wartete, bis seine Tochter und seine Gattin sich wieder gefaßt hatten, und fügte dann die letzten Worte der Erklärung hinzu, welche er noch zu geben hatte.

—— Du wirst es begreiflich finden, meine Liebe, sagte er, daß ich nicht annehmen kann, Frank solle unthtäig von den Mitteln und auf Kosten seiner Frau leben? Mein Plan ist, daß er das Interesse benutzen soll, welches seine gegenwärtigen Principale an ihm nehmen. Ihre Geschäftskenntniß in der City wird bald eine gute Theilhaberstelle zu seiner Verfügung stellen, und Du wirst ihm das Geld dazu geben, sich in das Geschäft einzukaufen. Ich werde dazu als Summe die Hälfte Deines Vermögens feststellen, meine Liebe, die andere Hälfte werde ich für Dich selber anlegen. Wir werden am Ende des Jahres Alle hoffentlich noch bei Leben und Gesundheit sein, —— und hier sah er zärtlich seine Gattin an —— ja wohl, Alle bei Leben und Gesundheit. Aber wenn ich auch hinüber wäre, Magdalene, so soll Das keinen Unterschied machen. Mein letzter Wille, der bereits lange, ehe ich entfernt daran dachte, einen Schwiegersohn zu bekommen, gemacht ist —— theilt mein Vermögen in zwei gleiche Theile. Ein Theil gehört Deiner Mutter, und die andere Hälfte ist ganz unter meine Kinder getheilt. Du wirst einen Theil an Deinem Hochzeitstage erhalten, und Nora wird den übrigen bekommen, wenn sie heirathet, und zwar aus meiner Hand, wenn ich noch lebe, und kraft meines letzten Willens, wenn ich todt bin. Nun, nun, keine düsteren Gesichter! sagte er einen Augenblick seine gewöhnliche gute Laune wiedergewinnend. Deine Mutter und ich denken noch lange zu leben und Frank als großen Kaufherrn zusehen. Ich will es Dir jetzt überlassen, meine Liebe, den Sohn über unsere treuen Pläne zu unterrichten, während ich hinüber zum Nachbar gehe...

Er stockte, seine Augenbrauen zogen sich ein wenig zusammen, und er blickte zögernd seitwärts auf Mrs.Vanstone.

—— Was willst Du beim Nachbar, Papa? fragte Magdalene, nachdem sie vergeblich darauf gewartet hatte, daß er seinen Satz selber beendigen werde.

Ich muß doch Franks Vater zu Rathe ziehen, erwiderte er. Wir dürfen nicht vergessen, daß Mr. Clares Zustimmung noch fehlt, um die Angelegenheit vollends zu erledigen. Und da die Zeit drängt und wir nicht wissen können, welche Schwierigkeiten er vielleicht machen wird, so muß ich ihn je eher je besser aufsuchen.

Er gab diese Antwort m leisem, verändertem Tone, und erhob sich von seinem Stuhle in einer halb widerwilligen, halb hoffnungslosen Weise, wie Magdalene mit geheimer Besorgniß bemerkte.

Sie sah fragend nach ihrer Mutter hin. Allem Anscheine nach war Mrs Vanstone durch die an ihm vorgegangene Veränderung ebenfalls erschreckt. Sie sah ängstlich und unruhig aus; sie wandte ihren Kopf nach dem Sophakissen weg und drehte sich so plötzlich, als wenn sie Schmerzen hätte.

—— Bist Du nicht wohl, Mamma? fragte Magdalene.

—— Ganz wohl, meine Liebe, sagte Mrs. Vanstone kurz und scharf, ohne sich umzudrehen. Laß mich ein wenig allein —— ich bedarf nur der Ruhe.

Magdalene ging mit ihrem Vater hinaus.

—— Papa! flüsterte sie ängstlich, als sie zusammen die Treppe hinunter stiegen, Du denkst doch nicht, daß Mr. Clare Nein sagen werde?

—— Das kann ich zum Voraus nicht wissen! antwortete Mr. Vanstone. Ich hoffe, er wird Ja! sagen.

—— Es ist doch ein Grund vorhanden, warum er anders sprechen sollte, nicht wahr?

Sie stellte diese Frage furchtsam, während er seinen Hut und Stock nahm, und that, als überhörte er sie. ungewiß, ob sie dieselbe wiederholen sollte oder nicht, begleitete sie ihn in den Garten auf seinem Gange zur Wohnung von Mr. Clare. Er ließ sie auf dem freien Platze still stehen und schickte sie nach dem Hause zurück.

—— Du hast Nichts auf Deinem Kopfe, mein Kind, sagte er. Wenn Du in dem Garten sein mußt, so vergiß nicht, wie heiß die Sonne ist, komm nicht ohne Deinen Hut heraus.

Er ging. Sie wartete ein wenig und sah ihm nach. Sie vermißte das gewöhnliche Schwenken seines Stockes, sie sah seinen kleinen schottischen Dachshund, der hinter ihm drein gelaufen kam, kläffend und bellend, ohne daß er davon Notiz nahm. Er war niedergeschlagen, er war auffallend niedergeschlagen und zerstreut. Was sollte Das heißen?



Kapiteltrenner

Zehntes Capitel.

Auf dem Rückwege nach Hause fühlte Magdalene sich plötzlich von hinten an der Schulter berührt, als sie über die Flur ging. Sie wandte sich um und stand ihrer Schwester gegenüber. Bevor sie eine Frage thun konnte, redete Nora sie voll Verwirrung mit diesen Worten an:

—— Ich bitte Dich um Verzeihung, ich bitte Dich, vergib mir!

Magdalene sah ihre Schwester mit Erstaunen an. Die ganze Erinnerung an die scharfen Worte, welche zwischen ihnen in den Anlagen gefallen waren, war bei ihr wenigstens durch die neuen Interessen, welche sie jetzt ausschließlich in Anspruch nahmen, in den Hintergrund gedrängt, ja, so vollständig bei Seite gedrängt, als ob jene etwas gereizte Unterredung gar nicht stattgefunden hätte.

—— Dir vergeben? wiederholte sie verwundert. Was denn.

——Ich habe von Deinen neuen Aussichten gehört, fuhr Nora fort in dem Tone einer gezwungenen Nachgiebigkeit, welche ihr durchaus nicht angenehm zu Gesichte stand. Ich wünschte, die Sache zwischen uns klar zu machen, ich wünschte zu sagen, daß ich bedaure, was damals vorgefallen war. Willst Du es vergessen? Willst Du es vergessen und verzeihen, was in den Anlagen zwischen uns vorfiel?...

Sie versuchte fortzufahren, allein ihre alte Zurückhaltung oder vielleicht ihr eigensinniges Beharren bei ihren eigenen Ansichten machte sie nach den letzten Worten wieder verstummen. Ihr Gesicht verdüsterte sich plötzlich. Bevor ihre Schwester ihr antworten konnte, wandte sie sich jäh ab und eilte die Treppe hinauf.

Ehe Magdalene ihr folgen konnte, ging die Thür des Bibliothekszimmers auf, und Miss Garth kam heran, um ihr die bei dieser Gelegenheit schicklichen Empfindungen auszusprechen.

—— Es war dies Mal nicht der Ausdruck gezwungener Nachgiebigkeit, wie ihn Magdalene eben gehört hatte. Nora hatte gegen ihr eingewurzeltes Vorurtheil gegen Frank angekämpft aus Rücksicht auf die unwidersprechliche Entscheidung ihrer beiden Aeltern zu seinen Gunsten, hatte den offenen Ausdruck ihres Widerwillens zurückgehalten, obschon das Gefühl selbst ungemindert fortbestand. Miss Garth hatte keine solchen Zugeständnisse dem Herrn und der Frau vom Pause gemacht. Sie hatte bisher die Stellung als maßgebende Person in allen Familienangelegenheiten innegehabt, und sie mochte schlechterdings nicht so leicht von ihrem erhabenen Standpunkte hernieder steigen aus Rücksicht für irgend einen Wandel in den Familienangelegenheiten, gleichviel wie wunderbar oder wie unerwartet dieser Wandel auch sein mochte.

—— Empfangen Sie freundlich meine Glückwünsche, sagte Miss Garth, indem sie innerlich borstig und von allerhand Gründen gegen Frank aufgestachelt war, meine Glückwünsche und meine Vertheidigung. Als ich Sie in dem Lusthäuschen traf, wie Sie Frank küßten, hatte ich keine Ahnung, daß Sie dabei waren, die Absichten Ihrer Aeltern auszuführen. Ich will meine Meinung über die Sache für mich behalten. Ich bedaure nur mein zufälliges Erscheinen in der Rolle eines Hindernisses im Laufe eines treuen Liebespaares, .... welches im Lusthäuschen sanftem Kosen obliegt; was auch Shakespeare Gegentheiliges davon sagen möge. Sehen Sie mich für die Zukunft meinetwegen als ein überwundenes Hinderniß an. Mögen Sie glücklich sein!

Miss Garths Lippen schlossen sich hinter der letzten Aeußerung wie eine Klappe, und Miss Garths Augen blickten ominös prophetisch in die Zukunft jener Ehe.

Wenn Magdalenens Sorgen nicht viel zu ernst gewesen wären, um ihr den gewöhnlichen freien Gebrauch ihrer Zunge zu verstatten, so würde sie sofort schlagfertig mit einer entsprechend satirischen Antwort bei der Hand gewesen sein. Wie die Sache aber stand, reizte Miss Garth sie nur einfach.

—— Bah, sagte sie darauf und eilte die Treppe hinauf nach dem Zimmer ihrer Schwester.

Sie klopfte an die Thür, erhielt aber keine Antwort. Sie versuchte zu öffnen, die Thür war aber von innen verschlossen. Die mürrische, unbegreifliche Nora hatte sich eingeschlossen.

Unter anderen Umständen würde Magdalene sich nicht mit Klopfen begnügt haben, sie würde lauter und immer lauter hineingerufen haben, bis das ganze Haus aufmerksam geworden wäre und sie ihren Zweck erreicht hätte. Aber die bangen Zweifel dieses Morgens hatten sie bereits muthlos gemacht. Sie ging also die Treppe ruhig wieder hinunter und nahm ihren Hut von seinem Platze in der Flur.

—— Er sagte mir, ich sollte den Hut aufsetzen, sagte sie Vor sich hin mit einem so sanft kindlichem Gehorsam, der sonst gar nicht in ihrer Art lag.

Sie ging in den Garten nach den Buschanlagen zu und wartete dort, um ihres Vaters zuerst ansichtig zu werden, wenn er zurückkäme. Eine halbe Stunde verging; vierzig Minuten vergingen, da erst drang seine Stimme aus den entfernten Bäumen zu ihr herüber.

—— Her zu mir, zurück! hörte sie ihn laut seinem Hunde zurufen.

Ihr Gesicht wurde bleich.

—— Er ist zornig mit Packan! rief sie leise vor sich hin.

Die nächste Minute erschien er in Sicht, er ging mit gesenktem Haupte schnell einher, Packan in Ungnade trollte hinterdrein. Der plötzliche Ausbruch ihres Schreckens, als sie diese unheilverkündigenden Anzeichen irgend etwas unangenehmen bemerkt, gab ihr ihre natürliche Energie wieder und bestimmte sie in ihrer Verzweiflung, selbst das Schlimmste anzuhören.

Sie ging geradenwegs dem Vater entgegen.

—— Dein Gesicht verkündet schon, was Du zu sagen hast, sagte sie mit Zagen, Mr. Clare ist so herzlos wie gewöhnlich gewesen,... Mr. Clare hat —— Nein! gesagt?

Ihr Vater wandte sich mit plötzlichem Ernste zu ihr hin, wie sie es an ihm noch nie in ihrem Leben gesehen hatte, so daß sie in hellem Erschrecken zurück bebte.

—— Magdalene, sagte er, wenn Du wieder von meinem alten Freund und Nachbar sprichst, so merke Dir Das. Mr. Clare hat mich jetzt so tief verpflichtet, daß ich ihm für mein ganzes übriges Leben dankbar bleiben werde....

Er hielt plötzlich inne, als er diese merkwürdigen Worte gesprochen hatte. Da er sah, wie er sie erschreckt hatte, so drängte ihn seine angeborene Gutmüthigkeit sofort den Tadel wieder zu mildern und die spannende Ungewißheit zu endigen, unter welcher sie offenbar zu leiden schien.

—— Gib mir einen Kuß, meine Liebe, begann er wieder, —— und zum Dank will ich Dir erzählen, daß....Mr. Clare Ja! gesagt hat.

Sie versuchte ihm zu danken; aber dieser jähe Umschlag zur Freude war zu stark für sie. Sie konnte sich bloß schweigend an seine Brust werfen. Er fühlte, wie sie´vom Kopf bis zu Füßen zitterte, und sagte ihr einige Worte zur Beruhigung. Bei dem veränderten Tone von seines Herrn Stimme kam auch Packan wieder zum Vorschein, sein Schwänzchen nicht mehr eingeklemmt, sondern munter wedelnd, und Packans Lungen zeigten durch ein kurzes versuchsweises Bellen bescheiden seine veränderte Stelle an. Das ganz richtige Verhalten des Hundes, um anzudeuten, daß Alles wieder in Ordnung sei, war die beste Unterbrechung, welche Magdalene wieder sich selbst zurückgab. Sie nahm den kleinen zottigen Dächsel auf ihre Arme und küßte ihn zuerst.

—— Du lieber Kerl, rief sie aus, Du bist gerade so froh wie ich!

Sie wandte sich dann wieder zu ihrem Vater mit einem Blicke sanften Vorwurfes.

—— Du hast mich erschreckt, Papa, sagte sie. Du warst auf ein Mal so ganz anders als sonst.

—— Ich werde morgen wieder bei mir selbst sein, meine liebe Tochter. Ich bin heute etwas aufgeregt.

—— Doch nicht über mich?

—— Nein, nein.

—— Ueber Etwas, was Du bei Mr. Clare gehört hast?

—— Ja;...es ist Nichts, das Dich beunruhigen könnte. Nichts, das sich nicht bis morgen schon verwinden ließe.

Jetzt laß mich aber gehen, meine Liebe, ich habe einen Brief zu schreiben und muß mit Deiner Mutter sprechen.

Er verließ sie und ging ins Haus. Magdalene zögerte noch ein Weilchen und blieb auf dem freien Platze, um so recht all das Glück ihrer neuen Gefühle zu ermessen, wandte sich dann weg nach den Buschanlagen hin, um die noch höhere Lust, dasselbe aussprechen zu dürfen, zu genießen. Der Hund folgte ihrer Spur. Sie pfiff und klatschte in die Hände.

—— Such, such! sagte sie mit blitzenden Augen. —— Such Frank!

Packan sprang in das Gebüsch mit blutdürstigem Schnauben bei seinem Spüren. Vielleicht hatte er wohl gar seine junge Herrin mißverstanden und betrachtete sich als ihren Sendling an der Suche nach einer Ratte?

Mittlerweile trat Mr. Vanstone ins Haus. Er begegnete seiner Gattin, wie sie langsam die Treppe herunter kam, und näherte sich ihr, um ihr den Arm zu reichen.

—— Wie ist es abgelaufen? fragte sie ihn ängstlich, als er sie zum Sopha geleitete.

—— So glücklich, als wir es hofften, antwortete der Gatte. Mein alter Freund hat meine Meinung von ihm gerechtfertigt.

—— Gott sei Dank! —— sagte Mrs. Vanstone lebhaft. Wurde es Dir so schwer, mein Lieber, fragte sie, als ihr der Gatte die Sophakissen zurecht rückte, —— ward es Dir so schwer, als ich fürchtete?

—— Ich hatte eine Pflicht zu erfüllen, meine Theure, und ich erfüllte sie.

Als er in dieser Weise geantwortet, hielt er inne. Man sah es ihm an, daß er noch mehr auf der Zunge hatte, etwas vielleicht, was sich auf jene vorübergehende geheime Beunruhigung bezog, welche sich infolge seiner Unterredung mit Mir. Clare bei ihm eingestellt hatte und die Magdalenens Fragen ihn abgenöthigt hatte, zu gestehen. Ein Blick auf seine Frau entschied jedoch seine Bedenken abfällig. Er fragte nur, ob sie bequem sitze und wandte sich dann, um das Zimmer zu verlassen.

—— Mußt Du fort? fragte sie.

—— Ich habe einen Brief zu schreiben, meine Liebe.

—— Etwas in Betreff Franks?

—— Nein, dazu ist morgen noch Zeit. Ein Brief an Mr. Pendril; er soll augenblicklich hierher kommen.

—— In Geschäften wohl?

—— Ja wohl, meine Theure, ....in Geschäften.

Er ging hinaus und schloß sich in das kleine Vorderzimmer ein, das dicht neben der Hausthür lag und sein Studierzimmer hieß. Von Natur und Gewohnheit sonst der säumigste Briefschreiber, öffnete er jetzt eifrig sein Pult und nahm ohne Verzug die Feder zur Hand. Das Schreiben war lang genug, um drei Seiten im Briefformate zu füllen. Er schrieb ihn in so leichtem Flusse des Ausdrucks und mit einer so geschwinden Hand, wie er selten an den Tag legte, wenn er seine gewöhnliche Correspondenz besorgte. Er schrieb die Adresse folgendergestalt:

Sofort zu bestellen.
William Pendril Esq.
Searle Street, Lincoln’s Inn,
London.

legte dann den Brief bei Seite, setzte sich an den Tisch und zeichnete in Gedanken versunken mit der Feder Linien auf das Löschpapier.

—— Nein, sagte er zu sich selbst, ich kann Nichts weiter thun, bis Pendril kommt.

Er stand auf, sein Gesicht erheiterte sich, als er das Petschaft auf das Couvert gedrückt hatte. Das Schreiben dieses Briefes hatte ihn merklich erleichtert, und seine ganze Haltung sprach das aus, als er das Zimmer verließ.

Auf der Thürschwelle fand er Nora und Miss Garth, welche eben im Begriff waren, auszugehen.

—— Welchen Weg geht Ihr? fragte er. Etwa in die Nähe der Post? Ich wünschte, Du könntest diesen Brief an meiner Statt aufgeben, Nora. Er ist sehr von Wichtigkeit, von solcher Wichtigkeit, daß ich ihn kaum Thomas wie gewöhnlich anvertrauen möchte.

Nora übernahm sofort die Besorgung des Briefes.

—— Wenn Du darauf siehst, meine Liebe, fuhr der Vater fort, so wirst Du bemerken, daß ich an Mr. Pendril geschrieben habe. Ich erwarte ihn zu morgen Nachmittag hier. Wollen Sie dazu die nöthigen Weisungen geben, Miss Garth? Mr. Pendril wird morgen Nacht hier schlafen und auch den Sonntag hier bleiben. —— Warten Sie einen Augenblick! Heute ist Freitag. Hatte ich nicht für Sonnabend Nachmittag eine Bestellung....

Er befragte sein Notizbuch und las eine Aufzeichnung mit einer Miene voll Verdruß.

—— Mühle Grailsea, Sonnabend drei Uhr. Gerade die Zeit, wann Pendril hier sein wird: und ich muß zu Hause sein, um ihn zu sprechen! Wie kann ich Das machen? Montag wird zu spät sein für mein Geschäft zu Grailsea. Ich will statt dessen heute hingehen und es abpassen, daß ich des Müllers übers Mittagsessen habhaft werde...

Er sah nach der Uhr.

—— Keine Zeit mehr zum Fahren; ich muß mit der Eisenbahn reisen. Wenn ich einmal gehe, so werde ich an unserer Station den abwärts gehenden Zug erreichen und fahre mit nach Grailsea. Gib Acht auf den Brief, Nora. Ich möchte nicht das Mittagsessen warten lassen. Wenn der Retourzug sich nicht anschließt, so nehme ich mir einstweilen einen Gig und komme auf diese Weise zurück.

Als er den Hut aufsetzte, erschien Magdalene in der Thür, zurückkehrend Von ihrer Unterredung mit Frank. Die Eile in den Bewegungen ihres Vaters zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich, und sie fragte ihn, wohin er ginge.

—— Nach Grailsea, erwiderte Mr. Vanstone. Deine Geschäftsangelegenheit, Miss Magdalene, ist der meinigen in den Weg gekommen, und meine muß daher zurück stehen.

Er sprach diese Abschiedsworte in seiner alten herzlichen Weise und verließ mit dem alten bezeichnenden Schwenken seines treuen Stockes das Haus.

—— Meine Angelegenheit?! —— sagte Magdalene. Ich dachte, meine Angelegenheit sei nun erledigt.

Miss Garth zeigte bedeutsam auf den Brief in Noras Hand.

—— Gerade Ihre Angelegenheit außer allem Zweifel, sagte sie. Mr. Pendril kommt morgen, und Mr. Vanstone scheint merkwürdig viel darauf anzukommen. Also schon das Gesetz. und die Plackereien, die damit zusammenhängen! Gouvernanten welche durch die Thüren von Sommerhäuschen hereinsehen, sind also doch nicht die einzigen Hindernisse für treue Liebe. Pergament ist auch manchmal ein Hinderniß. Ich hoffe, Sie finden das Pergament so füg- und biegsam als mich, —— ich wünsche, daß Sie gut dabei fahren. Nun, Nora!

Miss Garths zweiter Pfeil traf so ungestraft, als das erste Mal. Magdalene war ein wenig beunruhigt nach Hause zurückgekehrt, ihre Unterredung mit Frank war durch einen Boten unterbrochen worden, welcher von Mr. Clare mit der Weisung kam, der Sohn solle gleich zum Vater kommen. Obschon in der geheimen Besprechung zwischen Mr. Vanstone und Mr. Clare festgestellt war, daß die an jenem Morgen zur Sprache gekommenen Fragen den Kindern vor Schluß des Probejahres ein Geheimniß bleiben sollten, und obgleich Mr. Clare unter diesen Umständen Frank doch eigentlich Nichts zusagen hatte, was Magdalene demselben nicht viel besser hätte mittheilen können: so war doch der Philosoph nichts desto weniger entschlossen, seinen Sohn von der älterlichen Einwilligung zu unterrichten, welche ihn von der Verbannung nach China befreite. Die Folge war der plötzliche Befehl nach Hause zu kommen, der Magdalene erschreckte, aber Frank nicht in Verwunderung zu setzen schien. Seine Erfahrungen als Sohn ließen ihn Mr. Clares Motive leicht genug enträthseln.

—— Wenn mein Vater bei guter Laune ist, sagte er mürrisch, so liebt er es, mich wegen meines Glücksterns auszuzanken. Diese Botschaft besagt weiter Nichts, als daß er mich jetzt wieder auszanken will.

—— So gehe doch nicht hin, schlug Magdalene vor.

—— Ich muß wohl, entgegnete Frank. Es würde mir drum niemals geschenkt werden, wenn ich nicht hinginge. Er hat nun einmal seine Volle Ladung und sein Zündkraut drauf und gedenkt nun abzudrücken. So machte ers das erste Mal, als der Baumeister mich nahm; so machte ers das zweite Mal, als das Haus in der City mich nahm, und so wird ers zum dritten Male machen, jetzt, wo Du mich genommen hast. Wenn es nicht um Deinetwillen wäre, so wollte ich, ich wäre nie geboren. Ja, Dein Vater ist gut gegen mich gewesen, ich weiß es, ... ich würde haben nach China gehen müssen, wenn er nicht gewesen wäre ..., Ich bin ihm gewiß und wahrhaftig sehr zu Danke verpflichtet. Im Grunde haben wir kein Recht, etwas Anderes zu erwarten; —— doch ist es niederschlagend, uns ein ganzes geschlagenes Jahr warten zu lassen, nicht wahr?

Magdalene schloß ihm den Mund durch eine bündige Maßregel, welcher sogar Frank sich nur dankbar unterziehen konnte. Zugleich vergaß sie aber auch nicht, sich seine Unzufriedenheit nach ihrem Sinne zurecht zu legen.

—— Wie liebt er mich! dachte sie. Ein Jahr zu warten ist für ihn schon ein schweres Opfer.

Sie kehrte ins Haus zurück mit geheimen Bedauern, daß sie doch nicht noch mehr von Franks Klagen, die für sie so schmeichelhaft waren, mit angehört hatte. Miss Garths fein angelegter Spott, der sich gerade, als sie in dieser Gemüthsverfassung sich befand, über sie ergoß, war mithin lediglich eine vergebliche Verschwendung von Miss Garths Athem. Was machte sich Magdalene aus Spott? Aus was machen sich überhaupt Jugend und Liebe Etwas, außer aus sich selbst? Sie sagte dies Mal nicht einmal Bah! dazu. Sie legte in erhabenem Stillschweigen ihren Hut ab und ging langsam in das Morgenzimmer, um ihrer Mutter Gesellschaft zu leisten. Sie genoß das zweite Frühstück unter allerlei düsteren Vorahnungen von einem Streite zwischen Frank und seinem Vater. Sie beschäftigte sich ein halbes Stündchen am Piano und spielte in dieser Zeit eine Auswahl von Liedern Mendelssohns, von Chopins Mazurkas, Verdis Opern und Mozarts Sonaten, was Alles sich solchergestalt für sie zu einem Ganzen vereinigte und das eine unsterbliche Werk, betitelt »Frank«, hervorbrachte. Sie schloß das Piano und ging´hinauf in ihr Zimmer, um die Stunden in süßen, berauschenden Träumen von ihrem künftigen ehelichen Glück zu kürzen. Die grünen Fensterladen wurden geschlossen, der Ruhesessel vor den Spiegel gerückt und das Mädchen´wie gewöhnlich gerufen, und der Kamm that nun das Seinige bei dem stillen Denkproceß der Herrin durch das Medium ihres Haares, bis die Hitze und die Unthätigkeit zusammen ihren betäubenden Einfluß ausübten und Magdalene in Schlummer versank.

~~~~~~~~~~~~

Es war drei Uhr vorüber, als sie erwachte. Als sie wieder die Treppe hinunterstieg, fand sie ihre Mutter, Nora und Miss Garth unter dem offenen Säulengange vor dem Hause alle beisammen sitzen und der Kühle genießen.

Nora hatte den Eisenbahnfahrplan in der Hand. Es war oben die Rede davon, ob Mr. Vanstone den Retourzug erreichen und bei guter Zeit zurück sein werde. Dieser Stoff hatte sie zunächst auf seinen Geschäftsgang nach Grailsea geführt. Letzterer war wie gewöhnlich eine Gefälligkeit für den Müller, welcher auf seinem Pachtgute früher gedient hatte und jetzt durch bedeutende finanzielle Schwierigkeiten bedrängt wurde. Von diesem Gegenstande waren sie unmerklich auf ein oft besprochenes anderes Thema gekommen, dessen sie niemals müde wurden: das Lob von Mr. Vanstone selbst. Jede von den Dreien hatte aus eigener Erfahrung von seinem einfachen, edelmüthigen Charakter zu erzählen. Die Unterhaltung schien für seine Gattin von schmerzlichem Interesse zu sein. Sie war dem ihr bevorstehenden Stündlein jetzt zu nahe, um nicht für den einzigen Gegenstand, der allezeit den vordersten Platz in ihrem Herzen einnahm, schnell aufgeregt und reizbar zu empfinden. Ihre Augen flossen über, als Magdalene zu der kleinen Gruppe unter dem Porticus trat, ihre schwache Hand zitterte, als sie ihrer jüngsten Tochter winkte, den leeren Stuhl an ihrer Seite einzunehmen.

—— Wir sprachen eben von Deinem Vater, sagte sie sanft. O, meine Liebe, wenn Dein eheliches Leben nur so glücklich ist...

Die Stimme versagte ihr; sie bedeckte ihr Gesicht mit dem Taschentuche und legte ihr Haupt an Magdalenens Schulter. Nora sah flehentlich nach Miss Garth hin, und diese lenkte denn die Unterhaltung alsbald auf die weniger verfängliche Frage der Rückkehr Mr. Vanstones.

—— Es verlangte uns Alle zu wissen, sagte sie mit einem bedeutenden Blicke auf Magdalene, ob Ihr Vater von Grailsea noch zur rechten Zeit weggehen wird, um den Zug zu erreichen, oder ob er ihn verfehlen und genöthigt sein wird, mit Geschirr herüberzufahren. Was meinen Sie?

—— Ich meine, Papa wird den Zug verfehlen, erwiderte Magdalene, indem sie Miss Garths Wink mit ihrer gewohnten Schnelligkeit auffaßte. Das Letzte, was ihm in Grailsea am Herzen liegen wird, ist wohl sicherlich der Gedanke der Rückfahrt hierher. Wenn er je Etwas zu verrichten hat, so spart er Das immer bis auf den letzten Moment auf, ist Das nicht wahr, Mamma?

Die Frage richtete ihre Mutter genau so, wie es Magdalene beabsichtigt hatte, wieder auf.

—— Nicht wenn seine Verrichtung eine Gefälligkeitssache ist, sagte Mrs.Vanstone. Er ist gegangen, um den Müller in einer sehr bedrängten Lage zu helfen....

—— Und weißt Du nicht, was er machen wird? beharrte Magdalene. Er wird sich herumtummeln mit den Kindern des Müllers, mit der Mutter Plaudern und mit dem Vater ein Gläschen trinken. Im letzten Augenblicke, wenn er nur noch fünf Minuten übrig hat, um den Zug zu erreichen, wird er sagen: Wir wollen doch in das Abrechnungszimmer gehen und in den Büchern nachsehen. Er wird die Bücher ganz entsetzlich verwickelt finden, er wird vorschlagen, einen Rechnungsführer holen zu lassen; er wird das Geschäft kurzweg abmachen, indem er mittlerweile das Geld herleiht; er wird dann in des Müllers Wägelchen bequem zurückkutschieren und uns erzählen, wie lieblich die Gäßchen sind in der Abendkühle

Die kleine Charakterzeichnung, welche diese Worte entwarfen, war ein zu treues Bild, als daß es nicht Anerkennung hätte finden sollen. Mrs. Vanstone zeigte ihren Beifall an durch ein Lächeln.

—— Wenn Dein Vater zurückkehrt, sagte sie, so wollen wir von Deiner Rechnung die Probe machen. Ich denke —— fuhr sie fort, indem sie sich langsam in ihrem Stuhle aufrichtete, ich thue am Besten wieder hinein zugehen und auf dem Sopha zu ruhen, bis er zurückkommt.

Die kleine Gruppe unter dem Säulengange brach auf. Magdalene schlüpfte in den Garten, um Franks Bericht von seiner Unterredung mit dem Vater zu vernehmen. Die anderen drei Damen traten zusammen ins Haus. Als Mrs. Vanstone bequem auf dem Sopha untergebracht war, ließen Nora und Miss Garth sie allein, um sie ruhen zu lassen, und zogen sich in die Bibliothek zurück, die letzte Büchersendung aus London durchzusehen.

Es war ein ruhiger wolkenloser Sommertag. Die Hitze wurde durch eine leichte Brise von Westen gemildert, die Stimmen der auf einem Felde in der Nähe beschäftigten Arbeiter klangen fröhlich zum Hause herüber; die Thurmuhr der Dorfkirche ließ sich, wenn sie die Viertel schlug, infolge der Windströmung, mit hellerem Klange, mit einem lautern Tone als gewöhnlich vernehmen. Süße Düfte vom Felde und aus dem Blumengarten drangen durch die offenen Fenster herein und füllten das Haus mit ihrem Wohlgeruch, und die Vögel in Noras Vogelhause oben sangen schmetternd ihre fröhlichen Lieder in den Sonnenschein hinaus.

Als die Kirchenuhr ein Viertel nach vier Uhr schlug, ging die Thür des Morgenzimmers auf, und Mrs. Vanstone ging allein über die Flur. Sie hatte vergebens versucht, sich zu beruhigen. Sie war zu unruhig, als daß sie still liegen konnte. Einen Augenblick richtete sie ihre Schritte nach dem Säulengange, wandte sich dann und sah um sich, ungewiß wohin sie nun gehen, was sie thun sollte. Wie sie noch zögerte, erregte die halboffene Thür Von ihres Gatten Arbeitszimmer ihre Aufmerksamkeit. Das Zimmer schien in böser Unordnung zu sein. Schubkästen waren offen stehen geblieben, Röcke und Hüte, Rechenbücher und Papiere, Pfeifen und Angelruthen lagen durcheinander. Sie ging hinein und stieß die Thür zu, aber so, daß sie nicht zu klinckte.

—— Es wird mir Freude machen, sein Zimmer aufzuräumen, dachte sie bei sich selbst. Ich thue so gern Etwas für ihn, so lange ich noch nicht hilflos an mein Bett gefesselt bin.

Sie fing an, die Schubkästen in Ordnung zu bringen und fand sein Banquierbuch offen in einem derselben daliegen.

—— Mein guter, lieber Alter, wie sorglos er ist. Die Dienstboten hätten alle seine Angelegenheiten sehen können, wenn ich nicht glücklicherweise ein Mal nachgesehen hätte.

Sie machte die Schubfächer zu und wandte sich dann zu den tausend Kleinigkeiten auf einem Seitentische. Ein kleines altmodisches Notenheft kam unter den bunt durcheinander liegenden Papieren zum Vorschein, es stand in verblichener Tinte ihr Name darauf geschrieben. Sie erröthete wie ein junges Mädchen im ersten Glücke der Entdeckung.

—— Wie gut er gegen mich ist! Er denkt noch an mein armes kleines Notenbuch und hebt es um meinetwillen auf.

Als sie sich an den Tisch setzte und das Buch aufschlug, kam die Vergangenheit mit all ihrem Glück zu ihr heraufgestiegen. —— Die Uhr schlug ein Halb, schlug drei Viertel ... und noch immer saß sie da, das Notenbuch auf dem Schoße, und träumte sich glücklich in die alten Gesänge hinein und dachte dankbar der goldenen Tage, wo seine Hand die Seiten für sie umgewendet, wo seine Stimme die Worte geflüstert hatte, welche das Gedächtniß einer Frau nimmer vergißt. ——

Nora erhob sich von dem Bande, den sie las und sah nach der Uhr auf dem Kamin der Bibliothek.

—— Wenn Papa mit der Eisenbahn zurückkommt, sagte sie, so muß er in zehn Minuten hier sein.

Miss Garth fuhr zusammen und blickte schläfrig von dem Buche auf, das ihr eben aus der Hand gefallen war.

—— Ich denke nicht, daß er mit dem Zuge zurückkommen wird. Er wird, wie Magdalene scherzhaft sich ausdrückte, in dem Müllerwägelchen zurückkutschieren.

Als sie die Worte sagte, klopfte es an der Bibliotheksthüre. Der Bediente erschien und wandte sich an Miss Garth.

—— Es wünscht Sie Jemand zu sprechen, Madame.

—— Wer ist es?

—— Ich weiß es nicht, Madame. Ein Fremder, ein anständig aussehender Mann,... und er sagte, er wünsche ganz besonders Sie zu sprechen.

Miss Garth ging in die Flur hinaus. Der Diener machte die Thür hinter ihr zu und ging die Küchentreppe hinunter.

Der Mann stand gerade in der Thür, auf der Matte. Seine Augen waren unruhig, sein Gesicht war bleich er sah leidend und erschrocken aus. Er spielte zitternd mit seiner Mütze und drehte dieselbe rückwärts und vorwärts, von einer Hand zur andern.

—— Sie wollten mich sprechen? sagte Miss Garth.

—— Ich bitte um Entschuldigung, Madame.... Sind Sie nicht Mrs. Vanstone?

—— Keineswegs Ich bin Miss Garth Warum fragen Sie so?

—— Ich bin nämlich in der Schreibstube der Station Grailsea angestellt...

—— So?

—— Ich bin hierher geschickt...

Er hielt wieder inne. Seine unstäten Augen sahen nieder auf die Matte und seine rastlosen Hände würgten seine Mütze immer unbarmherziger ... Er machte seine Lippe aufs Neue naß und versuchte es noch einmal.

—— Ich bin hierher geschickt wegen einer eigenen sehr ernsten Sache.

—— Ernst für mich?

—— Ernst für Alle in diesem Hause.

Miss Garth trat einen Schritt näher auf ihn zu und behielt ihre Augen fest auf sein Gesicht gerichtet. Es überlief sie kalt trotz der Sommerhitze.

—— Halten Sie inne! sagte sie mit plötzlichem Mißtrauen und sah ängstlich zur Seite nach der Thür des Morgenzimmers. Sie war sest verschlossen.

—— Sagen Sie mir das Schlimmste und sprechen Sie nicht laut. Es ist ein Unglück geschehen. Wo?

—— Auf der Bahn. Nahe bei der Station Grailsea.

—— Der auswärts gehende Londoner Zug?

—— Nein, der abwärts gehende, ein Uhr fünfzig Minuten.

—— Gott der Allmächtige stehe uns bei! Der Zug, mit dem Mr. Vanstone nach Grailsea fuhr?

—— Derselbe. Ich wurde mit dem aufwärts gehenden Zuge geschickt, die Linie war eben wieder freigemacht worden. Sie wollten nicht schreiben, sie sagten, ich müßte »Miss Garth« aufsuchen und es ihr erzählen. Es sind sieben Reisende schwer verwundet und zwei ...

Das nächste Wort blieb ihm im Munde stecken: er hob die Hand in starrem Schweigen auf. Mit Augen, welche sich vor Schrecken weit öffneten, hob er die Hand und zeigte über Miss Garths Schulter.

Sie wandte sich ein wenig und blickte hinter sich.

Angesicht zu Angesicht mit ihr, auf der Schwelle des Arbeitszimmers des Herrn stand die Herrin des Hauses. Sie hielt ihr altes Notenbuch mechanisch fest mit beiden Händen. Sie stand da, wie aus dem Grabe gestiegen. Mit einer fürchterlichen Leere in ihren Augen, mit einer fürchterlichen Tonlosigkeit in ihrer Stimme, wiederholte sie die letzten Worte des Mannes:

—— Sieben Reifende schwer verwundet und zwei...

Ihre peinlich angestrengten Finger versagten den Dienst, das Buch entfiel ihnen, sie sank schwer nach vorn um. Miss Garth fing sie auf, bevor sie fiel... fing sie auf und wandte sich mit dem ohnmächtigen Körper der Frau auf ihren Armen nach dem Manne hin, um das Schicksal des Herren zu vernehmen.

—— Das Unglück ist angerichtet, sagte sie, Sie können nun ausreden. Ist er verwundet oder todt?

—— Todt!



Kapiteltrenner

Elftes Capitel.

Die Sonne sank tiefer, die Westwindbrise wehte kühl und erfrischend in das Haus. Wie der Abend vorrückte, kam das fröhliche Läuten im Dorfe näher und näher. Feld und Blumengarten fühlten den Einfluß der Stunde ebenfalls und strömten ihren süßesten Wohlgeruch aus. Die Vögel in Noras Vogelhaus sonnten sich in der Stille der Abendröthe und sangen dem scheidenden Tage ihr dankbares Abschiedslied.

Auf kurze Zeit in ihrem Laufe aufgehalten, ging die unbarmherzige Gewohnheit des Hauses gespenstig ihren alten Gang. Die schreckbetäubten Dienstboten nahmen blindlings ihre rettende Zuflucht wieder zu den von der Tagesstunde vorgeschriebenen Verrichtungen. Der Bediente setzte leise den Tisch für das Mittagsessen zurecht. Die Magd saß und wartete in gedankenloser Ungewißheit, mit den Heißwassergefäßen für die Schlafzimmer, die neben ihr standen in der hergebrachten Ordnung. Der Gärtner, welcher zu seinem Herrn beschieden war mit den Rechnungsbelegen für das über seine Vollmacht ausgegebene Geld, sagte, sein guter Ruf läge ihm sehr am Herzen, und ließ zu der bestimmten Zeit die Belege zurück. Die Gewohnheit, welche niemals nachgibt und der Tod, welcher Niemand verschont, begegneten sich auf den Trümmern des Glückes dieser Menschen, ... und der Tod mußte zurückstehen.

Schwer hatten sich die Gewitterwolken des Unheils über dem Hause gesammelt, schwer, doch sollten sie sich noch finsterer Zusammenziehen. Um fünf Uhr an diesem Abend hatte das hereinstürmende Unglück den ersten Schlag gethan. Bevor noch eine weitere Stunde vergangen war, folgte bei der kranken Gattin der Enthüllung von des Gatten jähem Tode der Kampf auf Leben und Tod. Sie lag hilflos auf ihrem Witwenbette ihr eigenes Leben und das Leben ihres ungeborenen Kindes hingen nur noch an einem Haar.

Nur eine Seele behielt alle ihre Kraft beisammen, nur ein rettender Geist stand hilfreich auf in dem Hause der Trauer.

Wenn Miss Garths Jugendzeit so ruhig und glücklich als ihr späteres Leben auf Combe-Raven dahin geflossen wäre, so würde auch sie den grausamen Forderungen dieser Zeit erlegen sein. Allein die Jugend der Erzieherin war durch Familienunglück geprüft und gefeit worden. Sie trat ihre schrecklichen Pflichten mit dem unerschütterlichen Muthe eines Weibes an, das zu leiden gelernt hat. Sie ganz allein hatte die schwere Aufgabe, den Töchtern zu eröffnen, daß sie keinen Vater mehr hätten, sie allein hatte die Sorge, sie aufzurichten, als ihnen die fürchterliche Gewißheit ihres herben Verlustes endlich klar geworden war.

Ihre geringste Sorge war um die ältere Schwester. Der Todesschmerz von Noras Kummer hatte sich durchgerungen zu dem natürlichen Trost der Thränen. Dies war nicht der Fall bei Magdalenen Thränen und sprachlos saß sie in dem Zimmer, wo die Enthüllung von ihres Vaters Tode sie zuerst getroffen hatte. Ihr Gesicht, unnatürlich versteinert durch den starren Kummer des Alters —— ein geisterbleiches eintöniges Weiß, fürchterlich anzusehen. Nichts konnte sie aufrichten, Nichts sie innerlich befreien. Sie sagte nur:

—— Sprecht nicht mit mir, berührt mich nicht. Laßt es mich allein tragen.

Dann verfiel sie wieder in ihr Schweigen. Gleich der erste große Schmerz, welcher finster in das Leben der Schwestern getreten war, hatte, wie es schien, bereits ihren gewöhnlichen Charakter umgewandelt.

Das Zwielicht sank herab und verschwand, und die Sommernacht kam glänzend heraus. Als das erste sorgfältig verhüllte Licht in dem Krankenzimmer angezündet wurde, kam der Arzt, der von Bristol herbei geholt war, an, um sich mit dem Hausarzte der Familie zu berathen. Er konnte keinen Trost geben: er konnte nur sagen:

—— Wir müssen versuchen und hoffen. Der Schlag, welcher sie traf, als sie die Nachricht von des Gatten Tode überraschte, hat ihre Kraft zu einer Zeit niedergeworfen, wo sie dieselbe gerade am Nöthigsten hatte. Keine Anstrengung soll gespart werden, um sie zu erhalten. Ich will die Nacht hier bleiben.

Er öffnete, als er sprach, eins von den Fenstern, um mehr Luft herein zu lassen. Die Aussicht ging auf die Anfahrt vor dem Hause und die Landstraße draußen. Kleine Gruppen von Leuten standen vor der Hausthür und sahen herein.

—— Wenn diese Personen irgendwie laut werden, sagte der Doktor, so müssen sie bedeutet werden, wegzugehen.

Es war nicht nöthig, sie zu bedeuten. Es waren nur die Arbeiter, welche auf den Ländereien des Verstorbenen gearbeitet hatten und darunter hin und wieder einige Frauen und Kinder aus dem Dorfe. Sie dachten alle seiner. Einige sprachen von ihm, und es erhöhte ihre schwache Denkkraft, wenn sie dabei sein Haus ansehen durften. Die Vornehmen der Gegend waren meist freundlich gegen sie (sagten die Männer), aber wie er war doch Keiner. Die Frauen erzählten einander flüsternd von seinem tröstlichen Wesen, wenn er in ihre Häuschen kam.

—— Er war ein fröhlicher Herr, die gute Seele, und dachte an uns, er kam niemals und starrte uns an, wenn Essenszeit war. Die Anderen, vor denen mag uns Gott behüten und bewahren... Alles was er jemals sagte, war: Nächstes Mal besser.

So standen sie und sprachen von ihm und sahen nach dem Hause und dem Grundstück und gingen allmälich zu Zweien und Dreien hinweg mit dem dunklen Gefühl, daß sie sich des Anblicks seines freundlichen Angesichts niemals wieder erfreuen würden. Der beschränkteste Kopf unter ihnen wußte an dem Abend, daß die rauhen Wege der Armuth nunmehr, wo er dahin gegangen war, noch einmal so rauh für sie sein würden.

Ein wenig später wurde an die Thür des Schlafzimmers die Nachricht gebracht, daß der alte Mr. Clare allein ins Haus gekommen sei und daß er unten in der Flur warte, um zu hören, was der Arzt sage. Miss Garth war nicht im Stande selbst zu ihm hinunter zu gehen: sie ließ es ihm bestellen. Er sagte zu dem Diener:

—— Ich will in zwei Stunden wieder kommen und mich erkundigten.

Darauf ging er langsam fort. Unähnlich wie er war im Vergleich mit anderen Männern ließ er nach dem jähen Tode seines alten Freundes keine merkbare Veränderung an sich wahrnehmen. Das Mitgefühl, das sich in seiner persönlichen Erkundigung, um deren Willen er in das Haus gekommen war, aussprach, war das einzige Zeichen menschlicher Regung; welches sich der schroffe, unbegreifliche Mann entschlüpfen ließ.

Er kam wieder, als die zwei Stunden Vorüber waren, und dies Mal sprach Miss Garth mit ihm.

Sie reichten sich schweigend die Hände. Sie wartete und raffte sich selbst zusammen, um ihn anhören zu können, wenn er von seinem verlorenen Freunde sprechen würde. Doch nein, er erwähnte nicht ein Mal das fürchterliche Ereigniß, nicht ein einziges Mal spielte er an auf den fürchterlichen Todesfall Er sprach nur die Worte:

—— Ist es besser oder schlimmer mit ihr?

Weiter sagte er Nichts. War der Zoll seines Beileids wegen des Gatten so vollständig von dem Ausdrucke seiner Besorgniß um die Gemalin desselben unterdrückt? Der Charakter des Mannes, der sich unbeugsam gegen die Welt und gegen die Gewohnheiten der Menschen auflehnte, rechtfertigte vielleicht eine solche Erklärung seines Benehmens. Er wiederholte seine Frage:

—— Geht es besser oder schlimmer mit ihr?

Miss Garth antwortete ihm:

—— Nicht besser; wenn eine Veränderung da ist, so ist es eher zum Schlimmeren.

Sie sprach diese Worte am Fenster des Morgenzimmers, welches sich nach dem Garten öffnete. Mr. Clare hielt inne, als er die Antwort auf seine Frage gehört hatte, that dann einige Schritte, als ob er fortgehen wollte, wandte sich aber plötzlich wieder um und sprach von Neuem.

—— Hat der Doktor sie aufgegeben? fragte er.

—— Er hat uns nicht verschwiegen, daß sie in Gefahr schwebt. Wir können nur beten für sie.

Der alte Mann legte s eine Hand aus Miss Garths Arm, als sie ihm antwortete, und sah ihr aufmerksam ins Gesicht.

—— Sie glauben an das Gebet ——? sagte er.

Miss Garth wich mit Schmerz, im Angesicht vor ihm zurück.

—— Sie hätten es mir ersparen sollen, Herr, in einer solchen Zeit wie diese eine solche Frage zu hören!

Er beachtete ihre Antwort nicht, seine Augen waren fort und fort auf ihr Gesicht geheftet.

—— Beten Sie, sagte er, wie Sie noch nie zuvor gebetet haben, für die Erhaltung von Mrs. Vanstones Leben.

Und damit ging er fort. Seine Stimme und Art und Weise drückten eine unmittheilbare Furcht vor der Zukunft aus, welche seine Worte nicht ausgesprochen hatten. Miss Garth ging ihm bis in den Garten nach und rief ihn an. Er hörte sie, aber er kehrte nicht wieder um. Er beschleunigte seine Schritte, als ob er vermiede, mit ihr zusammen zu treffen. Sie beobachtete ihn über den freien Rasenplatz weg im warmen Sommermondlichte. Sie sah seine weißen greisenhaften Hände, sah sie plötzlich gegen den schwarzen Hintergrund der Buschanlagen erhoben und gerungen über feinem Kopfe. Sie fielen herab, die Bäume nahmen ihn in ihre Schatten auf; und er war verschwunden.

Miss Garth begab sich zurück zu der Leidenden auf ihrer Seele die Last einer neuen Sorge.

Es war jetzt elf Uhr vorüber. Eine kurze Zeit war vergangen, seit sie die Schwestern gesehen und gesprochen hatte. Die Fragen, welche sie an eines von den Dienstmädchen richtete, brachten aus diesem nur die Meldung heraus, daß Beide auf ihren Zimmern seien. Sie verschob ihre Rückkehr an das Bett der Mutter, um vorher noch einige letzte Trostesworte den Töchtern zu sagen, ehe sie dieselben für die Nacht verließ. Noras Zimmer war das nächste. Sie öffnete leise die Thür und sah hinein. Die knieende Gestalt neben dem Bette zeigte ihr an, daß Gottes Hilfe der vaterlosen Waise in ihrer Kummersnoth nahe war. Dankesthränen sammelten sich in ihren eigenen Augen, als sie das sah, dann machte sie die Thür leise wieder zu und ging in Magdalenens Zimmer. Dort hielt sie ungewiß ihre Schritte auf der Schwelle an und wartete einen Augenblick, ehe sie eintrat.

Ein Geräusch in dem Zimmer erreichte ihr Ohr, das eintönige Rauschen eines Frauenkleides, bald näher, bald ferner; ohne Unterlaß von einem Ende zum andern über den Boden gehend, ein Geräusch, welches ihr sagte, daß Magdalene in der Einsamkeit ihrer Kammer auf und abging. Miss Garth klopfte. Das Rauschen hörte auf, die hür öffnete sich, und das trauernde Mädchenangesicht stand vor ihr, verschlossen in eisig kalte Verzweiflung, die großen hellen Augen mechanisch in die ihrigen blickend, so leer und so thränenlos wie immer.

Dieser Blick that dem Herzen der gläubigen Frau unendlich wehe, welche sie auferzogen und geliebt hatte von ihrer Kindheit an. Sie nahm Magdalenen zärtlich in ihre Arme.

—— O meine Liebe, sagte sie, noch keine Thränen?! O, könnte ich Sie sehen, wie ich Nora gesehen habe! Sprechen Sie doch mit mir, Magdalene, versuchen Sie, ob Sie mit mir sprechen können!

Sie versuchte es und sprach:

—— Nora, sagte sie, fühlt keine Gewissensbisse Er gehorchte nicht Noras Interessen, als er in seinen Tod ging, er gehorchte nur meinen.

Mit dieser schrecklichen Antwort drückte sie ihre kalten Lippen auf Miss Garths Wangen.

—— Lassen Sie mich es allein tragen, sagte sie und schloß sanft die Thür.

Wieder stand Miss Garth auf der Schwelle, und wieder kam und ging das Geräusch des rauschenden Gewandes bald nahe, bald fern, hin und her mit einer grausamen, mechanischen Regelmäßigkeit, welche die wärmste Sympathie erkältete und die kühnste Hoffnung niederschlug.

Die Nacht verging. Es war ausgemacht worden, daß, wenn keine Veränderung zum Bessern am Morgen eintreten würde, der Londoner Arzt, welchen Mrs. Vanstone einige Monate früher zu Rathe gezogen hatte, zum nächsten Tag herbeschieden werden sollte. Es trat keine Besserung ein, und man schickte nach dem Arzte. Als der Morgen vorrückte, kam Frank aus dem kleinen Hause, um sich zu erkundigen. Hatte Mr. Clare seinem Sohne die Pflicht, der er den Tag vorher sich selbst unterzogen, vielleicht nur aus Widerwillen auferlegt, um nicht nach Dem, was er Miss Garth gesagt hatte, wieder mit ihr zusammenzukommen? Es mochte wohl so sein. Frank konnte darüber kein neues Licht bringen, war er doch nicht im Vertrauen des Vaters. Er sah bleich und verwirrt aus. Seine ersten Fragen nach Magdalenen zeigten, wie tief sein weiches Gemüth durch den Unglücksfall erschüttert war. Er war nicht im Stande, seine eigenen Fragen herauszubringen, die Worte zitterten ersterbend auf seinen Lippen, und seine schnell bereiten Thränen traten ihm ins Auge. Miss Garths Herz erwärmte sich für ihn zum ersten Male. Der Kummer hat Eines an sich, was edel ist, er nimmt alle und jede Theilnahme an, komme sie, woher sie wolle. Sie sprach dem jungen Manne durch einige wenige Worte Muth ein und gab ihm beim Gehen die Hand.

Noch Vormittag kehrte Frank mit einem andern Auftrage zurück. Sein Vater wünschte zu wissen, ob nicht Mr. Pendril auf Combe-Raven an diesem Tage erwartet werde. Wenn die Ankunft des Advocaten in Aussicht stehe, so solle Frank ihn an der Station erwarten und ihn mit nach dem Nachbarhause nehmen, wo ein Bett für ihn bereit gehalten werden solle. Diese Botschaft nahm Miss Garth Wunder. Sie zeigte ihr, daß Mr. Clare von der Absicht seines verstorbenen Freundes, nach Mr. Pendril zu senden, unterrichtet war. War des alten Mannes vorsorgliches Erbieten seiner Gastfreundschaft vielleicht ein anderer indirecter Ausdruck des natürlichen menschlichen Beileids, das er verkehrterweise verbarg? Oder dachte er schon im Voraus an gewisse geheime Umstände, welche Mr. Pendrils Anwesenheit nöthig machten, von welcher zur Zeit die Verwaiste Familie nicht die entfernteste Ahnung hatte? Miss Garth hatte das Herz zu voll und zu wenig Hoffnung, als daß sie sich bei einer dieser Erwägungen aufgehalten hätte. Sie sagte Franc daß Mr. Pendril um drei Uhr erwartet würde und schickte ihn mit bestem Dank zurück.

Kurz nach seinem Weggehen wurden die Besorgnisse, welche ihre Seele in Betreff Magdalenens etwa hegen konnte, durch bessere Nachrichten von ihr gemildert, als sie die Erfahrung von letzter Nacht hätte füglich erwarten lassen. Noras Einfluß war thätig gewesen, um die Schwester aufzurichten, und Noras ruhiges Mitgefühl hatte dem verhaltenen Kummer endlich einen Ausgang verschafft. Magdalene hatte schwer gelitten, sie mußte bei einer Anlage wie die ihres Charakters unter der Bemühung, sie zu trösten, leiden. Die innen verhaltenen Thränen waren nicht leicht gekommen, sie waren mit einem quälenden, leidenschaftlichen Ungestüme zum Ausbruch gekommen. Aber Nora hatte sie nicht eher verlassen, als bis der Kampf zu Ende und die Ruhe eingetreten war. Diese günstigere Nachricht gab Miss Garth Muth, sich in ihr eigenes Zimmer zurückzuziehen und der Ruhe zugenießen, deren sie so sehr bedurfte. An Leib und Seele aufgerieben, schlief sie aus plötzlicher Erschöpfung und hatte ein paar Stunden einen schweren Schlaf ohne Träume. Es war zwischen drei und vier Uhr Nachmittags, als sie von einem der Dienstmädchen geweckt wurde. Das Mädchen hatte ein Billet in der Hand, ein Billet, das Mr. Clare, der Sohn, mit der Aufforderung, daß es augenblicklich an Miss Garth abgegeben werde, zurückgelassen hatte. Der Name auf dem unteren Ende des Umschlags war »William Pendril«. Der Advocat war angekommen.

Miss Garth öffnete das Billet. Nach einigen einleitenden Sätzen des Bedauerns und des Beileids zeigte der Schreiber seine Ankunft unter Mr. Clares Dach an und ging dann offenbar infolge seines Berufs weiter, um ein sehr auffallendes Verlangen zu stellen.

—— Wenn, schrieb er, eine Veränderung zum Bessern bei Mrs. Vanstone eintreten sollte mag es auch nur eine Besserung für kurze Zeit, oder eine andauernde Besserung, auf welche wir Alle hoffen, sein ——: in beiden Fällen lassen Sie mich es augenblicklich wissen. Es ist von der äußersten Wichtigkeit, daß ich mit ihr spreche, sobald sie Kraft genug erlangt, um mir fünf Minuten ihre Aufmerksamkeit zu schenken und um nach Ablauf dieser Zeit im Stande zu sein, ihren Namen zu schreiben. Haben Sie die Güte, mein Begehren im strengsten Vertrauen den zugezogenen Aerzten mitzutheilen. Diese werden die ungeheure Wichtigkeit begreifen, welche ich auf diese Unterredung lege, wenn ich Ihnen sage, daß ich Anordnung getroffen habe, alle anderen Geschäfte auf mich zu nehmen und daß ich mich stets in Bereitschaft halte, um Ihrer Aufforderung sofort nachzukommen in jeder Stunde des Tages und der Nacht.

Solchergestalt schloß der Brief. Miss Garth las ihn zwei Mal durch. Beim zweiten Lesen verbanden sich in ihrer Seele durch ein dunkles Band des Zusammenhanges das Ersuchen, das der Advocat an sie jetzt stellte, mit den Abschiedsworten, welche die vorige Nacht Mr. Clares Lippen entschlüpft waren. Es war also noch irgend ein anderes ernstes Interesse gefährdet, das Mr. Pendril und Mr. Clare kannten, noch außer dem ersten und heiligsten Interesse der Wiederherstellung von Mrs. Vanstone. Wen betraf es? Die Kinder? Wurden sie von irgend einem neuen Unheile bedroht, welches durch die Unterschrift der Mutter abgewendet werden konnte? Was sollte das bedeuten? Sollte es bedeuten, daß —— Mr. Vanstone gestorben war, ohne ein Testament zu hinterlassen?

Bei ihrer traurigen und verwirrten Gemüthsverfassung war Miss Garth nicht im Stande, bei sich selber zur Klarheit zu kommen, wie sie in einer glücklichern Zeit wohl gekonnt hätte. Sie eilte in das Vorzimmer von Mrs. Vanstones Gemach und übergab, nachdem sie Mr Pendrils Stellung zur Familie dargelegt hatte, seinen Brief den Händen der Aerzte. Beide antworteten, ohne sich zu besinnen, in demselben Sinne: Mrs. Vanstones Befinden mache eine solche Unterredung, wie sie der Advocat wünsche, schlechterdings zur Unmöglichkeit. Wenn sie sich von der gegenwärtigen furchtbaren Erschöpfung erholt hätte, sollte Miss Garth sofort von der Besserung in Kenntniß gesetzt werden. Mittlerweile sollte Mr. Pendril als Antwort das eine Wort mitgetheilt werden: unmöglich.

—— Sie wissen, welche Wichtigkeit Mr. Pendril der Unterredung beilegt? sagte Miss Garth.

Ja, beide Doktoren wußten es.

—— Mein Geist ist in dieser schrecklichen Noth so wirr und rathlos, meine Herren. Kann wohl Einer von Ihnen errathen, weshalb die Unterschrift erforderlich ist? Oder was der Gegenstand der Unterredung sein mag? Ich habe Mr. Pendril nur gesehen, wenn er bei früheren Besuchen hierher kam, ich habe kein Recht, das mir gestattete, ihn zu fragen. Wollen Sie den Brief noch einmal lesen? Glauben Sie, es geht daraus hervor, daß Mr. Vanstone kein Testament gemacht hat?

—— Ich denke kaum, daß Dieses daraus hervorgeht, sagte einer von den Doktoren. Aber selbst gesetzt, Mr. Vanstone wäre ab intestato gestorben, so nimmt sich doch das Gesetz der Interessen seiner Witwe und seiner Kinder getreulich an...

—— Würde Dies auch der Fall sein, so fiel der andere Arzt ein, wenn das Vermögen in Grundbesitz besteht?

—— Das weiß ich in diesem Falle so genau nicht. Wissen Sie vielleicht zufällig, Miss Garth, ob Mr. Vanstones Vermögen in Capitalien oder in Ländereien besteht?

—— In Capitalien, erwiderte Miss Garth. Ich habe es bei mehr als einer Gelegenheit von ihm selbst gehört.

—— Dann kann ich Ihre Seele beruhigen aus meiner eigenen Erfahrung. Das Gesetz giebt, wenn er ohne Testament stirbt, ein Drittheil seines Vermögens der Witwe und theilt den Rest gleichmäßig unter die Kinder.

— Aber wenn Mrs. Vanstone....

—— Wenn Mrs. Vanstone sterben sollte, fuhr der Doctor fort, die Frage beendigend, die Miss Garth nicht den Muth hatte, zu vollenden, glaube ich recht unterrichtet zu sein, wenn ich Ihnen sage, daß das Vermögen nach dem Gange des Rechts den Kindern zufällt. Was also auch für eine dringende Angelegenheit in der Unterredung zur Sprache kommen mag, welche Mr. Pendril verlangt, ich kann keinen Grund dafür sehen, dieselbe mit Mr. Vanstones Intestatverlassenschaft in Verbindung zu bringen. Aber auf jeden Fall richten Sie nur getrost zu Ihrer eigenen Beruhigung die Frage an Mr. Pendril selbst.

Miss Garth ging, um, den von dem Doktor gegebenen Rath zu befolgen. Nachdem sie Mr. Pendril den ärztlichen Bescheid mitgetheilt, welcher ihm die nachgesuchte Unterredung so rund abschlug, fügte sie in kurzen Worten die Rechtsfrage hinzu, welche sie an die Doctoren gerichtet hatte, und deutete in zarter Weise auf ihre natürliche Scheu hin, nach den Beweggründen fragend, welche den Rechtsanwalt vermocht hätten, jenes Ersuchen zu stellen. Die Antwort, welche sie erhielt, war im höchsten Grade geschraubt: Sie brachte ihr durchaus keine günstige Meinung von Mr. Pendril bei. Er bestätigte nur in allgemeinen Ausdrücken die Auslegung des Gesetzes, wie sie die Doctoren ihr gegeben hatten, sprach seine Absicht aus, in dem Nachbarhause zu verweilen in der Hoffnung, daß eine Aenderung zum Bessern Mrs. Vanstone in den Stand setzen werde, ihn anzunehmen, und schloß seinen Brief ohne die geringste Erklärung seiner Gründe und ohne ein auf die Hauptfrage, das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines letzten Willens von Mr.Vanstone, bezügliches Wort der Aufklärung.

Die absichtliche Vorsicht der Antwort des Advocaten blieb für Miss Garths Gemüth eine Quelle neuer Unruhe, bis das lange ersehnte Ereigniß des Tages alle ihre Gedanken aus ihre alles Andere bei Seite stellende Hauptsorge wegen Mrs. Vanstone zurücklenkte.

In den ersten Abendstunden traf der Arzt von London ein. Er beobachtete lange am Bette der Leidenden, er blieb noch länger in Berathung mit seinen ärztlichen Collegen und ging dann wieder in das Krankenzimmer, bevor Miss Garth seiner habhaft werden konnte, damit er ihr die Meinung mittheile, welche er nunmehr gefaßt habe.

Als er zum zweiten Male in das Vorzimmer heraustrat, nahm er schweigend einen Stuhl neben ihr ein. Sie sah in sein Gesicht, und die letzte schwache Hoffnung erstarb in ihr, ehe er die Lippen öffnete.

—— Ich muß die harte Wahrheit sagen, sagte er sanft, Alles was nur geschehen konnte, ist in der That geschehen. Die nächsten vierundzwanzig Stunden im höchsten Falle werden Ihrer Angst ein Ende machen. Wenn die Natur nicht eine Anstrengung macht in jener Zeit —— ich bedaure es sagen zu müssen —— müssen Sie sich auf das Schlimmste gefaßt machen.

Diese Worte sagten Alles: sie verkündigten das baldige Ende.

Die Nacht verging, und sie lebte noch. Der nächste Tag kam, und sie fristete sich hin, bis die Uhr fünf zeigte. Um diese Zeit hatte die Nachricht vom Tode ihres Gatten den tödtlichen Schlag gegen sie geführt. Als die Stunde wieder herum war, ließ sie die Gnade Gottes eingehen in eine bessere Welt. Ihre Töchter lagen auf ihren Knieen neben dem Bette, als sie ihren Geist aushauchte. Sie verließ sie ohne Bewußtsein von deren Gegenwart, in Gnaden und zum Glück bewahrt vor dem Schmerze des letzten Lebewohls.

Ihr Kind überlebte sie, bis der Abend zu Ende ging und der Sonnenuntergang nur matt am westlichen Himmel sichtbar war. Als die Dunkelheit kam, flackerte das Licht des kleinen schwächlichen Lebens, das vom ersten Augenblick an nur zart und spärlich war, noch ein Mal auf und erlosch. Alles, was irdisch war an Mutter und Kind, lag diese Nacht auf demselben Bette. —— Der Engel des Todes hatte sein schreckliches Gebot erfüllt, und die beiden Schwestern standen allein in der Welt.



Kapiteltrenner

Zwölftes Capitel.

Früher als gewöhnlich am Morgen des Donnerstags, des Zweiundzwanzigsten Juli, erschien Mr. Clare in der Thür seines Häuschens und trat in den kleinen Gartenstreifen an seiner Wohnung.

Als er ein paar Mal hin- und zurückgegangen war, trat ein magerer, ruhiger Mann mit grauen Haaren zu ihm, dessen persönliche Erscheinung vollständig ohne besondere Kennzeichen irgend welcher Art war, dessen ausdrucksloses Gesicht und höflich ruhiges Benehmen Nichts boten, was Tadel verdiente und Nichts, was Widerwillen einflößte. Dies war Mr. Pendril, Dies war der Mann, von dessen Lippen das künftige Schicksal der Waisen auf Combe-Raven abhing.

—— Die Zeit rückt heran, sagte er, indem er nach den Buschanlagen hinübersah, als er zu Mr. Clare trat. Meine Bestellung zu Miss Garth ist zu elf Uhr: es fehlen nur noch zehn Minuten an der Stunde.

—— Wollen Sie allein mit ihr sprechen? fragte Mr. Clare.

—— Ich überließ die Entscheidung Miss Garth, nachdem ich sie vor Allem zuvor in Kenntniß gesetzt hatte, daß die Umstände, welche ich ihr zu entdecken haben würde, von einer sehr ernsten Art seien.

—— Und hat sie entschieden?

—— Sie gab mir schriftlich Nachricht, daß sie den beiden Töchtern meine Bestellung mitgetheilt und die Andeutung wiederholt habe, welche ich ihr gegeben habe. Die ältere von den Beiden scheut sich —— und wer kann sich darüber wundern? —— vor jeder Besprechung betreffs der Zukunft, welche ihre Gegenwart in einer so kurzen Frist als der Tag nach der Beerdigung ist, erheischt. Die jüngere scheint keine Meinung darüber geäußert zu haben. Wie ich mir denke, läßt sie sich von dem Beispiele ihrer Schwester dabei passiv leiten. Meine Unterredung wird daher mit Miss Garth allein stattfinden, und es ist mir ein großer Trost, Dies zu wissen.

Er sprach die letzten Worte mit mehr Nachdruck und Wärme, als er gewohnt zu sein schien. Mr. Clare blieb daher stehen und sah seinen Gast aufmerksam an.

—— Sie sind beinahe so alt als ich bin, mein Herr, sagte er. Hat alle Ihre langjährige Erfahrung als Anwalt Sie noch immer nicht hart gemacht?

—— Ich wußte noch nicht, wie wenig sie mich hart gemacht hat, erwiderte Mr. Pendril ruhig, bis ich gestern von London zurückkam, um bei der Beerdigung zugegen zu sein. Ich war nicht darauf gefaßt, daß die Töchter entschlossen waren, ihre Aeltern zum Grabe zu geleiten. Ich meine, ihre Gegenwart machte die Schlußscene dieses schrecklichen Unglücks doppelt peinlich und doppelt rührend; Sie sahen, wie die Menge Leute dadurch ergriffen wurde, ....und sie kannte den wahren Sachverhalt noch nicht, sie wußte Nichts von der grausamen Nothwendigkeit, die mich diesen Morgen in das Haus zurückführt. Das Gefühl dieser Nothwendigkeit und der Anblick jener armen Mädchen in einer Zeit, wo ich meine harte Pflicht gegen sie am Schmerzlichsten fühlte, erschütterten mich, wie ein Mann von meinen Jahren und meinem Lebensberufe nicht oft durch ein Unglück, welches da ist, oder eine Gefahr, welche droht, erschüttert wird. Ich habe mich heute früh noch nicht erholt, ich habe mich noch immer nicht selbst wieder gefunden.

—— Die Fassung eines Mannes, wenn er ein Mann ist, wie Sie, kommt mit dem Augenblicke, der sie von Ihnen fordert, sagte Mr. Clare. Sie haben doch gewiß Pflichten zu erfüllen gehabt, welche in ihrer Art so schwere Prüfungen waren, als die Pflicht, welche Ihnen heute früh obliegt.

Mr. Pendril schüttelte mit dem Kopfe.

—— Manche Pflichten, die eben so ernster Natur waren, manche Geschichten, die der Romantik mehr Stoff boten. Aber keine Pflicht, die eine solche Prüfung enthielte, keine Geschichte, die so hoffnungslos wäre, als diese.

Nach diesen Worten trennten sie sich. Mr. Pendril Verließ den Garten und ging auf dem Anlagenwege, der gen Combe-Raven führte, weiter. Mr. Clare trat in seine Behausung zurück.

Als er den Durchgang erreichte, blickte er durch die offene Thür seines kleinen Besuchszimmers und sah Frank darin sitzen in regungslosem Schmerz, das Haupt müde auf die Hand gelehnt.

—— Ich habe von Deinen Principalen in London Antwort erhalten, sagte Mr. Clare. In Erwägung des Vorgefallenen wollen sie das Anerbieten, das sie Dir gemacht haben, noch einen Monat offen erhalten.

—— Frank wechselte die Farbe und erhob sich in nervöser Aufregung vom Stuhle.

—— Sind meine Aussichten anders geworden? fragte er. Sollen Mr. Vanstones Pläne für meine Zukunft nicht mehr ausgeführt werden? Er sagte Magdalenen, daß sein letzter Wille für sie gesorgt habe. Sie wiederholte mir seine Worte, sie sagte, ich sollte wissen, was seine Güte und Großmuth für uns Beide gethan hätten. Wie kann sein Tod dabei Etwas ändern? Ist Etwas vorgefallen?

—— Warte, bis Mr. Pendril von Combe-Raven zurückkommt, sagte sein Vater. Frage ihn, mich frage nicht.

Die schnell bereiten Thränen traten Frank ins Auge.

—— Du wirst doch nicht hart gegen mich sein? bat er mit zagender Stimme. Du wirst doch nicht verlangen, daß ich nach London gehe, ohne Magdalenen zuvor gesehen zu haben?

Mr. Clare sah den Sohn gedankenvoll an und dachte eine kleine Weile nach, ehe er antwortete.

—— Du kannst Deine Thränen trocknen, sagte er. Du sollst Magdalenen sehen, ehe Du zurückgehst.

Er verließ das Zimmer, als er diesen Bescheid gegeben hatte, und zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. Die Bücher lagen bereit da zur Hand, wie gewöhnlich. Er öffnete eines derselben und setzte sich, um in der gewöhnlichen Weise zu lesen. Aber seine Aufmerksamkeit schweifte ab, und seine Augen sahen von Zeit zu Zeit nach dem leeren Stuhle gegenüber hin; dem Stuhle, auf welchem sein alter Freund und Nachbar so manches, manches Jahr vorher gesessen und sich mit ihm voll heiterer Laune herumdisputirt hatte. Nach einem Kampfe mit sich selbst schloß er das Buch.

—— Der verwünschte Stuhl! sagte er, er wird von ihm erzählen, und ich muß zuhören.

Er nahm seine Pfeife von der Wand und füllte sie, ohne es zu wissen, mit Tabak. Seine Hand zitterte, seine Augen wanderten zurück zu der alten Stelle, und ein schwerer Seufzer rang sich unwillkürlich aus seiner Brust. Der leere Stuhl war das einzige irdische Argument, für welches er keine Antwort fand: sein Herz gestand seine Niederlage ein und machte seine Augen thränenfeucht wider seinen Willen.

—— Er hat doch zuletzt die Oberhand über mich gewonnen, sagte der rauhe alte Mann. Es ist eine weiche Stelle in mir übrig, und er hat sie gefunden.

Mittlerweile trat Mr. Pendril in die Anlagen und verfolgte den Weg, welcher zu dem einsamen Garten und dem Verödeten Hause führte. Er begegnete an der Thür dem Bedienten, welcher anscheinend seine Ankunft erwartete.

—— Ich habe eine Bestellung zu Miss Garth. Ist sie bereit mich zu sprechen?

—— Ganz bereit, mein Herr.

—— Ist sie allein?

—— Ja, mein Herr.

—— In dem Zimmer, das Mr. Vanstones Arbeitszimmer war?

—— In demselben Zimmer, mein Herr.

Der Diener öffnete die Thür, und Mr. Pendril trat ein!

Die Erzieherin stand allein an dem Bibliotheksfenster. Der Morgen war drückend heiß, und sie schob den unteren Fensterflügel in die Höhe, [In England sind die Fenster meist Schiebefenster, aus einem oberen und einem unteren Theile bestehend, eine Einrichtung, wie wir sie bei uns annähernd in den Ladenfenstern haben. W.], um mehr Luft in das Zimmer zu lassen, als Mr. Pendril hereinkam.

Sie machten vor einander Verbeugungen mit einer so förmlichen Höflichkeit, daß sich dadurch auf beiden Seiten ein gewisses unliebsames Gefühl von Zurückhaltung aussprach. Mr. Pendril war einer Von den vielen Männern, welche auf den oberflächlichen Beobachter einen höchst unvortheilhaften Eindruck machen, sobald sie unter dem Einflusse starker geistiger Aufregung stehen, welche sie eben, weil sie müssen, zu beherrschen versuchen. Miss Garth auf der andern Seite hatte die unangenehm auf die Goldwage der Fürsichtigkeit gelegten Worte keineswegs vergessen, in welchen der Sachwalter auf ihren Brief zu antworten für gut befunden hatte. Die natürliche Bangigkeit, welche sie betreffs dieser ihrer Unterredung zum Voraus fühlte, wurde also durch ein günstiges Vorurtheil von dem Manne, welcher jene Unterredung nachsuchte, durchaus nicht gemildert. Als sie einander in der Stille des Sommermorgens gegenüber standen, Beide schwarz gekleidet, —— hier Miss Garths harte Züge, infolge des frischen Kummers eingefallen und hager, dort das kalte, farblose Angesicht des Anwaltes, aus dem jeder hervorstechende Ausdruck verbannt war, indem sich nur Geschäftsdrang, aber weiter gar Nichts aussprach: so würde es schwer gewesen sein, zwei Personen ausfindig zu machen, welche jedweder gewöhnlichen Sympathie äußerlich ferner gestanden hätten, als diese zwei, welche jetzt zusammen gekommen waren, die eine zu erzählen, die andere zu hören, was für Geheimnisse der Todte hinterlassen habe.

—— Ich muß es äußerst bedauern, Miß Garth, Ihnen in solcher Zeit wie diese ist, beschwerlich werden zu müssen. Allein Umstände ließen mir, wie ich Ihnen bereits entwickelt habe, keine andere Wahl.

—— Wollen Sie sich nicht eines Stuhles bedienen, Mr. Pendril? Sie wünschten mich in diesem Zimmer zu sprechen, glaube ich?

—— Nur in diesem Zimmer, da Mr. Vanstones Papiere hier aufbewahrt werden und ich es für nöthig finden möchte, mich mit einigen derselben zu beschäftigen.

Nach diesem formellen Austausch von Frage und Antwort setzten sie sich gegenüber an einen nahe beim Fenster stehenden Tisch. —— Der eine Theil wartete darauf, das Wort zu ergreifen, der andere wartete darauf, die Eröffnungen zu hören. Es war einen Augenblick lang still im Zimmer. Mr. Pendril brach dieses Stillschweigen, indem er die jungen Damen mit den gewöhnlichen Fragen und den gewöhnlichen Beileidsbezeugungen erwähnte. Miss Garth antwortete ihm mit derselben Förmlichkeit, in demselben höflichen Tone. Es trat eine zweite Pause in der Unterhaltung ein. Das Summen der Fliegen in den Immergrüngebüsch unter dem Fenster drang schläfrig in das Zimmer herein, und der schwere Schritt eines schwerfüßigen Wagenpferdes, welches auf der Landstraße an der Gartenmauer hintrabte, war in der Stille so hörbar, als wenn es Nacht gewesen wäre.

Der Advocat raffte seine schlaffen Lebensgeister entschlossen zusammen und sprach in diesem Sinne, als er die nächsten Worte vorbrachte.

—— Sie haben einigen Grund, Miss Garth, begann er nicht ganz zufrieden zu sein mit meinem früheren Benehmen gegen Sie, und zwar in einem Punkte. Während der tödtlichen Krankheit von Mrs. Vanstone richteten Sie einen Brief an mich, der gewisse Fragen enthielt, welche zu beantworten mir, so lange sie lebte, unmöglich war. Ihr beklagenswerther Tod entbindet mich der Zurückhaltung welche ich mir selbst auferlegt hatte, und gestattet mir oder vielmehr verpflichtet mich zu reden. Sie sollen erfahren, welche ernsten Gründe ich hatte, um Tag und Nacht hindurch zu wachen, in der Hoffnung, die Unterredung zu erhalten, welche unglücklicher Weise niemals statt gefunden hat. Zur Rechtfertigung Mr. Vanstones noch im Grabe werden Ihre eigenen Augen Sie überzeugen, daß er sein Testament gemacht hat.

Er erhob sich, schloß eine kleine eiserne Truhe in der Ecke des Zimmers auf und kehrte an den Tisch zurück mit einigen zusammen gebrochenen Bogen Papier, welche er vor Miss Garths Augen aus einander brach. Als sie die ersten Worte gelesen: »Im Namen Gottes, Amen!« wandte er den Bogen um und zeigte auf das Ende der nächsten Seite. Sie sah die wohlbekannte Unterschrift: »Andreas Vanstone.« Sie sah die gewöhnlichen Atteste zweier Zeugen und das Datum der Urkunde, der einer mehr als fünf Jahre zurückliegenden Zeit angehörte. Nachdem der Advocat ihr so die Ueberzeugung von der Formrichtigkeit des letzten Willens beigebracht hatte, kam er ihr zuvor, ehe sie ihn fragen konnte, und redete sie mit folgenden Worten an:

—— Ich darf Sie nicht täuschen, sagte er. Ich habe meine eigenen Gründe, um diese Urkunde vorzubringen.

—— Was für Gründe, mein Herr?

—— Sie sollen sie hören. Wenn Sie dann die Wahrheit kennen, so dürften diese Seiten dazu beitragen, Ihre Achtung vor dem Andenken Mr. Vanstones zu erhalten...

Miss Garth fuhr aus ihrem Stuhl zurück.

—— Was meinen Sie damit? fragte sie mit ernster Hast.

Er achtete nicht auf die Frage, sondern fuhr fort, als ob sie ihn gar nicht unterbrochen hätte.

—— Ich habe einen zweiten Grund, fuhr er fort, Ihnen das Testament zu zeigen. Wenn ich Sie dazu vermögen kann, gewisse Clauseln darin zu lesen, mit meiner Beihilfe, so werden Sie die Umstände selber herausfinden, welche ich Ihnen kundzuthun hierher gekommen bin, —— Umstände so peinlicher Art, daß ich kaum weiß, wie mein Mund sie Ihnen mittheilen soll.

Miss Garth sah ihm unverwandt ins Angesicht.

—— Umstände, mein Herr, welche die verstorbenen Aeltern oder die überlebenden Kinder angehen?

—— Welche beide, die Todten und die Lebenden angehen, antwortete der Advocat. Umstände, welche, wie ich bedauern muß zu sagen, die Zukunft von Mr. Vanstones unglücklichen Töchtern mit betreffen.

—— Warten Sie, sagte Miss Garth, warten Sie einen Augenblick.

Sie strich ihr altes graues Haar von ihren Schläfen zurück und kämpfte innerlich ihren Herzensjammer und die fürchterliche Schwäche des Schreckens nieder, welche vielleicht eine jüngere oder weniger entschlossene Frau überwältigt hätten. Ihre Augen, die vom Wachen trübe geworden waren, welche Kummersthränen geröthet hatten, suchten das unergründliche Angesicht des Rechtsgelehrten.

—— Seine unglücklichen Töchter?! wiederholte sie wie im Traume. Spricht er doch, als ob es ein noch schlimmeres Unglück gäbe, als das, welches sie zu Waisen gemacht hat...

Sie hielt wieder einen Augenblick inne und raffte ihren sinkenden Muth zusammen.

—— Ich will Ihnen Ihre harte Pflicht, mein Herr, nicht noch peinlicher machen, als ich verhüten kann, begann sie wieder. Zeigen Sie mir die Stelle in dem letzten Willen. Lassen Sie mich sie lesen und das Schlimmste erfahren.

Mr. Pendril wandte wieder zur ersten Seite um und deutete auf eine gewisse Stelle in den eingeklammerten Schriftzeilen.

—— Fangen Sie hier an, sagte er.

Sie versuchte anzufangen, sie versuchte seinem Finger zu folgen, wie sie ihm bereits bei den Unterschriften und den Daten gefolgt war. Allein ihre Sinne schienen an der Verwirrung ihres Geistes Theil zu nehmen, die Worte flossen ihr durcheinander und die Zeilen schwammen vor ihren Augen.

—— Ich kann Ihnen nicht folgen, sagte sie. Sie müssen es mir sagen oder vorlesen.

Sie rückte ihren Stuhl vom Tische ab und versuchte sich zu sammeln.

—— Halten Sie ein! rief sie, als der Advocat mit sichtbarer Ueberwindung und zögernd die Papiere selbst zur Hand nahm. —— Eine Frage erst. Sorgt das Testament für seine Kinder?

—— Sein letzter Wille sorgte für sie, als er es machte.

—— Als er es machte? (Etwas von ihrer angeborenen Derbheit brach bei ihr durch, als sie die Antwort wiederholte). Sorgt er jetzt für sie?

—— Nein.

Sie riß ihm das Testament aus der Hand und warf es in einen Winkel des Zimmers.

—— Sie denken wohl, sagte sie, mich so mehr zu schonen, aber Sie verschwenden Ihre Zeit und nutzen meine Kraft ab. Wenn der Wille unbrauchbar ist, so lassen Sie ihn dort liegen. Sagen Sie mir die Wahrheit, Mr. Pendril, die ganze Wahrheit und auf der Stelle mit eigenen Worten!

Er fühlte, daß es eine unnütze Grausamkeit wäre, diesem Ersuchen nicht zu willfahren. Es blieb keine andere Wahl zum Erbarmen, als auf der Stelle zu antworten.

—— Ich muß Sie an das heurige Frühjahr erinneren. Miss Garth. Können Sie sich des vierten März entsinnen?

Ihre Aufmerksamkeit schweifte wieder ab, ein Gedanke schien sich in dem Augenblicke, als er sprach, ihrer bemächtigt zu haben. Anstatt auf eine Frage zu antworten, stellte sie selbst eine Frage.

—— Lassen Sie mich die Aufklärung selber suchen, sagte sie, lassen Sie mich Ihnen vorgreifen, wenn ich es anders im Staude bin. Sein unnützes Testament, die Ausdrücke, in denen Sie von seinen Töchtern sprechen, der Zweifel, den Sie zu empfinden scheinen bezüglich meines fortdauernden Respects vor seinem Andenken, haben mir ein neues Licht gegeben. Mr. Vanstone ist als zu Grunde gerichteter Mann gestorben: ist es Das, was Sie mir zu sagen haben?

—— Weit entfernt, Mr. Vanstone ist gestorben und hinterläßt ein Vermögen von über achtzig Tausend Pfund, ein Vermögen, das in den besten Sicherheiten angelegt ist. Er lebte nach seinem Einkommen, aber niemals über dasselbe hinaus. Alle seine Schulden zusammen genommen würden noch nicht zweihundert Pfund betragen. Wenn er als zu Grunde gerichteter Mann gestorben wäre, so würde ich seiner sehr bedauert haben, aber ich hätte nicht gezögert, Ihnen die volle Wahrheit zu sagen. Jetzt aber nehme ich Anstand Lassen Sie mich eine Frage wiederholen, die Sie, glaube ich, überhörten, als ich sie zum ersten Male stellte. Leiten Sie Ihre Gedanken zurück zum Frühling dieses Jahres. können Sie sich des vierten März entsinnen?

Miss Garth schüttelte mit dem Kopfe.

—— Mein Gedächtnis; für Daten ist schlecht, wenn ich ausgezeichnet bei mir selber bin, sagte sie. Jetzt vollends bin ich zu verwirrt, um es sofort sicher angeben zu können. Können Sie Ihre Frage nicht anders stellen?

Er stellte sie in folgender Form:

—— Können Sie sich eines Familienereignisses im Frühlinge dieses Jahres entsinnen, welches Mr. Vanstone stärker als gewöhnlich zu berühren schien?

Miss Garth legte sich auf ihrem Stuhle etwas vor und sah Mr. Pendril aufgeregt über den Tisch an.

—— Die Reise nach London! rief sie aus. Es war mir mit dieser Reise nach London Von Anbeginn nicht recht richtig! Ja wohl! Ich entsinne mich, daß Mr. Vanstone einen Brief erhielt, ich erinnere mich, wie er ihn las und so ganz verwandelt aussah, daß er uns Alle erschreckte.

—— Bemerkten Sie ein äußerlich wahrnehmbares Einverständnis; beider, Mr. und Mrs. Vanstone, in Bezug auf den Inhalt des Briefes?

—— Ja wohl, bemerkte ich Das. Eins der Mädchen —— es war Magdalene —— erwähnte den Poststempel, einen Ort in Amerika. Jetzt fällt mir Alles wieder ein, Mr. Pendril. Mrs. Vanstone sah ängstlich aufgeregt aus in dem Augenblicke, wo sie den Ort trennen hörte. Den Tag darauf gingen Beide nach London. Sie sprachen sich aber darüber Weder gegen ihre Töchter, noch gegen mich näher aus. Mrs. Vanstone sagte nur, die Reise geschehe in Familienangelegenheiten. Ich vermuthete etwas Schlimmes; ich konnte mir aber nicht klar werden, was. Mrs. Vanstone schrieb mir aus London, indem sie angab, ihr Zweck sei einen Arzt zu befragen über den Stand ihrer Gesundheit, sie habe ihre Töchter nicht erschrecken wollen, sonst hätte sie vorher davon gesprochen. Etwas in dem Briefe war damals beinahe kränkend für mich. Ich dachte, es möchte wohl noch ein anderer Grund vorliegen, welchen sie vor mir verborgen hielte. That ich ihr Unrecht?´

—— Sie thaten ihr nicht Unrecht. Es war allerdings noch ein ganz anderer Grund vorhanden, den sie Ihnen verschwieg. Indem ich Ihnen nun diesen Beweggrund offenbare, offenbare ich Ihnen zugleich das schmerzliche Geheimniß, welches mich in dieses Haus geführt hat. Alles was ich gekonnt habe, Sie vorzubereiten, habe ich gethan. Lassen Sie mich Ihnen nun die Wahrheit in den deutlichsten und kürzesten Worten erzählen. Als Mr. und Mrs. Vanstone Combe-Raven im März des gegenwärtigen Jahres verließen ...

Ehe er seinen Satz vollenden konnte, unterbrach ihn eine plötzliche Bewegung von Miss Garth. Sie fuhr heftig zusammen und sah sich nach dem Fenster um.

—— Nur der Wind wars in den Blättern, sagte, sie mit schwacher Stimme. Meine Nerven sind so erschüttert, der geringste Anlaß erschreckt mich. Sprechen Sie weiter in Gottes Namen. Als Mr. und Mrs. Vanstone dieses Haus verließen,... sagen Sie mir mit klaren Worten warum gingen sie nach London?

In klaren Worten sagte Mr. Pendril zu ihr:

—— Sie gingen nach London, um sich trauen zu lassen. Mit diesen Worten legte er einen Streifen Papier auf den Tisch. Es war der Trauschein der verstorbenen Aeltern, und das Datum, das er trug, war der zwanzigste März, achtzehn hundert und sechsundvierzig.

Miss Garth rührte sich nicht, sprach nicht. Der Schein lag unbeachtet zwischen Beiden da. Sie saß da, Ihre Augen fest auf das Gesicht des Advocaten geheftet, ihr Geist war betäubt, ihre Stimme versagte den Dienst. Er sah, daß alle seine Bemühungen, um die Erschütterung dieser Enthüllung zu mildern, vergeblich gewesen waren. Er fühlte die dringende Wichtigkeit, sie wieder aufzurichten, und fest und deutlich vernehmbar wiederholte er die inhaltschweren Worte:

—— Sie gingen nach London, um sich trauen zu lassen, sagte er. Versuchen Sie sich zu ermannen, versuchen Sie erst die einfache Thatsache festzuhalten. Die Erklärung wird gleich hinterdrein folgen. Miss Garth, ich sage die traurige Wahrheit! Im Frühling dieses Jahres verließen sie das Haus, lebten vierzehn Tage in London in der strengsten Zurückgezogenheit und wurden nach Ablauf dieser Frist vermittelst Dispens getraut. Hier ist eine Abschrift des Trauscheines, welche ich selbst am vergangenen Montag erhielt. Lesen Sie den Tag der Trauung mit eigenen Augen. Es ist Freitag, der zwanzigste März, März dieses Jahres. ——

Als er auf den Schein zeigte, bewegte der schwache Luftzug in dem Gebüsch unter dem Fenster, welchen Miss Garth erschreckt hatte, abermals die Blätter. Er hörte es diesmal selbst und wandte das Gesicht, um den Wind über sein Gesicht fächeln zu lassen. Es kam kein Lüftchen, kein Luftzug, der stark genug war, daß er ihn fühlen konnte, strömte ins Zimmer.

Miss Garth erhob sich nun selbst unwillkürlich und las den Schein. Er schien keinen bestimmten Eindruck auf sie zu machen, sie legte ihn bei Seite mit einem verwirrten und gedankenlosen Blicke.

—— Zwölf Jahre, sagte sie mit leiser verzweiflungsvoller Stimme..., zwölf ruhige glückliche Jahre lebte ich bei dieser Familie. Mrs. Vanstone war meine Freundin, meine theure hochgeschätzte Freundin meine Schwester, kann ich wohl sagen. Ich kann es nicht glauben. Haben sie ein wenig Geduld mit mir, mein Herr; ich kann es noch immer nicht glauben.

—— Ich werde Ihnen zu Hilfe kommen, daß Sie es glauben lernen, wenn ich Ihnen mehr erzähle, sagte Mr. Pendril. Sie werden mich besser verstehen, wenn ich Sie zu der Zeit von Mr. Vanstones früherem Leben zurückführe... Ich will aber jetzt Ihre Aufmerksamkeit nicht gleich wieder in Anspruch nehmen. Lassen Sie uns ein Weilchen warten, bis Sie sich erholt haben.

Sie warteten einige Minuten. Der Advocat nahm einige Briefe aus der Tasche, beschäftigte sich aufmerksam mit denselben und steckte sie wieder ein.

—— Können Sie mich nun wieder anhören? fragte er freundlich.

Sie nickte mit dem Kopfe zur Antwort.

Mr. Pendril ging mit sich selbst einen Augenblick zu Rathe, dann sagte er:

—— Ich muß Sie in einem Puncte beruhigen. Wenn das Bild von Mr. Vanstones Charakter, welches ich im Begriff stehe Ihnen jetzt zu geben, in manchen Hinsichten nicht mit Ihren späteren Erfahrungen übereinstimmt, so beachten Sie wohl, daß, als Sie ihn vor zwölf Jahren kennen lernten, er ein Mann von vierzig Jahren war und daß, als ich ihn kennen lernte, er ein junges Blut von neunzehn war.

Seine nächsten Worte hoben den Schleier und ließen einen Blick thun, in die unwiderrufliche Vergangenheit.——



Kapiteltrenner

Dreizehntes Capitel.

—— Das Vermögen, das Mr. Vanstone besaß, als Sie ihn kennen lernten, hob der Advocat an, war ein Theil und nur ein Theil der Erbschaft, welche ihm bei seines Vaters Tode zufiel Mr. Vanstone der ältere war ein Fabrikant im Norden Englands. Er heirathete früh, und die Kinder aus seiner Ehe waren entweder sechs oder sieben an der Zahl, ich weiß es nicht genau. Der erste, Michael, der älteste Sohn, noch am Leben und jetzt ein hochbejahrter Mann, ist über die Siebenzig hinaus. Dann kommt Selina, die älteste Tochter, welche in späteren Jahren heirathete und nun seit zehn bis elf Jahren todt ist. Nach diesen Beiden kamen noch andere Söhne und Töchter, deren frühzeitiges Ableben es unnöthig macht, sie des Breitern auszuführen. Das letzte und um viele Jahre jüngste von den Kindern war Andreas, welchen ich zuerst kennen lernte, wie gesagt, als er neunzehn alt war. Mein eigener Vater stand damals auf dem Punkte, sich von dem Betriebe feines Berufs zurückzuziehen. Da ich sein Nachfolger wurde, so erhielt ich als solcher auch seine Kundschaft, die Vanstones, deren Sachwalter er war.

—— In jener Zeit war Andreas gerade ins Leben hinausgetreten und hatte die militärische Laufbahn erwählt. Nachdem er etwas über Jahresfrist im Vaterlande daheim gedient hatte, wurde er mit seinem Regiment nach Canada beordert. Als er England verließ, waren sein Vater und sein älterer Bruder Michael in ernstlicher Mißhelligkeit mit einander. Ich brauche Sie nicht damit aufzuhalten, daß ich auf die Ursache ihrer Zerwürfniß näher eingehe. Ich habe Ihnen nur zu sagen, daß der ältere Mr. Vanstone bei manchen trefflichen Eigenschaften ein Mann von stolzem und unnachgiebigem Charakter war. Sein ältester Sohn hatte unter Umständen, die einen Vater von weit milderem Charakter mit Recht aufgebracht haben würden, seinen Unwillen erregt, und er erklärte in den unzweideutigsten Ausdrücken, daß er niemals Michaels Antlitz wieder sehen möchte. Trotz meiner Bitten und trotz der Gegenvorstellungen seiner Gattin zerriß er in unserm Beisein den letzten Willen, welcher Michaels Antheil an dem väterlichen Erbe feststellte. Dies war die Lage der Familie, als der jüngere Sohn die Heimat verließ, um nach Canada zu rücken.

—— Einige Monate nach der Ankunft des Andreas und seines Regiments in Canada wurde er mit einer Frau von großen persönlichen Reizen bekannt, welche aus einem der Südstaaten von Nordamerika kam oder zu kommen vorgab. Sie erlangte einen unbeschränkten Einfluß über ihn und mißbrauchte solchen auf die schlechteste Art und Weise. Sie kannten den offenen, hingebenden und vertrauensvollen Charakter des Mannes in späteren Jahren: Sie können sich denken, wie er den Impulsen seiner Jugend ohne Gedanken an die Zukunft folgte. Es ist unnütz, bei diesem beklagenswerthen Theil der Geschichte länger zu verweilen. Er war eben einundzwanzig Jahre alt. Für sie, das unwürdige Weib, fühlte er eine verblendete Liebe, und sie wußte ihn mit unbarmherzigen Ränken soweit zu führen, bis es zu spät war, zurückzutreten Mit einem Worte, er beging den verhängnißvollen Mißgriff seines Lebens: er nahm sie zur Frau.

—— Sie war in ihrem eigenen Interesse schlau genug gewesen, den Einfluß seiner Kameraden, der Offiziere, zu fürchten und ihn zu überreden, ihre beabsichtigte Verbindung bis zur Zeit der Vermälungsfeier geheim zu halten. Dies vermochte sie durchzusetzen. Nicht aber konnte sie dem Wirken des Zufalls vorbeugen. Kaum drei Monate waren vorüber, als eine zufällige Entdeckung das Leben, welches sie geführt hatte, ehe sie Mann und Frau waren, ans Tageslicht brachte. Es blieb ihrem Gemal nur eine Wahl, die Wahl, sich augenblicklich von ihr zu trennen.

—— Die Wirkung der Entdeckung auf den unglücklichen Jüngling —— denn ein Jüngling war er nur noch seiner Erfahrung nach —— kann man aus dem Ereignisse ersehen, welches der Enthüllung folgte. Einer von Andreas vorgesetzten Offizier fand ihn in seinem Quartier, wie er an seinem Vater ein Bekenntniß der traurigen Wahrheit schrieb, neben sich ein geladenes Pistol. Jener Offizier rettete den Jüngling vor Selbstmord und vertuschte die scandalöse Geschichte durch einen Vergleich. Da die Ehe eine ganz und gar gesetzmäßige war, und der Fehltritt des Weibes, weil vor der Trauung begangen, ihrem Gatten kein Recht gab, sich von ihr scheiden zu lassen, so war es nur möglich, sich an ihren Eigennutz zu wenden. Ein hübsches Jahrgeld wurde ihr zugesichert, unter der Bedingung, daß sie an den Ort zurückkehre, wo sie hergekommen wäre, daß sie niemals in England sich betreten lasse und daß sie aufhöre, ihres Gatten Namen zu führen. Noch andere Abkommen wurden mit ihr vereinbart. Sie nahm sie Alle an und Maßregeln wurden insgeheim getroffen, um sie nachmals an dem Orte ihrer Zurückgezogenheit gut im Auge zu behalten. Was für ein Lieben sie dort führte und ob sie die ihr auferlegten Bedingungen alle erfüllte, kann ich nicht sagen. Ich kann Ihnen nur sagen, daß sie meines Wissens niemals nach England kam, daß sie niemals Mr. Vanstone lästig wurde und daß durch eine an Ort und Stelle in Amerika befindliche Mittelsperson das Jahrgeld bis zum Tage ihres Todes ausbezahlt worden ist. Alles was sie durch die Heirath mit ihm hatte erlangen wollen, war Geld, und Geld erhielt sie.

—— Zu gleicher Zeit hatte Andreas das Regiment verlassen. Nichts konnte ihn bewegen, seinen Kameraden, den Offizieren, nach Dem, was mit ihm vorgefallen war, unter die Augen zu treten. Er verkaufte sein Patent [In England sind trotz unangenehmer Erfahrungen die stellen noch heutigen Tages käuflich.] und kehrte nach England zurück. Die erste Kunde, die er bei seiner Rückkehr erhielt, war die Kunde von seines Vaters Tode. Er kam auf meine Amtstube in London, bevor er nach Hause reiste und erfuhr aus meinem Munde, wie der Familienzwist geendet hatte.

—— Das Testament, welches Mr. Vanstone der Aeltere in meiner Gegenwart vernichtet hatte, war nicht durch ein anderes ersetzt worden, so viel ich wußte. Als man bei seinem Tode wie gewöhnlich nach mir schickte, so hegte ich die volle Erwartung, daß das Notherbrecht allein übrig bleibe, um die gewöhnliche Theilung unter seine Witwe und seine Kinder zu vollbringen. Zu meinem Erstaunen kam jedoch unter seinen Papieren ein Testament zum Vorschein, welches in aller Form aufgesetzt und ausgeführt, ungefähr eine Woche nach der Zeit datierte, wo die erste letztwillige Verfügung vernichtet worden war. Er hatte sein Rachevorhaben gegen seinen ältesten Sohn beibehalten und sich an einen fremden Anwalt wegen des gesetzlichen Beistandes gewendet, welchen er, wie ich zu seiner Ehre glaube, sich von meiner Hand zu erbitten schämte.

—— Es ist unnöthig, Sie mit den Bestimmungen dieses Testaments im Einzelnen zu behelligen. Es waren die Witwe und drei lebende Kinder zu bedenken gewesen. Die Witwe empfing nur eine Leibrente von einem Theile des Vermögens, das der Erblasser besessen. Das Uebrige wurde zwischen Andreas und Selina, und zwar zu zwei Drittel für den Bruder, zu einem Drittel für die Schwester, getheilt. Beim Tode der Mutter sollte die Summe, von deren Interessen dieselbe gelebt hatte, an Andreas und Selina in denselben Verhältnissen wie das Haupterbe fallen. Fünf Tausend Pfund sollten davon abgenommen und Michael ausbezahlt werden, als das einzige Erbtheil, welches der unversöhnliche Vater seinem ältesten Sohne hinterließ.

—— Um in runder Zahl zu rechnen stand die Theilung, wie sie das Testament bestimmte, folgendermaßen. Vor dem Tode der Mutter hatte Andreas siebzig Tausend Pfund, Selina hatte fünfunddreifzig Tausend Pfund, Michael hatte —— Nichts. Nach der Mutter Tode hatte Michael fünf Tausend Pfund, während Andreas Erbe sich auf einmal hundert Tausend Pfund und Selinas Theil sich auf fünfzig Tausend Pfund steigerte. —— Glauben Sie nur nicht, daß ich bei dieser Seite des Gegenstandes zu sehr Verweile. Jedes Wort, welches ich jetzt spreche, hängt mit Interessen zusammen, welche noch in der Schwebe sind und welche Mr. Vanstones Töchter aufs Unmittelbarste angehen. Da wir von der Vergangenheit nunmehr zur Gegenwart kommen, beherzigen Sie die schreckliche Ungleichheit von Michaels Erbe und Andreas Erbtheil. Das durch das rachsüchtige Testament angethanene Unrecht ist, wie ich nur zu sehr fürchte, noch nicht zu Ende.

—— Andreas erster Antrieb, als er die Nachricht, die ich ihm mitzutheilen hatte, hörte, war der offenen edlen Natur des Mannes vollkommen würdig. Er machte sofort den Vorschlag, sein Erbe mit seinem älteren Bruder zu theilen. Allein hier gab es ein wesentliches Hinderniß aus dem Wege zu räumen. Ein Brief von Michael lag für ihn auf meiner Amtstube bereit, als er hierher kam, und dieser Brief warf ihm vor, die erste Ursache der Entfremdung zwischen Vater und Sohn zu sein. Die Anstrengungen, welche er unvorsichtig und ungeschickt, ich gebe es zu, allein mit der reinsten und wohlwollendsten Absicht, das wußte ich, gemacht hatte, um den Streit beizulegen, ehe er die Heimat verließ, waren durch die niederträchtigste Verdrehung dahin ausgelegt worden, um eine Anklage wegen Verrath und Falschheit zu erheben, welche jeden Mann bis ins Innerste verletzt haben würde. Andreas fühlte, was auch ich fühlte, daß, wenn diese Unterstellungen nicht zurückgenommen würden, bevor seine edelmüthige Absicht in Betreff seines Bruders ausgeführt würde, der ledigliche Erfolg ihrer Ausführung nur auf eine thatsächliche Anerkennung der Richtigkeit von Michaels Anschuldigung hinauslaufen würde. Er schrieb an seinen Bruder in den versöhnlichsten Ausdrücken. Die Antwort, welche er erhielt, war so beleidigend, als Worte nur sein können. Michael hatte eben seines Vaters Temperament geerbt, nicht gemildert durch die besseren Eigenschaften seines Vaters. Sein zweiter Brief wiederholte die in dem ersten enthaltenen Anschuldigungen und erklärte, er würde die angebotene Theilung nur als einen Act der Ausgleichung und Wiedererstattung von Andreas Theile betrachten. Ich schrieb zunächst an die Mutter, um deren Einfluß walten zu lassen. Sie war aber selbst unwillig darüber, daß ihr nichts weiter als eine Leibrente von ihres Gatten Vermögen vermacht war. Sie hielt sich entschlossen zu Michael, und sie brandmarkte Andreas Anerbieten als einen Versuch, ihren ältesten Sohn dahin zu überlisten, daß er eine Anschuldigung gegen seinen Bruder zurücknähme, welche jener Bruder nur zu begründet finden mußte. Nach dieser letzten Abweisung konnte nun Nichts mehr gethan werden. Michael zog sich auf den Continent zurück und seine Mutter folgte ihm dahin. Sie lebte lange genug und sparte Geld genug von ihrem Einkommen, um bei ihrem Tode die fünf Tausend Pfund ihres älteren Sohnes ansehnlich zu vermehren. Er hatte vorher seine finanzielle Lage durch eine vortheilhafte Heirath verbessert, und er bringt jetzt als Witwer mit einem Sohne das Ende seiner Tage entweder in Frankreich oder der Schweiz zu. Wir werden auf ihn bald zurückkommen. In der Zwischenzeit, brauche ich wohl Ihnen nicht noch zu sagen, kamen Andreas und Michael nie wieder zusammen, verkehrten auch schriftlich nicht wieder mit einander. Bei allen Vorhaben und Anlässen waren sie von jenen längst entschwundenen Tagen bis auf die Gegenwart für einander todt.

—— Sie können sich nun denken, welches Andreas Lebenslage war, als er seinen Beruf verließ und nach England zurückkehrte. Im Besitze eines Vermögens stand er allein auf der Welt, seine Zukunft gestört in der Blüte des Lebens, seine Mutter und sein Bruder ihm entfremdet, seine Schwester spät verheirathet mit Interessen und Hoffnungen, an denen er keinen Theil nehmen konnte. Männer eines stärkeren geistigen Calibers hätten sich aus einer solchen Lage vielleicht in ein sie ausschließlich beschäftigendes geistiges Leben hineingerettet. Er war dieser Anstrengung nicht fähig, die ganze Stärke seines Charakters lag in den Empfindungen, welche er so verschwendet hatte. Sein Platz in der Welt war das ruhige Leben zu Hause mit Weib und Kindern, um sich glücklich zu fühlen. Diese Aussicht hatte er nun ja für immer verloren. Rückwärts zu schauen, war mehr, als er über sich vermochte. Vorwärts zu schauen, war mehr, als er konnte. In halber Verzweiflung ließ er sich in seinem ungestümen Jugenddrange dahintreiben und warf sich in die niedrigsten Ausschweifungen eines Londoner Lebens.

—— Eines Weibes Falschheit hatte ihn zu Grunde gerichtet; eines Weibes Liebe rettete ihn, als er anfing zu sinken. Wir wollen nicht herbe von ihr sprechen, welche wir gestern mit ihm in das Grab gelegt haben.

—— Sie, die Sie Mrs. Vanstone erst in ihrem späteren Leben kennen lernten, wo Krankheit, Kummer und heimliche Sorge sie verändert und traurig gemacht hatten, können sich keine entsprechende Idee von ihren persönlichen und sittlichen Reizen machen, als sie ein Mädchen von siebzehn Jahren war. Ich war bei Andreas, als er sie zum ersten Male sah. Ich hatte ihn wenigstens für einen Abend aus seiner verdorbenen Gesellschaft und seinen entwürdigenden Vergnügungen retten, herausreißen wollen, indem ich ihn dazu überredete, mit mir auf einen Ball zu gehen, welchen eine von den großen City-Gesellschaften veranstaltet hatte. Da trafen sie sich. Sie machte einen starken Eindruck aus ihn, in dem ersten Augenblicke, wo er sie sah. Für mich wie für ihn war sie eine ganz fremde Person. Eine Vorstellung bei ihr, welche ihn in der herkömmlichen Weise in ihre Nähe brachte, belehrte ihn, daß sie die Tochter eines Herrn Blake war. Das Uebrige erfuhr er von ihr selbst. Sie waren unbeobachtet in dem überfüllten Ballsaal Partner im Tanze für den ganzen Abend.

—— Die Umstände waren vom Anfang an gegen sie. Sie war unglücklich zu Hause. Ihre Familie und ihre Freunde nahmen keine anerkannte Lebensstellung ein: es waren halbschürige Menschen, gewöhnlicher Schlag, in jeder Beziehung ihrer unwerth. Es war ihr erster Ball, es war das erste Mal, daß sie mit einem Manne zusammen kam, welcher die Erziehung, das Benehmen und die Sprache eines seinen Mannes an sich hatte. Sind dies Entschuldigungen für sie, welche ich kein Recht habe, geltend zu machen? Wenn wir ein menschliches Gefühl für menschliche Schwäche haben, gewiß nicht!

—— Die Begegnung jener Nacht entschied über ihre Zukunft. Als andere Begegnungen gefolgt waren und das Geständniß ihrer Liebe ihr entschlüpft war, nahm es mit ihr den Verlauf, wie mit allen Anderen (in aller Unschuld und Unerfahrenheit, was für Beide höchst gefährlich wurde. Sein Freimut und sein Ehrgefühl verboten ihm, sie zu täuschen: er schloß ihr sein Herz auf und sagte ihr die Wahrheit. Sie war ein Mädchen von edlen Trieben, sie hatte daheim keine Bande, welche sie abgehalten hätten, sie war leidenschaftlich für ihn erglüht, und er hatte sich an ihr Mitleid gewandt, was zur ewigen Ehre der Frauen diejenige Berufung ist, der sie am schwersten widerstehen. Sie sah und sah es sehr richtig ein, daß sie allein zwischen ihm und seinem Untergange stand. Die letzte Aussicht, ihn zu retten, hing von ihrer Entscheidung ab. Sie entschied und rettete ihn.

—— Verstehen Sie mich nicht falsch, klagen Sie mich nicht an, daß ich die ernste Frage unserer Gesellschaft zu leicht nehme, welche meine Erzählung mich zu berühren zwingt. Ich will ihr Andenken durchaus nicht etwa durch ein falsches Raisonnentent rechtfertigen; ich will nur die Wahrheit sagen. Es ist die Wahrheit, daß sie ihn aus tollen Ausschweifungen heraus riß, welche mit seinem frühzeitigen Tode geendigt haben würden. Die Wahrheit ist es, daß sie ihn dem glücklichen Familienleben zurückgab, das Ihnen. noch in frischer Erinnerung lebt, dessen er selbst so dankbar gedachte, indem er an dem Tage, wo er frei geworden war, sie zu seinem Weibe machte. Lassen Sie der strengen Sittlichkeit ihr Recht werden und verurtheilen Sie ihren Jugendfehler. Ich müßte aber mein Neues Testament ohne Frucht gelesen haben, wenn die christliche Milde das harte Urtheil über sie nicht mildern, wenn die christliche Liebe in der Liebe und Treue, in dem Leiden und dem Opfer ihres ganzen Lebens nicht einen mächtigen Fürsprecher für ihr Andenken finden sollte.

—— Nur wenig Worte noch, und wir stehen bei einer späteren Zeit und bei Ereignissen, welche im Bereiche unserer eigenen Erfahrung liegen.

—— Ich brauche Sie nicht darauf aufmerksam zu machen, daß die Stellung in welcher Mr. Vanstone sich nun befand, schließlich nur zu dem einen Erfolge führen konnte, zu einer mehr oder weniger unvermeidlichen Enthüllung der Wahrheit. Versuche wurden gemacht, um das hoffnungslose Mißgeschick seines Lebens vor Miss Blakes Familie verborgen zu halten, und diese Versuche scheiterten natürlich gegenüber den rastlosen Nachforschungen ihres Vaters und ihrer Freunde. Was da geschehen wäre, wenn ihre Verwandten zu der Classe gehört hätten, welche man als »achtbar« zu bezeichnen pflegt, mag ich mir nicht herausnehmen zu entscheiden. Wie die Sache lag, waren es Leute, die mit sich, wie man zu sagen pflegt, reden und Abkommen treffen lassen. Der einzige überlebende Abkömmling der Familie ist jetzt ein verbummelter Mensch, der sich selber Hauptmann Wragge nennt. Wenn ich Ihnen sage, daß er insgeheim den Preis seines Stillschweigens von Mrs. Vanstone bis auf die letztere erpreßte, und wenn ich hinzufüge, daß sein Benehmen keine erhebliche Ausnahme macht von der Führung der anderen Verwandten bei ihren Lebzeiten, so werden sie verstehen, mit welcher Art von Leuten ich im Interesse meines Clienten zu thun hatte und mit welchen Mitteln ihre angenommene Entrüstung beschwichtigt wurde.

—— Nachdem Mr. Vanstone und Miss Blake zuerst England verlassen und sich nach Irland gewendet hatten, blieben sie daselbst nachmals mehrere Jahre. Ein Mädchen, wie sie noch war, faßte sie ihre Stellung und die Anforderungen, welche sich damit verknüpften, ohne Furcht ins Auge. Hatte sie sich einmal entschlossen, ihr Leben dem Manne ihrer Liebe zu opfern, hatte sie einmal ihr Gewissen durch die Erwägung beschwichtigt, daß seine Verheirathung nur eine juristische Spiegelfechterei und daß sie selbst »sein Weib vor Gottes Angesicht« sei, so nahm sie sich zunächst vor, dem einen und vornehmsten Ziele zuzustreben, so mit ihm zu leben vor den Augen der Welt, daß sich niemals der Verdacht erheben könnte, als ob sie nicht seine rechtmäßig angetraute Ehefrau wäre. Es gibt wenig Frauen, welche nicht feste Entschlüsse fassen, ruhige Pläne entwerfen und rasch handeln können, wenn es die theuersten Interessen ihres Lebens angeht. Mrs. Vanstone —— sie hat nunmehr, vergessen wir Das nicht, ein Recht auf diesen Namen —— Mrs. Vanstone hatte mehr als das Durchschnittsmaß weiblicher Zähigkeit und weiblichen Taktes. Sie traf alle nöthigen Vorkehrungen in jenen früheren Jahren, welche ihres Gatten weniger leicht begreifendes Verständniß nicht herauszufinden wußte, Vorkehrungen, denen sie die Bewahrung ihres Geheimnisses in späteren Zeiten vornehmlich zu danken hatten.

—— Dank diesen Vorsichtsmaßregeln folgte ihnen kein Schatten von Verdacht, als sie nach England zurückkehrten. Sie ließen sich zuerst in Devonshire nieder, lediglich deswegen, weil sie dort von der nördlicheren Grafschaft weit entfernt waren, wo Mr. Vanstones Familie und Verbindungen bekannt waren. Von Seiten seiner lebenden Verwandten hatten sie keine neugierigen Forschungen zu fürchten. Er war gänzlich verstoßen von Mutter und Bruder. Seiner verheiratheten Schwester war es von ihrem Gatten, welcher ein Geistlicher war, untersagt, irgend welche Gemeinschaft mit ihm zu unterhalten, von der Zeit an, wo er nach seiner Rückkehr aus Canada aus die bedauerlichen Abwege gerathen war, wie ich sie geschildert habe. Andere Verwandte hatte er nicht. Als er und Miss Blake Devonshire verließen, war ihr nächstes Augenmerk darauf gerichtet, sich hierorts niederzulassen. Sie machten weder ein großes Haus, noch zogen sie sich geflissentlich zurück, sie waren einfach glücklich in sich selber, glücklich in ihren Kindern und ihrem ruhigen ländlichen Leben. Die wenigen Nachbarn, welche ihren bescheidenen Bekanntenkreis bildeten, hatten keinen Verdacht, daß sie etwas Anderes wären, als was sie schienen. Die Wahrheit blieb in ihrem Falle eben so, wie in so manchen anderen Fällen unentdeckt, bis der jähe Unfall es an das Licht des Tages brachte.

—— Wenn bei Ihrer engen Vertraulichkeit mit ihnen es vielleicht sonderbar erscheint, daß sie sich niemals sollten verrathen haben, so wollen Sie gefälligst die Umstände in Erwägung ziehen: Sie werden dann die scheinbare Anomalie begreiflich finden. Erinneren Sie sich, daß sie als Mann und Frau in jeder Art und Weise, ausgenommen etwa, daß die Trauungsformel nicht über sie ausgesprochen worden war, fünfzehn Jahre, ehe Sie in das Haus kamen, gelebt hatten. Bedenken Sie zugleich, daß kein Ereigniß vorfiel, welches Mr. Vanstones Glück in der Gegenwart stören, ihn an die Vergangenheit erinneren oder an die Zukunft gemahnen konnte, bevor die Anzeige von seines Weibes Tod in jenem Briefe aus Amerika, den Sie in seiner Hand sahen, ihn erreichte Wenn erst von diesem Tage an eine Vergangenheit, die er verabscheute, ihm gewaltsam wieder Vor die Seele gerückt wurde, wenn eine Zukunft, welche sie niemals gewagt hatte sich vorauszudenken, ihr deutlich sichtbar vor Augen stand, so werden Sie bald begreifen, wenn Sie es noch nicht begriffen haben, daß Beide bis dahin sich selber täuschten von einer Zeit zur andern und daß ihre unschuldige Arglosigkeit und ihrer Kinder Arglosigkeit allein sie hinderten, die Wahrheit zu entdecken.

—— Die traurige Geschichte der Vergangenheit ist nunmehr Ihnen so gut bekannt, als mir selbst. Ich habe harte Worte zu sagen gehabt. Gott weiß, wie ich sie mit wahrer Anhänglichkeit für die Lebenden, mit wahrer Liebe für das Gedächtniß der Todten gesprochen habe.

Er schwieg, wandte das Gesicht ein wenig zur Seite und legte sein Haupt auf die Hand in der ruhigen anspruchslosen Weise, die ihm eigen war. Bis dahin hatte Miss Garth seine Erzählung nur durch ein gelegentlich eingeworfenes Wort oder ein stummes Zeichen ihrer Aufmerksamkeit unterbrochen. Sie machte keine Anstrengungen, ihre Thränen zu verbergen. Diese fielen schnell und schweigend über ihre eingefallenen Wangen, als sie aufblickte und zu ihm sprach:

—— Ich habe Ihnen in Gedanken einiges Unrecht gethan, mein Herr, sagte sie mit edler Einfachheit. Ich kenne Sie jetzt besser. Lassen Sie mich Sie um Verzeihung bitten, geben Sie mir Ihre Hand.

Diese Worte und die sie begleitende Handlung rührten ihn tief. Er nahm ihre Hand schweigend. Sie war die Erste, welche sprach, die Erste, welche das Beispiel wiedererlangter Fassung gab. Es ist einer von den edlen Instincten der Frauen, daß Nichts sie mächtiger aufrichtet, um ihren eigenen Kummer zu bekämpfen, als der Anblick der Trauer eines Mannes. Sie trocknete ruhig ihre Thränen; sie zog ruhig ihren Stuhl um den Tisch herum, um näher bei ihm zu sitzen, als sie wieder sprach.

—— Ich bin traurig darnieder gebeugt, Mr. Pendril, durch Das, was in diesem Hause vorgefallen ist, sagte sie, sonst würde ich Das, was Sie mir erzählt haben, besser getragen haben, als ich es gerade heute getragen habe. Wollen Sie mich noch eine Frage thun lassen, bevor Sie gehen? Mein Herz jammern die Kinder meines Herzens, jetzt mehr als je meine Kinder. Ist keine Hoffnung für ihre Zukunft? Bleibt ihnen keine andere Aussicht als die auf Armuth?

Der Advocat zögerte, bevor er die Frage beantwortete.

—— Sie sind, sagte er endlich, von dem Gerechtigkeitsgefühl und der Gnade eines Fremden abhängig.

—— Wegen des Unglückes ihrer Geburt?

—— Durch das mannigfache Unglück, das auf die Verheirathung ihrer Aeltern folgte.

Mit dieser erschreckenden Antwort stand er auf, hob das Testament vom Boden auf und legte es an seine frühere Stelle auf die Tafel vor ihnen.

—— Ich kann Ihnen nur die Wahrheit sagen in einer deutlichen Form des Ausdrucks, begann er wieder. Die Verheirathung hat dies Testament zerstört und hat Mr. Vanstones Töchter von ihrem Onkel abhängig gemacht.

Als er sprach, regte sich der Luftzug wieder in den Sträuchern unter dem Fenster.

— Von ihrem Onkel? wiederholte Miss Garth.

Sie dachte einen Augenblick nach und legte plötzlich ihren Arm auf Mr. Pendrils Arm.

—— Doch nicht von Michael Vanstone?!

—— Allerdings von Michael Vanstone. ——

Miss Garth hielt noch, ohne es zu wissen, des Advoraten Arm fest. Ihr ganzer Geist war von dem Bestreben erfüllt, die Entdeckung sich klar zumachen, welche eben auf sie herein gestürzt war.

—— Abhängig von Michael Vanstone! sagte sie vor sich hin. Abhängig von ihres Vaters bitterstem Feinde? Wie kann Das sein?

—— Schenken Sie mir Ihre Aufmerksamkeit nur noch fünf Minuten länger, sagte Mr. Pendril, und Sie sollen es hören. Je eher wir diese peinliche Unterredung zum Abschluß bringen können, desto eher kann ich mich mit Mr. Michael Vanstone benehmen und desto eher werden Sie erfahren, was er zu thun beschließt für seines Bruders Verwaiste Töchter. Ich wiederhole Ihnen, daß sie lediglich und schlechterdings von ihm abhängen. Sie werden sehr bald einsehen, wie und warum? wenn wir die Kette der Ereignisse da aufnehmen, wo wir sie fallen ließen, —— in der Zeit, wo Mr. und Mrs. Vanstone sich trauen ließen.

—— Einen Augenblick, Herr! sagte Miss Garth. Wußten Sie das Geheimniß dieser Verheirathung als sie stattfand?

—— Unglücklicherweise, nein. Ich war von London, Von England zu jener Zeit abwesend. Wenn Mr. Vanstone im Stande gewesen warte, mir Mittheilung zu machen, als der Brief aus Amerika den Tod seiner Frau anzeigte, würde das Vermögen seiner Töchter jetzt nicht auf dem Spiele stehen.

Er hielt inne und sah, bevor er weiter ging, noch ein Mal in die Briefe, welche er schon früher ein Mal während der Unterredung zur Hand genommen hatte. Er nahm einen Brief aus den übrigen heraus und legte ihn neben sich auf den Tisch.

—— Zu Anfang dieses Jahres, begann er aufs Neue, machte ein sehr ernstes und dringendes Geschäft in Verbindung mit einem Besitzthume in Westindien, welches einem alten Clienten und Freunde gehörte, entweder meine oder eines meiner Theilhaber Gegenwart auf Jamaica nöthig. Einer von den Beiden konnte nicht entbehrt werden, der Andere war nicht so bei Gesundheit, daß er die Reise unternehmen konnte. Es war keine Wahl übrig, als daß ich gehen mußte. Ich schrieb an Mr. Vanstone, erzählte ihm, daß ich Ende Februar England verlassen würde und daß die Natur des Geschäfts, das mich hinweg rief, wenig Hoffnung ließe, daß ich vor Juni aus Westindien zurückkommen würde. Mein Brief war ohne besondere Veranlassung geschrieben. Ich hielt es nur für angemessen, ihn, weil ich sah, daß meine Associes in die Privatangelegenheiten Mr. Vanstones nicht eingeweiht werden konnten, von meiner Abwesenheit in Kenntniß zu setzen, eine Maßregel formeller Vorsicht, die zu treffen gewiß ganz recht war. Ende Februar verließ ich England, ohne etwas von ihm gehört zu haben. Ich war auf der See, als die Nachricht von seiner Gattin Tode am vierten März ihn erreichte, und ich kehrte nicht eher, als Mitte letzten Junis zurück.

—— Sie setzten ihn von Ihrer Abreise in Kenntniß, unterbrach ihn Miss Garth. Benachrichtigten Sie ihn auch von Ihrer Rückkehr?

—— Nicht persönlich. Mein erster Schreiber übersandte ihm eines von den Circulairen, welche von meinem Geschäfte nach allen Seiten versandt wurden, um meine Rückkehr zu melden. Es war das erste Ersatzmittel eines persönlichen Briefes, an das ich dachte, da der Drang zahlloser Arbeiten, welche sich in meiner langen Abwesenheit aufgehäuft hatten, mir nicht gestattete, selbst zu schreiben. Kaum einen Monat später erhielt ich die Nachricht von seiner Verheirathung durch einen Brief von ihm selbst, den er an dem Tage des verhängnißvollen Unfalls geschrieben hatte. Die Umstände, welche ihn veranlaßten zu schreiben, waren Folgen eines Ereignisses, an welchem Sie einigen Antheil genommen haben müssen, ich meine das Verhältniß zwischen Mr. Clares Sohne und Mr. Vanstones jüngster Tochter.

—— Ich kann nicht sagen, daß ich auf jenes Verhältniß zur Zeit gut zu sprechen war, erwiderte Miss Garth. Ich kannte damals das Familiengeheimniß nicht. Ich kenne es jetzt besser.

—— Ganz richtig. Der Grund, den Sie jetzt würdigen können, ist der Grund, der uns zur Hauptsache bringt. Die junge Dame selbst, —— wie ich vom älteren Mr. Clare hörte, welchem ich meine Kenntniß der einzelnen Umstände verdanke —— gestand dem Vater ihre Neigung und berührte ihn in aller Unschuld aufs Empfindlichste durch eine zufällige Anspielung auf sein eigenes früheres Leben. Er hatte eine lange Unterredung mit Mrs. Vanstone, in welcher Beide dahin überein kamen, daß Mr. Clare insgeheim von der Wahrheit unterrichtet werden müsse, ehe das Verhältniß zwischen den beiden jungen Leuten weiter fortgesetzt werden dürfe. Es war für ihn wie die Gattin peinlich, sich zu diesem Schritt genöthigt zu sehen. Aber sie waren entschlossen, edelmüthig entschlossen, das Opfer ihrer eigenen Gefühle darzubringen. Mr. Vanstone begab sich sofort in Mr. Clares Behausung. —— Sie bemerkten ohne Zweifel eine auffallende Veränderung in Mr. Vanstones Wesen an jenem Tage, und Sie können sie sich wohl jetzt erklären?

Miss Garth nickte bejahend mit dem Kopfe, und Mr. Pendril fuhr fort.

—— Sie sind hinreichend unterrichtet von Mr. Clares Verachtung gegen alle gesellschaftlichen Vorurtheile, fuhr er fort, um sich zum Voraus ausmalen zu können, wie er das Bekenntniß, daß ihm sein Nachbar ablegte, aufnahm. Fünf Minuten, nachdem die Unterredung begonnen hatte, standen die beiden alten Freunde wieder so herzensleicht und ungezwungen zu einander wie gewöhnlich. Im Laufe der Unterredung erwähnte Mr. Vanstone die Anordnung betreffs des Vermögens, welche er zu Gunsten der Tochter und ihres künftigen Gatten getroffen habe, und indem er Dies that, mußte er natürlich das Testament hier auf dem Tische zwischen uns erwähnen. Mr. Clare, welcher sich erinnerte, daß sein Freund erst im März dieses Jahres die Heirath vollzogen habe, fragte ihn plötzlich, wann das Testament aufgesetzt worden wäre. Er erhielt die Antwort, daß es vor fünf Jahren gemacht worden sei. Darauf setzte er Mr. Vanstone durch die unumwundene Mittheilung in Schrecken, daß in dem Falle das Document vor dem Gesetze ein Stück unnützes Papier sei. Bis zu diesem Augenblicke hatte Dieser, wie viele andere Personen, kein Wort davon gewußt, daß vor dem Gesetze wie in der Gesellschaft die Verheirathung eines Mannes als das wichtigste Ereigniß in seinem Leben gilt, daß dieselbe die Gültigkeit jedes Testaments aufhebt, das er als unverheiratheter Mann gemacht hat, und daß es die erneuerte Bestätigung seiner letztwilligen Verfügungen in seiner Eigenschaft als Eheherr erfordert. Die Feststellung dieser einfachen Thatsache schien Mr. Vanstone zu überwältigen. Indem er erklärte, sein Freund habe ihm da einen Dienst erwiesen, den er ihm bis an sein letztes Stündlein nicht vergessen werde, verließ er plötzlich die Wohnung Mr. Clares, kehrte sofort nach Hause zurück und schrieb diesen Brief.

Er händigte den Brief Miss Garth offen ein. Mit sprach- und thränenlosem Schmerz las Diese folgende Worte:

Mein lieber Pendril!

Seit wir uns zuletzt geschrieben haben, hat in meinem Leben eine außerordentliche Veränderung stattgefunden. Ungefähr eine Woche nach Ihrer Abreise erhielt ich eine Nachricht aus Amerika, welche mir anzeigte, daß ich frei wäre. Brauche ich Ihnen zu sagen, welchen Gebrauch ich von jener Freiheit machte? Brauche ich Ihnen zu sagen, daß die Mutter meiner Kinder nunmehr meine Gattin ist?

Wenn Sie erstaunt sind, daß Sie von dem Augenblicke an, wo Sie zurück sind, Nichts von mir gehört haben, so schreiben Sie mein Schweigen zum großen Theile, wenn nicht ganz und gar, meiner bisherigen gänzlichen Unkenntniß der gesetzlichen Erforderniß, ein anderes Testament zu machen, zu. Erst vor einer halben Stunde wurde ich durch meinen alten Freund Mr. Clare zum ersten Male darüber aufgeklärt, unter Umständen, welche ich Ihnen mündlich mittheilen will, wenn wir beisammen sind. Familiensorgen haben ebenfalls mit ihren Theil an meinem Schweigen. Meiner Gattin Entbindung ist nahe bevorstehend, und außer dieser ernsten Besorgniß ist meine jünqste Tochter bald dabei zu heirathen. Bevor ich heute Mr. Clare sprach, hatten diese Angelegenheiten meinen Geist so in Anspruch genommen, daß ich während des einen kurzen Monats nicht einen Augenblick daran dachte, Ihnen zu schreiben, was seit Ihrer Rückkehr vorgefallen ist. Jetzt, wo ich weiß, daß mein Testament aufs Neue gemacht werden muß, schreibe ich augenblicklich. Um Gottes Willen kommen Sie an dem Tage, wo Sie Dieses erhalten —— kommen Sie und erlösen Sie mich von dem schrecklichen Gedanken, daß meine beiden geliebten Töchter in diesem Augenblicke unversorgt sind. Wenn mir etwas zustoßen sollte und wenn mein Wunsch, ihrer Mutter zu gerecht werden, wegen meiner kläglichen Rechtsunkenntniß damit endigte, Nora und Magdalene ohne Erbe zu hinterlassen, so würde ich keine Ruhe im Grabe haben! Kommen Sie, koste es, was es wolle,

zu Ihrem allezeit getreuen
A. V.

—— Sonnabend früh, begann Mr. Pendril aufs Neue, fanden mich diese Zeilen. Ich ließ auf der Stelle alle anderen Geschäfte stehen und liegen und fuhr zur Eisenbahn. Auf dem Londoner Bahnhof hörte ich das erste Wort von dem Unglücksfalle vom Freitag, hörte es aber mit sich widersprechenden Angaben von Zahl und Namen der getödteten Reisenden. Zu Bristol war man besser unterrichtet, und die entsetzliche Wahrheit betreffs Mr. Vanstone wurde bestätigt. Ich hatte Zeit, mich von dem Schrecke zu erholen, ehe ich Ihre Station erreichte und Mr. Clares Sohn fand, der mich erwartete. Er nahm mich mit nach seines Vaters Hause, und dort entwarf ich, ohne einen Augenblick zu verlieren, Mrs. Vanstones Testament. Meine Absicht war, in der einzig möglichen Weise für ihre Töchter zu sorgen. Da Mr. Vanstone ab intestato ohne Testament, gestorben ist, so würde ein Drittel seines Vermögens auf seine Gattin fallen, der Rest würde unter seine nächsten Anverwandten vertheilt werden. Es ist die grausame Eigenthümlichkeit der englischen Gesetzgebung, daß die Vermälung der Aeltern die vor der Hochzeit geborenen Kinder nicht legitim macht. Mr Vanstones Töchter hatten unter den Umständen, wie ihr Vater gestorben war, nicht mehr Anspruch auf einen Antheil an seinem Eigenthume, als die Töchter eines seiner Arbeiter im Dorfe. Die einzige Aussicht war die, daß sich ihre Mutter hinreichend erholen möchte, um ihnen für den Fall ihres Hintritts ihr Drittel zum Theilen letztwillig zu hinterlassen. Nun wissen Sie, warum ich an Sie schrieb in der ängstlichen Hoffnung, in das Haus gerufen zu werden. Ich bedauerte aufrichtig, Ihnen auf Ihre Anfrage eine solche Antwort senden zu müssen, als ich genöthigt war, zu schreiben. Aber so lange eine Hoffnung vorhanden war, Mrs. Vanstone beim Leben zu erhalten, war das Geheimniß der Verheirathung ihr, nicht mein Eigenthum, und die Discretion verbot mir in jeder Hinsicht, es zu enthüllen.

— Sie hatten Recht, sagte Miss Garth, ich verstehe Ihre Beweggründe und achte sie.

—— Mein letzter Versuch, die Töchter zu versorgen, fuhr Mr. Pendril fort, wurde durch den gefährlichen Charakter von Mrs. Vanstones Krankheit vereitelt. Ihr Tod ließ das Kind, welches sie um wenige Stunden überlebte —— ich meine, bemerken Sie wohl, daß in gesetzlicher Ehe erzeugte Kind —— nach dem ordentlichen Laufe des Gesetzes im Besitz des ganzen Vermögens von Mrs. Vanstone. Beim Tode des Kindes —— wenn es die Mutter nur um wenige Augenblicke überlebt hätte, wäre der Erfolg ein und derselbe gewesen —— bekam der nächste Verwandte des rechtmäßigen Nachkommen das Geld. Dieser nächste Verwandte ist nun eben des Kindes Oheim von väterlicher Seite, Michael Vanstone. Das ganze Vermögen von achtzig Tausend Pfund ist jetzt eigentlich bereits in seinen Besitz übergegangen.

—— Giebt es keine anderen Verwandten? fragte Miss Garth? Ist da keine Hoffnung auf irgend Jemand anders?

—— Es gibt keine anderen Verwandten mit solchen Ansprüchen wie Michael Vanstone, sagte der Advocat. Es gibt keine Großväter oder Großmütter des verstorbenen Kindes (auf Seiten eines der Aeltern), welche noch am Leben wären. Es war schon nicht recht wahrscheinlich, wenn man das Lebensalter von Mr. und Mrs Vanstone bedenkt, als sie starben. Allein es ist ein Unglück, das man mit vollem Recht beklagen muß, daß nämlich keine anderen Oheime oder Tanten leben. Es sind noch Vettern am Leben, ein Sohn und zwei Töchter der älteren Schwester Mr. Vanstones, welche den Archidiakonus Bartram heirathete und welche, wie ich Ihnen schon erzählte, vor einigen Jahren gestorben ist. Aber ihr Interesse ist durch das Interesse des nähern Blutes bei Seite gestellt. Nein, Miss Garth, wir müssen den Thatbestand, wie er liegt, entschlossen ins Auge fassen. Das Gesetz von England, sofern es die uneheliche Nachkommenschaft betrifft, ist ein Flecken für die Nation. Es verletzt alle Grundsätze der christlichen Liebe, indem es die Fehler der Aeltern auf die Kinder überträgt. Es ermuntert das Laster, indem es bei Vätern und Müttern das stärkste aller Motive zur gesetzlichen Vollziehung der Ehe unwirksam macht. Und dabei gibt es sich noch das Ansehen als bringe es diese zwei verdammungswerthen Wirkungen im Namen der Sittlichkeit und Religion hervor. Anders verfügt das Gesetz von Schottland, anders das Gesetz, von Frankreich, anders das Gesetz jedes andern gesitten Gemeinwesens in Europa, so viel mir bewußt ist. Ein Tag wird kommen, wo England sich dessen schämen wird, aber dieser Tag ist noch nicht angebrochen. Mr. Vanstones Töchter sind Niemandes Kinder, und das Gesetz überläßt sie ohne Hilfe der Gnade ihres Oheims.

Er sprach diese Worte mit dem Feuer einer edlen Entrüstung und erhob sich.

—— Es ist nutzlos, länger bei der Vergangenheit und der Gegenwart zu verweilen. Der Morgen geht zu Ende, und die Zukunft nimmt unsere Gedanken schon in Anspruch. Der beste Dienst, den ich Ihnen noch leisten kann, ist, die Zeit Ihrer ängstlichen Ungewißheit abzukürzen. In weniger denn einer Stunde werde ich auf dem Wege zurück nach London sein. Unmittelbar nach meiner Ankunft will ich mich eiligst in Verkehr setzen mit Mr. Michael Vanstone und werde Sie das Ergebniß wissen lassen. Traurig wie die Lage der beiden Schwestern jetzt ist, werden wir ihr die beste Seite abzugewinnen suchen müssen. Noch dürfen wir die Hoffnung nicht sinken lassen.

—— Hoffnung? wiederholte Miss Garth. Noch Hoffnung von Michael Vanstone?!

—— Ja wohl, Hoffnung auf den Einfluß, wo nicht des Erbarmens, so doch der Zeit bei ihm. Wie ich Ihnen schon gesagt habe, ist er jetzt ein Greis, er kann nach dem Laufe der Natur nicht mehr lange zu leben hoffen. Wenn er auf die Zeit zurückblickt, wo er und sein Bruder zuerst auseinander geriethen, so muß er dreißig Jahre zurück blicken. Sind das nicht mildernde Einflüsse, denen sich kein Mensch entziehen kann? Wird nicht die Kenntniß der schrecklichen Umstände, unter welchen er in den Besitz dieses Geldes gekommen ist, bei ihm Fürsprech sein, wenn auch sonst nichts Anderes in ihm für uns spräche?

—— Ich will versuchen, so zu denken, wie Sie, Mr. Pendril, —— will versuchen, das Beste zu hoffen. Sollen wir lange in Ungewißheit bleiben, ehe die Entscheidung uns findet?

—— Ich glaube nicht. Der einzige Verzug auf meiner Seite wird durch die Nothwendigkeit verursacht werden, den gegenwärtigen Aufenthaltsort Michael Vanstones auf dem Festlande ausfindig zu machen. Ich denke, ich habe Mittel in den Händen, dieser Schwierigkeit mit Erfolg zu begegnen und den Augenblick, wo ich nach London komme, werde ich diese Mittel in Anwendung bringen.

Er setzte seinen Hut auf und kehrte dann an den Tisch zurück, auf welchem des Vaters letzter Brief und des Vaters unnützes Testament neben einander lagen. Nach einer augenblicklichen Ueberlegung legte er Beides in Miss Garths Hände.

—— Es mag Ihnen helfen, den verwaisten Schwestern die harte Wahrheit kund zu thun, sagte er in seiner ruhigen halb, zurückhaltenden Weise, wenn dieselben sehen, wie ihr Vater ihrer letztwillig gedenkt, wenn sie seinen Brief, den letzten, den er jemals geschrieben, lesen können. Lassen Sie diese Liebeszeichen ihnen aussprechen, daß der einzige Gedanke in ihres Vaters Leben der Gedanke, seinen Kindern eine Genugthuung zu geben, war.

—— Sie mögen den Makel ihrer Geburt schmerzlich beklagen ——, sagte er mir zu der Zeit, als ich seinen jetzt unnützen letzten Willen aufsetzte, —— aber sie sollen sich nie über mich beklagen. Ich will ihnen Nichts in den Weg legen: sie sollen nie eine Sorge kennen lernen, die ich ihnen ersparen kann, oder einen Mangel, dem ich nicht abhelfe.

—— Er ließ mich diese Worte in seinen letzten Willen setzen, um für ihn zu sprechen, wenn die Wahrheit, die er vor seinen Kindern bei Lebzeiten seiner verborgen gehalten, ihnen nach seinem Tode offenbar würde. Kein Gesetz kann seine Töchter des Erbtheils seiner Reue und seiner Liebe berauben. Ich lasse Ihnen das Testament und den Brief da, um Ihnen dadurch eine Hilfe an die Hand zu geben: ich Vertraue Beides Ihrer Sorgfalt an.

Er sah, wie seine Milde beim Abschied sie ergriff, und kürzte daher absichtlich das Lebewohl ab. Sie faßte mit ihren beiden Händen seine Rechte und murmelte in gebrochenen Tönen einige Dankesworte.

—— Verlassen Sie sich darauf, daß ich mein Bestes thue, sagte er, wandte sich aus Mitgefühl jählings ab und verließ sie.

Im hellen fröhlichen Sonnenschein war er gekommen, um die verhängnißvolle Wahrheit zu enthüllen. Im hellen, fröhlichen Sonnenschein, nachdem er jene Warheit kund gemacht, ging er wieder.



Kapiteltrenner

Vierzehntes Capitel.

Es war fast ein Uhr vorüber, als Mr. Pendril das Haus verließ. Miss Garth saß wieder an dem Tische allein und suchte der Notwendigkeit, welche das Ereigniß des Morgens ihr jetzt auferlegte, ins Auge zu sehen.

Ihr Geist war der Anstrengung nicht gewachsen. Sie versuchte, den Druck auf denselben zu mindern, einen Augenblick das Gefühl der eigenen Lage zu verlieren, ihren Gedanken nur auf einige Minuten zu entgehen. Nach einer Weile öffnete sie Mr. Vanstones Brief und begann unwillkürlich denselben noch einmal durchzulesen.

Aber und abermals blieben ihr die letzten Worte des Verstorbenen fester und immer fester in ihren Gedanken haften. Die ungestörte Einsamkeit, die ununterbrochene Stille unterstützten den Einfluß derselben auf ihr Gemüth und machten es jenen Eindrücken der Vergangenheit und Gegenwart zugänglich, welchen sie doch eben ängstlich zu entgehen trachtete. Als sie zu den traurigen Zeilen, welche den Brief schlossen, kam, fand sie sich unbewußt und unmerklich dabei, wie sie die verhängnißvolle Verkettung der Ereignisse, Glied um Glied rückwärts verfolgte, bis sie den Anfang in der beabsichtigten Verbindung zwischen Magdalene und Francis Clare erreichte.

Diese Heirath hatte Mr. Vanstone zu seinem alten Freunde geführt mit dem Bekenntnisse auf den Lippen, welches sonst denselben nimmer entschlüpft wäre. Dann kam die Aufklärung, welche ihn nach Hause zurückgeführt hatte, um den Advocaten herzubescheiden. Diese Einladung wieder hatte die unvermeidliche Beschleunigung und Verlegung von der Sonnabendreise auf den Freitag herbeigeführt, auf den Freitag des Unglücksfalls, den Freitag, wo er in seinen Tod ging! Aus seinem Tode folgte der zweite Verlust, der das Haus in Jammer und Elend gestürzt hatte, die hilflose Lage der Töchter, deren glückliche Zukunft seine heiligste Sorge gewesen war, die Enthüllung des Geheimnisses, welche sie diesen Morgen fast erdrückt hatte, die noch schrecklichere Eröffnung, welche sie nun verurtheilt war, den Töchtern kund zu machen. Zum ersten Male sah sie die ganze Folge der Ereignisse, sah sie so deutlich, als das unbewölkte Blau des Himmelgewölbes und das grüne Farbenspiel der Bäume draußen im Sonnenschein.

Wie, wann konnte sie es ihnen sagen? Wer konnte ihnen mit der Enthüllung ihrer unehelichen Abkunft nahe treten, bevor ihr Vater und ihre Mutter eine Woche im Grabe ruhten? Wer konnte die schrecklichen Worte sprechen, wo noch die ersten Zähren ihre Wangen benetzten, wo der erste Trennungsschmerz in ihren Herzen am Heftigsten war, wo die Erinneren an die Bestattung noch nicht einen Tag alt war? Nicht ihr letzter übriger Freund, nicht die gläubige Frau, deren Herz um sie blutete Nein! für jetzt Stillschweigen um jeden Preis, Stillschweigen aus Erbarmen für manche kommende Tage!

Sie verließ das Zimmer, mit dem Testament und dem Brief in ihrer Hand, mit dem natürlichen, menschlichen Mitleid im Herzen, welches ihren Lippen ein Siegel auferlegte und ihre Augen absichtlich der Zukunft verschloß. In der Flur hielt sie an und lauschte. Nicht ein Ton war zu hören. Sie stieg leise die Treppe hinan auf dem Wege nach ihrem Zimmer und kam an der Thür von Noras Schlafgemach vorüber. Stimmen darin, die Stimmen der beiden Schwestern drangen an ihr Ohr. Nach einer augenblicklichen Ueberlegung hielt sie sich selbst zurück, kehrte um und stieg rasch die Treppe wieder herunter. Beide, Nora und Magdalene, wußten von der Unterredung zwischen ihr und Mr. Pendril: sie hatte es für ihre Schuldigkeit gehalten, denselben den Brief zu zeigen, welcher die Anmeldung desselben enthielt, konnte sie deren Verdacht erwecken, dadurch daß sie sich in ihr Zimmer einschloß, sobald der Advocat das Haus verlassen hatte? Ihre Hand zitterte auf dem Treppengeländer, sie fühlte, daß ihr Gesicht sie verrathen würde. Die sich selbst verleugnende Tapferkeit, welche sie bis auf diesen Tag nie verlassen hatte, war doch endlich zu viel auf die Probe gestellt worden: dieselbe war doch zuletzt über ihr Vermögen angespannt worden.

In der Hausthür dachte sie einen Augenblick nach und ging in den Garten; indem sie ihre Schritte zu einer ländlichen Bank mit einem Tische ungesehen vom Hause unter den Bäumen hinlenkte. In früheren Zeiten hatte sie oft dort gesessen, auf der einen Seite Mrs. Vanstone, auf der andern Nora mit Magdalenen und den auf dem Grase sich tummelnden Hunden. Jetzt saß sie allein dort, das Testament und den Brief, welchen sie nicht aus den Händen zu lassen sich getraute, vor sich auf den Tisch gelegt, ihr Haupt darüber gebeugt, ihr Gesicht in ihren Händen verborgen. Allein saß sie da und versuchte, ihren sinkenden Muth wieder aufzurichten.

Trübe Gedanken bemächtigten sich ihrer über die dunkeln Tage der Zukunft, Furcht ergriff sie vor der heimlich drohenden Gefahr, welche ihr eigenes Stillschweigen gegenüber Nora und Magdalene in naher Zukunft heraufbeschwören möchte. Ein einziger Augenblick konnte plötzlich die Warheit an den Tag bringen. Mr. Pendril konnte schreiben, konnte sich persönlich an die Schwestern wenden in der natürlichen Ueberzeugung, daß sie dieselben unterrichtet habe. Verwickelungen konnten in einem Augenblick sich rings um sie versammeln; unvorhergesehene, dringende Umstände konnten ihr sofortiges Verlassen des Hauses nothwendig machen. Sie sah alle diese Gefahren, —— und doch war ihr der grausame Muth, das Schlimmste zu ergreifen und zu reden ferner als je. Es dauerte nicht lange, so drängten die auf sie einstürmenden Gedanken nach außen, um sich in Worten und Handlungen Luft zu machen. Sie erhob ihr Haupt und ließ ihre Hand in Verzweiflung auf den Tisch fallen.

—— Gott stehe mir bei, was soll ich thun! rief sie aus. Wie soll ich es ihnen sagen?

—— Es ist nicht nöthig, es ihnen zu sagen, sprach eine Stimme hinter ihr. Sie wissen es bereits.

Sie fuhr plötzlich in die Höhe und blickte sich um. Es war Magdalene, welche vor ihr stand, Magdalene, welche diese Worte gesprochen hatte.

Ja dort stand die reizende Gestalt in ihren Trauerkleidern, sie stand da groß und schwarz und unbeweglich anzuschauen gegenüber dem Blätterhintergrunde Es war Magdalene selbst mit einer unveränderlichen Stille auf ihrem weißen Gesichte, mit einer eisigen Ergebung in ihren festen grauen Augen.

—— Wir wissen es schon, wiederholte sie in vernehmbarem, abgemessenem Tone. Mr. Vanstones Töchter sind Niemandes Kinder, und das Gesetz überläßt sie ohne Gnade dem Erbarmen ihres Oheims.

So wiederholte sie ohne eine Thräne auf ihren Wangen, ohne ein Zittern in ihrer Stimme die eigenen Worte des Advocaten, genau so, wie er sie gesprochen hatte. Miss Garth fuhr einen Schritt zurück faßte sich an der Bank an, um sich festzuhalten. Ihr Kopf schwindelte, sie schloß ihre Augen in einer augenblicklichen Schwäche. Als sie dieselben wieder an schlug, wurde sie von Magdalenens Arm unterstützt, Magdalenens Athem wehte an ihrer Wange, Magdalenens kalte Lippen küßten sie. Sie zog sich vor dem Kusse zurück, die Berührung von des Mädchens Lippen erfüllte sie mit durchbohrendem Entsetzen.

Sobald sie sprechen konnte, stellte sie die unvermeidliche Frage.

—— Sie hörten uns, sagte sie. Wo?

—— Unter dem offenen Fenster.

—— Die ganze Zeit?

—— Von Anfang bis zu Ende.

Sie hatte also, dieses Kind von achtzehn Jahren, in der ersten Woche ihrer Verwaistheit die ganze schreckliche Enthüllung belauscht, Wort für Wort, wie sie von des Advocaten Lippen fiel, und hatte sich niemals selbst verrathen! Von Anfang bis zu Ende waren die einzigen Bewegungen, die ihr entschlüpft waren, so vorsichtig und leicht genug gewesen, um mit einem Streichen der Sommerluft durch die Blätter verwechselt zu werden!

—— Versuchen Sie noch nicht zu sprechen, sagte sie in sanfterem und milderem Tone. Sehen Sie mich nicht mit so ungläubigen Augen an. Was habe ich Unrechtes gethan? Als Mr. Pendril mit Ihnen über Nora und mich zu sprechen wünschte, ließ uns sein Brief nur eine Wahl, entweder bei der Unterredung zugegen zu sein oder wegzubleiben. Als meine ältere Schwester sich entschloß, wegzubleiben, wie konnte ich da kommen? Wie konnte ich meine eigene Geschichte hören, außer auf die Weise, welche ich ausfindig machte? Mein Lauschen hat kein Unheil angerichtet. Es hat Gutes gewirkt, es hat Ihnen den Schmerz erspart, mit uns zu sprechen. Sie haben schon um uns genug gelitten, es ist Zeit, daß wir unsere Leiden selbst zu tragen lernen. Ich habe es gelernt. Und Nora lernt es auch.

—— Nora?!

—— Ja. Ich habe Alles gethan, um Sie zu schonen. Ich habe Nora in Kenntniß gesetzt.

Sie hatte Nora in Kenntniß gesetzt! War dieses Mädchen, dessen Muth die schreckliche Nothwendigkeit ins Auge gefaßt hatte, vor der ein Weib, welches alt genug war, um deren Mutter sein zu können, zurück gebebt war, das Mädchen, das Miss Garth auferzogen hatte? Das Mädchen, dessen Charakter und Wesen sie so gut als ihren eigenen zu kennen glaubte?

—— Magdalene rief sie leidenschaftlich aus, Sie erschrecken mich!

Magdalene seufzte nur und wandte sich matt hinweg.

——Versuchen Sie nicht, Schlimmes von mir zu denken, als ich verdiente, sagte sie. Ich kann nicht weinen. Mein Herz ist starr geworden.

Sie hob sich langsam über das Gras hinweg. Miss Garth folgte mit den Augen der großen schwarzen Gestalt, wie sie allein hinweg schwebte, bis sie unter den Bäumen verschwand. So lange dieselbe in Sicht war, konnte sie nichts Anderes denken. In dem Augenblicke, daß sie fort war, dachte sie an Nora. Zum ersten Male, so lange sie die Schwestern kannte, drängte sie ihr Herz in dunklem Gefühle zu der älteren von den Beiden hin.

Nora war noch auf ihrem Zimmer. Sie saß auf dem Divan am Fenster, das Notenbuch ihrer Mutter auf dem Schooße aufgeschlagen, die Mappe, welche Mrs. Vanstone in ihres Gatten Arbeitszimmer gefunden hatte. Sie schaute auf von derselben mit so ruhigem Kummer und zeigte mit so ungezwungener Freundlichkeit auf den leeren Platz an ihrer Seite, daß Miss Garth einen Augenblick ungewiß war, ob Magdalene die Wahrheit gesprochen hätte.

—— Sehen Sie, sagte Nora einfach, indem sie das erste Blatt des Notenbuchs umwandte. Meiner Mutter Namen darin geschrieben, auf der andern Seite einige Verse an meinen Vater. Wir wollen Dies für uns behalten, wenn wir auch sonst Nichts behalten.

Sie legte ihren Arm um Miss Garths Nacken, und ein schwacher Anflug von Farbe flog leise über ihre Wangen.

— Ich sehe ängstliche Gedanken in Ihrem Gesichte, flüsterte sie. Sind Sie um mich in Angst? Zweifeln Sie, daß ich es vernommen habe? Ich habe die ganze Wahrheit gehört. Ich möchte sie später bitterer empfunden haben, jetzt ist es noch zu bald, um sie schon zu fühlen. Sie haben Magdalenen gesprochen? Sie ging, um Sie zu suchen,.... wo verließen Sie die Schwester?

—— Im Garten. Ich konnte nicht mit ihr sprechen, ich konnte sie nicht ansehen. Magdalene hat mich erschreckt.

Nora erhob sich schnell, erhob sich, durch Miss Garths Antwort aufgeschreckt und bekümmert.

—— Denken Sie nicht schlimm von Magdalenen, sagte sie. Magdalene leidet im Stillen mehr, als ich. Machen Sie sich keinen Kummer über Das, was Sie diesen Morgen über uns gehört haben. Was kommt darauf an, wer wir sind, oder was wir behalten oder verlieren? Was für einen Verlust gibt es für uns jetzt nach dem Verlust von Vater und Mutter? Ach, Miss Garth, Das ist der einzige Schmerz! An was dachten wir, als wir sie gestern ins Grab senkten? An die Liebe, die sie uns schenkten, die Liebe, auf welche wir niemals wieder hoffen dürfen. An was Anderes können wir heute denken? Welche Veränderung können die Welt und die grausamen Gesetze der Welt in unserer Erinnerung an den liebreichsten Vater, die liebevollste Mutter, deren sich je Kinder erfreut haben, hervorbringen?...

Sie hielt inne, kämpfte mit ihrem Herzensjammer und zwang ihn ruhig und entschlossen nieder.

—— Wollen Sie hier warten? sagte sie, indeß ich gehe und Magdalenen zurückbringe? Magdalene war immer Ihr Liebling. Ich will, daß sie noch jetzt Ihr Liebling sei.

Sie legte das Notenbuch sanft auf Miss Garths Schooß und verließ das Zimmer.

—— Magdalene war immer Ihr Liebling.

So liebevoll diese Worte gesprochen waren, so drangen sie doch wie ein Vorwurf in Miss Garths Ohr. Zum ersten Male in der langen Gemeinschaft zwischen ihr und ihren Schützlingen drang sich ihrem Geiste ein Zweifel auf, ob sie und Alle um sie her sich nicht verhängnißvoll geirrt hätten in ihrer gegenseitigen Abschätzung der Schwestern. Sie hatte die Naturen der beiden Schützlinge in dem täglichen Umgange eines Zeitraumes von zwölf Jahren erforscht. Diese Naturen nun, welche sie, wie sie glaubte, in all ihren Tiefen ergründet hatte, waren nun auf einmal in dem ernsten Gottesgericht des Unglücks auf die Probe gestellt worden. Wie waren sie aus der Prüfung hervorgegangen? Wie ihre frühere Erfahrung sie vorbereitet hatte, sie hervorgehen zu sehen? Nein, in geradem Gegentheil.

Was war die nächste Folge einer solchen Wirkung?

Gedanken kamen ihr, als sie sich selber die Frage verlegte, welche uns Alle selbst betroffen gemacht und betrübt haben.

Gibt es in jedem menschlichen Wesen unter dem äußerlichen und sichtbaren Charakter, welcher durch die uns umgebenden gesellschaftlichen Einflüsse eine bestimmte Form angenommen hat, noch eine tief innere, Unsichtbare Anlage, welche einen Theil unseres Selbst bildet, welche die Erziehung mittelbar verändern, aber nimmermehr ganz umzuwandeln hoffen darf? Wenn irgend welche Philosophen Dieses leugnen und behaupten, daß wir mit Anlagen geboren werden, welche einem Blatte unbeschriebenen Papieres gleichem ist diesen Philosophen nicht entgangen, daß wir auch nicht mit unbeschriebenen Gesichtern geboren werden, haben diese Philosophen niemals zwei Kinder, die nur wenige Tage alt sind, mit einander verglichen und bemerkt, daß diese Kinder nicht geboren sind mit unbeschriebenen Charakteren, denen erst Mütter und Ammen einen Inhalt zu geben brauchen? Gibt es unendlich verschieden bei jedem Einzelwesen tief angeborene gute und böse Mächte in uns Allen, fern entrückt dem Einflusse sterblicher Ermunterung und sterblicher Bekämpfung, verborgenes Gutes und Verborgenes Schlimmes, Beides gleichmäßig nur auf die Gelegenheit harrend, die es frei macht, und auf die Versuchung, welche gerade stark genug ist? Sind innerhalb dieser irdischen Schranken die Umstände immer der Schlüssel, und kann uns keine menschliche Wachsamkeit vor den in uns gefangen gehaltenen Mächten, welche jener Schlüssel freilassen kann, vorher warnen?

Zum ersten Male erhoben sich Gedanken dieser Art dunkel in Miss Garths Seele, wie schreckliche und finstere Möglichkeiten. Zum ersten Male vereinigte sie jene Möglichkeiten mit dem früheren Benehmen und Wesen, mit dem künftigen Leben und Schicksale der verwaisten Schwestern.

Indem sie wie in einem Spiegel dunkel die beiden Charaktere zu erkennen suchte, tappte sie von einem Zweifel zum andern, von einer möglichen Wahrheit auf die andere fort. Wohl möchte es der Fall sein, daß die äußere Oberfläche von den Charakteren Alles war, was sie bis jetzt bei Nora und Magdalene deutlich gesehen hatte. Möglich, daß die abstoßende Zurückhaltung und Verschlossenheit der einen Schwester, die anziehende Offenheit und Aufgewecktheit der andern, Jedes für sich, mehr oder weniger ans jene leiblichen Ursachen zurückzuführen waren, welche gegenüber der Erzeugung sittlicher Erfolge wirksam sind. Möglich, daß unter einer so gestalteten Oberfläche, einer Außenseite, welche bisher in dem glücklichen, heitern, ereignißlosen Leben der Schwestern durch Nichts zerstört wurde, die Mächte einer angeborenen eingewurzelten Anlage verborgen lagen, welche der Stoß des ersten schweren Unglücks in ihrem Leben ans Tageslicht gebracht hatte. War es Dieses? Blickte eine verheißende Zukunft mit prophetischen Strahlen durch das Schattendunkel der verschlossenen Außenseite Noras und düster mit prophetischer Glut durch das Flitterwerk der launigen Außenseite Magdalenens? Wenn das Leben der älteren Schwester von nun ab dazu bestimmt war, das Erntefeld des unentwickelt in ihr schlummernden Guten zu werden, war da das Leben der jüngeren Schwester dazu verurtheilt, der Tummelplatz tödtlicher Kämpfe mit den in ihr erweckten Mächten des Bösen zu werden?...

Am Rande dieser schrecklichen Schlußfolgerung bebte Miss Garth unwillig zurück. Ihr Herz war ein wahres Frauenherz. Es nahm die Ueberzeugung, welche Nora in ihrer Liebe höher hob, willig hin; es wies den Zweifel, welcher Magdalenen tiefer zu stellen drohte, zurück. Sie erhob sich und schritt unruhig durch das Zimmer. Sie bebte mit plötzlichen Unwillen vor der ganzen Gedankenkette zurück, welche ihr Geist eben im Augenblicke vorher durchgemacht hatte. Wie, wenn wirklich gefährliche Elemente in der Stärke von Magdalenens Charakter lagen,.. war es da nicht ihre Pflicht, dem Mädchen gegen sein schlimmeres Selbst Beistand zu leisten? Wie hatte sie diese Pflicht erfüllt? Sie hatte sich von der ersten Furcht, den ersten Eindrücken leiten lassen; sie hatte nicht einmal gewartet, bis ausgemacht war, ob nicht Magdalenens offen bekannte Handlung von dem Morgen eine aufopfernde Tapferkeit zur Voraussetzung hatte, welche im spätern Leben die edelsten und erhabensten Erfolge versprach. Sie hatte Nora gehen und jene Worte voll zärtlicher Vorwürfe, voll liebreicher Fürbitte sprechen lassen, welche sie eigentlich selbst zuerst hätte sagen sollen.

—— Ach, sagte sie sich mit Schmerz, wie lange habe ich in der Welt gelebt und wie wenig habe ich bis jetzt meine eigene Schwäche und Fehler gekannt!

Die Thür des Zimmers öffnete sich. Nora kam herein, allein, wie sie gegangen war.

—— Erinneren Sie sich Etwas vergessen zu haben auf dem kleinen Tische vor der Gartenbank? fragte sie ruhig.

Bevor Miss Garth die Frage beantworten konnte, hielt sie Derselben ihres Vaters Testament und ihres Vaters Brief entgegen.

—— Magdalene kam zurück, nachdem Sie schon weg waren, sagte sie, und fand diese letzten Reliquien Sie hörte Mr. Peudril sagen, Dies wäre ihr und mein Erbtheil. Als ich in den Garten ging, las sie den Brief. Es war nicht nöthig mit ihr zu sprechen: unser Vater hatte mit ihr aus seinem Grabe heraus gesprochen. Sehen Sie, wie sie auf ihn gelauscht hat!

Sie zeigte aus den Brief. Die Spuren von schweren Thränen lagen dicht auf den letzten Zeilen der Handschrift des Verstorbenen.

—— Ihre Thränen, sagte Nora sanft.

Miss Garth beugte sich nieder auf die stummen Zeugen von Magdalenens Rückkehr zu ihrem bessern Selbst ——

—— O werden Sie nie wieder irre an ihr! bat Nora. Wir sind jetzt allein auf der Welt, wir haben unsern harten Weg durchs Leben zu gehen, so ruhig als wir nur vermögen. Wenn Magdalene jemals schwankt und rückwärts gehen will, stehen Sie ihr bei um der Liebe aus alten guten Tagen willen, stehen Sie ihr gegen sich selbst bei.

—— Von ganzem Herzen und mit all meinem Vermögen, Gott soll mein Zeuge sein, mit der Hingebung meines ganzen Lebens!

Mit diesen begeisterten Worten antwortete Miss Garth. Sie ergriff die Hand, welche Nora ihr entgegenstreckte und führte sie in Kummer und Demuth an ihre Lippen.

—— Ach, meine Liebe, vergeben Sie mir! Ich bin zu meinem Jammer verblendet gewesen, ich habe Sie niemals so geschätzt, als ich gesollt hätte!

—— Nora wehrte ihr sanft, bevor sie mehr sagen konnte, und flüsterte leise:

—— Kommen Sie mit in den Garten hinunter, kommen Sie und helfen Sie Magdalenen ruhig in die Zukunft zu schauen.

Die Zukunft! Wer konnte den schwächsten Schein davon sehen? Wer konnte etwas Anderes sehen, als die unheimliche Gestalt Michael Vanstones, welche dunkel an der Schwelle der Gegenwart stand und alle Aussicht, die hinter ihr lag, versperrte?



Kapiteltrenner

Fünfzehntes Capitel.

Am zweitfolgenden Morgen erhielt man Nachricht von Mr. Pendril. Der Aufenthaltsort von Michael Vanstone auf dem Continent war entdeckt worden. Er lebte in Zürich, und ein Brief war dorthin an ihn abgefertigt worden, an demselben Tage, als man es erfuhr. Im Laufe der kommenden Woche konnte eine Antwort füglich erwartet werden, und der Inhalt derselben sollte sofort den Damen aus Combe-Raven mitgetheilt werden.

So kurz er war, so verging doch dieser Aufschub langsam genug. Zehn Tage verstrichen, ehe die erwartete Antwort eintraf, und als sie endlich kam, so lief sie eigentlich darauf hinaus, daß sie Nichts beantwortete. Mr. Pendril war lediglich an einen Agenten in London gewiesen worden, der Michael Vanstones Weisungen haben sollte. Gewisse Schwierigkeiten hatten sich bei diesen Weisungen ergeben, wodurch es nothwendig geworden war, noch ein Mal nach Zürich zu schreiben. Und auf dem Flecke standen die Unterhandlungen augenblicklich wieder still.

Eine andere Stelle in Mr. Pendrils Brief enthielt eine weitere, ganz neue Mittheilung. Mr. Michael Vanstones Sohn —— und einziges Kind —— Mr. Noël Vanstone war vor Kurzem in London angekommen und hielt sich in der Wohnung seines Cousins, Mr.George Bertram, auf. Rücksichten, welche ihm sein Beruf geboten, hatten Mr. Pendril veranlaßt, in jener Wohnung persönlich einen Besuch zu machen. Er war von Mr. Bertram sehr freundlich aufgenommen worden, war aber durch jenen Herrn bedeutet worden, daß sein Cousin nicht in der Lage wäre, Besuche annehmen zu können. Mr. Noël Vanstone hätte seit einigen Jahren an einer langwierigen und hartnäckigen Krankheit gelitten. Er wäre nach England gekommen, um sich der besten ärztlichen Hilfe bedienen zu können, und fühlte sich von der Beschwerde der Reise so stark angegriffen, daß er ans Bett gefesselt sei. Unter diesen Umständen hatte Mr. Pendril keine andere Wahl, als sich zu verabschieden. Eine Unterredung mit Mr. Noël Vanstone würde vielleicht über manche mit seines Vaters Weisungen zusammenhängenden Schwierigkeiten Aufklärung gegeben haben. Wie aber die Dinge einmal lägen, so müsse man wohl oder übel noch einige Tage länger warten.

Die Tage vergingen, die leeren Tage der Einsamkeit und Bängniß. Endlich zeigte ein dritter Brief des Advotaten den lange hinaus geschobenen Abschluß des Briefwechsels an. Die Schlußantwort aus Zürich war eingetroffen, und Mr. Pendril wollte sie den nächsten Tag Nachmittags auf Combe-Raven persönlich mittheilen.

Der nächste Tag war Mittwoch, der zwölfte August. Das Wetter hatte sich über Nacht geändert, und die Sonne ging in Nebel und Wolkendunst auf. Mittags war der Himmel nach allen Richtungen hin umzogen, die Temperatur war fühlbar kälter, und der Regen ging gerade, sanft und anhaltend auf die durstige Erde nieder. Gegen drei Uhr traten Miss Garth und Nora in das Morgenzimmer, um Mr. Pendrils Ankunft zu erwarten. Bald nachher kam auch Magdalene dazu. Eine halbe Stunde später drang von dem Staket hinter den Buschanlagen her das wohlbekannte Einfallen der eisernen Klinke in das Schloß zu ihnen. Mr. Pendril und Mr. Clare wurden auf dem Gartenwege sichtbar, sie kamen Arm in Arm im Regen. Beide unter einem Regenschirme. Der Advocat verbeugte sich, als sie am Fenster vorüberkamen, Mr. Clare ging aufrecht einher, tief in Gedanken versunken, und hatte für Nichts um sich her Augen.

Nach einer Pause, welche endlos schien, nachdem man sich die Füße auf der Matte in der Flur abgestrichen, nach einem geheimnißvollen Austausch von Frage und Antwort vor der Thür, traten die Beiden ein, Mr. Clare vorausgehend. Der alte Herr ging aufgerichtet nach dem Tische hin, ohne mit einem Gruße zu beginnen, und sah über denselben auf die drei Frauen hin, den Ausdruck eines schmerzlichen Mitleids in seinem rauhen, durchfurchten Angesichte.

—— Schlechte Nachrichten, sagte er. Ich bin ein Feind aller unnöthigen Bängniß. Offenheit ist eine Gunst in einem solchen Falle wie dieser. Ich will diese Gunst erweisen, und ich will offen die schlechten Nachrichten ankündigen.

Mr. Pendril folgte ihm. Er wechselte schweigend Händedruck mit Miss Garth und den beiden Schwestern und nahm sich einen Stuhl in ihrer Nähe. Mr. Clare setzte sich seitwärts auf einen Stuhl beim Fenster. Das von dem Regen gedämpfte Licht fiel sanft und trübe aus die Gesichter von Nora und Magdalene, welche ihm gegenüber beisammen saßen. Miss Garth hatte sich ein wenig hinter sie zum Theil in Schatten gesetzt. Das ruhige Antlitz des Advocaten wurde dicht neben ihr im Profil sichtbar. So erschienen die vier im Zimmer Anwesenden Mr. Clare, wie er in seiner Ecke zur Seite saß. Seine langen Finger griffen wie Adlerfänge in seine Kniee, seine dunklen beobachtenden Augen hefteten sich forschend bald auf dieses, bald auf jenes Gesicht. Das rieselnde Geräusch des Regens in dem Buschwerk und das helle rastlose Picken der Uhr auf dem Kaminsims machten das nur Minutenlange Stillschweigen, welches eintrat, als die gegenwärtigen Personen sich auf ihre Plätze gesetzt hatten, unbeschreiblich drückend. Es war für Alle eine Erleichterung, als Mr. Pendril sprach.

—— Mr. Clare hat Ihnen bereits gesagt, hub er an, daß ich der Bringer schlechter Nachrichten bin. Ich bedaure sagen zu müssen, Miss Garth, daß Ihre Befürchtungen, als ich Sie das letzte Mal sprach, mehr Grund hatten, als meine Hoffnungen. Was jener herzlose ältere Bruder in seiner Jugend war, ist er noch in seinen alten Tagen. In allen meinen unliebsamen Erfahrungen von der Nachtseite des menschlichen Herzens ist mir kein Mann vorgekommen, in welchem jede mitleidige Regung so absolut fehlte, als Michael Vanstone.

—— Meinen Sie, daß er das ganze Vermögen seines Bruders an sich nimmt und seine Bruderskinder ganz und gar leer ausgehen läßt? fragte Miss Garth.

—— Er bietet eine Geldsumme für die nöthigen Ausgaben des Augenblicks an, erwiderte er, welche so erbärmlich und schmählich unzureichend ist, daß ich mich schäme, sie zu nennen.

—— Und Nichts für die Zukunft?

—— Absolut Nichts.

Als diese Antwort gegeben wurde, kam ein und derselbe Gedanke in demselben Augenblicke Miss Garth und Nora in den Sinn. Die Entscheidung, welche beide Schwestern gleichmäßig alles Vermögens beraubte, war für die jüngere von beiden noch nicht zu Ende. Michael Vanstones Entschluß hatte eigentlich den Spruch gesprochen, welcher Frank nach China verwies und alle Hoffnung der jetzigen Verheirathung Magdalenens zerstörte. Als die Worte aus des Advocaten Munde kamen, sahen Miss Garth und Nora ängstlich beklommen nach Magdalenen hin. Ihr Gesicht war um einen Schatten bleicher geworden, aber kein Zug darin bewegte sich, kein Wort entschlüpfte ihr. Nora, welche die Hand ihrer Schwester in der ihrigen hielt, fühlte sie einen Augenblick erzittern und dann erkalten: das war Alles.

—— Gestatten Sie mir, Ihnen offen zu sagen, was meinerseits geschehen ist, begann Mr. Pendril aufs Neue, ich wünschte von Herzen, daß Sie nicht denken, ich habe irgend Etwas unversucht gelassen. Als ich zum ersten male an Michael Vanstone schrieb, so begnügte ich mich nicht mit der gewöhnlichen formellen Mittheilung. Ich stellte ihm offen und ernstlich jeden der Umstände, unter denen er Eigenthümer von seines Bruders Vermögen geworden war, vor Augen. Als ich die Antwort erhielt, daß ich mich an seine schriftliche Weisungen für seinen Anwalt in London zu halten hätte, und als eine Abschrift dieser Weisungen mir behändigt war, so weigerte ich mich auf das Bestimmteste, nachdem ich davon Einsicht genommen hatte, den Bescheid des Schreibers als endgültig anzuerkennen. Ich veranlaßte den Rechtsbeistand der andern Partei, uns einen weiteren Aufschub zu gewähren. Ich versuchte Mr. Noël Vanstone in London zu sprechen, in der Absicht, mich seiner Vermittelung zu versichern. Als auch Dieses mir fehlschlug, schrieb ich an seinen Vater zum zweiten Male. Die Antwort verwies mich in unverschämt kurzen Worten auf die mir bereits vorgelegten Weisungen; er erklärte diese Verhaltungsbefehle als sein letztes Wort und weigerte sich, sich mit mir weiter darüber brieflich einzulassen. Dies sind der Anfang und das Ende der Unterhandlung. Wenn ich ein Mittel, um auf diesen herzlosen Mann Eindruck zu machen, unversucht gelassen habe, so sagen Sie es mir, und jene Mittel sollen in Anwendung gebracht werden.

Er sah Nora an. Sie drückte ermuthigend die Hand ihrer Schwester und antwortete für sie Beide.

—— Ich spreche ebenso für meine Schwester, als für mich selbst, sagte sie mit etwas lebhafterer Farbe im Gesicht, mit der ihr angeborenen sanften Weise, die durch eine stillduldende Trauer rührend wurde.

—— Sie haben gethan, was nur zu thun menschenmöglich war, Mr. Pendril. Wir haben versucht, uns allzusicherer Hoffnungen zu entschlagen, und wir sind Ihnen für Ihre Güte aufs Innigste dankbar, zu einer Zeit, wo Güte uns Beiden so herbe Noth thut.

Magdalenens Hand erwiederte den Druck ihrer Schwester, zog sich dann zurück und machte sich einen Augenblick unruhig mit ihrer Kleidung zu schaffen und rückte darauf plötzlich den Stuhl näher an den Tisch. Indem sie einen Arm darauf stützte —— die Hand fest angestemmt —— sah sie zu Mr. Pendril hinüber. Ihr Gesicht, immer auffallend durch seinen Mangel an Farbe, war jetzt erschreckend anzuschauen in seiner unheimlich weißen blutlosen Blässe. Aber das Licht in ihren großen grauen Augen war so hell und fest, wie je. Ihre Stimme klang, obgleich in leisem Tone gehalten, hell und sicher im Ausdruck, als sie den Abdocaten mit folgenden Worten anredete:

—— Verstand ich recht, so sagten Sie, Mr. Pendril, daß meines Vaters Bruder seine schriftlichen Befehle nach London geschickt hat, und daß Sie eine Abschrift davon haben. Haben Sie dieselbe aufgehoben?

—— Ganz gewiß.

—— Haben Sie dieselbe bei sich?

—— Allerdings.

—— Kann ich sie sehen?

Mr. Pendril zögerte und sah unruhig von Magdalenen nach Miss Garth und Von Miss Garth wieder nach Magdalenen.

—— Ich bitte Sie, bestehen Sie mir zu Liebe nicht auf Ihrem Begehren, sagte er. Es genügt gewiß, daß Sie den Sinn der Weisungen kennen. Warum sollten Sie sich ohne allen Zweck aufregen durch das Lesen derselben? Sie sind in so grausamen Worten gehalten, sie zeigen eine so abscheuliche Gefühllosigkeit, daß ich es in der That nicht über mich gewinnen kann, Sie dieselben sehen zu lassen.

—— Ich weiß Ihre Güte zu schätzen, Mr. Pendril, daß Sie mir Schmerz ersparen wollen. Allein ich kann Schmerz ertragen, ich verspreche, Niemand zu betrüben. Wollen Sie mir erlauben, meine Bitte zu wiederholen?

—— Sie streckte ihre Hand aus, die zarte weiße, jungfräuliche Hand, welche bis jetzt noch durch keine Berührung befleckt oder hart geworden war.

—— Ach, Magdalene, bedenke Dich doch noch einmal! sagte Nora.

—— Sie betrüben Mr. Pendril, setzte Miss Garth hinzu, Sie betrüben uns Alle.

—— Es kann zu Nichts führen, wendete der Advocat weiter ein, verzeihen Sie, wenn ich so sage, —— es kann in der That zu Nichts führen, wenn ich Ihnen die Weisungen zeige.

(—— Narren! sagte Mr. Clare vor sich hin. Haben sie denn keine Augen zu sehen, daß sie ihren eigenen Weg gehen will?)

—— Eine Stimme sagt mir, daß es doch zu Etwas führt, beharrte Magdalene. Diese Entscheidung ist eine sehr ernste. Sie ist noch ernster für mich...

Sie sah sich nach Mr. Clare um, welcher sie ganz nahe beobachtete, und sah augenblicklich wieder weg mit dem ersten äußerlichen Zeichen von Bewegung, das ihr bis jetzt entschlüpft war.

—— Sie ist für mich, begann sie wieder, aus besonderen Gründen noch ernster, als sie für meine Schwester ist. Ich weiß bis jetzt nur soviel, daß uns des Vaters Bruder unser Vermögen genommen hat. Er muß ganz besondere Gründe haben für ein solches Verfahren. Es steht ihm nicht zu, steht uns nicht zu, diese Motive verborgen zu halten. Er hat mit voller Ueberlegung Nora beraubt, mich beraubt, und ich denke, wir haben wohl ein Recht darauf, wenn wir wünschen, den Grund zu erfahren, warum.

—— Ich wünsche es nicht, sagte Nora.

—— Aber ich, versetzte Magdalene und hielt noch einmal ihre Hand ausgestreckt.

Jetzt erhob sich Mr. Clare und mischte sich zum ersten Male ein.

—— Sie haben Ihr Gewissen beruhigt, sagte er zum Advocaten hin gewandt. Geben Sie ihr das Recht, das sie beansprucht. Es ist ihr Recht, wenn sie es haben will.

Mr. Pendril zog ruhig die geschriebene Weisung aus der Tasche.

—— Ich habe Sie gewarnt, sagte er und reichte ihr, die Papiere über den Tisch hinüber, ohne weiter ein Wort zu verlieren.

Eines der beschriebenen Blätter war an der Ecke eingeknickt, und bei dieser Blattfalte begann das Manuskript, als Magdalene die Blätter zum ersten Male wendete.

—— Ist Dies die Stelle, welche mich und meine Schwester angeht? fragte sie.

Mr. Pendril nickte, und Magdalene machte nun die Schrift vor sich auf dem Tische glatt aus einander.

—— Willst Du bestimmen, Nora? fragte sie zu ihrer Schwester gewendet. Soll ich Dies laut lesen, oder soll ich es für mich lesen?

—— Für sich, sagte Miss Garth, indem sie statt Nora antwortete, welche sie in stummer Verwirrung und Trauer ansah.

—— Es soll geschehen, wie Sie wünschen, sagte Magdalene.

Nach diesen Worten wandte sie sich wieder zu der Schrift und las folgende Zeilen:

....Sie sind nun von meinen Wünschen in Betreff des baaren Vermögens unterrichtet, ferner in Betreff des Verkaufs der Einrichtung, der Wagen, Pferde und so weiter. Der noch übrige letzte Punct, über welchen ich Ihnen noch Weisung ertheilen muß, betrifft die Personen, welche das Haus bewohnen, und gewisse unbegründete Ansprüche von ihrer Seite, welche von einem Rechtsanwalte, Namens Pendril, erhoben worden sind. Dieser Letztere hat ohne Zweifel persönliche Gründe, sich an mich zu wenden.

—— Ich höre, daß mein verstorbener Bruder zwei uneheliche Kinder hinterlassen hat, beides junge Frauenzimmer, welche in dem Alter sind, daß sie selbst ihren Lebensunterhalt verdienen können. Verschiedene Vorstellungen, alle durch die Bank auf unrichtigen Voraussetzungen beruhend, sind betreffs dieser Personen von dem sie vertretenden Rechtsanwalt vorgebracht worden. Haben Sie die Güte, ihm zu erklären, daß weder Sie, noch ich Etwas auf ledigliche Gefühlsangelegenheiten geben. Dann geben Sie ihm zu seiner Belehrung offen die Gründe an, welche mein Verfahren leiten, und die Entschädigung, welche ich für gut befinde den beiden jungen Frauenzimmern auszuwerfen. Ihre Anweisung betreffs dieser beiden Puncte werden Sie im Nächstfolgenden des weiteren angegeben finden.

—— Ich will, daß die betreffenden Personen ein für alle Mal wissen, wie ich diese Umstände als ein Werk der Vorsehung ansehe, welches mich wieder in das Erbe eingesetzt hat, das immer hätte mein sein sollen. Ich erhalte das Geld nicht allein als mein Recht, sondern auch als eine angemessene Entschädigung für die Ungerechtigkeit, welche ich von meinem Vater erlitten habe, und als eine angemessene Buße meines jüngeren Bruders für die elenden Ränke, durch welche er es dahin brachte, mich enterben zu lassen. Seine Aufführung als junger Mann war in allen Lebensbeziehungen auf eine und dieselbe Weise zu verdammen, und was er damals war, Das ist er auch nach der Darstellung seines gesetzlichen Vertreters fort und fort gewesen, selbst nach der Zeit, wo ich alle Verbindung mit ihm abgebrochen hatte. Er scheint ein Weib, welches nicht seine Ehefrau war, planmäßig der Gesellschaft als seine Gattin aufgedrängt und dann dieser greulichen Verletzung der Sitte dadurch die Krone aufgesetzt zu haben, daß er Dieselbe nachmals wirklich heirathete. Eine solche Ausführung hat auf ihn und seine Kinder ein Strafgericht heraufbeschworen. Ich will nicht mein eigenes Haupt der Vergeltung aussehen, dadurch, daß ich diesen Kindern beistehe, den Betrug, welchen ihre Aeltern angesponnen haben, fortzusetzen und ihnen dazu zu verhelfen, eine Stellung in der Welt einzunehmen, auf welche sie kein Anrecht haben. Sie mögen sich, wie es ihre Geburt mit sich bringt, ihr Brod durch Dienen erwerben. Wenn sie sich bereit finden, ihre Stellung anzunehmen, wie sie ist, so will ich ihnen durch ein Geschenk von hundert Pfund für Jede helfen, sich eine Lebensstellung zu begründen. Diese Summe ersuche ich Sie ihnen auszuzahlen, wenn sie sich persönlich darum bemühen, gegen die nothwendige Empfangsbescheinigung und unter der ausdrücklichen Verständigung, daß, wenn Dies abgemacht ist, meine Beziehungen zu ihnen ihren Anfang und zugleich ihre Endschaft erreicht haben. Die Anordnungen, unter welchen sie das Haus verlassen, stelle ich Ihrem Ermessen anheim, und habe ich nur hinzuzufügen, daß es bei dieser meiner Entscheidung hierüber, wie über alle anderen Puncte nun sein Bewenden hat.

Zeile für Zeile las Magdalene, ohne von den Blättern vor ihr ein Auge zu verwenden, diese harten Machtsprüche durch Von Anfang bis zu Ende. Die anderen Personen im Zimmer sahen Alle mit Spannung auf sie hin, sahen das Kleid über ihrem Busen schneller und schneller sich heben und senken, sahen die Hand, mit welcher sie die Schrift leicht am Rande hielt, sich unbewußt um das Papier schließen und es zerknittern, wie sie dem Ende näher und näher kam, entdeckten aber auch kein anderes äußeres Zeichen von der in ihr vorgehenden Bewegung. Sobald sie fertig war, schob sie die Schrift stillschweigend bei Seite und legte plötzlich ihre Hände vors Gesicht. Als sie dieselben wieder wegnahm, bemerkten alle vier im Zimmer anwesenden Personen eine Veränderung in ihr. Etwas in ihrem Ausdrücke hatte sich unmerklich und still verändert: Etwas, das die Familienähnlichkeit in ihren Zügen plötzlich selbst für ihre Schwester und Miss Garth nicht mehr erkennbar machte und ihr ein fremdes Ansehen gab, Etwas, das alle späteren Jahre hindurch im Zusammenhang mit diesem Tage unauslöschlich ihrer Erinnerung eingeprägt blieb, aber sich nicht näher beschreiben ließ.

Die ersten Worte, die sie sprach, waren an Mr. Pendril gerichtet.

—— Darf ich Sie noch um eine weitere Gefälligkeit bitten, sagte sie —— ehe Sie Ihre geschäftlichen Anordnungen treffen?

Mr. Pendril antwortete höflich durch eine zustimmende Gebärde. Magdalenens Entschluß, die Weisungen an den Advocaten der Gegenpartei sich selbst verlegen zu lassen, schien keinen günstigen Eindruck auf das Herz des Anwaltes gemacht zu haben.

—— Sie erwähnten, was Sie so gut gewesen waren in unserm Interesse zu unternehmen, als Sie zum ersten Male an Mr. Michael Vanstone schrieben, fuhr sie fort. Sie sagten, Sie hätten ihm alle Umstände mitgetheilt. Klären Sie mich vollkommen darüber auf —— wenn Sie so gut sein wollen, was er von uns wußte, als er seinem Advocaten diese Befehle schickte. Wußte er, daß mein Vater ein Testament gemacht hatte und daß er unser Vermögen meiner Schwester und mir hinterlassen hatte?

—— Er wußte es, sagte Mr. Pendril.

—— Sagten Sie ihm, wie es gekommen, daß wir in diese hilflose Lage versetzt sind?

—— Ich sagte ihm, daß Ihr Vater, als er heirathete, keine Ahnung davon hatte, daß er ein anderes Testament machen müßte.

—— Und daß, wäre nicht das fürchterliche Unglück seines Todes vorgefallen, ein anderes Testament nach seiner Besprechung mit Mr. Clare gemacht worden sein würde?

—— Auch Das wußte er.

—— Wußte er, daß meines Vaters unermüdliche Güte und Freundlichkeit gegen uns Beide ...

Ihre Stimme zitterte zum ersten Male, sie seufzte auf und legte ihre Hand matt an ihr Haupt. Nora sprach ihr zu und bat sie. Mr. Clare saß schweigend und beobachtete sie immer ernster und schärfer. Sie antwortete auf die Bitte ihrer Schwester mit einem schwachen Lächeln.

—— Ich will mein Versprechen halten, ich will Niemanden das Herz schwer machen.

Mit dieser Antwort wandte sie sich wieder zu Mr. Pendril und wiederholte fest ihre Frage, aber in einer andern Form.

—— Hatte Mr. Michael Vanstone Kenntniß davon, daß meines Vaters größte Sorge war, mich und meine Schwester sicher versorgt zu wissen?

—— Er hatte Kenntniß davon mit Ihres Vaters eigenen Worten. Ich schickte ihm einen Auszug aus Ihres Vaters letztem Briefe an mich.

—— Der Brief, welcher Sie um Gottes Willen zu kommen und ihn von dem fürchterlichen Gedanken, daß Eine Töchter unversorgt wären, zu befreien bat. Der Brief, welcher sagte, er würde keine Ruhe im Grabe haben, wenn er uns enterbt hinterlassen müßte?

—— Jener Brief und jene Worte.

Sie hielt inne, hielt aber noch immer ihre Augen fest auf des Advocaten Gesicht geheftet.

—— Ich muß erst Alles in meinem Geiste befestigen, ehe ich weiter gehe, sagte sie dann. Mr. Michael Vanstone wußte vom ersten Testamente ——, wußte, was die Aufsetzung des zweiten Testaments vereitelte ——, wußte von dem Briefe, und er las die Worte. —— Was wußte er sonst noch? Berichteten Sie ihm von meiner Mutter letzter Krankheit? Sagten Sie ihm, daß ihr Antheil an dem Vermögen uns hinterlassen worden wäre, wenn sie ihre sterbende Hand in Ihrer Gegenwart hätte erheben können? Versuchten Sie ihn die Schmach fühlen zu lassen, daß es in England Gesetze gibt, vor denen Mädchen in unserer Lage Niemandes Kinder heißen, und welche ihm verstatten, uns zu behandeln, wie er uns jetzt behandelt?

—— Das Alles habe ich ihm vorgestellt Ich ließ Nichts davon bloß angedeutet, ich ließ Nichts davon weg.

Sie streckte langsam ihre Hand nach der Abschrift der Weisungen aus, faltete diese langsam wieder so zusammen wie sie ihr übergeben waren.

—— Ich bin Ihnen zu großem Danke verpflichtet, Mr. Pendril.

Mit diesen Worten verbeugte sie sich und schob ihm die Schrift über die Tafel wieder hinüber. Dann wandte sie sich an ihre Schwester.

—— Nora, sagte sie, wenn wir Beide das Leben behalten und alt, werden und wenn Du je vergißt, was wir Alles Michael Vanstone schuldig sind, —— so komme zu mir, und ich will es Dir wieder ins Gedächtniß bringen.

Sie stand auf und ging vor sich hin nach dem Fenster. Als sie an Mr. Clare vorüberkam, streckte der alte Mann seine krallenartige Hand aus und faßte sie fest am Arme, ehe sie ihn gewahr wurde.

—— Was verbergen Sie unter dieser Maske? fragte er, indem er sie zwang, sich zu ihm zu beugen, und ihr fest ins Angesicht schaute. Von welchen Endgraden der menschlichen Temperatur kommt Ihr Muth her, von der todten Kälte oder der Weißglühhitze?

Sie schreckte vor ihm zurück und wandte schweigend ihr Haupt hinweg. Von keinem andern Menschen als von Franks Vater würde sie dieses rücksichtslose Eindringen in ihre Gedanken jemals geduldet haben. Er ließ ihren Arm so plötzlich wieder los, als er ihn erfaßt hatte, und ließ sie zum Fenster gehen.

—— Nein, sprach er zu sich selbst, nicht das Extrem der Kälte, was es auch sonst nur sein mag. Um so schlimmer für sie und alle ihre Angehörigen.

Es trat eine augenblickliche Pause ein. Noch ein Mal füllten das rieselnde Geräusch des Regens und das beständige Picken der Uhr die Lücke des allgemeinen Schweigens aus. Mr. Pendril steckte die Weisungen wieder in seine Tasche, dachte einen Augenblick nach und wandte sich dann an Nora und Miss Garth, um ihre Aufmerksamkeit aus die augenblicklichen dringenden Anforderungen der Zeit zu richten.

—— Unsere Besprechung ist unnöthigerweise ausgedehnt worden, sagte er, durch schmerzliches Aufrühren der Vergangenheit. Viel besser thun wir, unsere Anordnungen für die Zukunft zu treffen. Ich muß diesen Abend wieder in die Stadt [»Die Stadt« (Town) im eminenten Sinne ist allemal London. W.] zurück. Lassen Sie mich gefälligst wissen, wie ich am Besten Ihnen helfen kann. Lassen Sie mich gütigst erfahren, welche Unruhe und welche Verantwortung ich Ihnen abnehmen kann.

Für den Augenblick schienen weder Nora, noch Miss Garth fähig zu sein, ihm zu antworten. Die Art und Weise, wie Magdalene die Nachricht aufnahm, welche die Heirathsaussicht, die ihres Vaters eigener Mund kaum vor einem Monate ihr eröffnet hatte, zerstörte, mußte sie Beide gleich befremden und verletzen. Sie hattet: ihren Muth zusammengenommen, um dem Ausbruche ihres leidenschaftlichen Jammers gewachsen zu sein, oder die noch härtere Prüfung, den Anblick ihrer stummen Verzweiflung, ertragen zu können. Allein sie waren nicht vorbereitet gewesen auf ihren unwiderruflichen Entschluß, die Weisungen zu lesen, auf die schrecklichen Fragen, welche sie an den Advocaten gerichtet hatte, auf ihre unerschütterliche Beharrlichkeit, alle Umstände in ihr Gedächtnis; zu graben, unter welchen Michael Vanstones Entscheidung ausgesprochen worden war. Dort stand sie nun am Fenster, ein unergründliches Geheimniß für die Schwester, welche sie niemals verlassen, für die Erzieherin, welche sie von Kindheit auf erzogen hatte. Miss Garth erinnerte sich der dunklen, schlimmen Gedanken, welche ihr durch den Sinn gegangen an dem Tage, wo sie und Magdalene im Garten zusammengekommen waren. Nora sah in die Zukunft hinaus mit der ersten ernstlichen Furcht in Hinsicht ihrer Schwester, die sie bisher gefühlt hatte. Beide hatten sich bisher in der Verzweiflung, daß sie nicht wußten, was sie thun sollten, leidend Verhalten. Beide schwiegen jetzt, in der Verzweiflung, daß sie nicht wußten, was sie sagen sollten.

Mr. Pendril kam ihnen ruhig und freundlich zu Hilfe, indem er das Gespräch zum zweiten Male aus ihre Zukunftspläne zurückleitete.

—— Ich bedaure, daß ich Ihre Aufmerksamkeit auf Geschäftsangelegenheiten lenken muß, sagte er, jetzt, wo Sie nothwendigerweise ganz unfähig sind, sich damit zu befassen. Allein ich muß heute Abend meine Weisungen mit mir nach London nehmen. In erster Stelle rücksichtlich des ungroßmüthigen Geldanerbietens, auf das ich bereits angespielt habe. Da die jüngere Miss Vanstone die Weisungen für den andern Advocaten gelesen hat, so braucht es keiner weiteren mündlichen Aufschlüsse von meiner Seite. Die ältere wird mich hoffentlich entschuldigen, wenn ich ihr zu sagen habe —— was ich mich zu sagen schämen muß, was jedoch eine Sache der Nothwendigkeit ist —— daß Mr. Michael Vanstones Entschädigung für seine Bruderskinder Alles in Allem in dem Anerbieten von hundert Pfund für Jedes derselben besteht.

Noras Angesicht wurde roth vor Unwillen. Sie erhob sich, als wenn Michael Vanstone selbst im Zimmer anwesend gewesen wäre und sie persönlich beleidigt hätte.

—— Ich sehe, sagte der Advocat, welcher sie schonen wollte, ich soll Mr. Vanstone erklären, daß Sie das Geld zurückweisen.

—— Sagen Sie ihm, brach sie leidenschaftlich heraus, und wenn ich an der Landstraße sterben sollte, so würde ich keinen Heller davon anrühren!

—— Soll ich ihm Ihre Zurückweisung ebenfalls melden? fragte Mr. Pendril, indem er sodann mit Magdalenen sprach.

Sie wandte sich rasch vom Fenster um, hielt aber ihr Gesicht in Schatten, indem sie dicht davor stehen blieb, mit dem Rücken gegen das Licht.

—— Sagen Sie ihm von meiner Seite, sprach sie, er solle es noch einmal überlegen, bevor er mich mit hundert Pfund ins Leben hinausschickt. Ich will ihm Zeit zum Ueberlegen geben.

Sie sprach diese seltsamen Worte mit scharfer Betonung und entzog, indem sie sich plötzlich wieder zum Fenster herumdrehte, ihr Gesicht allen Anwesenden, die sie hätten beobachten können.

—— Sie Beide weisen also das Angebotene zurück, sagte Mr. Pendril.

Er nahm seinen Bleistift und machte sich berufsmäßig eine Notiz über diese Entschließung. Als er sein Notizbuch zumachte, sah er ungewiß nach Magdalenen hin. Sie hatte in ihm das geheime Mißtrauen rege gemacht, das einem Advocaten zur zweiten Natur geworden zu sein pflegt. Ihre Blicke hatten ihn argwöhnisch gemacht, ihre Reden hatten seinen Verdacht geweckt. Ihre Schwester schien mehr über sie zu vermögen, als Miss Garth. Er beschloß, mit ihrer Schwester insgeheim zu reden, bevor er wegginge.

Während ihm noch dieser Gedanke durch den Kopf ging, nahm Magdalene noch einmal seine Aufmerksamkeit mit einer Frage in Anspruch.

—— Ist er ein alter Mann? fragte sie plötzlich, ohne sich vom Fenster herum zu drehen.

—— Wenn Sie Mr. Michael Vanstone meinen, so ist derselbe fünfundsiebzig oder sechsundsiebzig Jahre alt.

—— Sie sprachen unlängst von seinem Sohne. Hat er noch andere Söhne... oder Töchter?

—— Keine weiter.

—— Wissen Sie Etwas von seiner Frau?

—— Sie ist seit vielen Jahren todt.

Es trat eine Pause ein.

—— Warum thust Du diese Fragen? sagte Nora.

—— Entschuldige mich, erwiderte Magdalene ruhig. Ich werde Nichts mehr fragen.

Zum dritten Male kam Mr. Pendril auf die geschäftliche Seite der Unterredung zurück.

—— Die Dienstboten dürfen nicht vergessen werden, sprach er. Sie müssen ausgezahlt und entlassen werden. Ich muß Denselben, bevor ich gehe, die nöthigen Aufklärungen geben. Was das Haus anbelangt, so brauchen Sie sich darüber in keinerlei Hinsicht etwa Sorgen zu machen. Die Wagen, Pferde, die Einrichtung und das Silber und so weiter müssen einfach in Bereitschaft gehalten werden, um Mr. Michael Vanstones fernere Befehle abzuwarten. Alle Besitzstücke jedoch, Miss Vanstone, welche persönlich Ihnen. oder Ihrer Schwester gehören, Ihre Kleinodien und Kleider und alle kleinen Geschenke, welche Sie erhalten haben, alles Dieses bleibt zu Ihrer Verfügung. Die Zeit Ihres Wegzugs anlangend, glaube ich, daß ein Monat oder darüber vergehen wird, ehe Mr. Michael Vanstone Zürich verlassen kann, und ich glaube seinen Rechtsanwalt gut genug zu kennen, wenn ich annehme....

—— Erlauben Sie, Mr. Pendril, unterbrach ihn Nora, ich habe, glaube ich, von dem, was Sie sagten, soviel verstanden, unser Haus und Alles, was darin ist, gehört jetzt...

Sie stockte, als ob das bloße Aussprechen von des Mannes, Namen ihr Ueberwindung koste.

—— Gehört jetzt Mr. Michael Vanstone, sprach Mr. Pendril. Das Haus fällt an ihn wie das Uebrige des Vermögens.

—— Dann bin ich sofort bereit, es morgen zu verlassen.

Magdalene fuhr am Fenster zusammen, als ihre Schwester sprach, und sah Mr. Clare an, mit den ersten offenen Zeichen von Angst und Unruhe, welche sie jetzt hatte merken lassen.

—— Seien Sie nicht böse mit mir, flüsterte sie, indem sie sich über den alten Mann mit einem plötzlichen Anfluge von Demuth im Blicke und nervöser Aufregung in ihrer Bewegung beugte. Ich kann nicht von hinnen, wenn ich nicht Frank vorher gesehen habe.

—— Sie sollen ihn sehen, erwiderte Mr. Clare. Ich bin hier, um mit Ihnen darüber zu sprechen, wenn das Geschäftliche erledigt ist.

—— Es ist ganz und gar nicht nöthig, Ihren Wegzug zu übereilen, sowie Sie vorhaben, fuhr Mr. Pendril fort, indem er sich an Nora wandte. Ich kann Ihnen fest versichern, daß in einer Woche noch Zeit genug ist.

—— Wenn dies Mr. Michael Vanstones Haus ist, wiederholte Nora, so bin ich bereit, es morgen zu verlassen.

Sie verließ ungeduldig ihren Stuhl und setzte sich etwas weiter weg auf das Sopha. Als sie ihre Hand auf den Rücken desselben legte, wechselte ihr Gesicht die Farbe. Da am Kopfe des Sophas waren die Kissen, welche ihre Mutter gestützt hatten, als sie sich zum letzten Male zum Schlummer niederlegte. Dort am Fuße des Sophas stand der plumpe, altmodische Armstuhl, welcher des Vaters Lieblingssessel in den Regentagen gewesen war, wo sie und ihre Schwester am Piano gegenüber ihn durch den Vortrag seiner Lieblingsweisen erheitert hatten. Ein schwerer Seufzer, den sie vergeblich zu unterdrücken suchte, rang sich aus ihrer Brust hervor.

—— Ach, dachte sie, ich hatte diese alten Freunde vergessen! Wie sollen wir uns von ihnen trennen, wenn die Zeit kommt!

—— Darf ich Sie fragen, Miss Vanstone, ob Sie und Ihre Schwester schon bestimmte Pläne für die Zukunft gefaßt haben? erkundigte sich Mr. Pendril. Haben Sie schon an einen Aufenthaltsort gedacht?

—— Ich will es aus mich nehmen, mein Herr, sprach Miss Garth, für sie auf diese Frage zu antworten. Wenn sie dies Haus verlassen, so verlassen sie es in meiner Gesellschaft. Meine Heimat ist ihre Heimat, mein Brod ist ihr Brod. Ihre Aeltern überhäuften mich mit Ehre, mit Vertrauen und mit Liebe. Zwölf glückliche Jahre ließen sie mich niemals fühlen, daß ich nur ihre Gouvernante war. Sie haben mich stets als ihre Gesellschafterin und Freundin behandelt. Meine Erinnerung an sie ist eine Erinnerung unveränderter Freundlichkeit und Großmuth, und mein Leben soll die Schuld meines Dankes an ihre verwaisten Kinder abzahlen.

Nora erhob sich hastig vom Sopha, Magdalene verließ jählings das Fenster. Mit einem Male war aus dem Benehmen der Schwester jeder Gegensatz verschwunden. Mit einem Male bewegte ein und derselbe Antrieb ihre Herzen, dasselbe tiefe Gefühl sprach sich in ihren Worten aus. Miss Garth wartete, bis der erste Ausbruch der Bewegung vorüber war, dann erhob sie sich, nahm Nora und Magdalene jede bei der Hand und wandte sich an Mr. Pendril und Mr. Clare Sie sprach mit vollkommener Fassung, gehoben durch ihre edle That, die ihrem einfachen Herzen selbst ein unbewußtes Geheimniß war.

—— Sogar eine so unbedeutende Sache, als meine eigene Geschichte ist, sagte sie, erhält einige Wichtigkeit in einem solchen Augenblicke. Ich möchte Sie Beide, meine Herren, dahin verständigen, daß ich den Töchtern Ihres alten Freundes eben nicht mehr verspreche, als ich halten kann. Als ich zuerst in dieses Hans kam, trat ich mit einer solchen Unabhängigkeit in dasselbe, wie sie im Lebens von Gouvernanten nicht gewöhnlich zu sein pflegt. In meinen jüngeren Jahren hatte ich mich mit meiner älteren Schwester zusammengethan um Unterricht zu ertheilen. Wir errichteten in London eine Schule, welche sich allmälich vergrößerte und blühte. Ich verließ sie und wurde eine Hauslehrerim nur aus dem einen Grunde, weil die schwere Verantwortlichkeit der Schule über meine Kräfte ging. Ich ließ meinen Antheil an dem Reingewinne unberührt und besitze nun bis auf den heutigen Tag einen Geldantheil an unserer Anstalt. Das ist meine Geschichte in wenig Worten. Wenn wir dieses Haus verlassen, schlage ich vor, wir gehen wieder an die Schule in London, die noch immer von meiner älteren Schwester mit Glück geleitet wird. Wir können dort so ruhig leben, als wir es uns nur wünschen können, bis die Zeit uns hilft, unsern Kummer besser zu tragen, als jetzt. Wenn Noras und Magdalenens veränderte Aussichten sie nöthigen, sich ihre eigene Unabhängigkeit selbst zu verdienen, so kann ich ihnen dazu verhelfen, sie sich als Herrentöchter zu verdienen. Die besten Familien dieses Landes sind froh, wenn sie den Rath meiner Schwester genießen können, wo die Frage des häuslichen Unterrichts ins Spiel kommt. Von vornherein sage ich für ihren herzlichen Wunsch, den Töchtern Mr. Vanstones zu dienen, gut, als wie für meinen eigenen. Das ist die Zukunft, welche meine Dankbarkeit gegen deren Vater und Mutter und meine Liebe zu denselben ihnen jetzt bieten. Wenn Sie, meine Herren, diesen Vorschlag für gut und annehmbar halten —— und ich sehe es an Ihren Mienen, daß Dies der Fall ist —— so wollen wir die harte Nothwendigkeit unserer Lage nicht noch härter machen durch unöthiges Verschieben vollständiger Erledigung derselben. Wir wollen thun, was wir thun müssen, wir wollen nach Noras Entscheidung handeln und dies Haus morgen verlassen. Sie erwähnten eben noch die Dienerschaft, Mr. Pendril. Ich bin bereit, dieselbe ins nächste Zimmer zusammenzurufen und Ihnen in der Abwickelung ihrer Ansprüche Beistand zu leisten, wenn es Ihnen gefällig ist.

Ohne des Advocaten Antwort abzuwarten, ohne den Schwestern Zeit zu lassen, ihre eigene schreckliche Lage zu überdenken, bewegte sie sich nach der Thür zu. Es war ihr weiser Entschluß, die künftige Prüfung dadurch rascher zu Ende zu bringen, daß sie viel handelte, wenig sprach. Bevor sie das Zimmer verlassen konnte, folgte ihr Mr. Clare und hielt sie auf der Schwelle zurück.

—— Ich habe niemals ein Weib um sein Gefühl beneidet, sagte der alte Mann. Es wird Sie wohl überraschen, Dies zu hören, aber ich beneide Sie um das Ihrige. Warten Sie! Ich habe noch Etwas zu sagen. Es ist noch ein Hinderniß übrig, das ewige Hinderniß mein Frank. Helfen Sie mir ihn fortzubringen. Nehmen Sie die ältere Schwester und den Advocaten mit sich und lassen Sie mich es hier mit der jüngeren ausmachen. Ich will sehen, aus welchem Metall sie eigentlich gemacht ist.

Während Mr. Clare diese Worte an Miss Garth richtete, hatte Mr. Pendril Gelegenheit genommen, mit Nora zu sprechen.

—— Ehe ich wieder zur Stadt zurückkehre, möchte ich erst ein Wort mit Ihnen insgeheim sprechen. Nach Dem, was heute vorgefallen ist, Miss Vanstone, habe ich von Ihrer Verschwiegenheit eine hohe Meinung gewonnen, und als Freund Ihres Vaters möchte ich mir die Freiheit erlauben, mit Ihnen von Ihrer Schwester zu sprechen.

Ehe noch Nora antworten konnte, wurde sie aus Rücksicht auf Mr. Clares Ersuchen zu der Verhandlung mit der Dienerschaft gerufen. Mr. Pendril folgte Miss Garth, wie es sich von selbst verstand. Als die Drei auf der Flur waren, trat Mr. Clare wieder ins Zimmer, schloß die Thür und bedeutete Magdalenen mit einer kurzen, bündigen Gebärde, sich einen Stuhl zu nehmen.

Sie gehorsamte ihm schweigend. Er machte einen Gang durch das Zimmer auf und ab, die Hände in den Seitentaschen des langen weiten unförmlichen Rockes, den er gewöhnlich trug.

—— Wie alt sind Sie? sagte er, indem er plötzlich stehen blieb und über die ganze Breite des Zimmers zwischen ihnen weg sprach.

—— Ich war bei meinem letzten Geburtstage achtzehn, antwortete sie unterwürfig, ohne zu ihm aufzublicken.

—— Sie haben für ein Mädchen von achtzehn Jahren einen außerordentlichen Muth gezeigt. Haben Sie noch Etwas von diesem Muth übrig?

Sie preßte ihre Hände zusammen und rang sie bitterlich. Einige Thränen sammelten sich in ihren Augen und rollten langsam über ihre Wangen.

—— Ich kann Frank nicht aufgeben, sagte sie schwach. Sie machen sich aus mir nichts, ich weiß es. Aber Sie pflegten viel auf meinen Vater zu halten. Wollen Sie versuchen, freundlich mit mir zu sein um meines Vaters Willen?

Die letzten Worte verhallten leise in einem Flüstern: sie konnte Nichts mehr sagen. Niemals hatte sie die unbegrenzte Macht, welche die Liebe eines Weibes darin besitzt, daß sie jedes andere Ereigniß in sich aufhebt, jede andere Freude oder Sorge des Lebens, so gefühlt, als eben jetzt. Niemals hatte sie Frank so zärtlich mit dem Andenken ihrer dahin geschiedenen Aeltern vereinigt, als in diesem Augenblicke. Niemals hatte der undurchdringliche Nebel des schönen Wahns, durch den die Frauen den Mann ihrer Wahl erblicken, der Nebel, welcher sie blind gemacht hatte gegen Alles, was schwach, selbstisch und gemein in Franks Natur war, ihn mit einem hellern Schimmer umkleidet, als jetzt, wo sie beim Vater um den Besitz des Sohnes Fürbitte einlegte.

—— Ach, verlangen Sie nicht, daß ich ihn aufgeben soll, sagte sie, indem sie sich zusammen zu nehmen suchte, aber von Kopf bis zu Füßen erbebte.

Im nächsten Augenblicke aber ging sie in das entgegengesetzte Extrem über mit der Plötzlichkeit eines Blitzstrahls.

—— Ich will ihn nicht aufgeben! schrie sie heftig auf. Nein! Selbst nicht, wenn Tausend Väter es von mir forderten!

—— Ich bin nur ein Vater, sagte Mr. Clare. Und ich verlange es nicht.

In dem ersten Erstaunen und Jubel, diese unerwarteten Worte zu hören, sprang sie auf ihre Füße, stürzte über das Zimmer weg und wollte ihre Arme um seinen Nacken werfen. Sie hätte eben so gut den Versuch machen können, das Haus aus seinen Grundfesten zu bewegen. Er faßte sie bei den Schultern und setzte sie wieder auf ihren Stuhl. Seine unerbittlichen Augen zwangen sie in Gehorsam hinein, und er schüttelte warnend seinen hageren Zeigefinger, als ob er ein ungebärdiges Kind zur Ruhe verweisen wollte.

—— Umhalsen Sie Frank, sprach er, aber mich nicht. Ich bin noch nicht fertig mit Ihnen. Wenn ich zu Ende bin, wollen wir, wenn Sie mögen, uns die Hände schütteln. Warten Sie und beruhigen Sie sich.

So ließ er sie. Seine Hände wanderten wieder in die Taschen hinab, und sein einförmiger Gang durch das Zimmer auf und nieder begann aufs Neue.

—— Fertig? frug er, indem er nach einer Weile plötzlich stehen blieb.

Sie versuchte zu antworten.

—— Nehmen Sie sich noch zwei Minuten Zeit, sagte er und fing wieder an auf und abzugeben mit der Regelmäßigkeit eines Uhrpendels.

—— Das sind die Wesen, dachte er bei sich selbst, welche bei sich zu haben sonst vernünftige Männer als ihr Lebensglück betrachten. Es soll mich verlangen, ob es in der Schöpfung ein anderes Ding gibt, das seinem Zweck so schlecht entspricht, als ein Weib?

Er hielt abermals vor ihr inne. Ihr Athmen war leichter geworden. Die dunkle Glut auf ihrem Gesichte war wieder aus demselben gewichen.

—— Fertig? wiederholte er... Ja, endlich fertig. Hören Sie mich an und lassen Sie uns darüber hinauskommen. Ich verlange nicht, daß Sie Frank aufgeben sollen. Ich verlange, daß Sie warten.

—— Ich will warten, sagte sie, ruhig und willig.

—— Wollen Sie Frank zum Warten bewegen?

—— Ja.

—— Wollen Sie ihn nach China fortlassen?

Ihr Haupt sank auf ihre Brust herab, und sie schlug wieder schweigend die Hände zusammen. Mr. Clare sah, wo die Schwierigkeit lag, und ging sofort gerade darauf los.

—— Ich will mir nicht anmaßen, in Ihre Gefühle für Frank oder Franks Gefühle für Sie einzudringen, sprach er. Dieser Gegenstand hat keinen Reiz für mich. Wohl aber erlaube ich mir zwei einfache Wahrheiten aufzustellen. Es ist eine einfache Wahrheit, daß Sie nicht heirathen können, bis Sie Geld genug haben, um das Dach, welches über Ihnen ist, die Kleider, welche Sie tragen, die Lebensmittel, die Sie essen, bezahlen zu können. Eine andere einfache Wahrheit ist, daß Sie nicht das Geld finden können, daß ich nicht das Geld finden kann und daß Franks einzige Aussicht es zu finden, die ist, daß er nach China geht. Wenn ich ihm sage, daß er gehen soll, so wird er sich in einen Winkel setzen und weinen. Wenn ich darauf bestehe, so wird er Ja sagen und mich täuschen. Wenn ich einen Schritt weiter gehe und ihn mit eigenen Augen an Bord des Schiffes sehe, so wird er in dem Boote des Lootsen wieder herausschlüpfen und heimlich zu Ihnen zurück schleichen. Das ist seine Art.

—— Nein! sagte Magdalene Seine Art ist das nicht, seine Liebe zu mir ist es.

—— Nennen Sie es, wies beliebt, gab ihr Mr. Clare zurück. Kriecher oder Herzblättchen —— gleichviel, er ist in jeder von diesen beiden Eigenschaften für meine Finger zu aalartig schlüpfrig, um ihn festzuhalten. Verschlösse ich ihm die Thür, so würde ihn Das nicht hindern zurückzukommen. Verschließen Sie ihm die Thür, dann allerdings. Haben Sie den Muth, Dies zu thun? Lieben Sie ihn stark genug, um nicht seiner Zukunft im Wege zu stehen?

—— Ob ich ihn liebe! Ich würde für ihn sterben!

—— Wollen Sie ihn nach China fortlassen?

Sie seufzte bitterlich

—— Haben Sie ein wenig Mitleid mit mir, sprach sie. Ich habe meinen Vater verloren, ich habe meine Mutter verloren, ich habe mein Vermögen verloren —— und nun soll ich auch Frank verlieren! Sie lieben die Frauen nicht, ich weiß es, aber schenken Sie mir doch ein wenig Mitleid! Ich sage ja nicht, daß es nicht in seinem Vortheil ist, wenn er nach China gehen soll, ich sage ja nur, es ist hart, sehr, sehr hart für mich.

Mr. Clare war taub gewesen für ihre Heftigkeit, unempfindlich für ihre Liebkosungen, blind für ihre Thränen, aber unter der harten Schale seiner Philosophie hatte er ein Herz, und dies gab der hoffnungslosen Bitte Gehör, es hatte Gefühl für diese rührende Sprache.

—— Ich leugne nicht, daß Ihre Lage eine harte ist, sagte er. Ich will sie nicht noch härter machen. Ich verlange nur, daß Sie in Franks Interesse thun sollen, was Frank selbst zu thun zu schwach ist. Es ist nicht Ihre Schuld, es ist nicht meine Schuld, aber es ist nichtsdestoweniger wahr, daß das Vermögen, das Sie ihm zuzubringen im Begriffe waren, die Eigenthümer gewechselt hat.

Sie sah plötzlich auf mit einem unheimlichen Leuchten des Auges, mit einem drohenden Lächeln auf der Lippe.

—— Er kann wieder die Eigenthümer wechseln, sagte sie.

Mr. Clare sah die Veränderung in ihrem Ausdruck und hörte auch die ihrer Stimme. Aber die Worte waren leise gesprochen, gesprochen als wie zu sich selbst, sie drangen nicht bis über die Breite des Zimmers zu ihm. Er hielt augenblicklich in seinem Gehen inne und fragte, was sie gesagt habe.

—— Nichts, antwortete sie, wandte das Haupt weg nach dem Fenster zu und sah leer hinaus in dem fallenden Regen. —— Nur meine eigenen Gedanken.

Mr. Clare nahm seinen Gang wieder auf und kam auf den Gegenstand zurück.

—— Es ist Ihr Interesse, fuhr er fort, eben so gut als Franks Interesse, daß er gehen muß. Er kann sich Geld genug erwerben, daß er Sie in China heirathen kann, hier vermag er es nicht. Wenn er zu Hause kleben bleibt, wird er Ihrer Beider Ruin sein. Er wird seine Augen verschließen vor jeder Mahnung der Klugheit und sie quälen, ihn zu heirathen. Wenn er dann seinen Zweck erreicht hat, wird er der Erste sein, der umkehrt und klagt, daß Sie eine Bürde für ihn seien.... Hören Sie mich zu Ende! Sie sind verliebt in Frank, ich nicht, ich kenne ihn. Kommen Sie Beide nur oft zusammen, lassen Sie ihm Zeit, Sie zu umarmen, zu weinen, zu quälen und zu bitten, und ich will Ihnen sagen, was das Ende sein wird: Sie werden ihn heirathen.

Er hatte das richtige Register zuletzt gezogen. Es schallte die Antwort zurück, ehe er ein Wort hinzufügen konnte.

—— Sie kennen mich nicht, sagte sie mit Festigkeit Sie können nicht wissen, was ich um Franks Willen leiden kann. Er soll mich nimmer heirathen, bis ich sein kann, was ich, wie mein Vater gesagt hat, für ihn sein soll: das Wesen, das sein Glück macht. Er soll keine Last auf sich nehmen, wenn er mich nimmt, Das verspreche ich Ihnen! Ich will der gute Engel in Franks Leben sein. Ich will nicht als ein blutarmes Mädchen zu ihm gehen und ihn herunterziehen.

Sie verließ jählings ihren Sitz, ging ein paar Schritte vor auf Mr. Clare zu und blieb in der Hätte des Zimmers stehen. Sie ließ ihre Arme hilflos an beiden Seiten heruntersinken und brach in Thränen aus.

—— Er soll gehen, sagte sie, müßte auch dabei mein Herz brechen, wenn ichs vollbringe. Ich will es ihm morgen beibringen, daß wir uns Lebewohl sagen müssen!

Mr. Clare kam plötzlich auf sie zu, um zu ihr zu treten und hielt seine Hand ihr entgegen.

—— Ich will Ihnen helfen, sagte er. Frank soll jedes Wort erfahren, das zwischen uns gesprochen worden ist. Wenn er morgen kommt, soll er von vornherein wissen, daß er kommt, um Lebewohl zu sagen.

Sie nahm seine Hand in ihre eigenen beiden, zögerte, sah ihn an und drückte sie an ihren Busen.

—— Darf ich Sie um eine Gunst bitten, ehe ich gehe? sagte sie furchtsam.

Er versuchte seine Hand aus der ihrigen loszumachen, aber sie ersah sich ihren Vortheil und hielt sie fest.

—— Wenn aber nun, gesetzt den Fall, hier eine Wendung zum Bessern einträte? fuhr sie fort. Wenn ich nun zu Frank käme, wie mein Vater sagte, daß ich zu ihn: kommen sollte....?

Bevor sie die Frage vollenden konnte, machte Mr. Clare abermals eine Anstrengung und entzog ihr seine Hand.

—— ...Wie Ihr Vater sagte, daß Sie zu ihm kommen sollten? wiederholte er, sie aufmerksam ansehend.

—— Ja, erwiderte sie. Es kommen oft seltsame Dinge vor. Wenn für mich seltsame Dinge vorkommen sollten, wollen Sie Frank zurückkommen lassen vor Ablauf der funf Jahre?

Was meinte sie? Hing sie verzweifelt an der Hoffnung fest, Michael Vanstones Herz zu rühren? Mr. Clare konnte nach Dem, was sie eben zu ihm gesagt hatte, keinen andern Schluß ziehen. Im Anfang ihrer Besprechung würde er ihr ihrem Wahn mit rauher Hand genommen haben. Am Schlusse der Besprechung ließ er sie mitleidig im Besitz desselben.

—— Sie hoffen über alles Hoffnungsmaß hinaus, sprach er, doch wenn es Ihnen Muth einflößt, so hoffen Sie nur zu. Wenn dieses Unmögliche Glück Ihnen je widerfährt, so sagen Sie es mir, und Frank soll zurückkommen. Unterdessen...

—— Unterdessen, unterbrach sie ihn traurig, haben Sie mein Versprechen.

Noch einmal ruhten Mr. Clares scharfe Augen forschend auf ihrem Angesichte.

—— Ich will Ihrem Versprechen Glauben schenken, sagte er. Sie sollen Frank morgen sehen.

Sie ging gedankenvoll zu ihrem Stuhle zurück und setzte sich schweigend wieder nieder. Mr. Clare war an der Thür, ehe ein förmlicher Abschied zwischen Beiden stattfinden konnte.

— Ein tiefes Wasser! dachte er bei sich, als er nach ihr hinsah, ehe er hinausging, ...erst achtzehn Jahre und schon zu tief für mich zu ergründen!

In der Flur fand er Nora, welche ängstlich wartete, um zu hören, was geschehen wäre.

—— Ist Alles vorüber? fragte sie. Geht Frank nach China?

—— Geben Sie ja Acht, wie Sie diese Ihre Schwester behandeln, sprach Mr. Clare, ohne die Frage zu beachten. Sie hat mit einem großen Mißgeschicke zu kämpfen, sie ist nicht gemacht für die Alltäglichkeit eines Frauenlebens. Ich kann nicht sagen, daß ich den letzten Grund des Guten oder des Bösen in ihr sehe. Ich mache Sie nur darauf aufmerksam, ihre Zukunft wird keine gewöhnliche sein.

Eine Stunde später verließ Mr. Pendril das Haus, und mit der Nachtpost schickte Miss Garth einen Brief an ihre Schwester in London.

Anmerkung. Seite 116 erwähnt Miss Garth einer Stelle bei Shakespeare, welche von den Liebeshindernissen spreche. Wir finden diese Stelle im »Sommernachtstraum«, Act l. Scene 1, wo sie Lysander im Zwiegespräch mit Hermia in den Mund gelegt ist:

The course of true love never did run smooth.
Der Weg getreuer Lieb’ war nimmer glatt.

Worauf dann in anmuthiger Wechselrede von Beiden eine ganze Reihe dorniger Hindernisse angeführt wird. W.



Kapiteltrenner

Zweites Buch.

Zwischenscene.

I.

Nora Vanstone an Mr. Pendril.

Kensington, Westmoreland-House,
den 14. August 1846.

Mein lieber Mr. Pendril!

Das Datum dieses Briefes wird Ihnen zeigen, daß die letzte der vielen harten Prüfungen überstanden ist. Wir haben Combe-Raven verlassen, wir haben dem Vaterhause Lebewohl gesagt.

Ich habe ernstlich überdacht, was Sie! mir am Mittwoch vor Ihrer Rückkehr gesagt haben. Ich stimme ganz damit überein, daß Miss Garth allerdings weit mehr erschüttert ist durch alles Das, was sie um unsertwillen durchgemacht hat, als sie selbst zugestehen will, und daß es für die Zukunft meine Pflicht ist, ihr alle Sorge zu ersparen, soviel ich nur kann, in Betreff meiner Schwester und meiner selbst. Es ist nur sehr wenig, was ich für unsere theuerste Freundin, unsere zweite Mutter, thun kann. Aber so wenig es ist, ich will es von Herzen gern thun.

Aber verzeihen Sie mir, wenn ich in Hinsicht auf Magdalenen Ihnen sagen muß, daß ich von Ihrer Meinung über dieselbe so weit entfernt bin, als je. Ich bin in unserer hilflosen Lage von der Wichtigkeit Ihres Beistandes so tief überzeugt, es liegt mir so viel daran, die Theilnahme zu verdienen, welche meines Vaters vertrauter Berather und ältester Freund uns schenkt, daß ich mich gewiß und wahrhaftig über mich selber ärgere, hierin nicht einer Meinung mit Ihnen zu sein: und doch bin ich nicht Ihrer Meinung Magdalene ist sehr sonderbar, sehr unberechenbar für Die, welche sie nicht ganz genau kennen. Ich kann mir wohl denken, daß sie Sie in aller Unschuld auf irrige Voraussetzungen gebracht und daß sie sich Ihnen vielleicht von der ungünstigsten Seite gezeigt hat. Allein daß der Schlüssel zu ihrer Sprache und ihrem Benehmen am letzten Mittwoch in einem solchen Gefühle für den Mann, der uns zu Grunde gerichtet hat, wie Sie es angedeutet haben, liegen sollte, Das kann ich nun und nimmermehr von meiner Schwester glauben. Wenn Sie wüßten, wie ich es weiß, welch edlen Charakter sie hat, so würden Sie nicht über diesen meinen andauernden Widerspruch gegen Ihre Meinung erstaunen. Wollen Sie zusehen, ob Sie letztere ändern können? Ich gebe Nichts auf Das, was Mr Clare sagt: Der glaubt ja an Nichts. Aber ich lege sehr viel Wichtigkeit auf Das, was Sie sagen, und wie sehr von Wohlwollen eingegeben Ihre Gründe —— ich weiß es wohl —— sein mögen, schmerzt es mich, denken zu müssen, daß Sie Magdalenen Unrecht thun.

Nachdem ich meine Seele durch dies Bekenntniß erleichtert habe, kann ich nun zu dem eigentlichen Gegenstande meines Briefes kommen. Ich versprach, wenn Sie uns heute nicht besuchen könnten, Ihnen zu schreiben und Alles, was seit Ihrem Weggange geschehen ist, erzählen zu wollen. Der Tag ist vorübergegangen, ohne daß wir Sie zu sehen bekommen haben. Daher öffne ich denn mein Schreibzeug und erfülle mein Versprechen.

Ich bedaure sagen zu müssen, daß drei von den Dienstmädchen, die Hausmagd, die Küchenmagd und sogar unser eigenes Kammermädchen —— gegen das wir gewiß immer freundlich gewesen sind —— den Umstand, daß sie von ihnen ihren Lohn ausgezahlt erhalten hatten, sich zu nutze gemacht, aufgepackt haben und gegangen sind, sobald Sie den Rücken gewendet hatten. Sie kamen, um uns Lebewohl zu sagen, mit solcher kalter Höflichkeit und so wenig Gefühl, als ob sie das Haus unter ganz gewöhnlichen Umständen verließen. Die Köchin benahm sich trotz ihres heftigen Temperaments noch ganz anders, ließ uns sagen, daß sie bleiben und uns bis zuletzt beistehen wolle. Und Thomas —— welcher bis jetzt noch keinen andern Dienst als bei uns gehabt hat —— sprach mit solcher Dankbarkeit von der unablässigen Freundlichkeit meines theuren Vaters gegen ihn und bat uns so dringend, daß er uns so lange dienen dürfe, als seine Ersparnisse reichten, daß Magdalene und ich alle Rücksicht auf die Form vergaßen und ihm Beide die Hand gaben. Der arme Bursche ging weinend aus dem Zimmer. Ich wünsche, daß es ihm gut gehe, ich hoffe, daß er einen guten Herrn und einen schönen Dienst finden mag.

Der lange, ruhige, regnerische Abend draußen —— unser letzter Abend auf Combe-Raven —— war eine trübe Prüfung für uns. Ich glaube, im Winter würde er uns weniger drückend gewesen sein. Die herabgelassenen Vorhänge und die hellen Lampen, im Kamin das trauliche Feuer würden uns wohlgethan haben. Wir waren nur noch fünf im Hause zusammen, nachdem wir einst so Viele gewesen waren! Ich kann Ihnen nicht schildern, wie das trübe Tageslicht gegen sieben Uhr in den einsamen Zimmern und auf der stillen Treppe uns schmerzte. Ist das Vorurtheil zu Gunsten der langen Sommerabende ein Vorurtheil nur der Glücklichen? —— Wir thaten unser Bestes Wir machten uns zu thun, und Miss Garth half uns. Die Aussicht, uns auf unsern Weggang vorzubereiten, welcher früher am Tage uns so schrecklich vorgekommen war, wandelte sich, wie der Abend heraufkam, in die Aussicht um, daß wir uns selbst entgehen konnten. Wir schafften alle unsere Habseligkeiten herunter, häuften sie auf die große Speisetafel und machten so in einem und demselben Zimmer unsere Vorbereitungen. Wir haben sicherlich Nichts hinweggenommen, das nicht eigentlich unser gehörte.

Nachdem ich Ihnen bereits von meiner Ueberzeugung gesprochen, daß Magdalene nicht bei sich selber war, als Sie am Mittwoch sie sahen, fühle ich mich versucht, hier innezuhalten und Ihnen einen Umstand zum Beweise Dessen, was ich gesagt, mitzutheilen. Der kleine Zwischenfall ereignete sich Mittwoch Abends, gerade als wir zu unseren Zimmern hinaufgehen wollten.

Nachdem wir unsere Kleider und unsere Geburstagsangebinde, unsere Bücher und Musicalien eingepackt hatten, begannen wir, unsere Briefe zu sortieren, welche unter einander gekommen waren, da alle auf dem Tische beisammen lagen. Ein paar von meinen Briefen waren unter Magdalenens Briefe gerathen, und einige von den ihrigen unter die Meinigen. Unter den letzteren fand ich eine Karte, die meine Schwester zu Anfang des Jahres von einem Schauspieler, welcher eine Liebhabertheateraufführung, an der sie selbst Theil genommen, geleitet hatte, erhielt. Der Mann hatte ihr die Karte, welche seinen Namen und Wohnung enthielt, in dem Glauben gegeben, daß sie zu mehr Vergnügungen dieser Art eingeladen werden würde, und in der Hoffnung, daß sie ihn als Regisseur bei künftigen Gelegenheiten empfehlen würde. Ich erzähle Ihnen diese geringfügigen Einzelheiten nur, um Ihnen zu zeigen, wie wenig Werth in solchen Umständen als den unserigen das Aufbewahren einer solchen Karte haben mußte. Wie es sehr natürlich war, warf ich sie von mir weg über die Tafel, indem ich sie auf den Boden werfen wollte. Sie fiel zu kurz, nahe bei den Platz, wo Magdalene saß. Sie hob sie auf, sah darauf und erklärte sofort, daß sie dieses ganz werthlose Ding nicht um Alles in der Welt vernichtet haben würde. Sie war beinahe böse auf mich, daß ich sie weggeworfen hatte, beinahe böse mit Miss Garth, weil diese fragte, wozu sie diese noch brauchen könne. Kann es einen deutlicheren Beweis geben, als diesen, daß unser Mißgeschick, das doch um so viel schwerer sie, als mich betroffen hatte, sie ganz aus den Angeln gehoben und aufgerieben hatte? Gewiß darf man ihre Worte und Blicke nicht zu ihrem Nachtheile auslegen, wenn sie nicht ganz Herrin ihrer selbst ist, um ihr natürliches Urtheil zu haben, wenn sie die unvernünftige Ungebärdigkeit eines Kindes zeigt bei einer Frage, die nicht im entferntesten von Bedeutung ist.

Eine kleine Weile nach Elf gingen wir hinauf, um wo möglich etwas zu ruhen.

Ich zog den Vorhang von meinem Fenster weg und sah hinaus. Ach, was für eine herbe letzte Nacht war das. Kein Mond, keine Sterne. Eine solche tiefe Finsterniß, daß keiner von den trauten Gegenständen im Garten sichtbar war, als ich nach ihnen schaute. Eine solche tiefe Stille, daß meine eigenen Bewegungen im Zimmer mich erschreckten. Ich versuchte mich niederzulegen und zu schlafen, aber das Gefühl der Einsamkeit kam wieder und überwältigte mich. Sie werden sagen, daß ich mit sechsundzwanzig Jahren alt genug sei, mich doch etwas mehr selbst zu beherrschen. Ich weiß kaum, wie es kam, aber ich mich hinein zu schleichen pflegte vor langen, langen Jahren, als wir noch Kinder waren. Sie war nicht zu Bette, sie saß mit ihren Schreibmaterialien vor sich in Gedanken da. Ich sagte, ich möchte die letzte Nacht bei ihr bleiben, und sie küßte mich und sagte mir, ich sollte mich nur niederlegen Sie würde schon bald nachkommen versprach sie mir. Meine Seele war schon etwas ruhiger geworden, und ich schlief ein. Es war Tag, als ich erwachte, und das Erste, was ich sah, war Magdalene, welche noch immer auf dem Stuhle saß und immer noch nachsann. Sie war gar nicht ins Bett gekommen, sie hatte die ganze Nacht gewacht.

—— Ich will schlafen, wenn wir Combe-Raven verlassen haben, sagte sie. Es wird mir wohler sein, wenn Alles vorüber ist, und ich Frank Lebewohl gesagt habe.

Sie hatte unseres Vaters Testament in den Händen und den Brief, welchen er an Sie schrieb, und als sie ausgesprochen hatte, legte sie Beides in meine Hände nieder. Ich wäre die älteste —— sagte sie —— und diese letzten kostbaren Reliquien müßten von mir aufbewahrt werden. Ich schlug ihr erst vor, daß wir uns hinein theilten, aber sie schüttelte mit dem Kopfe.

—— Ich habe für mich selbst eine Abschrift genommen, sagte sie, von Allem, was er von uns sagt in dem Testament und von Allem, was er in dem Briefe sagt.

Sie erzählte mir Dies und nahm aus ihrem Busen eine kleine weißseidene Tasche, die sie sich in der Nacht gemacht hatte und in welche sie die Auszüge gesteckt hatte, als wollte sie dieselben immer bei sich führen.

—— Dies sagt mir in seinen eigenen Worten, welches seine letzten Wünsche für uns Beide waren, sagte sie, und dies ist Alles, was ich für die Zukunft brauche.

Dies Alles sind Kleinigkeiten, bei denen ich verweile, und ich bin über mich selbst erstaunt, daß ich mich nicht schäme, Sie damit zu behelligen. Aber seitdem ich weiß, welches Ihre früheren Beziehungen zu meinem Vater und meiner Mutter waren, habe ich gelernt, Sie als einen alten Freund zu betrachten, und wohl auch so an Sie zu schreiben. Und dann liegt es mir so sehr am Herzen, Ihre Meinung von Magdalenen umzuwandeln, daß ich mir nicht helfen kann, ich muß die kleinsten Dinge von ihr erzählen, welche nach meiner Ansicht darauf abzielen mögen, Sie über sie so denken zu lassen, als ich selber.

Als die Frühstücksstunde kam —— am Donnerstage —— waren wir erstaunt, einen fremden Brief vorzufinden. Vielleicht muß ich Ihnen Das mittheilen, im Fall, daß künftig Ihr Einschreiten nöthig werden sollte. Er war an Miss Garth gerichtet auf Papier mit einem breiten Trauerrande, und der Schreiber war derselbe Mann, welcher eines Tages im letzten Frühjahre uns auf einem Spaziergange nachging: Hauptmann Wragge. Seine Absicht war, wie es schien, seinen kühnen Anspruch auf eine Verwandtschaft mit meiner armen Mutter geltend zu machen, unter dem Vorwande einer Beileidsbezeigung, welche überhaupt zu schreiben von einer solchen Person eine Unverschämtheit ist. Er sprach so viel Mitgefühl aus, nachdem er unsern Trauerfall aus den Zeitungen erfahren hatte —— als ob er uns wirklich nahe gestanden hätte.

Dann bat er uns in einer Nachschrift, ihn doch wissen zu lassen —— er war also ganz offenbar vollständig unbekannt mit Allem, was wirklich vorgefallen war ——, ob es wünschenswerth wäre, daß er oder andere Verwandte bei der Eröffnung des Testaments zugegen wären! Die Adresse, welche er angibt und unter der Briefe ihn in den nächsten vierzehn Tagen treffen würden, lautet: »Birmingham, Postamt«. Das ist Alles, was ich Ihnen über diesen Gegenstand zu sagen habe. Sowohl Brief wie Schreiber scheinen mir eigentlich für uns, wie für Sie nicht der geringsten Beachtung werth zu sein.

Nach dem Frühstück verließ uns Magdalene und ging vor sich hin ins Morgenzimmer. Das Wetter war noch immer etwas regnerig, und wir hatten die Anordnung getroffen, daß Francis Clare sie in jenem Zimmer sprechen sollte, wenn er sich einfände, um Abschied zu nehmen. Ich war oben, als er kam, und ich blieb auch noch über eine halbe Stunde oben, von trüber Sorge erfüllt, wie Sie wohl denken können, über Magdalenen.

Nach einer halben Stunde oder etwas später kam ich die Treppe herunter. Als ich an den Absatz kam, hörte ich ihre Stimme, welche durchdringend kreischte und ihn bei Namen rief,... dann lautes Schluchzen, ... dann ein fürchterliches Lachen und Schreien durch einander, das durch das Haus schallte. Ich eilte sofort in das Zimmer und fand Magdalenen auf dem Sopha in heftigen hysterischen Krämpfen liegend, Frank stand da, starrte sie an mit finsterer, zorniger Miene, seine Nägel kauend.

Ich fühlte mich so aufgebracht —— ohne eigentlich zu wissen, warum, denn ich hatte ja keine Ahnung von Dem, was in der Unterredung vorgefallen war —— daß ich Mr. Francis Clare bei den Schultern nahm und ihn aus dem Zimmer stieß. Es liegt mir sehr am Herzen, Ihnen zu sagen, wie ich gegen ihn gehandelt, und was mich dazu gebracht hat. Denn ich begreife, daß er sich von mir äußerst beleidigt halten muß und daß er leicht irgendwo erzählen kann, was er meine unweibliche unziemende Heftigkeit gegen ihn nennt. Wenn er gegen Sie davon sprechen sollte, so liegt mir meinerseits viel daran das Zugeständniß zu machen, daß ich mich selbst vergaß; doch geschah Das, wie Sie hoffentlich denken werden, nicht ohne einigen guten Grund.

Ich stieß ihn auf die Hausflur hinaus und überließ Magdalenen für den Augenblick der Sorge von Miss Garth. Anstatt nun wegzugehen, setzte er sich störrisch auf einen der Stühle der Halle.

—— Wollen Sie mir die Frage erlauben, was der Grund dieser außerordentlichen Aufwallung ist? fragte er Zornigen Auges.

—— Nein, sagte ich. Sie werden gefälligst selber den Grund dazu sich denken können und uns augenblicklich verlassen, wenn Sie so gut sein wollen.

Er blieb verstockt auf dem Stuhle sitzen, kaute an den Nägeln und dachte nach.

—— Was habe ich verschulden um auf diese gefühllose Art behandelt zu werden? fragte er nach einer Weile.

—— Ich kann mit Ihnen darüber nicht verhandeln, antwortete ich, ich kann Sie nur ersuchen, uns zu Verlassen. Wenn Sie darauf beharren zu warten, um meine Schwester wieder zu sehen, so will ich selber hinüber gehen und mich an Ihren Vater wenden.

Er erhob sich bei diesen Worten in großer Hast.

—— In dieser Sache bin ich auf elende Weise behandelt worden, sprach er. Alles Harte und alle Opfer fallen auf meinen Theil. Ich in unter Ihnen der Einzige, der ein Herz hat. Die Uebrigen alle sind so hart wie Steine —— Magdalene mit eingeschlossen. In einem Athem sagt sie mir wohl, sie liebe mich, und gleich hinterher sagt sie. mir wieder, ich solle nach China gehen. Was habe ich gethan, um mit diesem herzlosen Wankelmuth behandelt zu werden? Ich bin meinerseits nicht wankelmüthig —— ich will nur zu Hause bleiben... und —— was folgt daraus? Ihr seid Alle gegen mich!

In dieser Art ging er langsam die Stufen hinunter, und das war das letzte Mal, daß ich ihn sah. Das ist Alles, was zwischen uns vorgefallen ist. Wenn er es Ihnen anders darstellt, so wird Das, was er etwa sagt, falsch sein. Er machte keinen Versuch, noch einmal zu kommen. Eine Stunde später kam sein Vater allein, um Lebewohl zu sagen. Er sah Miss Garth und mich, aber nicht Magdalenen. Wir hatten, als Mr. Clare uns verlassen hatte, knapp nur noch zwei Stunden, bis die Zeit zur Abreise da war. Ich ging zu Magdalenen zurück und fand sie ruhiger und besser, obgleich schrecklich bleich, erschöpft und gedrückt, wie ich glaubte, durch Gedanken, die sie nicht über sich gewinnen konnte mitzutheilen Sie wollte mir damals Nichts weiter erzählen, sie hat mir auch nachher Nichts erzählt von Dem, was zwischen ihr und Francis Clare vorgefallen war. Wenn ich mit Unwillen von ihm sprach —— indem ich doch fühlte, daß er sie betrübt und gequält hatte in einer Zeit, wo er ihr alle Ermuthigung und allen Trost hätte geben sollen, den ein Mann nur spenden kann —— so weigerte sie sich mich anzuhören. Sie machte ihm die liebevollsten Zugeständnisse, sie fand die annehmbarsten Entschuldigungen für ihn und legte die ganze Schuld des schrecklichen Zustandes, in dem ich sie gefunden hatte, lediglich und allein sich selber zur Last. Hatte ich Unrecht, als ich Ihnen sagte, sie habe einen edlen Charakter? Und wollen Sie Ihre Meinung noch nicht ändern, wenn Sie diese Zeilen lesen?

Wir hatten keine Freunde, welche hätten kommen und uns Lebewohl sagen können. Unsere wenigen Bekannten waren zu entfernt von uns, Vielleicht auch zu gleichgültig gegen uns, um uns Abschiedsbesuche zu machen. Wir benutzten die wenige uns bleibende freie Zeit, um mit einander zum letzten Male durch das Haus zu wandeln. Wir nahmen Abschied von unserm alten Schulzimmer, unseren Kammern, dem Schlafzimmer, in dem unsere Mutter starb, dem kleinen Arbeitscabinet, wo der Vater gewöhnlich seine Rechnungen besorgte und seine Briefe schrieb. Wir fühlten gegenüber diesen Räumen in unserer verwaisten Verlassenen Lage Das, was andere Mädchen beim Abschied von alten Freunden gefühlt haben würden. Vom Hause gingen wir dann bei einem eingetretenen freundlichen Sonnenblicke in den Garten und pflückten unsern letzten Strauß und nahmen uns vor, diese Blumen, wenn sie zu welken anfingen, einzulegen und sie zur Erinnerung der nun vergangenen glücklichen Tage aufzubewahren —— Als wir dem Garten Lebewohl gesagt hatten, war nur noch eine halbe Stunde übrig. Wir gingen zusammen an das Grab, wir knieten nieder, eine neben der andern und küßten schweigend den heiligen Grund. Ich dachte, das Herz müßte schier brechen. August war der Monat mit dem Geburtstag der Mutter, und jetzt vor einem Jahre waren wir drei, der Vater, Magdalene und ich in geheimer Berathung gewesen, mit was für einem Geschenk wir sie wohl früh an ihrem Geburtstagsmorgen überraschen könnten. ——

Wenn Sie hätten Magdalenen leiden sehen, so würden Sie nie wieder gezweifelt haben. Ich mußte sie von der ewigen Ruhestätte unseres Vaters und unserer Mutter beinahe mit Gewalt fortziehen. Ehe wir aus dem Friedhofe gingen, riß sie sich wieder von mir los und lief zurück. Sie fiel am Grabe auf ihre Kniee, riß mit leidenschaftlicher Gebärde eine Hand voll Gras davon ab und sagte in dem Augenblicke Etwas zu sich selbst, wo ich, obgleich ich ihr auf dem Fuße folgte, noch nicht nahe genug war, um sie zu hören. Sie wandte sich nach mir in einer so halb wahnsinnigen Art um, als ich versuchte, sie vom Boden wegzuheben, —— ... sie sah mich mit so fürchterlich wilden Blicken an, daß ich mich ordentlich bei ihrem Anblicke entsetzte. Zu meinem Trost wich der Paroxysmus so schnell von ihr, als er gekommen war. Sie warf das Häuflein Gras in den Busen ihres Kleides, nahm meinen Arm und eilte mit mir aus dem Friedhof hinaus. Ich fragte sie, warum sie zurückgegangen sei, —— ich fragte sie, welches die Worte waren, die sie am Grabe gesprochen hatte.

—— Ein Gelöbniß für unsern seligen Vater, antwortete sie mit einem augenblicklichen Wiederaufblitzen des wilden Blickes und des halbwahnsinnigen Wesens, das mich bereits so gewaltig erschreckt hatte.

Ich scheute mich, sie durch weitere Worte noch mehr aufzuregen und unterließ alle weiteren Fragen bis zu einer passenderen und ruhigem Zeit. Sie werden daraus abnehmen können, wie ungeheuer sie leidet, wie wild und seltsam sie in heftiger Aufregung handelt, und Sie werden nicht zu ihren Ungunsten deuten, was sie gesagt oder gethan hat, als Sie dieselbe letzten Mittwoch sahen.

Wir kamen nach Hause zurück, um von dort gerade noch nach der Eisenbahn wegzueilen. Vielleicht war Das gerade besser für uns, besser, daß wir nur einen Augenblick übrig hatten, um zurückzuschauen, ehe die Biegung der Straße das letzte Stück von Combe-Raven vor unseren Blicken verbarg. Es war an der Station keine Seele, die wir kannten, Niemand, der uns anstarrte, Niemand, der uns Lebewohl bot. Der Regen kam wieder, als wir unsere Plätze in dem Zuge genommen. Was wir beim Anblick der Eisenbahn fühlten, welche entsetzlichen Erinnerungen sich da unserer Seele aufdrängten von dem Unglücksfalle, der uns zu Waisen gemacht hatte, —— vermag, wage ich nicht zu sagen. Ich habe mich absichtlich bemüht, diesen Brief nicht in traurigem Tone zu schreiben, um nicht alle Ihre Güte gegen uns dadurch zu vergelten, daß ich Sie mit unserm Kummer beunruhige Vielleicht habe ich schon zu lange verweilt bei der kleinen Geschichte unseres Abschiedes vom Hause. Ich kann zur Entschuldigung sagen, daß mein Herz voll davon ist und, was in meinem Herzen nicht ist, wollte meine Feder nicht schreiben.

Wir sind an unserm neuen Aufenthalte erst eine so kurze Zeit, daß ich Nichts weiter zu erzählen habe —— außer daß Miss Garths Schwester uns mit der herzlichsten Güte aufgenommen hat. Sie überläßt uns wohl mit richtigem Tacte uns selbst, bis wir besser als jetzt im Stande sind, an Pläne für die Zukunft zu denken und uns darnach einzurichten, wie wir am Besten unser Brod verdienen können. Das Haus ist so groß, und die Lage unserer Zimmer ist so wohlbedacht ausgewählt, daß ich —— wenn ich nicht das Lachen der jüngeren Mädchen vom Garten heraufhörte ——, kaum glauben würde in einer Schule zu wohnen.

Mit den herzlichsten und besten Wünschen von Miss Garth und meiner Schwester lassen Sie mich zeichnen, verehrter Mr. Pendril,

Ihre dankbar ergebene
Nora Vanstone.



Kapiteltrenner

II.

Miss Gerth an Mr. Pendril.

Kensington, Westmoreland-House,
den 23. September 1846.

Hochgeehrter Herr!

Ich schreibe diese Zeilen in einem solchen geistigen Elende, als keine Worte beschreiben können. Magdalene hat uns heimlich verlassen. In früher Stunde diesen Morgen ging sie heimlich aus dem Hause fort und hat Nichts wieder von sich hören lassen. ——

Ich würde persönlich kommen und mit Ihnen sprechen, allein ich wage nicht, Nora allein zu lassen. Ich will sehen, ob ich mich zu fassen vermag, will sehen, ob ich zu schreiben im Stande bin.

Nichts fiel gestern vor, um mich oder Nora auf diesen letzten —— und beinahe hätte ich gesagt, schlimmsten —— Schlag vorzubereiten. Die einzige Veränderung, welche jede von uns Beiden bei dem unseligen Mädchen bemerkten, war eine Aenderung zum Bessern, als wir uns gute Nacht sagten. Sie küßte mich, was sie in der letzten Zeit nicht gethan hatte, und brach in Thränen aus, als sie dann ihre Schwester umarmte. Wir hatten so wenig Ahnung von der Wahrheit, daß wir diese Zeichen einer neuerwachten Zärtlichkeit und Zuneigung für ein Versprechen der Besserung für die Zukunft hielten.

Diesen Morgen, ein wenig nach acht Uhr, als ihre Schwester in ihr Zimmer ging, war es leer, und ein Brief von ihrer Hand mit Noras Adresse lag auf dem Toilettentische. Ich kann Nora nicht bewegen, daß sie den Brief aus den Händen gibt, ich kann Ihnen nur die beiliegende Abschrift davon senden. Sie werden sehen, daß er über die von ihr eingeschlagene Richtung durchaus keinen Aufschluß gibt.

Indem ich den Werth der Zeit bei diesem entsetzlichen Vorfalle wohl kannte, untersuchte ich ihr Zimmer und fragte mit Hilfe meiner Schwester die Dienstboten aus, augenblicklich, nachdem ich die Nachricht von ihrer Entweichung erhalten hatte. Ihr Kleiderschrank war leer, und alle ihre Koffer außer einem, welchen sie augenscheinlich mit sich genommen hatte, waren ebenfalls leer. Wir sind der Meinung, daß sie insgeheim ihre Kleider und Kleinodien zu Geld gemacht hat, daß sie den einzigen Koffer, welchen sie mit sich nahm, gestern aus dem Hause schaffte und daß sie uns heute früh zu Fuß verließ. Die Antworten, welche eins von den Dienstmädchen gab, waren so ungenügend, daß wir glauben, das Frauenzimmer ist von ihr bestochen worden, ihr beizustehen und hat alle jene Einleitungen zur Flucht besorgt, welche sie, ohne entdeckt zu werden, kaum selbst treffen konnte.

Ueber die nächste Ursache, warum sie uns verließ, hege ich nicht den geringsten Zweifel.

Ich habe Gründe, die ich Ihnen bei passender Gelegenheit weiter mittheilen kann, mich versichert halten zu dürfen, daß sie fortgegangen ist, ihr Glück auf der Bühne zu versuchen. Sie hat in ihrer Verwahrung die Karte eines Schauspielers von Beruf, welcher eine Liebhabertheateraufführung zu Cliston, an der sie Theil nahm, leitete. Zu ihm ist sie gegangen, um sich an ihn zu wenden. Ich sah ihn seiner Zeit und weiß, daß der Schauspieler Huxtable heißt. Der Adresse kann ich mich so genau nicht mehr entsinnen, aber ich bin meiner Sache fast ganz gewiß, daß es irgend ein mit dem Theater verwandter Ort im Coventgardenviertel in die Straße Bowstreet war. Gestatten Sie mir die inständige Bitte, keinen Augenblick zu verlieren, um die nöthigen Nachforschungen anstellen zu lassen, die erste Spur wird, glaube ich, sicher und bestimmt, unter jener Adresse zu erhalten sein.

Wenn wir nichts Schlimmeres zu befahren hätten, als ihren Versuch, zur Bühne zu gehen, so würde ich die Trauer und das Entsetzen nicht empfinden, welche mich jetzt beinahe übermannen. Hundert andere Mädchen haben so rücksichtslos gehandelt als sie und haben nach alle Dem doch nicht schlecht geendet. Allein meine Besorgnisse beginnen und endigen nicht bei dem Wagnisse, dessen sie sich eben jetzt unterwunden hat.

Seitdem wir Combe-Raven verlassen haben, hat sie Etwas gedrückt, in den letzten sechs Wochen mehr als anfangs gedrückt. Bis zu der Zeit, wo Francis Clare England verließ, war ich überzeugt, daß sie insgeheim durch die Hoffnung aufrecht erhalten würde, daß er sich eine neue Unterredung mit ihr zu verschaffen suchen werde. Von dem Tage, wo sie wußte, daß die Maßregeln, die Sie, um Dies zu verhindern, Tage an, wo sie sicher sein konnte, daß das Schiff ihn wirklich hinweg geführt hatte, hat Nichts sie wieder aufgerichtet, Nichts ihre Theilnahme erregt. Sie hat sich selbst immer mehr und mehr der Verzweiflung, ihren eigenen, düster brütenden Gedanken überlassen, Gedanken, die, glaube ich, zuerst ihr durch die Seele blitzten an dem Tage, wo die gänzliche Zerstörung der Aussichten, von denen ihre Verheirathung abhing, ihr offenbar wurde. Sie hat irgend einen verzweifelten Plan gefaßt, um Mr. Michael Vanstone den Besitz von ihres Vaters Vermögen streitig zu machen, und die Bühnenlaufbahn, zu deren Antritt sie jetzt den ersten Schritt gethan hat, ist Nichts weiter als ein Mittel, um sich von allen Familienbanden los zu machen und vollkommen sicher vor aller häuslichen Ueberwachung das tolle Wagniß vollbringen zu können, das sie vorhat. Was es mich für Ueberwindung kostet, von ihr in diesen Ausdrücken zu schreiben, muß ich Ihnen überlassen, mir nachzuempfinden. Die Zeit ist vorüber, wo irgend eine traurige Erwägung für mein eigenes Gefühl Einfluß auf mich haben konnte. Was ich nur immer sagen kann, um Ihre Augen für die wirkliche Gefahr zu öffnen und Ihre Ueberzeugung von der vorliegenden Nothwendigkeit dieselbe abzuwenden, zu befestigen, sage ich ohne Zaudern und ohne Rückhalt mit Ueberwindung meiner selbst.

Noch ein Wort, und ich bin fertig.

In der letzten Zeit, wo Sie so freundlich waren, hierher zu uns zu kommen, erinneren Sie sich da, wie Magdalene uns durch die Ihnen vorgelegte Frage in Verwirrung und Jammer versetzte, ob sie ein Recht habe, ihres Vaters Namen zu führen? Erinneren Sie sich, wie sie auf ihre Fragen bestand, bis sie von Ihnen die Erklärung herausgebracht hatte, daß vor dem Gesetz sowohl sie, als ihre Schwester namenlos wären? Ich erinnere Sie absichtlich daran, da Sie die Angelegenheiten von hundert Clienten im Kopfe haben müssen und daher wohl den Umstand vergessen haben werden. Welchen natürlichen Widerwillen sie nun wohl vor einer Täuschung unseres Vertrauens und einer Herabwürdigung ihrer selbst sonst empfunden haben würde, diese Unterhaltung mit Ihnen hat sicherlich jenes Widerstreben bei ihr zu Nichte gemacht. Wir müssen sie durch eine Beschreibung ihres Aeußern entdecken, es bleibt uns außerdem kein anderer Weg, sie ausfindig zu machen.

Ich kann an Nichts mehr denken, um Ihre Entschließung in unserer kläglichen Noth zu leiten. Um Gottes Willen, schonen Sie keine Kosten und keine Anstrengungen. Ich schicke meinen Brief durch einen besonderen Boten, er muß zehn Uhr früh spätestens in Ihren Händen sein. Antworten Sie mir durch eine Zeile, daß Sie augenblicklich nach bestem Ermessen handeln wollen. Meine einzige Hoffnung, um Nora zu beruhigen, ist, ihr ein Wort des Trostes von Ihrer Feder zu zeigen. Betrachten Sie mich, verehrter Herr, als

Ihre aufrichtig und dankbar ergebene
Harriet Garth.



Kapiteltrenner

III.

Magdalene an Nora.
(Abschriftlicher Einschluß in dem vorigen Briefe.)

Mein theures Leben!

Siehe, ob Du mir vergeben kannst. Ich habe mit mir selbst gekämpft, bis ich der Anstrengung erlegen bin. Ich bin das elendeste Geschöpf, das auf Gottes Welt ist. Unser ruhiges Leben macht mich toll. Ich kann es nicht länger ertragen. Ich muß fort, Wenn Du wüßtest, welches meine Gedanken sind, wenn Du mußtest, wie heftig ich dagegen angekämpft habe und wie schrecklichen Gespenstern gleich sie in der Einsamkeit dieses Hauses mich heimgesucht haben: so würdest Du mir Mitleid und Verzeihung schenken. Ach, meine Liebe, sei nicht darob verletzt, daß ich Dir nicht mein Herz aufschließe, wie ich wohl sollte! Ich darf es nicht aufschließen. Ich darf mich Dir nicht zeigen, wie ich wirklich bin.

Ich bitte Dich, schicke und forsche nicht nach mir. Ich will schreiben und Dir all Deine Besorgnisse nehmen. Du weißt, Nora, wir müssen uns jetzt unser Brod selber verdienen. Ich bin gegangen, um das meine auf die Weise zu verdienen, die für mich die passendste ist. Ob ich Glück habe oder ob ich mein Ziel verfehle: ich kann für meine Person auf keine Weise dabei verlieren. Ich habe keine Stellung zu verlieren, keinen Namen zu entehren. Zweifle nicht, ob ich Dich liebe... laß auch bei Miss Garth keine Zweifel aufkommen über meine Dankbarkeit. Ich gehe fort unglücklich darüber, daß ich Dich verlassen muß, aber ich muß gehen. Wenn ich Dich weniger zärtlich liebte, dann hätte ich wohl den Muth gehabt, Dir Dies mündlich zu sagen, —— aber wie konnte ich mir selbst zutrauen, Deinem Zureden zu widerstehen und den Anblick Deines Schmerzes zu ertragen? Lebe wohl, mein theures Leben. Nimm tausend Küsse von mir, mein einziger, bester, theuerster Liebling, bis wir uns wiedersehen.

Magdalene.



Kapiteltrenner

IV.

Polizeisergant Bulmer (von der Gerichtspolizei) an
Mr. Pendril.

Scotland-Yard,
den 29. September 1846.

Mein Herr!

Ihr Schreiben zeigt mir an, daß die bei unserer Nachforschung nach der vermißten jungen Dame interessierten Parteien sehr verlänglich sind auf Nachricht von derselben. Ich ging heute auf Ihre Amtstube, um mit Ihnen über die Sache zu sprechen. Da ich Sie nicht angetroffen habe und auch morgen nicht wiederkommen und Vorfragen kann, so schreibe ich diese Meldung, um keinen weiteren Aufschub zu verursachen und Ihnen zu sagen, wie weit wir damit gekommen sind.

Ich bedaure sagen zu müssen, daß seit meinem früheren Bericht keine Fortschritte gemacht wurden. Die Spur der jungen Dame, welche wir vor nahezu acht Tagen auffanden, bleibt eben immer noch die letzte Spur von ihr. Dieser Fall scheint ein ungeheuer einfacher zu sein, aus der Ferne besehen. Bei Lichte besehen, nimmt sich die Sache weit heiklicher aus und wird, um die Wahrheit zu sagen, ein ganz verzwickter Casus.

Folgendes ist der Stand der Sache, wie er sich jetzt für uns macht.

Wir haben die junge Dame bis zu der Theatervermittlungsstelle in der Bowstreet verfolgt. Wir wissen, daß in einer frühen Morgenstunde des Dreiundzwanzigsten der Inhaber jener Stelle, als er sich anzog, herunter gerufen ward, um mit einer jungen Dame in einem Cab vor der Thür zu sprechen. Wir wissen ferner, daß, als sie Mr. Huxtables Karte vorzeigte, er ihr Mr. Huxtables Wohnung darauf schrieb und noch hörte, wie sie den Kutscher anwies, nach der Eisenbahn zu fahren. Wir glauben, sie ging ab mit dem Neun-Uhr-Zuge. Wir folgten ihr mit dem Zwölf-Uhr-Zuge. Wir haben festgestellt, daß sie halb drei Uhr In Mr. Huxtables Wohnung vorgefragt, daß sie ihn aber nicht zu Hause gefunden hat und daß man ihn vor Abend nicht zurückerwartete; daß sie dann hinterließ, sie wolle um acht Uhr wiederkommen, und daß sie nicht wieder gekommen ist. Mr. Huxtables Angabe ist, —— er und die junge Dame haben sich mit keinem Auge gesehen. Die erste Betrachtung, welche nun folgt, ist Die: —— Sollen wir Mr. Huxtable glauben? Ich habe mich sorgfältig nach seinem Charakter erkundigt. Ich weiß so viel oder noch mehr von ihm, als er von sich selber weiß. Meine Meinung ist nun, daß wir allerdings ihm Glauben schenken sollen. Nach bestem Wissen und Gewissen halte ich ihn für einen durchaus rechtlichen Mann.

Hier nun ist der Haken in der Sache. Die junge Dame macht sich fort mit einer ganz bestimmten Absicht. Anstatt zur Vollendung dieser Absicht zu schreiten, bleibt sie kurz vorher unverrichteter Dinge stehen. Warum blieb sie stehen? und wo blieb sie? Dies sind zum Unglück gerade die Fragen, welche wir bis jetzt noch nicht beantworten können.

Meine eigene Meinung von der Sache ist nun kürzlich folgende. Ich denke nicht, daß ihr ein ernstes Unglück zugestoßen. Ernste Unglücksfälle entdecken sich in neun Fällen unter zehn gewöhnlich selber. Meine Ansicht ist, daß sie in die Hände von einigen Personen gefallen ist, welche ein Interesse daran haben, sie verborgen zu halten, und gerieben genug sind, um Dies durchzuführen. Ob sie freilich in deren Bereich ist mit oder ohne Zwang, ist mehr als ich mich jetzt zu entscheiden im Stande fühle. Ich mag nicht falsche Hoffnungen noch falsche Besorgnisse erregen, ich wünsche bei der Meinung, die ich schon abgegeben habe, kurzweg stehen zu bleiben.

In Absicht der Zukunft möchte ich Ihnen mittheilen, daß ich einen meiner Leute in täglichem Verkehr mit den Behörden gelassen habe. Ich habe auch Anstalt getroffen, daß die Zettel, welche auf ihr Wiederauffinden eine Belohnung aussetzen, weiter verbreitet werden. Schließlich habe ich nöthige Anordnungen getroffen, um die Anschlagzettel aller Theater draußen im Lande zu sehen zu bekommen und um die Schauspielergesellschaften wohl im Auge zu behalten. Einige Jahre früher hätte Das einen starken Aufwand von Zeit und Geld nöthig gemacht. Zum Glück für unsern Zweck sind die Theater auf dem Lande schlimm daran.

Außer den großen Städten ist kaum eins davon eröffnet, und wir können mit geringen Kosten und wenig Schwierigkeit ein Auge darauf haben.

Dies sind die Schritte, welche ich zur Zeit zu thun für nöthig fand. Wenn Sie anderer Meinung sind, so haben Sie mir nur Ihre Weisungen mitzutheilen, und ich werde nicht ermangeln, denselben pünctlich nachzukommen. Ich gebe durchaus nicht die Hoffnung auf, daß wir die junge Dame auffinden und sie wohl und munter wieder zu ihren Freunden zurückbringen. Sagen Sie ihnen Das gefälligst, und lassen Sie mich zeichnen

Ihr achtungsvoll Ergebener,
Abraham Bulmer.



Kapiteltrenner

V.

Brief ohne Unterschrift an Mr. Pendril.

Mein Herr!

Ein Wort an Den, der gescheidt ist. Die Freunde einer gewissen Dame verschwenden Zeit und Geld ohne Zweck und Ziel. Ihr Vertrauensmann, der Schreiber, und Ihr Policist von der Criminalabtheilung suchen nach einer Nadel in einem Bündel Heu. Heute ist der neunte October, und sie haben sie noch nicht gefunden: sie werden eben so bald die nordwestliche Durchfahrt [Durch das Polarmeen W.] finden. Rufen Sie Ihre Hunde zurück, und Sie werden von der Hand der jungen Dame selber Nachricht über ihr Wohlbefinden erhalten. Je länger Sie nach ihr suchen, desto länger wird sie, was sie jetzt ist, für Sie bleiben: verloren.

(Vorstehender Brief enthält auf der Rückseite von Mr. Pendrils Hand noch Folgendes:

Keine Möglichkeit am Tage, um die Inlage auf ihre Quelle zurück zu verfolgen. Poststempelt Charingcroß. Fabrikzeichen von der inneren Seite des Couverts abgeschnitten. Handschrift —— wahrscheinlich eine verstellte Mannshand. Schreiber, wer er auch sei, nur zu gut unterrichtet. Keine fernere Spur von der jüngeren Miss Vanstone bis jetzt aufgefunden.)



Kapiteltrenner

Drittes Buch.

In der Gasse Skeldergate zu York.

Erstes Capitel.

In jenem Theile der Stadt York, welcher auf dem rechten Ufer der Ouse liegt, befindet sich eine enge Gasse, welche Skeldergate heißt. Sie läuft parallel mit dem Flusse fast genau von Norden nach Süden. Die Pforte, durch welche man vormals nach Skeldergate gelangte, ist nicht mehr vorhanden, und die wenigen alten Häuser, die von der Straße noch übrig sind, wurden in die unglückselige moderne Uniform der weißen Tünche und des Kalkbewurfs gesteckt und so verkleidet. Läden der kleinen und ärmlichen Art, hier und da mit verräucherten Lagerhäusern und trübseligen Wohnhäusern von rothen Ziegelsteinen vermischt, stellen das gegenwärtige Bild von Skeldergate dar. An der Flußseite sind die Häuser in Zwischenräumen durch Gäßchen unterbrochen, welche nach dem Wasser hin laufen und kleine einsame freie Durchsichten schaffen nach auf den vorüber segelnden Barken, welche sich im Hintergrunde erheben. Am Südende hört die Straße plötzlich auf, und der breite Strom der Ouse, die Bäume, die Wiesen, der öffentliche Spaziergang auf dem einen Ufer und der Weg der Schiffszieher auf dem andern bieten sich offen dem Auge des Beschauers dar.

Hier wo die Straße endigt, und auf der vom Flusse abgelegensten Seite führt eine enge kleine Gasse zu dem gepflasterten Fußsteg, welcher über die alten Wälle von York steigt Die eine kleine Häuserreihe die einzige, welche die Gasse besitzt, besteht aus wohlfeilen Logirhäusern, welche auf wenig Fuß Entfernung einen Theil der massiven Stadtmauer zum Gegenüber haben. Dies heißt das Rosmaringäßchen (Rosemary-lane). Nur sehr wenig Licht vermag in dasselbe einzudringen, sehr wenig Leute wohnen darin. Die wechselnde Bevölkerung von Skeldergate geht durch dasselbe, und Spaziergänger auf dem Wallgange, welche sich dessen bedienen, entweder bei dem Hinauf- oder Hinuntergehen, machen sich so geschwind aus dem traurigen kleinen Durchgange fort, als sie nur können.

Die Thür eines der Häuser in diesem verlorenen Winkel von York öffnete sich am Abende des dreiundzwanzigsten September achtzehnhundert sechsundvierzig ohne Geräusch, und ein einzelner Mensch männlichen Geschlechts schlenderte in die Gasse Skeldergate aus dem Verstecke des Rosmaringäßchens.

Indem sich die Person nördlich wandte, lenkte sie ihre Schritte nach der Brücke über die Ouse und dem Mittelpuncte des städtischen Geschäftslebens. Sie trug den Schein achtbarer Armuth an und führte in einer Wachstuchhülle einen Ginghamregenschirm bei sich. Ihre Füsse setzte sie mit der sorgfältigsten Achtsamkeit auf alle schmutzigen Stellen auf das Pflaster, und dabei beobachtete sie ihre Umgebung mit zwei Augen von je verschiedener Färbung, einem gallenbraunen Auge, das nach Beschäftigung sich umsah, und einem gallengrünen Auge, das einen ähnlichen Ausdruck hatte. In deutlicheren Worten, der Fremde vom Rosmaringäßchen war kein Anderer, als Hauptmann Wragge.

Was das Aeußere anlangte, hatte sich der Hauptmann nicht zum Bessern verändert seit dem denkwürdigen Frühlingstage, wo er sich Miss Garth an der Thür von Combe-Raven vorgestellt hatte. Der Eisenbahnschwindel des berüchtigten Jahres hatte sogar den trägen Wragge ergriffen, hatte ihn seinen gewöhnlichen Verrichtungen entrissen und ihn zuletzt wie manchen bessern Mann am Boden liegen lassen. Er hatte sein geistliches Aussehen eingebüßt, er hatte mit den Blättern des Herbstes die Farbe verloren. Sein Hutband von Krepp trauerte in Braun darob, daß es nicht mehr schwarz war. Sein schmutzig weißes Halstuch mit Vatermördern war des Todes von alter Leinwand verblichen und war zu der wie die Ewigkeit langen Heimat in die Papiermühle gewandert, um eines Tags im Laden eines Schreibmaterialienhändlers in einem Buche Papier aufs Neue aufzuleben. Ein graues Jagdcollet im letzten Stadium seiner Auszehrung als Wollenstoff hatte den schwarzen Frack früherer Zeiten ersetzt und bewahrte nun wie ein treuer Diener das dunkle Geheimniß von seines Herrn Wäsche vor den Augen einer neugierigen Welt. Von Kopf zum Fuß hatte sich jeder Quadratzoll der Kleidung des Hauptmanns zum Schlimmern verändert; der Mann selbst aber war unverändert geblieben, erhaben über alle Formen des moralischen Mehlthaues, unzugänglich für die Wirkung des gesellschaftlichen Rostes Er war so höflich, so beredet, so schmeichelglatt, wie je. Er trug jetzt ohne Hemdenkragen seinen Kopf so hoch, wie er ihn trug, als er noch jenen Luxus führte. Das strickähnliche Taschentuch um seinen Hals war trefflich gebunden, seine morschen alten Schuhe waren blank geputzt, und was das Kinn betraf, so hätte er sich in der Glätte desselben mit den höchsten kirchlichen Würdenträgern in York messen können. Die Zeit, veränderte Umstände und Verarmung: Alles hatte an Hauptmann Wragge gerüttelt, und Alles war dennoch nicht im Stande gewesen, ihn niederzubeugen. Er durchmaß die Straßen Yorks als ein Mann, welcher über Kleider und Umstände weit erhaben ist: seine Vagabundentünche erglänzte so hell als je auf ihm.

Bei der Brücke angelangt, hielt Hauptmann Wragge an und sah müßig über das Geländer auf die Kähne in dem Flusse hinunter. Es war deutlich zu sehen, daß er keinen besonderen Bestimmungsort zu erreichen und in keiner Art Etwas zu thun hatte. Wie er sich noch hier herumtrieb, schlug die Uhr des Yorker Münsters halb Sechs. Cabs rasselten an ihm vorbei über die Brücke um den Londoner Zug zwanzig Minuten vor sechs Uhr zu erreichen. Nach einem augenblicklichen Zögern schlenderte der Hauptmann hinter den Cabs drein. Wenn es eine von den regelmäßigen Gewohnheiten eines Mannes ist, von seinen Nebenmenschen zu leben, so ist ein Solcher allezeit mehr oder weniger darauf aus, große Eisenbahnhöfe »abzusuchen«. Hauptmann Wragges Erntefeld waren die Menschen, und an diesem unbesetzten Nachmittag war der Yorker Bahnhof ebenso gut ein günstiges Feld, als ein anderes.

Er erreichte das Perron wenige Minuten, nachdem der Zug angekommen war. Von der gänzlichen Unfähigkeit zum Anordnen geeigneter Maßregeln, um große Menschenmassen zu zertheilen, welche eine von den nationalen Eigentümlichkeiten englischer Beamten in Funktion ist, gibt es nirgend ein treffenderes Beispiel, als zu York. Drei verschiedene Eisenbahnlinien führen von früh bis in die Nacht dreierlei Ströme von Reisenden unter einem und demselben Dache zusammen und lassen ihnen freie Hand, mit Beihilfe der verwirrten Eisenbahnbeamtem welche nur dazu beitragen, den Wirrwarr noch zu vergrößern, einen Auflauf von Passagieren zu veranstalten. Die gewöhnliche Verwirrung war aufs Höchste gestiegen, als Hauptmann Wragge aufs Perron kam. Dutzende von Leuten suchten zwölferlei verschiedene Sachen in zwölferlei verschiedenen Richtungen, alle von demselben gemeinschaftlichen Sammelpuncte aus zu erlangen: Alle sahen sich Einer wie der Andere ohne jede Zurechtweisung. Ein plötzliches Auseinandergehen des Haufens in der Richtung nach den Wagen zweiter Classe zu erregte die Neugier des Hauptmanns. Er machte sich bis dorthin Platz und fand einen anständig gekleideten Mann, der unter Beistand eines Packträgers und eines Polizeidieners bemüht war, einige gedruckte Zettel auszulesen, welche aus einem Papierumschlage herausgefallen waren, den ihm seine Reisegefährten in ihrer wahnsinnigen Verwirrung aus der Hand geschlagen hatten.

Indem Hauptmann Wragge mit der allezeit bereiten Höflichkeit, die ihn kennzeichnen, bei dieser Handlung seinen Beistand anbot, bemerkte er die drei auffallenden Worte:

Fünfzig Pfund Belohnung!

gedruckt in fetter Schrift auf den Zetteln, welche er mit auflesen half. Sofort brachte er ein Exemplar davon auf die Seite, um es bei der ersten geeigneten Gelegenheit genauer anzusehen. Als er den Zettel in seiner hohlen und zusammenrollte, heftete er seine verschiedenfarbigen Augen mit hungrigem Interesse auf den Eigenthümer des unglücklichen Umschlags. Wenn ein Mann zufällig nicht fünfzig Pence in seiner Tasche besitzt, so schlägt sein Herz, wenn’s auf dem rechten Flecke sitzt, — — wenn derselbe bei gesundem Appetit ist, so wässert ihm sein Mund beim Anblicke eines andern Mannes, der ein gedrucktes Anerbieten von fünfzig Pfund Sterling, an seine Nebenmenschen gerichtet, bei sich trägt.

Der unglückliche Reisende schlug sein Papier, so gut er konnte, wieder zusammen und ging von dem Perron weg, nachdem er sich beim ersten Bahnbeamten, Mitopfer der Passagiernoth des Tages, welcher so viel Besinnung übrig hatte, um ihn anzuhören, zurecht gefragt hatte. Indem er den Bahnhof nach der Flußseite zu verließ, welche ganz nahe zur Hand war, stieg der Fremde bei der Pforte der Northstreet in die Fähre. Der Hauptmann, welcher seine Schritte ebenfalls verstohlener Weise hierher gelenkt hatte, trat mit in das Boot und benutzte die Zeit des Uebergangs zum entgegengesetzten Ufer, um das Handplacat durchzulesen, welches er zu seiner Aufklärung zurückzubehalten gewußt hatte. Indem er wohlbedacht dem Reisenden den Rücken kehrte, prägte er sich nun folgende Zeilen ein:

Fünfzig Pfund Belohnung!

Entflohen aus ihrer Wohnung am frühen Morgen
des 23. September 1846 = Eine junge Dame.
Alter: Achtzehn
Kleidung: Tiefe Trauer.
Persönliche Erscheinung:
Haare —— sehr hellbraun.
Augenbrauen und Wimpern —— dunkler.
Augen —— hellgrau.
Gesichtsfarbe —— auffallend blaß.
Unterer Gesichtstheil —— groß und voll.
Gestalt —— groß und schlank.
Gang —— außerordentlich anmuthig und leicht.
Sprache —— offen und sicher.
Benehmen und Haltung —— die einer gebildeten fein-
erzogenen Dame.
Persönliche Kennzeichen: Zwei kleine Male
dicht neben einander auf der linken Seite des Nackens
Wäschezeichen: Magdalene Vanstone.
Ist vermuthlich unter angenommenem Namen in
eine Schauspielergesellschaft zu York getreten oder
hat wenigstens den Versuch dazu gemacht.
Hatte, als sie London verließ, einen schwarzen Koffer,
sonst kein weiteres Gepackt.
Jedweder, der über sie solche Mittheilungen machen
kann, daß sie wieder ihren Freunden zugeführt wird, wird
die oben namhaft gemachte Belohnung empfangen.
Man wende sich an die Expedition des Rechtsan-
walts Mr. Harkneß, Coneystreet, in York, oder an
die Herren Wyatt, Pendril und Gwilt, Searlestreet,
Lincolns Inn zu London.

Obschon Hauptmann Wragge gewohnt war, sich vollkommen selbst zu beherrschen bei allen Vorkommnissen des Lebens, so verrieth sich doch sein ungeheures Erstaunen, als er beim Durchfliegen des Placats auf das Wäschezeichen der verlorenen Dame kam, durch einen Ausruf der Ueberraschung, der sogar den Fährmann aufmerksam machte. Der Reisende gab weniger darauf acht. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf das gegenüber liegende Flußufer gerichtet, und er verließ das Boot in dem Augenblicke, wo es an den Landungsplatz anlegte, mit großer Eile. Hauptmann Wragge erholte sich von seinem Staunen, steckte das Placat ein und folgte seinem Vormanne zum zweiten Male.

Der Fremde richtete seine Schritte nach der nächsten Straße, die zum Flusse herunter lief, verglich eine Angabe in seinem Taschenbuche mit den Häusernummern auf der linken Seite, hielt bei einer derselben an und zog die Klingel. Der Hauptmann ging zum nächsten Hause weiter, that, als ob auch er dort klingelte, und kehrte dabei dem Reisenden den Rücken zu, anscheinend, als ob er warte, eingelassen zu werden, in Wahrheit aber, indem er mit allen Kräften auf einige Brocken von dem Zwiegespräch lauerte, die beim Oeffnen der Thür hinter ihm sein Ohr erreichen könnten.

Jene Thür wurde denn auch mit aller geziemenden Schnelligkeit bedient, und ein hinreichend belehrender Austausch von Frage und Antwort auf der Schwelle belohnte die Geschicklichkeit des Hauptmann Wragge.

—— Wohnt Mr. Huxtable hier? frug der Reisende.

—— Ja, mein Herr, war die Antwort, die von einer Frauenstimme kam.

—— Ist er zu Hause?

—— Jetzt nicht, mein Herr, aber er wird um acht Uhr Abends wieder hier sein.

—— Eine junge Dame, glaube ich, war bereits vorhin hier, nicht wahr?

—— Ja, eine junge Dame kam diesen Nachmittag.

—— Richtig, ich komme in derselben Angelegenheit. Hat sie Mr. Huxtable gesprochen?

—— Nein, mein Herr; er ist den ganzen Tag fort. Die junge Dame sagte mir, sie würde um acht Uhr wiederkommen.

—— Ganz recht. Ich will wieder vorkommen und Mr. Huxtable zur selbigen Zeit aufsuchen.

—— Soll ich einen Namen sagen, mein Herr?

—— Nein. Sagen sie, ein Herr habe in Theaterangelegenheiten mit ihm sprechen wollen. Das wird genügen. Warten Sie einen Augenblick, wenn es Ihnen gefällig ist. Ich bin fremd in York, wollen Sie so gütig sein, mir zu sagen, wie ich nach der Coneystreet komme?

Die Frau gab die gewünschte Zurechtweisung, die Thür schloß sich, und der Fremde eilte hinweg in der Richtung der Coneystreet.

Diesmal versuchte Hauptmann Wragge nicht, ihm zu folgen. Das Placat machte es ja handgreiflich klar, daß es die nächste Sorge des Mannes war, mit dem Rechtsanwalt des Ortes in Betreff der verheißenen Belohnung die nöthige Rücksprache zu nehmen.

Der Hauptmann lenkte nun, nachdem er für seinen nächsten Zweck genug gesehen und gehört hatte, seine Schritte die Straße abwärts, wandte sich rechts und bog in die Promenade ein, welche in jenem Theile der Stadt die Flußseite zwischen den Flußbädern und dem Lendal Tower begrenzt.

—— Dies ist ja eine Familienangelegenheit! sagte Hauptmann Wragge zu sich selbst, indem er aus alter eingewurzelter Gewohnheit bei der Anmaßung einer Verwandtschaft mit Magdalenens Mutter beharrte. Ich muß sie nach ihrer ganzen Tragweite ins Auge fassen.

Er drückte den Regenschirm unter seinen Arm, faltete die Hände auf dem Rücken zusammen und ließ sich so in den Abgrund seiner eigenen Betrachtungen sanft hinuntergleiten. Die gewisse Ordnung und Sauberkeit, die man an des Hauptmanns Kleidung wahrnehmen konnte, hatte ihr genaues Ebenbild in der Ordnung und Sauberkeit, welche den Gedankengang des Hauptmanns auszeichneten. Es war seine Gewohnheit, seinen Weg vor sich immer durch eine hübsche Aufeinanderfolge von Entweder-Oder zu sehen, und so sah er ihn auch jetzt.

Drei Wege standen ihm offen bezüglich der bedeutenden Entdeckung, welche er so eben gemacht hatte.

Der erste war, in der Sache gar Nichts zu thun.

Unzulässig aus Familiengründen, gleichfalls unzulässig wegen des Geldpunctes: also zu verwerfen.

Der zweite Weg war, sieh den Dank der Freunde der jungen Dame im Werthe von fünfzig Pfund zu verdienen.

Der dritte Weg war, durch eine zeitige Warnung den Dank der jungen Dame selbst zu verdienen, ersterer im Werthe —— einer unbekannten Größe.

Zwischen diesen beiden letzten Scheidewegen schwankte der Hauptmann unentschlossen hin und her. Nicht als ob er in Magdalenens Geldmittel einen Zweifel gesetzt hätte; denn er war vollständig unbekannt mit den Umständen, welche die Schwestern ihres Erbtheils beraubt hatten: allein in Folge des Zweifels, ob nicht mit ihrem Verschwinden von zu Hause irgend ein Hinderniß in Gestalt eines sich im Hintergrunde verhaltenden Herrn in Zusammenhange stehe. Nach reiflicher Ueberlegung entschloß er sich, vorläufig noch zu warten und nach den Umständen zu handeln. Mittlerweile war es sein erstes Augenmerk, dem Londoner Bevollmächtigten zuvor zu kommen und selber die junge Dame sicher mit Beschlag zu belegen.

—— Ich habe für dieses irregeleitete Mädchen ein Mitgefühl, dachte der Hauptmann bei sich, indem er dabei feierlich die einsame Flußseite auf- und abschritt. Ich habe sie immer angesehen, —— werde sie immer ansehen —— als eine Nichte.

Wo aber war die dergestalt von ihm adoptierte Verwandte in diesem Augenblicke? Mit anderen Worten, wie konnte eine junge Dame in der kritischen Lage Magdalenens aller Wahrscheinlichkeit nach bis zur Rückkehr von Mr. Huxtable die Stunden hinbringen? Wenn ein Hinderniß in Gestalt eines jungen Herrn im Hintergrunde verborgen war, so war es ein müßiges Beginnen, diese Frage weiter zu verfolgen. Aber wenn die Andeutung, welche das Placat gab, richtig, wenn sie diesen Augenblick in York wirklich allein war, wo konnte sie da wohl sein?

Nicht in den überfüllten Passagen, um damit anzufangen.

Auch nicht bei der Besichtigung der merkwürdigen Gegenstände im Münster, denn die Stunde war schon vorüber, in der man den Dom sehen konnte.

War sie im Wartezimmer der Eisenbahn? Sie würde wohl kaum Dies wagen.

War sie in einem der Hotels? Zweifelhaft, wenn man erwägt, daß sie ganz allein war.

In einem Pastetenbäckerladen? Viel wahrscheinlicher.

Ließ sie sich in einem Cab umherfahren? —— Möglich gewiß, aber auch weiter Nichts.

Brachte sie an irgend einem ruhigen Orte im Freien die Zeit hin? Wahrscheinlich genug an jenem schönen Herbstabende.

Der Hauptmann hielt inne, wog die Möglichkeiten des Aufenthaltes an einem stillen Orte und des Besuches in einem Pastetenladen bei sich ab und entschied sich für die erstere von den Beiden. Es war Zeit genug, sie in den Pastetenläden aufzusuchen, in den ersten Hotels nach ihr zu fragen, oder endlich in der unmittelbaren Nähe von Mr. Huxtables Wohnung von Sieben bis Acht sie abzufangen. so lange es hell war, war das Gescheidteste, das Tageslicht zu benutzen, um sich im Freien nach ihr umzuschauen.

Wo? — Die Promenade war ein ruhiger Ort, aber sie war nicht darauf, nicht in der einsamen Straße drüben, welche an dem Abteiwall vorüber zurücklief.

Wo dann?

Der Hauptmann blieb stehen und sah über den Fluß. Da leuchtete sein Gesicht auf, als ob ihm ein neuer Gedanke gekommen wäre, und plötzlich eilte er zur Fähre zurück.

—— Der Spaziergang auf den Wällen, dachte dieser pfiffige Mann und zwinkerte dabei schlau mit seinen verschiedenfarbenen Augen. —— Der ruhigste Ort in York und der Ort, den jeder Fremde aufsucht.

Nach Verlauf von zehn Minuten befand sich Hauptmann Wragge in voller Thätigkeit aus seinem neuen Forschungsfelde. Er stieg zu den Wällen hinauf, welche die ganze westliche Hälfte der Stadt einschließen, durch die Northstreet-Pforte, von welcher an der Spaziergang rund umläuft, bis er wieder am Südende in dem engen Durchgange des Rosmaringäßchens aufhört.

Es war jetzt zwanzig Minuten über sechs Uhr.

Die Sonne war seit länger, als einer halben Stunde untergegangen, das rothe Licht lag breit und tief unten aus dem wolkenlosen westlichen Himmel; alle sichtbaren Gegenstände schwebten in duftigem Zwielichte, waren aber noch nicht im Dunkel. Die ersten wenigen Lampen blickten in der Straße unten herauf, gleich schwachen kleinen Fünkchen gelben Lichts, als der Hauptmann seinen Gang an einer der ergreifendsten Aussichten Englands vorüber antrat.

Zu seiner rechten Hand breitete sich, je weiter er kam, unter den Wällen das flache Land aus, die reichen grünen Wiesen, dazwischen die Bäume als Grenzlinien der Fluren, in der Ferne die weiten Windungen des Flusses, in der Nähe die einzeln hingestreuten Häuser: Alles entzückend in der Abendstille, Alles verklärt durch die friedliche Ruhe des Abends. Zu seiner Linken hob sich der majestätische westliche Giebel des Yorker Münster hehr über die Stadt empor und fing das letzte und hellste Licht des Himmels auf den Spitzen seiner hochragenden Thürme auf.

Hatte dieser erhabene Anblick das verlorene Mädchen angelockt, um hier zu weilen und zu schauen?

Nein, bis jetzt war nirgends Etwas von ihm zu sehen. Der Hauptmann sah sich aufmerksam um und ging weiter.

Er erreichte die Stelle, wo die Schienen der Eisenbahn sich auf mächtigen Pfeilern ihren Weg durch den alten Wall bahnen. Er hielt an dieser Stelle an, wo das Alles in seinen Mittelpunct ziehende Leben eines großen Eisenbahnunternehmens mit all den Pulsen seines laut rauschenden Treibens lärmend circulirt an der Seite der todten Majestät der Vergangenheit, tief unter den alten historischen Steinen, die da erzählen von dem festen York und den Berennungen desselben vor zwei Jahrhunderten. Er stand aus dieser Stelle und suchte nach ihr abermals, suchte aber vergebens. Andere waren da und schauten hernieder auf die trostlose Geschäftigkeit auf dem Gewirre der Schienen, sie aber war nicht unter ihnen. Der Hauptmann schaute unsicher nach dem immer dunkler werdenden Himmel und schritt weiter.

Er hielt wieder an, wo die Pforte von Micklegate noch steht und jetzt wie vor Alters den Stadtwall schützt. Hier steigt der Pflasterweg einige Stufen hinunter, geht durch das dunkle massive Wachlocal des alten Thores, steigt wieder und setzt seinen Lauf südwärts fort, bis die Wälle wieder an den Fluß treten.

Er machte Halt und spähte ängstlich in die düsteren inneren Winkel des alten Wachlocals.

Wartete sie hier die Dunkelheit ab, um sich vor den Augen der Neugierigen zu bergen?

Nein, ein einsamer Arbeitsmann schlenderte durch das Steingemach, aber sonst regte sich nichts Lebendiges an diesem Orte.

Der Hauptmann stieg die Stufen hinan, welche aus der Pforte führen, und schritt weiter.

Er ging einige fünfzig bis sechzig Schritte auf dem gepflasterten Fußwege fort, auf der einen Seite neben sich die äußeren Vorstädte Yorks, auf der andern eine Seilerbahn und einige Stückchen Küchengarten, die ein leeres Streifchen Boden einnahmen.

Er ging mit eifrig suchenden Augen und beschleunigten Schritten vorwärts, denn dort vorn sah er eine einsame Frauengestalt, welche an der Brustwehr des Walles stand, mit dem Gesichte nach Westen gewendet. Vorsichtig näherte er sich ihr, um seiner Sache gewiß zu sein, ehe sie sich umwendete und ihn sah.

Ja, da stand sie in ihrem langen schwarzen Mantel und Kleide, und das letzte düstere Licht des Abends fiel, mild auf ihr blasses entschlossenes jugendliches Angesicht.

Da stand sie, vor noch nicht drei Monden der verwöhnte Liebling ihrer Aeltern, der köstliche Schatz des Hauses, der nimmer ohne Schutz, nimmer allein gelassen war, da stand sie im lieblichen Aufgange ihrer Jungfräulichkeit, verlassen, hineingeschneit in eine fremde Stadt, hinaus getrieben wie ein Wrack in die weite See des Lebens!

So sehr auch Hauptmann Wragge zum Vagabunden herabgesunken war, ihr erster Anblick brachte sogar die schwer zu erschütternde Sicherheit unseres Mannes außer Fassung. Als sie langsam das Gesicht wandte und ihn ansah, nahm er denn auch seinen Hut ab so aufrichtig achtungsvoll, als er eben in seiner unverschämten Dreistigkeit, die ihn durchs ganze Leben begleitet hatte, noch fähig war.

—— Ich habe, glaube ich, die jüngere Miss Vanstone vor mir? begann er. Freut mich außerordentlich in der That aus mehr denn einem Grunde.

Sie sah ihn mit kalter Verwunderung an. Die Erinnerung an den Tag, wo er ihrer Schwester und ihr selbst auf ihrem Heimwege mit Miss Garth gefolgt war, war ihr entschwunden, als er jetzt vor ihr stand, allerdings in Haltung, Benehmen und Kleidung ein ganz Anderer.

—— Ich denke, Sie irren sich, sagte sie ruhig. Sie sind mir ganz fremd.

—— Verzeihen Sie, versetzte der Hauptmann, ich bin gewissermaßen ein Verwandter. Ich hatte die Ehre, Sie im Frühlinge dieses Jahres zu sehen. Ich stellte mich bei jener mir unvergeßlichen Gelegenheit einer ehrenwerthen Lehrerin in Ihres seligen Vaters Hause vor. Gestatten Sie mir unter ebenfalls sehr erfreulichen Umständen, mich Ihnen vorzustellen. Mein Name ist Wragge.

Er hatte nunmehr seine ganze Unverschämtheit wiedergewonnen. Fröhlich zwinkerten seine doppelfarbenen Augen, und dabei begleitete er die bescheidene Vorstellung seiner selbst mit einer Tanzmeisterverbeugung.

Magdalene runzelte die Stirn und zog sich einen Schritt zurück. Aber der Hauptmann war nicht der Mann, der sich durch einen kalten Empfang abschrecken ließ. Er klemmte den Regenschirm unter den Arm und buchstabierte lustig seinen Namen zu ihrer bessern Aufklärung.

—— W, r, a, doppeltes g, e, Wragge, sagte der Hauptmann, indem er überdies die Buchstaben eindringlich an den Fingern herzählte.

—— Ich erinnere mich Ihres Namens, sagte Magdalene. Entschuldigen Sie, wenn ich Sie sofort verlassen muß. Ich habe zu thun.

Sie versuchte an ihm vorüber zu gehen, um sich nordwärts nach der Eisenbahn hin zu wenden. Er legte sogleich gegen diesen Versuch Verwahrung ein, indem er beide Hände und ein Paar abgetragene schwarze Handschuhe zu höflichem Widerspruche erhob.

—— Nicht jenen Weg, sagte er, nicht jenen Weg, Miss Vanstone, muß ich bitten.

—— Und warum nicht? fragte sie stolz.

—— Weil, antwortete der Hauptmann, dies der Weg ist, der zu Mr. Huxtables Wohnung führt.

In dem unverhohlenen Erstaunen über diese Antwort, beugte sie sich plötzlich vor und sah ihm zum ersten Male näher ins Gesicht. Er hielt ihren argwöhnischem forschenden Blick aus und schien äußerlich sogar sehr angenehm davon berührt.

—— H, u, x, —— Hux, sagte der Hauptmann, indem er fröhlich seinen alten Scherz wiederholte, t, a, —— ta, Huxta; b, l, e, —— ble; Huxtable.

—— Was wissen Sie von Mr. Huxtable? fragte sie. Was wollen Sie damit sagen, das; Sie ihn mir nennen?

Des Hauptmanns süß geschwungene Lippen kräuselten sich aufs Neue aufwärts. Er gab sofort durch Vorziehen des Placats aus seiner Tasche die beste praktische Antwort.

—— Es ist gerade Licht genug übrig, sagte er, für junge (und liebenswürdige) Augen, um noch dabei lesen zu können. Bevor ich in das Persönliche entgehe, welches Ihre schmeichelhafte Frage von mir beantwortet wissen will, bitte ich, schenken Sie dieser Urkunde auf einen Blick Ihre Aufmerksamkeit.

Sie nahm das Placat von ihm. Beim letzten Scheine des Zwielichts las sie die Zeilen, welche eine Belohnung auf ihre Entdeckung setzten, welche eine Beschreibung von ihr wie von einem entlaufenen Hunde in unbarmherzigem Druck zu schnöder Oeffentlichkeit brachten. Keine zarte Erwägung hatte sie auf den Schlag vorbereitet, keine freundlichen Worte milderten ihn, als er kam. Der Vagabund, dessen verschmitzte Augen sie eifrig beobachteten, als sie las, wußte ebenso wenig, als sie, daß das Placat, das er entwendet hatte, ja nur für den schlimmsten Ausgang in Bereitschaft gehalten war und nur für den Fall, wenn alle gemäßigteren Mittel, ihre Spur zu verfolgen, vergeblich versucht worden wären, zur Ausgabe gelangen sollte. Das Placat entsank ihrer Hand, ihr Gesicht überzog sich mit tiefer Röthe Sie wandte sich von dem Hauptmann Wragge weg, als ob sie gar nicht mehr wüßte, daß er noch da wäre.

—— O Nora, Nora! sagte sie vor sich hin mit bitterem Schmerz. Nach dem Briefe, den ich Dir schrieb, nach dem harten Kampfe, den es mich kostete, wegzugehen. O Nora, Nora!

—— Was ists mit Nora? fragte der Hauptmann mit der äußersten Höflichkeit.

Sie wandte sich zu ihm mit dem Ausdrucke auflodernden Unwillens in ihren großen grauen Augen.

—— Ist dies Papier öffentlich geworden? fragte sie, indem sie es mit Füßen trat. Ist das Mal auf meinem Nacken für ganz York beschrieben worden?

—— Ich bitte, beruhigen Sie sich, redete ihr der salbungsreiche Wragge ein. Im Augenblicke glaube ich allen Grund zu haben, annehmen zu dürfen, daß Sie eben das einzige in Umlauf gekommene Exemplar gelesen haben. Erlauben Sie mir, es aufzuheben.

Bevor er das Papier erfassen konnte, hatte sie es vom Pflaster aufgerafft, in kleine Stücke zerrissen und über den Wall geworfen.

—— Bravo! rief der Hauptmann. Sie erinneren mich an Ihre, arme selige Mutter. Familienzug, Miss Vanstone. Wir Alle erbten unser heißes Blut von meinem Großvater mütterlicherseits.

—— Wie kamen Sie dazu? fragte sie plötzlich.

—— Mein theures Wesen, ich habe Ihnen schon gesagt, entgegnete ihr der Hauptmann, wir Alle kommen dazu von meinem Großvater mütterlicherseits.

—— Wie kamen Sie zu dem Placate?! fragte sie heftig.

—— Ich bitte tausend Mal um Verzeihung. Meine Gedanken waren bei dem Familienzug. —— Wie ich dazu kam? Ganz kürzlich folgendermaßen.

Hier begann Hauptmann Wragge seine persönliche Angabe, indem er wie gewöhnlich die längsten Worte der englischen Sprache zu schönster rednerischer Verbrämung mit wenig Witz und viel Behagen zusammensuchte. Da er bei dieser seltenen Gelegenheit durch Verheimlichung Nichts zu gewinnen hatte, so ging er von seiner gewöhnlichen Weise ab und erlaubte sich mit dem Ausdrücke seines eigenen außerordentlichen Erstaunens über seine Lage die ungeschminkte Wahrheit zu sagen.

Die Wirkung der Erzählung auf Magdalenen erfüllte indessen keineswegs die darüber vorausgefaßten Erwartungen desselben. Sie war nicht betroffen, sie war nicht beunruhigt, sie zeigte keine Neigung, sich seinem Mitleid anzuvertrauen und seinen Rath zu suchen. Sie sah ihm fest ins Angesicht. Alles, was sie sagte, als er seinen letzten Satz mit schöner Rundung herausgedrechselt hatte, war:

—— Fahren Sie fort!

—— Fortfahren? wiederholte der Hauptmann. Bedaure sehr, Sie darüber enttäuschen zu müssen, aber in der That, ich bin fertig.

—— Nein, Sie sind es noch nicht, begann sie wieder; Sie haben das Ende Ihrer Geschichte ausgelassen. Das Ende davon ist: Sie kamen hierher, um mich auszuspähen, und Sie wollen die fünfzig Pfund Belohnung gewinnen.

Diese sehr deutlichen Worte verblüfften den Hauptmann so vollständig, daß er für den Augenblick sprachlos dastand. Aber er hatte allerhand schlimme Wahrheiten viel zu oft anhören müssen, als daß er auf die Länge nicht hart gesotten geworden sein sollte. Ehe Magdalene ihren Vortheil wahrnehmen konnte, hatte der Vagabund sein Gleichgewicht wieder erlangt: Wragge war wieder er selber.

—— Schlau, sagte der Hauptmann, indem er gutmüthig lachte und mit seinem Regenschirm auf dem Pflaster trommelte. Einige Menschen hätten das wohl ernst genommen. Ich bin so leicht nicht zu beleidigen.

Magdalene sah ihn durch das hereinbrechende Dunkel in stummer Verlegenheit an. Alle ihre bisherige geringe gesellschaftliche Erfahrung war eine Erfahrung unter Menschen gewesen, welche ein natürliches Gefühl für Ehre und Rücksicht auf gesellschaftliche Stellung befassen. Sie hatte bis dahin nur das erfolgreiche menschliche Ergebniß großartig wirkender Gesittung gesehen. Hier hatte sie es mit einer Ausgeburt zu thun, und trotz aller ihrer Lebhaftigkeit war sie in Verlegenheit, wie sie sich dabei zu verhalten hatte.

—— Erlauben Sie mir, auf den Gegenstand zurückzukommen, fuhr der Hauptmann fort. Es ist mir eben eingefallen, daß Sie vielleicht wirklich im Ernst gesprochen haben könnten. Armes Kind, wie kann ich die fünfzig Pfund verdienen, bevor die Belohnung mir angeboten wird? Jene Placate werden vielleicht nicht eher, als nach Verlauf einer Woche öffentlich angeschlagen. So theuer Sie auch allen Ihren Verwandten (mich mit gerechnet) sind, so nehmen Sie doch mein Wort darauf, die Advokaten, welche diesen Fall in den Händen haben, werden nicht fünfzig Pfund für Sie zahlen, wenn sie es umgehen können. Glauben Sie so sicher, daß meine armen Taschen nach dem Gelde hungrig sind? Sehr gut. Knöpfen Sie sie auf mit Ihren eignen schönen Fingern, mir zum Trotz. Dort geht ein Zug nach London neun Uhr fünfundvierzig Minuten Abends. Fügen Sie sich den Wünschen Ihrer Freunde und gehen Sie zurück zu ihnen.

—— Nimmermehr! sagte Magdalene, indem sie bei der bloßen Zumuthung so aufflammte, wie es der Hauptmann darauf angelegt hatte. Wenn mein Geist vorher noch nicht einig gewesen wäre, jenes elende Placat würde meinen Entschluß unwiderruflich befestigt haben. Ich vergebe Nora, fügte sie abgewendet und mit sich selber sprechend hinzu, aber nicht Mr. Pendril, nicht Miss Garth.

—— Ganz recht! bemerkte Hauptmann Wragge. Der Familienzug, ich würde es in Ihrem Alter ebenso gemacht haben, es liegt im Blute. Hören Sie? Da schlägt es wieder, halb acht Uhr. Miss Vanstone, verzeihen Sie diese nothgedrungene Unterbrechung. Wenn Sie Ihren Entschluß ausführen wollen, wenn Sie Ihr eigener Herr recht lange bleiben wollen, so müssen Sie vor acht Uhr irgend einen Entschluß fassen. Sie sind jung, Sie sind unerfahren, Sie sind in augenscheinlicher Gefahr. Hier ist auf der einen Seite eine dringende Nothwendigkeit, und da auf der andern bin ich mit dem Interesse eines Onkels an Ihnen, bis an den Rand mit guten Rath gefüllt. Lassen Sie sich welchen einschenken.

—— Wenn ich nun aber vorzöge, von Niemandem abzuhängen und für mich selbst zu handeln? sagte Magdalene Was dann?

—— Dann werden Sie, versetzte der Hauptmann, geradenwegs in einen der vier Fallstricke, welche gelegt sind, Sie zu fangen, in der alten und merkwürdigen Stadt York fallen. Erster Fallstrick in Mr Huxtables Wohnung. Zweiter Fallstrick in allen Hotels. Dritter Fallstrick an der Eisenbahn. Vierter Fallstrick im Theater. Der Mann mit den Placaten hat eine Stunde zu seiner Verfügung gehabt. Wenn er in dieser Zeit nicht diese vier Schlingen gelegt hat, versteht sich unter dem Beistande des Advocaten am Orte, so ist er nicht der geriebene Schreiber des Rechtsanwaltes, für den ich ihn halte. Wolan, wolan denn, Sie theures Mädchen! Wenn aber irgend Jemand anders im Hintergrunde ist, dessen Rath Sie dem meinigen vorziehen ....

—— Sie sehen, daß ich allein bin, unterbrach sie ihn stolz. Wenn Sie mich besser kennten, würden Sie wissen, daß ich von Niemand als von mir selber abhänge.

Diese Worte entschieden den einzigen Zweifel, den der Hauptmann noch in der Seele behalten hatte, den Zweifel, ob der von ihm einzuschlagende Weg glatt für ihn wäre. Der Beweggrund ihrer Flucht vom Hause war also ersichtlich, wie das Placat es auch angenommen hatte, eine unbändige Leidenschaft, zum Theater zu gehen.

—— Eines von Beiden, dachte Wragge bei sich nach seiner Logik, entweder ist sie mehr als fünfzig Pfund in ihrer gegenwärtigen Lage für mich Werth, oder sie ist es nicht. Wenn sie es ist, so mögen nur ihre Freunde nach ihr pfeifen. Wenn sie es nicht ist, so habe ich sie nur so lange festzuhalten, bis die Placate angeschlagen sind.

Nachdem er sich durch diesen einfachen Plan zum Handeln innerlich gestärkt hatte, schritt er aufs Neue zum Angriff und stellte höflich Magdalenen gegenüber den zwei unvermeidlichen Möglichkeiten, entweder sich ihm anzuvertrauen auf der einen Seite, oder zu ihren Freunden zurückzukehren auf der andern Seite.

—— Ich achte und ehre Unabhängigkeit des Charakters, wo ich sie finde, sagte er mit einer Miene tugendsamen Ernstes. Bei einer jungen und liebenswürdigen Verwandten thue ich mehr als sie bloß achten, ich bewundere sie. Allein —— entschuldigen Sie die kühne Versicherung —— um Ihren eigenen Weg gehen zu können, müssen Sie zuerst überhaupt einen Weg haben. Unter den jetzigen Umständen, wo ist Ihr Weg? Mr. Huxtable bleibt von vornherein außer Frage.

—— Fiir heute Abend allerdings außer Frage, sagte Magdalene; aber was hindert mich, an Mr. Huxtable zu schreiben und morgen meine eigenen geheimen Abreden mit ihm zu nehmen?

Von ganzem« Herzen zugegeben, ein guter Zug, ein sehr praktischer Zug. Nun komme ich daran. Um auf Morgen zu kommen (entschuldigen Sie noch einmal den kühnen Ausdruck), müssen Sie erst die Nacht zubringen. Wo wollen Sie schlafen?

—— Gibt es keine Hotels in York?

—— Vortreffliche Hotels für große Familien, vortreffliche Hotels für einzelne Herren. Aber die allerschlechtesten Hotels von der Welt für hübsche junge Damen, welche sich allein in der Thür zeigen, ohne männliche Begleitung, ohne ein Mädchen zur Bedienung und ohne ein einziges Gepäckstück. So dunkel es auch ist, so glaube ich doch einen Damenkoffer sehen zu können, wenn er in unserer unmittelbaren Nähe wäre.

—— Mein Koffer ist in der Garderobe des Bahnhofs. Was hindert mich, daß ich das Billet dazu schicke?

—— Nichts, wenn Sie Ihre Adresse mittels Ihres Koffers mittheilen wollen, Nichts weiter. Denken Sie doch, ich bitte Sie! Glauben Sie denn nur wirklich, daß die Leute, welche nach Ihnen suchen, solche Narren sind, kein Auge auf die Garderobe zu haben? Denken Sie, sie wären solche Narren, wenn sie merken, daß Sie heute acht Uhr nicht zu Mr. Huxtables Wohnung kommen, und forschten nicht in allen Hotels nach? Denken Sie, eine junge Dame von Ihrem auffallenden Aeußern (selbst gesetzt den Fall, man nähme Sie doch auf) könnte ihren Aufenthalt in einem Gasthofe nehmen, ohne ein Gegenstand allgemeiner Neugierde und Beobachtung zu werden? Hier bricht die Nacht herein, so schnell sie kann. Lassen Sie mich Sie nicht etwa belästigen, nein, lassen Sie mich Sie nur noch ein Mal fragen: Wo wollen Sie schlafen?

Es gab keine Antwort auf die Frage. In Magdalenens Lage erfolgte ihrerseits in der That buchstäblich keine Antwort, sie schwieg.

—— Wo wollen Sie schlafen? wiederholte der Hauptmann. Die Antwort liegt nahe: unter meinem Dache. Mrs. Wragge wird erfreut sein, Sie kennen zu lernen. Sehen Sie dieselbe als Ihre Tante an, ich bitte, sehen Sie dieselbe als Ihre Tante an. Die Wirthin ist eine Witwe, das Haus ist ganz in der Nähe, es sind keine anderen Abmiether im Hause, und ein Schlafzimmer ist frei. Kann Etwas befriedigender sein unter den Umständen? Ich bitte, bemerken Sie wohl, ich sage Nichts von morgen, ich überlasse das Morgen Ihnen und beschränke mich lediglich auf die Nacht. Ich habe vielleicht, vielleicht auch nicht Gelegenheit zum Theater zu bieten. Zuneigung und Bewunderung vermögen vielleicht, vielleicht auch nicht viel über mich, wenn ich den hohen Flug und die Selbständigkeit Ihres Charakters kenne. Schaaren von Beispielen glänzender Sterne des britischen Schauspiels, welche ihre Laufbahn als Anfänger auf der Bühne begannen, wie Sie, sind vielleicht, vielleicht auch nicht in meiner Erinnerung aufgespeichert. Das sind Stoffe für die Zukunft. Für den Augenblick beschränke ich mich auf mein engeres Pflichtmaß. Wir sind nach einem Gange von fünf Minuten in meiner gegenwärtigen Wohnung. Erlauben Sie mir, Ihnen den Arm zu bieten. Nicht? Sie zögern? Sie mißtrauen mir? Guter Himmel! Ist es möglich, daß Sie Etwas zu meinem Nachtheil gehört haben?

—— Sehr möglich, sagte Magdalen, ohne einen Augenblick mit der Antwort zu zögern.

—— Darf ich Sie um das Nähere fragen? forschte der Hauptmann mit der höflichsten Ruhe. Schonen Sie mein Gefühl nicht; verpflichten Sie mich zu Danke, indem Sie sich aussprechen. In deutlichen Worten, was haben Sie gehört?

Sie antwortete ihm nicht achtend der Folgen mit der verzweifelten Rücksichtslosigkeit eines Weibes, das in die Enge getrieben wird, sie antwortete ihm augenblicklich:

—— Ich habe gehört, daß Sie ein erbärmlicher Mensch sind.

—— Haben Sie Das wirklich gehört? sagte der undurchdringliche Wragge. Ein erbärmlicher Mensch? Gut. Ich erspare mir mein Recht, Sie darüber aufzuklären, für eine bessere Zeit. Um des Argumentes willen lassen Sie uns also sagen, ich sei ein Erbärmlicher. Was ist Mr. Huxtable?

—— Ein ehrenhafter Mann, sonst hätte ich ihn in dem Hause nicht gesehen, wo ich ihn zuerst getroffen.

—— Sehr gut, Nun merken Sie auf! Sie sprachen vor einer Minute davon, Mr. Huxtable zu schreiben. Was denken Sie thut wohl ein ehrenhafter Mann mit einer jungen Dame, die offen anerkennt, daß sie aus ihrem Hause und von ihren Freunden sich entfernt hat, um auf die Bühne zu gehen. Mein liebes Mädchen, nach Ihrer eigenen Darstellung ist es nicht ein ehrenhafter Mann, den Sie bei Ihrem jetzigen Anliegen brauchen. Es ist ein Elender, wie ich.

Magdalene lachte bitter.

—— Es ist etwas Wahres dran, sagte sie. Ich danke Ihnen, daß Sie mich wieder zu mir selbst, auf meine Lage zurück gebracht haben. Ich habe mein Schicksal zu schaffen —— und wer bin ich, daß ich den Weg der dazu führt, sorgsam suche und wählerisch auslese? Es ist an mir, um Verzeihung zu bitten. Ich habe gesprochen, als ob ich eine junge Dame von Familie und Stellung wäre. Abgeschmackt! Wir wissen Das besser, nicht wahr, Hauptmann Wragge? Sie haben ganz recht. Niemandes Kinder müssen unter Jemandes Dache schlafen, und warum nicht unter dem Ihrigen?

—— Diesen Weg, sagte der Hauptmann, indem er geschickt die plötzliche Veränderung ihrer Stimmung wahr nahm und schlau sich hütete, dieselbe zu übertreiben, dadurch daß er noch Ewas hinzufügte. Diesen Weg.

Sie folgte ihm wenige Schritte hinterdrein und blieb plötzlich stehen.

—— Wenn ich nun aber schon entdeckt wäre? brach sie plötzlich heraus. Wer hat irgend welche Gewalt über mich? Wer kann mich mit zurücknehmen, wenn ich nicht einwillige zu gehen? Wenn Sie mich morgen Alle finden, was dann? Kann ich Nein sagen zu Mr. Pendril? Kann ich meinem Muthe vertrauen gegenüber Miss Garth?

—— Können Sie stark genug sein gegenüber Ihrer Schwester? flüsterte der Hauptmann, der die zwei Mal ihr entschlüpften Anspielungen auf Nora nicht entgangen waren. Ihr Haupt senkte sich. Sie schauderte zusammen, als ob die kalte Nachtluft sie berührt hätte, und lehnte sich müde gegen die Brustwehr des Walles.

—— Nein, nicht gegenüber Nora, sagte sie traurig. Ich könnte es mit den Anderen, nicht mit Nora.

—— Diesen Weg, wiederholte Hauptmann Wragge.

Sie erhob ich, sah auf zu dem dunklen Himmel, sah sich in der dunklen Aussicht um.

—— Was sein muß, muß sein, sagte sie und —— folgte ihm.

Die Münsteruhr schlug ein Viertel nach Sieben, als sie den Wallgang verließen und die Stufen ins Rosmaringäßchen herabstiegen. Fast im selben Augenblick gab der Advocatenschreiber aus London die letzten Weisungen für seine Untergebenen und nahm seinen Posten auf der entgegengesetzten Seite des Flusses im nahen Bereiche von Mr. Huxtables Wohnung ein.



Kapiteltrenner

Zweites Capitel.

Hauptmann Wragge hielt fast bei der Mitte der einen kleinen Häuserreihe an, aus welcher das Rosmaringäßchen bestand, und ließ sich und seinen Gast mittelst seines eigenen Schlüssels in seine Wohnung ein. Als sie in den Gang kamen, erschien eine kummervoll aussehende Frau mit einer Witwenhaube, in der Hand einen Leuchter.

—— Meine Nichte, sagte der Hauptmann, indem er Magdalenen vorstellte, meine Nichte auf Besuch in York. Sie ist so freundlich gewesen, mit Ihrer leeren Kammer vorlieb zu nehmen. Bemerken Sie wohl, wenn ich bitten darf, daß Sie sie meiner Nichte überlassen und besorgen Sie ja recht frische schöne Bettwäsche. Ist Mrs. Wragge oben? Sehr gut. Geben Sie mir gefälligst Ihr Licht einstweilen. Mein liebes Kind, Mrs. Wragges Empfangszimmer ist eine Treppe; Mrs. Wragge ist anwesend. Erlauben Sie mir, Ihnen den Weg zu zeigen.

Da er die Treppe voran hinaufstieg, so wußte die kummervolle Witwe Magdalenen die klägliche Bitte zuzuraunen:

—— Ich hoffe, Sie werden mich bezahlen, Miss. Ihr, Oheim zahlt nicht.

Der Hauptmann öffnete die Thür des vorderen Zimmers im ersten Stock und zeigte eine weibliche Gestalt, welche in einem verschossenen bernsteingelben Atlaskleide einsam auf einein kleinen Stuhle saß, mit schmutzigen alten Handschuhen angethan auf den Knieen ein abgegriffenes altes Buch, neben sich ein kleines Kammerlämpchen. Die Gestalt endigte am obern Ende mit einem großen glatten, weißen runden Gesichte, wie ein Mond, eingefaßt mit einer Haube und grünen Bändern und spärlich belebt durch Augen von einem sanften und nichtssagenden Blau, welche vorwärts ins Leere schauten und nicht die geringste Notiz von Magdalenens Erscheinen in der offenen Thür nahmen.

—— Mrs. Wragge! schrie der Hauptmann indem er sie anrief, als ob, sie fest eingeschlafen sei, Mrs. Wragge!

Die Dame mit den nichtssagend blauen Augen erhob sich langsam zu einer anscheinend kein Ende nehmenden Große. Als sie endlich eine aufrechte Stellung erreicht hatte, hatte sie sich dergestalt zu einer Höhe von zwei bis drei Zoll über sechs Fuß aufgethürmt. Riesen beiderlei Geschlechts sind durch eine weise Anordnung der Vorsehung meistentheils sehr sanfter Natur. Wenn Mrs. Wragge und ein Lamm neben einander gestellt worden wären, so würde die Vergleichung unter solchen Umständen das Lamm als einen Umstürzler der natürlichen Ordnung hingestestellt haben.

—— Thee, mein Lieber? fragte Mrs. Wragge, indem sie mit Unterwürfigkeit herabschaute auf ihren Eheherrn, dessen Kopf, wenn er sich auf die Zehen stellte, mit knapper Noth ihre Schultern erreichte.

—— Miss Vanstone, die jüngere, sagte der Hauptmann, indem er Magdalenen vorstellte. Unsere schöne Verwandte, welche ich durch einen glücklichen Zufall angetroffen habe. Unser Gast für die Nacht. Unser Gast! wiederholte der Hauptmann, indem er noch einmal schrie, als ob die große Dame schon wieder fest schliefe trotz des offenen Zeugnisses ihrer beiden Augen vom Gegentheil.

Ein Lächeln sprach sich, allerdings nur in schwacher Andeutung, auf dem großen leeren Zifferblatte von Mrs. Wragges Antlitz aus.

—— Ach so? sagte sie mit fragendem Tone. Ach wirklich? Ist’s Ihnen gefällig, Miss, Platz zu nehmen? Ich bin trostlos, —— nein, ich meine nicht, daß ich trostlos bin, ich meine, ich bin erfreut....

Sie hielt inne und sah ihren Eheherrn mit einem verlegenen, hilfesuchenden Blicke an.

—— Erfreut natürlich! schrie der Hauptmann.

—— Erfreut natürlich! wiederholte die Riesin im amberfarbenen Atlas noch zahmer als gewöhnlich.

—— Mrs. Wragge ist nicht taub, setzte der Hauptmann erklärend hinzu. Sie ist nur etwas langsam Von Begriffen, von vorherrschend schläfriger Anlage, wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf. Ich spreche lediglich deßwegen etwas laut mit ihr —— und ich bitte, Sie wollen mir die Ehre geben, ebenfalls laut zu reden ——, weil dies ein nothwendiger Sporn für ihren langsamen Gedankengang ist. Schreien Sie sie ein wenig an, und sofort wird ihr Geist auf die rechte Bahn gelenkt. Sprechen Sie aber mit ihr im gewöhnlichen Tone, sofort wird sie meilenweit von Ihnen hinweg schweifen. Mrs. Wragge!

Mrs. Wragge ging augenblicklich aus den Sporn ein.

—— Thee, mein Lieber? frug sie zum andern Mal.

—— Setze Deine Haube gerade! schrie der Gatte. —— Ich bitte tausend Mal um Vergebung, begann er wieder, zu Magdalenen gewandt. Die traurige Wahrheit ist, ich bin ein Sklave meines eigenen Ordnungssinnes. Alles Unzeitige, jeder Verstoß gegen Ordnung und Regelmäßigkeit verursacht mir das allerlebhafteste Unbehagen. Meine Aufmerksamkeit ist abgezogen, meine Ruhe ist zerstört, ich kann nicht ruhen noch rasten, bis die Dinge wieder zurecht gebracht sind. Was das Aeußere anbetrifft, ist Mrs. Wragge zu meinem unendlichen Bedauern die verdrehteste Frau, mit der ich je zusammen gekommen bin. —— Noch mehr zurecht! schrie der Hauptmann, als Mrs. Wragge, wie ein wohlgezogenes Kind sich mit verbesserter Kopftracht dem kritischen Blicke des Gatten vorstellte.

Mrs. Wragge schob sofort die Haube nach links. Magdalene stand auf und setzte sie statt ihrer zurecht. Das Vollmondgesicht der Riesin erhellte sich zum ersten Male. Sie schaute mit Bewunderung Magdalenens Mantel und Hut an.

—— Lieben Sie die Kleider, Miss? fragte sie plötzlich in einem vertraulichen Flüstern. Ich liebe sie.

—— Zeige Miss Vanstone ihr Zimmer, sagte der Hauptmann, indem er dabei aussah, als gehörte ihm das ganze Haus. Das Fremdenzimmer, das Gastzimmer der Wirthin im dritten Stock nach vorn. Stelle Miss Vanstone alle Artikel zur Verfügung, welche ihre Toilette etwa benöthigt. Sie hat kein Gepäck bei sich. Leg zu, was ihr fehlt, und dann komm zurück und mache Thee.

Mrs. Wragge bekannte sich mittels eines Blickes von willfähriger Verwirrung zum Empfange dieser stolzen Befehle und begab sich aus dem Zimmer. Magdalene folgte ihr mit einem Licht, das ihr der aufmerksame Hauptmann gereicht hatte.

Sobald sie auf dem äußern Treppenabsatz allein waren, hob Mrs. Wragge das zerlumpte alte Buch, in welchem sie gelesen hatte, als Magdalene sich ihr zum ersten Male gezeigt hatte, und welches sie seitdem nicht aus der Hand gelegt hatte, und klopfte sich langsam damit vor die Stirn.

—— Ach, mein armer Kopf, sagte die große Frau in kleinlautem Selbstgespräch, das Schwirren ist wieder schlimmer als je vordem!

—— Das Schwirren? wiederholte Magdalene in ungemessenem Erstaunen.

Mrs. Wragge stieg die Treppe hinauf, ohne eine Erklärung von sich zu geben, hielt bei einem Zimmer des zweiten Stockes an und ging hinein.

—— Dies ist nicht das dritte Stock, sagte Magdalene, Dies ist also gewiß auch mein Zimmer nicht.

—— Warten Sie ein Bißchen, bat Mrs. Wragge. Warten Sie ein Bißchen, Miss, ehe wir höher hinausgehen. Ich habe das Schwirren in meinem Kopfe schlimmer als je. Warten Sie ein wenig, wenn Sie so gut sein wollen, bis ich ein wenig wohler bin.

—— Soll ich Hilfe holen? fragte Magdalene. Soll ich die Wirthin rufen?

—— Hilfe? wiederholte Mrs. Wragge, wie ein Echo. Gott vergelts Ihnen, aber ich brauche keine Hilfe. Ich bin es schon gewohnt. Ich habe das Schwirren in meinem Kopfe ab und zu gehabt, ach wie viele Jahre!...

Sie hielt inne, verlor den Zusammenhang und stellte plötzlich in Verlegenheit eine Frage.

—— Sind Sie ein Mal in Darchs Speisehause zu London gewesen? fragte sie mit dem Anschein der größten Spannung.

—— Nein, erwiederte Magdalene, verwundert über solch eine merkwürdige Frage.

—— Dort war’s, wo ich zuerst das Schwirren im Kopfe bekam, sagte Mrs. Wragge, indem sie mit der angestrengtesten Aufmerksamkeit und mit Eifer die neue Spur verfolgte. Ich war zur Bedienung der Herren in Darchs Speisehause angestellt, ja, ja. Die Herrn kamen alle zusammen; die Herrn hatten alle zusammen Hunger; die Herren gaben ihre Befehle alle zusammen...

Sie stockte und klopfte sich wieder verzweifelt mit dem zerlesenen Buche an die Stirn.

—— Und da hatten Sie alle Bestellungen in Ihrem Kopfe zu behalten, jede getrennt von der andern? fügte Magdalene hinzu, indem sie ihrem Gedankengange nachhalf. Und die Mühe, Solches zu bewerkstelligen, machte Sie verwirrt?

—— So ist es! sagte Mrs. Wragge und wurde in einem Augenblicke heftig aufgeregt. Schweinefleisch mit Gemüse und Erbsenpudding für Nummer Eins. —— Gedämpftes Rindfleisch mit Möhren und Stachelbeertorte für Nummer Zwei. —— Ein Stück Hammelbraten und Grünes darüber, gut durchgebraten und Viel Fett für Nummer Drei. —— Stockfisch mit Pastinaken, zwei Schnitt hinter einander weg, heiß, sehr heiß, sonst ist’s Ihr Tod für Nummer Vier. —— Fünf, Sechs, Sieben, Acht, Neun, Zehn. —— Möhren und Stachelbeertorte —— Erbsenpudding und sehr viel Fett —— Schweinefleisch, Rindfleisch und Hammel und Alles geschnitten und Grünes darüber —— Doppelbier für den Einen und Ale für den Andern —— altes Brod hier —— und frisch Brod dorthin —— dieser Herr liebt Käse und jener nicht —— Mathilde, Thildchen, Thildchen, Thildchen, fünfzig Mal in Einem fort, bis ich nicht mehr wußte, wie eigentlich mein Name war —— Ach Gott, ach Gott, ach Gott! Alle zusammen, Alle zur selbigen Zeit, Alle ohne Geduld, Alle um meinen armen Kopf schwirrend und summend wie vierzig Tausend Millionen Bienen. —— Sagen sie es dem Hauptmann nicht, sagen Sie’s dem Hauptmann nicht!

Das unglückliche Wesen ließ das alte zerlesene Buch fallen und schlug mit beiden Händen an den Kopf, den Blick mit hellem Schreck nach der Thür gewendet.

—— Still nur, still! sagte Magdalene. Der Hauptmann hat Sie nicht gehört. Ich weiß nun, wie es mit Ihrem Kopfe steht. Lassen Sie mich ihn kühlen.

Sie tauchte ein Handtuch ins Wasser und drückte es an den brennenden armen Kopf, welchen Mrs. Wragge mit der Gelehrigkeit eines kranken Kindes ihr hinhielt.

—— Was für eine hübsche Hand Sie haben, sagte das beklagenswerthe Geschöpf, als es durch die Kühlung Erleichterung fühlte, und nahm Magdalenens Hand mit Bewunderung in die eigene. —— Wie weich und weiß sie ist! Ich versuche auch, eine Dame zu sein; ich behalte immer die Handschuhe an, aber ich kann meine Hände nicht so bekommen, wie die Ihrigen. Ich bin aber doch hübsch gekleidet, nicht wahr? Ich liebe Kleider: es ist ein Trost für mich. Ich bin immer recht froh, wenn ich meine Sachen ansehe. Ich meine —— werden Sie es übel nehmen? —— ich möchte so gern Ihren Hut einmal aufsetzen.

Magdalene that ihr mit dem schnell bereiten Mitgefühl der Jugend den Willen. Sie stand lächelnd und sich selber zunickend vor dem Spiegel mit dem Hute, aufgestülpt auf die Spitze ihres Kopfes.

—— Ich hatte ’mal einen, so hübsch als dieser, sagte sie, nur war er weiß, nicht schwarz. Ich trug ihn, als der Hauptmann mich heirathete.

—— Wo kamen Sie denn zuerst mit ihm zusammen? fragte Magdalene, indem sie die zufällig sich bietende Gelegenheit, ihre geringfügige Kenntniß von Hauptmann Wragge zu vermehren, benutzte.

—— Im Speisehause, sagte Mrs. Wragge. Er war der hungrigste und der lauteste, den man zu bedienen hatte. Ich beging bei ihm mehr Fehler, als bei all den Anderen zusammen genommen. Er pflegte zu fluchen, ach, konnte er fluchen! Als er nicht mehr fluchte über mich, heirathete er mich. Es waren noch Andere da, welche mich wollten, außer ihm. Gott stärke mich, ich hatte meinen Dünkel. Warum auch nicht? Wenn Sie eine kleine Summe Geld erübrigt haben, mehr als Sie erwartet hatten, warum soll Eins da nicht auf den Gedanken kommen, daß man eine Dame werden möchte? Hat eine Dame nicht auch ihren absonderlichen Geschmack? Ich hatte mein bißchen Geld und hatte meinen Geschmack und nahm den Hauptmann, ja, ich nahm ihn. Er war der Gescheidteste und der Kurzangebundenste von Allen. Er nahm sich meiner und meines Geldes an. Ich bin noch da, das Geld ist fort. Legen Sie das Handtuch nicht auf den Tisch dort, er wills nicht haben! Rühren Sie seine Rasiermesser nicht an, thun Sie’s ja nicht, bitte, sonst vergesse ich, welches es ist. Ich habe zu merken, welches das Messer für morgen ist. Gott stärke Sie, der Hauptmann barbiert sich nicht selbst! Er hat mir’s gelehrt. Ich barbiere ihn. Ich mache ihm die Haare und schneide ihm die Nägel, —— er ist sehr eigensinnig mit seinen Nägeln. So ist er auch mit seinen Hosen. Und mit seinen Schuhen. Und seiner Zeitung morgens. Und seinen! ersten und dem zweiten Frühstück, seinem Mittagsessen und Thee....

Sie hielt plötzlich inne, als ob ihr auf einmal etwas einfiele, sah sich um und bemerkte, die Hände vor Verzweiflung zusammen schlagend, das abgegriffene alte Buch auf dem Boden.

—— Ich habe die Stelle verloren! rief sie aus und wußte sich nicht zu rathen und zu helfen. Ach, erbarme Dich Gott, was wird aus mir werden! Ich habe die Stelle verloren!

—— Beruhigen Sie sich, sagte Magdalene. Ich will schon bald die Stelle wieder für Sie finden.

Sie hob das Buch auf, blätterte und fand, daß der Gegenstand von Mrs. Wragges Angst kein geringerer, als ein altvätersches Handbuch der Kochkunst war, das in die gewöhnlichen Abtheilungen Fisch, Fleisch und Geflügel zerfiel und die herkömmliche Reihe von Recepten enthielt. Indem Magdalene die Blätter umwandte, kam sie auf eine besondere Seite, welche dicht mit kleinen nassen Tropfen besäet war, die erst halb getrocknet schienen.

—— Merkwürdig! sagte sie, wenn Dies was Anderes, als ein Kochbuch wäre, so würde ich sagen, Jemand hätte darüber geweint.

—— Jemand? wiederholte Mrs. Wragge im Echo mit verwundertem Anstarren. Es ist nicht Jemand, ich bins. Ich danke Ihnen ergebenst, daß die Stelle wieder sicher ist. Gott stärke Sie, ich pflege darüber zu weinen! Sie würden auch weinen, wenn Sie des Hauptmanns Mittagessen darnach machen müßten. So gewiß ich mich je zu diesem Buche setze, so gewiß beginnt allemal das Schwirren in meinem Kopfe aufs Neue. Wer soll Das herausbekommen? Manchmal denke ich, ich habs, und Alles entfällt mir wieder. Manchmal denke ich, ich habs nicht, und Alles kommt mir im Haufen zurück. Sehen Sie her! Hier steht, was er für sein Frühstück morgen bestellt hat:

Eierkuchen mit Grünem.

Schlag auf zwei Eier mit ein wenig Wasser oder Milch, Salz, Pfeffer, Schnittlauch und Petersilie Hacke es klein.

—— Da haben wirs, es klein hacken. Wie soll ich es klein hacken, wenn Alles durch einander gemischt ist und läuft?

Thue ein Stückchen Butter, so groß wie Dein Daumen in die Bratpfanne.

—— Sehen Sie meinen Daumen an und sehen Sie Ihren an! Wie groß soll es denn da sein?

Koch es, aber nicht braun.

—— Wenn es nicht braun ist, welche Farbe soll es denn haben? Sie will es mir nicht sagen, sie erwartet, ich soll es wissen, und ich weiß es doch nicht.

Schütte den Eierkuchen hinein.

—— Das da, Das kann ich.

Laß es sich setzen, hebe es ringsum an den Rändern in die Höhe und wende es um, um es umzuschlagen.

—— Ach wie vielmals habe ich es gedreht und umgewandt in meinem Kopfe, ehe Sie heute Abend kamen.

Halt es weich, stülpe die Schüssel auf die Bratpfanne und kehre sie um.

—— Was soll ich umwenden? —— ach, mein Gott, nehmen Sie das kalte Tuch noch einmal und sagen Sie mir, was —— die Schüssel oder die Bratpfanne?

—— Stürze die Schüssel auf die Bratpfanne, sagte Madalene: und dann kehre die Bratpfanne um, so wirds wohl gemeint sein.

—— Ich danke Ihnen freundlich, sagte Mrs. Wragge. Ich muß es in den Kopf prägen, sagen Sie es mir doch noch einmal.

Magdalene sagte es ihr noch einmal.

—— Und dann kehre die Bratpfanne um, wiederholte Mrs. Wragge mit plötzlichem Anflug von Eifer. Ich habs nun behalten! Ach, die vielen Stück Eierkuchen, die alle in meinem Kopfe gar wurden und alle mißriethen. Sehr verbunden, das muß ich sagen. Sie haben mich aufs richtige Tapet gebracht: ich bin nur ein wenig angegriffen vom Sprechen. Und dann kehre die Pfanne, dann kehre die Pfanne, dann kehre die Pfanne um. Es klingt wie Verse, nicht wahr?

Ihre Stimme sank, und sie schloß schläfrig die Augen. Im selben Augenblick ging unten die Thür des Zimmers auf, und die honigsüße Baßstimme des Hauptmanns drang die Treppe herauf, verstärkt zu dem gewöhnlichen Sporn für die Fähigkeiten seiner Frau.

—— Mrs. Wragge! schrie der Hauptmann. Mrs. Wragge!

Sie sprang auf bei dieser schrecklichen Mahnung.

—— Ach, was sollte ich doch gleich thun? fragte sie zerstreut. Eine ganze Menge Dinge, und ich hab’ sie alle vergessen.

—— Sagen Sie nur, Sie hätten Alles so gemacht, wenn er Sie fragt, redete Magdalene ihr zu. Es waren Dinge, die mich angingen, Dinge, die ich nicht nöthig habe. Ich erinnere mich an Alles, was nöthig ist. Mein Zimmer ist das Vorderzimmer im dritten Stock. Gehen Sie hinunter und sagen Sie, ich käme sogleich.

Sie nahm die Lampe und schob Mrs. Wragge hinaus auf die Treppe.

—— Sagen Sie, ich käme gleich, flüsterte sie und ging allein zum dritten Stock hinauf.

Das Zimmer war klein, enge und sehr ärmlich ausgestattet. In früheren Zeiten würde Miss Garth Anstand genommen haben, solch ein Zimmer einem der Dienstmädchen aus Combe-Raven zu bieten. Allein es war wenigstens ruhig, es war doch gut genug, um sie auf einige Minuten von aller Gesellschaft zu befreien, und in diesem Betracht war es erträglich, ja sogar willkommen. Sie schloß sich ein und ging unwillkürlich fast, in dem ersten Drange jeder Frau, wenn sie sich in einem fremden Schlafgemach befindet, an den wackligen kleinen Tisch und den trüben kleinen Spiegel. Sie wartete dort einen Augenblick und wandte sich dann mit mattem Verdruß hinweg.

—— Was schadet es, wenn ich bleich bin? dachte sie bei sich selbst, Frank kann mich nicht sehen, was schadet es nun?

Sie legte Mantel und Hut ab und setzte sich nieder, um sich zu sammeln. Aber die Ereignisse des Tages hatten sie erschöpft. Die Vergangenheit machte ihr Herzeleid, wenn sie anfing daran zu denken. Die Zukunft war eine finstere Leere, wenn sie anfing, in sie hinaus zu schauen. Sie stand wieder auf und stellte sich an das Fenster, das übrigens keine Vorhänge hatte, stellte sich hin und sah hinaus, als ob die trostlose Nacht da draußen doch noch irgendwo in ihrer eigenen Trostlosigkeit einiges geheime Mitgefühl für sie in sich berge.

—— Nora! sprach sie mit Innigkeit vor sich hin, ich möchte wissen, ob Nora an mich denkt? Ach, wenn ich so duldsam sein könnte, wie sie ist! Wenn ich nur die Schuld vergessen könnte, die wir Michael Vanstone heimzuzahlen haben!

Ihr Gesicht verfinsterte sich mit einem Ausdruck verzweifelter Rache, und sie maß ihren kleinen Käfig von einem Zimmer mit leisen Schritten hin und her.

—— Nein, nimmermehr, ehe nicht die Schuld getilgt ist!

Ihre Gedanken schweiften wieder zu Frank zurück.

—— Noch auf der See der arme Kerl ——, weiter und immer weiter von mir entfernt, auf raschem Kiel dahin fahrend die Tage, die Nächte hindurch! Ach, Frank liebe mich treu!

Ihre Augen füllten sich mit Thränen. Sie zerdrückte sie, ging nach der Thür und lachte mit dem Aufschrei der Verzweiflung, als sie wieder aufschloß.

—— Jedwede Gesellschaft ist mir besser, als die meiner eigenen Gedanken, rief sie jäh ausbrechend. Ich vergesse ja meine neubackenen Verwandten, meine schwachsinnige Tante und meinen Oheim, den erbärmlichen Menschen.

Sie stieg die Treppe hinunter bis zum Absatze auf der ersten Etage und blieb hier einen Augenblick zögernd stehen.

—— Wie wird es enden? fragte sie sich selbst. Wohin führt mich nun meine Reise ins Blaue? Wer weiß es und wen geht es an?

Sie trat ins Zimmer.

Hauptmann Wragge führte den Vorsitz beim Thee mit der Miene eines in seinem Banquetsaale sich fühlenden Fürsten. An der einen Seite des Tisches saß Mrs. Wragge und hing an ihres Gatten Augen, wie ein Thier, das gefüttert werden soll. An der andern Seite war ein leerer Stuhl, auf welchen der Hauptmann mit einer einladenden Handbewegung hinwies, als Magdalene eintrat.

—— Wie finden Sie Ihr Zimmer? frug er; ich hoffe doch, Mrs. Wragge hat sich nützlich gemacht? Nehmen Sie Milch und Zucker? Versuchen Sie das hiesige Brod, geben Sie der Yorker Butter die Ehre, kosten Sie die Frische eines neuen Eies aus der Nachbarschaft. Ich biete Ihnen all das Wenige, das ich habe. Eine Armenmannes-Mahlzeit, mein liebes Mädchen, aber gewürzt mit dem Willkommen eines Gentleman.

—— Gewürzt mit Salz, Pfeffer, Schnittlauch und Petersilie, murmelte Mrs. Wragge, welche sofort ein Wort aufschnappte, das mit der Kochkunst zusammenhing, und indem sie betreffs des Eierkuchens ihr Merk stärkte für den ganzen übrigen Abend.

—— Sitze gerade bei Tische! schrie der Hauptmann. Mehr nach links, noch mehr —— so wirds genug sein. —— Während Sie oben waren, fuhr er zu Magdalene gewendet fort —— ist mein Geist nicht müßig gewesen. Ich habe Ihre Lage in Betracht gezogen von einem Ihnen nur vortheilhaften Gesichtspunkte aus. Wenn Sie sich entschließen, sich morgen von dem Lichte meiner Erfahrung leiten zu lassen, so steht dies Licht ohne Vorbehalt ganz zu Ihrer Verfügung, Sie können natürlich sagen:

—— Ich weiß nur wenig von Ihnen, Hauptmann, und das Wenige ist unvortheilhaft.

—— Zugegeben unter dem Bedingung, daß Sie mir erlauben, Sie, wenn der Thee vorüber ist, mit mir selbst und meinem Charakter näher bekannt zu machen. Falsche Scham ist meiner Natur fremd. Sie sehen meine Frau, mein Haus, mein Brod, meine Butter und meine Eier, Alles, wie es eben ist. Sehen Sie mich nun ebenfalls, liebes Mädchen, weil Sie einmal dabei sind.

—— Als der Thee vorüber war, zog sich Mrs. Wragge auf ein Zeichen ihres Mannes in einen Winkel des Zimmers zurück, immer mit dem ewigen Kochbuche in der Hand.

—— Wiege es klein, flüsterte sie, als sie an Magdalenen vorbeiging; das ist eine Plage, nicht wahr?

—— Schon wieder umgetreten! schrie der Hauptmann, indem er auf die schwerfälligen, plumpen Füße seiner Frau hindeutete, als sie dieselben schlürfend durchs Zimmer zog. —— Der rechte Schuh. Zieh ihn wieder herauf, Mrs. Wragge, zieh ihn wieder an die Ferse! —— Bitte, erlauben Sie mir, fuhr er fort, indem er Magdalenen den Arm bot und sie zu einem schmutzigen Roßhaarsopha führte. Sie bedürfen der Ruhe —— nach Ihrer langen Reise, Sie bedürfen wirklich der Ruhe.

Er zog seinen Stuhl an das Sopha und betrachtete sie mit einem einschmeichelnd forschenden Blicke, als wenn er ihr Arzt gewesen wäre und ihre Diagnose im Kopfe gehabt hätte.

—— Sehr angenehm, sehr angenehm! sagte der Hauptmann, als er seinen Gast sich auf dem Sopha bequem machen sah. Ich fühle mich ganz und gar im Schooße meiner Familie. Sollen wir auf unsern Gegenstand zurückkommen, den Gegenstand meiner eigenen schuftigen Person? Nein, nein! Keine Beschönigungen, keine Einwände, ich bitte Sie. Machen Sie Ihrerseits die Sache nicht kleiner und verlassen Sie sich darauf, daß ich meinerseits sie nicht kleiner machen werde. Kommen wir nun, wenn ich bitten darf, auf das Thatsächliche. Wer und was ich bin? Leuten Sie Ihren Geist zurück zu unserer Unterredung auf dem Walle dieser anziehenden Stadt und lassen Sie uns von Ihrem Gesichtspuncte aus noch einmal unsern Ausgang nehmen. Ich bin ein erbärmlicher Mensch und in dieser Eigenschaft, wie ich Ihnen schon bemerklich gemacht habe, gerade der nützlichste Mann, den Sie hätten finden können. Nun bemerken Sie wohl! Es gibt viele Spielarten erbärmlicher Menschen; lassen Sie mich Ihnen zunächst sagen, zu welcher Classe denn eigentlich ich gehöre. Ich bin ein Industrieritter, ein Schwindler.

Seine vollständige Schamlosigkeit war wirklich übermenschlich. Nicht die Spur eines Erröthens unterbrach die bleiche Einförmigkeit seines Gesichts, das Lächeln schwebte so angenehm wie immer um seine gekräuselten Lippen, seine doppelfarbenen Augen zwinkerten Magdalenen zu mit der stillvergnügten Offenheit eines natürlich harmlosen Mannes. Hatte seine Frau ihn gehört? Magdalene sah über ihre Schulter nach dem Zimmerwinkel, wo sie hinter ihr saß. Nein, die angehende Schülerin der edlen Kochkunst war ganz in ihren Gegenstand vertieft Sie hatte ihren Zukunftseierkuchen zu dem Stadium gebracht, wo die Butter dazu gethan werden soll, jenes unbestimmt angegebene Stückchen Butter von der Größe Deines Daumens. Mrs. Wragge saß da versunken in den Anblick eines ihrer eigenen Daumen und schüttelte ihren Kopf darüber, als ob sie gar nicht recht damit zufrieden wäre.

—— Erschrecken Sie nicht darüber, fuhr der Hauptmann fort, erstaunen Sie nicht darüber. Schwindler ist nur ein Wort von zwei Sylben S, ch, w, i, n, d: Schwind, l, e, r: ler, Schwindler Erklärung: ein »moralischer« Landwirth, ein Mann, welcher das Feld des menschlichen Mitleids bebaut. Ich bin jener moralische Landwirth, jener Feldbebauer. Engherzige Mittelmäßigkeit, neidisch auf meinen Erfolg im Berufe, nennt mich einem Schwindler. Was ist Das weiter? Derselbe anschwärzende Geist pflegt auch Männer von anderen Berufsarten auf ähnliche Weise in den Staub zu ziehen, nennt große Schriftsteller Scribenten, große Generäle Menschenschlächter und so weiter. Es kommt ganz auf den Gesichtspunkt an. Wenn ich Ihre Gesichtspunkt annehme, so kennzeichne ich mich selbst unverholen als Schwindler. Nun seien Sie mir wieder gefällig und nehmen Sie einmal meinen Gesichtspunct an. Hören Sie, was ich für mich selbst zu sagen habe, hinsichtlich der Ausübung meines Berufs. Soll ich fortfahren, es frei herauszusagen?

—— Ja, sagte Magdalene, und ich will Ihnen nachher frei heraus sagen, was ich davon denke.

Der Hauptmann räusperte sich und sammelte seine ganzen Hilfstruppen an Worten, Reiterei, Fußvolk, Geschütz und Nachschub, stellte sich selbst an die Spitze und stürzte sich in den Kampf, um die Sittlichkeitsschanzen der Gesellschaft mit einem Angriff auf der ganzen Linie zu nehmen.

—— Nun merken Sie auf, begann er. Hier bin ich, ein armer Teufel. Sehr gut. Ohne die Frage dadurch noch verwickelter zu machen, daß ich frage, wie ich in diese Lage gekommen bin, will ich nur untersuchen, ob es die Pflicht eines christlichen Gemeinwesens ist oder nicht ist, den Armen zu helfen. Wenn Sie Nein sagen, so werfen Sie mich in den Sand, und ich bin fertig. Wenn Sie Ja sagen, dann erlauben Sie mir die Frage: Warum verdiene ich Tadel, daß ich einer christlichen Gemeinde dazu verhelfe ihre Pflicht zu erfüllen? Sie können sagen: Ist ein bedächtiger Mann, der sich Geld gespart hat, verbunden, es an einen sorglosen Fremden wieder wegzugeben, der keins gespart hat? Jawohl ist er verbunden! Und warum, wenns gefällig ist? Guter Gott, darum, weil er das Geld einmal hat, natürlich. Durch die ganze Welt erhält der Mann, der kein Geld hat, solches von Dem Manne, welcher es hat, unter dem einen oder dem andern Vorwande, und in neun Fällen unter zehn ist der Vorwand ein falscher. Wie? Ihre Taschen sind voll, und meine Taschen sind leer, und doch weigern Sie sich mich zu unterstützen? Geizige Person, denken Sie, ich werde Ihnen erlauben, die heiligen Pflichten der christlichen Liebe mir gegenüber zu verletzen? Ich werde es Ihnen nicht gestatten, ich sage es mit Bestimmtheit, ich werde es nicht zugeben. Das sind meine Grundsätze als ein moralischer Landwirth. Grundsätze, welche zweideutig sind? Gewiß! Verdiene ich Tadel, wenn nun einmal das Feld des menschlichen Mitgefühls nicht anders bearbeitet werden kann? Fragen Sie nur meine Collegen die wirklichen Landwirthe, ob sie ihre Ernten so ohne weiteres Zuthun bekommen? Nein, sie müssen auch der dürren Natur mit List Etwas abgewinnen, wie ich es mit geizigen Menschen mache. Sie müssen pflügen, säen, oben und unten bearbeiten, auf der Oberfläche und tief unten entwässern, und was dergleichen mehr ist. Wie soll ich dabei gestört werden, wenn ich meinerseits im weitesten Umfange die tiefe Drainage bei der Menschheit anwende? Warum soll ich darob verfolgt werden, weil ich für gewöhnlich die edelsten Empfindungen unserer gemeinen Natur rege zu machen suche? Schändlich! Ich kann es mit keinem andern Worte bezeichnen, schändlich! Wenn ich nicht Vertrauen auf die Zukunft hätte, so könnte ich an der Menschheit irre werden. Aber ich vertraue der Zukunft. Ja, eines schönen Tages, wenn ich todt und dahin sein werde, wenn die Ideen sich erweiteren und die Aufklärung zunimmt, werden die eigentlichen Verdienste des Berufes, den man jetzt Schwindel nennt, zu Ehren kommen. Wenn jener Tag kommt, zieht mich nicht aus meinem Grabe und gebt mir etwa ein öffentliches Begräbniß, macht Euch nicht den Vortheil zu nutze, daß ich keine Stimme mehr habe zu meiner Vertheidigung, und beleidigt mich nicht durch eine nationale Bildsäule. Nein, laßt mir Gerechtigkeit widerfahren auf meinem Grabsteine, reißt mich durch einen herrlichen Spruch in meiner Grabschrift heraus. »Hier liegt Wragge, einbalsamiert nach der zu späten Erkenntniß seiner Gattung: er bearbeitete seine Mitmenschen mit Pflug, Säemaschine und Erntesichel, und die aufgeklärte Nachwelt wünscht ihm Glück zu der gleichförmigen ausgezeichneten Güte seiner Ernten.«

Er hielt inne, nicht aus Mangel an Vertrauen, nicht weil es ihm an Worten fehlte, lediglich aus Mangel an Athem.

—— Ich stelle freimüthig und mit Humor dar, sagte er selbst gefällig. Ich erschrecke Sie doch nicht, nicht wahr?

Müde und verstimmt, wie sie war, argwöhnisch gegen Andere, zweifelnd an sich selbst, fühlte Magdalene doch mit ihrem angeborenen Sinne für Humor das Komische dieser ausbündigen Unverschämtheit von Hauptmann Wragges Vertheidigungsrede über den Schwindel und mußte lächeln, sie mochte wollen oder nicht.

—— Ist die Yorkshirer Ernte eine besonders reiche in diesem Augenblick? fragte sie, indem sie echt weiblich ihm mit gleicher Waffe diente.

—— Ein guter Einfall, ein kluger Einfall, sagte der Hauptmann, indem er scherzend die Enden seines abgetragenen Jagdkollers in die Höhe hob als sprechendes Zeugniß für Magdalenens Bemerkung. Mein liebes Kind, hier oder anderswo fehlt es nie an Ernten, aber ein einzelner Mann kann sie nicht immer heim bringen. Der Beistand eines mitwirkenden Geistes ist, wie ich bedauern muß zu sagen, mir versagt. Ich habe Nichts gemein mit dem plumpen Troß meiner Berufsgenossen, welche sich vor Magistrat und Obrigkeit des größten Fehlers schuldig machen: der unheilbaren Unfähigkeit in der Ausübung ihres Geschäfts. So wie Sie mich hier sehen, stehe ich allein da. Nach Jahren glücklicher Unabhängigkeit fangen die unausbleiblichen Kehrseiten des Ruhmes an, sich auch bei mir unangenehm geltend zu machen. Auf meinem Zuge vom Norden her bleibe ich in dieser anziehenden Stadt zum dritten Male halten, ich befrage meine Bücher nach den gewöhnlichen Notizen über frühere Erfahrungen am Orte. Ich finde dann unter dem Kopftitel: Persönliche Stellung in York die Anfangsbuchstaben: Z. G. B., welche heißen Zu Gut Bekannt. Ich erhole mir Rath in meinem Ortsverzeichnisse und wende mich zu der umgebenden Nachbarschaft. Dieselben kurzen Bemerkungen begegnen meinem Auge: Leeds. Z. G. B. —— Scarborough. Z. G. B. —— Harrowgate. Z. G. B. und so fort. Was ist die unausleibliche Folge? Ich unterbreche meine Maßregeln, meine Hilfsquellen versiegen, und meine schöne Anverwandte findet mich in einer Krisis meiner Laufbahn.

—— Ihre Bücher? sagte Magdalene Welche Bücher meinen Sie?

—— Sie sollen gleich sehen, versetzte der Hauptmann. Haben Sie oder haben Sie nicht Vertrauen zu mir, wie es Ihnen beliebt: ich aber vertraue Ihnen ganz und gar. Sie sollen sehen.

Mit diesen Worten zog er sich in das hintere Zimmer zurück. Während er fort war, richtete Magdalene noch einmal einen verstohlenen Blick auf Mrs. Wragge. War sie noch immer außer Bereich der Sündfluth von ihres Mannes Redefluß? Vollständig außer Bereich. Sie hatte den Zukunftseierkuchen zum letzten Stadium des culinarischen Vorgangs gebracht und machte eben die letzte Bewegung des Umdrehens zur Probe, indem ihre flache Hand die Schüssel und das Kochbuch die Bratpfanne vorstellte.

—— Ich habs behalten, sagte Mrs. Wragge, indem sie über das Zimmer weg Magdalenen zunickte. Erst decke die Bratpfanne über die Schüssel und dann wende Beides um.

Hauptmann Wragge kam zurück und brachte ein hübsches schwarzes Futteral mit einem blanken Messingschloß mit. Er holte aus dem Futteral fünf bis sechs kleine Bücher hervor, welche in das kaufmännische Kalbsleder mit Pergament gebunden und jedes mit seinem besonderen Schlößchen verschlossen waren.

—— Bemerken Sie, sagte der moralische Landwirth: ich lege meinerseits kein großes Gewicht darauf, es ist meine Natur, ordentlich zu sein, und ordentlich bin ich. Ich muß jedes Ding schwarz auf weiß niedergeschrieben haben, sonst werde ich toll. Hier ist meine kaufmännische Bibliothek: Tagebuch, Hauptbuch, Bezirksbuch, Briefwechselbuch, Bemerkungenbuch u. s. w. Werfen Sie gefälligst einen Blick in eines derselben. Ich schmeichle mir, es ist nichts von einem Klex oder einem nachlässig hingeworfenen Eintrag darin von der ersten bis zur letzten Seite. Sehen Sie dies Zimmer an: ist ein Stuhl nicht an seinem Platze? Nicht daß ich wüßte wenigstens. Sehen Sie mich an. Bin ich staubig, bin ich schmutzig, bin ich schlecht rasiert? Bin ich mit einem Worte ein sauberer Armer oder nicht? Bemerken Sie! Ich lege keinen Werth darauf, es ist nun einmal meine Natur, liebes Mädchen, einmal meine Natur so!

Er öffnete eines von den Büchern Magdalene konnte die bewundernswerthe Genauigkeit, mit der die Einträge alle ausgeführt waren, nicht beurtheilen, aber wohl konnte sie die Schönheit der Handschrift, die Regelmäßigkeit der Zahlenreihen, die mathematische Genauigkeit der gezogenen rothen und schwarzen Linien, die vollständige Makellosigkeit in Hinsicht auf Klexe, Flecke oder Ausradirungen würdigen. Obschon Hauptmann Wragges angeborener Ordnungssinn bei ihm, sowie bei Anderen ein zu äußerliches, durch die Gewohnheit befestigtes Moment war, um irgend welche tiefere moralische Wirkung auf seine Handlungen auszuüben, so hatte er doch auf seine Gewohnheiten seinen naturgemäßen Einfluß geübt und seine schlechten Streiche so genau in eine Methode und ein System gebracht, als ob es die Geschäftsunternehmungen eines ehrlichen Mannes gewesen wären.

—— Auf den ersten Blick erscheint mein System verwickelt? fuhr der Hauptmann fort. In der That aber ist es die Einfachheit selbst. Ich vermeide einfach die Fehler der kleineren Berufsgenossen D. h. ich bitte niemals für mich selbst, und dann wende ich mich niemals an reiche Leute. Beides bedeutungsvolle Mißgriffe, welche der kleinere Berufsgenosse beständig begehen Leute mit geringem Einkommen haben oft großmüthige Regungen betreffs Geldsachen, reiche Leute niemals. Mylord mit vierzig Tausend Pfund im Jahr, Sir John mit Liegenschaften in einem halb Dutzend Grafschaften: das sind die Menschen, welche dem vornehmen Bettler es niemals vergeben, wenn er ihnen ein Goldstück abgeschwindelt hat, das sind die Menschen, welche nach der Armenpolizei schicken, das sind die Menschen, welche ihr Geld in Acht nehmen. Wer sind die Leute, die Schillings und halbe Schillinge aus reiner Nachlässigkeit verlieren? Dienstboten und kleine Schreiber, für die Schillinge und halbe Schillinge schwer genug sind. Haben Sie je gehört, daß Rothschild oder Baring ein Vierpencestück in ein Canalloch haben fallen lassen? Vierpencestücke in Rothschilds Tasche sind sicherer als in der Tasche des Weibes, welches eben in Skeldergate alte Krabben ausruft. Durch diese gesunden Grundsätze gewappnet, durch die Schätze niedergeschriebener Nachweise in meiner kaufmännischen Bibliothek aufs Beste unterrichtet, habe ich die Bevölkerung in früherer Zeit förmlich durchs Sich getrieben und meine Wohlthätigkeitsernten mit dem erfreulichsten Erfolge von ihr erhoben. Hier in Buch Numero Eins sind alle meine Bezirke aufgezeichnet mit den in jedem vorherrschenden Volksneigungen: —— Militärischer Bezirk, Geistlicher Bezirk, Landwirthschaftlicher Bezirk, u. s. w., u. s. w. Hier in Numero Zwei sind meine Fälle, welche ich zum Vorwand meiner Gesuche nehme: —— Familie eines bei Waterloo gefallenen Offiziers; Weib eines armen Landgeistlichen, das an einem Nervenleiden darnieder liegt; Witwe eines bedrängten Viehhändlers, den ein wüthender Stier zu Tode gespießt hat, u. s. w., u. s. w. Hier in Numero Drei sind die Leute, welche von der Offiziersfamilie gehört haben, von des Landgeistlichen Frau, des Viehhändlers Witwe wissen, und die, welche Nichts davon wissen die Leute, welche Ja gesagt, und die, welche Nein gesagt haben; die Leute, die man wieder anbohren kann; die Leute, welche einen neuen Fall brauchen, um gepackt zu werden; die Leute, welche zweifelhaft, die Leute endlich, welche zu vermeiden sind, u. s. w., u. s. w. Hier in Numero Vier sind meine nachgemachten Handschriften von öffentlichen Beamten, meine Zeugnisse über meine eigene Würde und Unbescholtenheit, meine herzbrechenden Schilderungen von der Familie des Offiziers, von der Frau des Geistlichen und der Witwe des Viehhändlers, befleckt mit Thränen, getränkt mit Rührung u. s. w., u. s. w. Hier in den Nummern Fünf und Sechs sind meine eigenen Zeichnungen zu wohlthätigen Zwecken am Orte, wirklich eingezahlt in lohnenden Nachbarschaften nach dem Sprache: eine Wurst nach der Speckseite werfen; ebenso mein Tagebuch über jede Tagesverrichtung, meine persönlichen Betrachtungen und Bemerkungen, meine Schilderung bestehender Schwierigkeiten (sowie die Schwierigkeit z. B. mich Z. G. B. in dieser anziehenden Stadt zu wissen); meine Ausgänge und mein Nachhausekommen; Wind und Wetter; Politik und öffentliche Vorkommnisse; Schwankungen in meiner Gesundheit, Schwankungen in Mrs. Wragges Kopfe, Schwankungen in unseren Einkünften und Mahlzeiten, unseren Zahlungen, Aussichten und Grundsätzen, u. s. w., u. s. w. So liebes Kind, »geht die Mühle« des Schwindlers. So sehen Sie mich, ganz wie ich bin. Sie wußten, bevor ich Sie traf, daß ich »von meinem Witz lebte«. Gut, habe ich nun Ihnen gezeigt oder nicht, daß ich allerdings Witz habe, um davon zu leben?

—— Ich hege keinen Zweifel, daß Sie sich selbst alle Gerechtigkeit haben widerfahren lassen, sagte Magdalene ruhig.

—— Ich bin durchaus noch nicht fertig, fuhr der Hauptmann fort. Ich kann, wenns sein muß, noch den ganzen Abend fortfahren. —— Indessen, wenn ich mir selbst volle Gerechtigkeit habe widerfahren lassen, so kann ich vielleicht die übrigen Punkte in meinem Charakter für künftige Gelegenheiten zu schildern vorbehalten. Für jetzt ziehe ich mich in den Hintergrund zurück Wragge tritt ab. Und nun zum Geschäftlichen! Gestatten Sie mir, Sie zu fragen, welche Wirkung ich auf Ihren Geist hervorgebracht habe? Glauben Sie noch, daß der erbärmliche Mensch, der Ihnen alle seine Geheimnisse vertraut hat, ein Kerl ist, der darnach verlangt, von einer schönen Verwandten einen gemeinen Nutzen zu ziehen?

—— Ich will noch ein wenig warten, begann Magdalene bevor ich diese Frage beantworte. Als ich zum Thee herunterkam, sagten Sie mir, daß sich eben Ihr Geist meinetwegen beschäftigt habe? Darf ich fragen wieso?

—— Jedenfalls, sagte Hauptmann Wragge Sie sollen das reine Ergebniß der ganzen geistigen Arbeit haben. Besagte Denkarbeit betraf die gegenwärtigen und zukünftigen Maßregeln Ihrer trostlosen Freunde und der Advocaten, welche denselben Sie suchen helfen. Ihre gegenwärtigen Maßregeln sind aller Wahrscheinlichkeit nach folgende. —— Der Schreiber des Rechtsanwalts hat Sie bei Mr. Huxtable aufgegeben und hat Sie zugleich nach sorgfältigen Nachforschungen auch in allen Hotels aufgegeben. Seine letzte Hoffnung ist, daß Sie nach Ihrem Koffer im Garderobezimmer schicken würden. Sie schicken nicht darnach, und nun ist der Schreiber heute Nacht (Dank Hauptmann Wragge und dem Rosmaringäßchen) zu Ende mit seinen Hilfsmitteln. Er wird diese Thatsache sofort seinen Dienstherren in London mittheilen, und diese seine Herren (erschrecken Sie nicht!) werden nunmehr ihre Zuflucht zur Criminalpolizei nehmen. Etwaige Verzögerungen unvermeidlicher Art zugestanden, wird ein berufsmäßiger Polizeispion mit all seiner Verschmitztheit und jenen Placaten, um ihn insgeheim in den Stand zu setzen, Sie zu erkennen, sicherlich nicht später als übermorgen, vielleicht sogar noch eher hier sein. Wenn Sie in York bleiben, wenn Sie mit Mr. Huxtable sich Verbindung setzen, wird Sie der Späher ausfindig machen. Wenn Sie im andern Falle die Stadt verlassen, ehe er kommt (indem Sie Ihre Abreise natürlich anders als mit Eisenbahn bewerkstelligen) versetzen Sie ihn in dieselbe Klemme wie den Schreiber —— Sie machen es ihm unmöglich, eine neue Fährte von Ihnen aufzuspüren. Das ist meine kurze Ansicht von Ihrer gegenwärtigen Lage. Was halten nun Sie selbst davon?

—— Ich halte davon, sie hat einen Mangel, sagte Magdalene. Sie endigt im Leeren.

—— Berzeihen Sie mir, versetzte der Hauptmann, Sie endigt mit einer Anordnung für Ihre sichere Abreise und mit einem Plan zur gänzlichen Befriedigung Ihrer Wünsche Betreffs der Bühne: Beides aus den Hilfsquellen meiner Erfahrung geschöpft und Beides auf das erste Wort von Ihnen mit allen Einzelheiten zu Ihrer sofortigen Verfügung.

—— Ich denke, ich weiß, was das für ein Wert ist, antwortete Magdalene indem sie ihn aufmerksam anschaute.

—— Sehr erfreut, Dies zu hören, wahrhaftig. Sie haben nur zu sagen: —— Hauptmann Wragge nehmen Sie sich meiner an, —— und meine Pläne sind Ihr Eigenthum auf der Stelle.

—— Ich will mir über Nacht Ihren Vorschlag überlegen, sagte nach einem augenblicklichen Nachdenken Magdalene. Sie sollen morgen früh meine Antwort haben.

Hauptmann Wragge sah ein wenig enttäuscht aus. Er hatte nicht vorausgesehen, daß diese Rückhaltung von seiner Seite ganz ruhig auch eine Rückhaltung von ihrer Seite finden werde.

—— Warum entscheiden Sie sich nicht gleich mit einem Male? stellte er ihr mit seinem einschmeichelndsten Tone vor. Sie haben nur zu erwägen....

—— Ich habe mehr zu erwägen, als Sie denken, antwortete sie. Ich habe noch etwas Anderes vor außer dem Ziel, das Sie schon kennen.

—— Darf ich fragen ...?

—— Entschuldigen Sie, Hauptmann Wragge, nein, Sie dürfen nicht fragen. Erlauben Sie mir, Ihnen für Ihre Gastfreundschaft zu danken und Ihnen gute Nacht zu wünschen. Ich bin erschöpft. Ich bedarf der Ruhe.

Noch einmal fügte sich der Hauptmann wohlweislich in ihre Laune mit der schnellen Selbstbeherrschung eines erfahrenen Mannes.

—— Erschöpft, natürlich! sagte er mitleidig. Unverzeihlich von meiner Seite, daß ich nicht eher daran gedacht habe. Wir wollen unser Gespräch morgen fortsetzen. Erlauben Sie mir Ihnen ein Licht zu reichen. Mrs. Wragge!

Ermüdet von der geistigen Abmühung verfolgte Mrs. Wragge im Traume das weitere Schicksal ihres Eierkuchens. Ihr Kopf war nach der einen, ihr Leib nach der andern Seite umgesunken Sie schnarchte süß. In Zwischenräumen hob sich eine ihrer Hände in die Luft, schüttelte eine eingebildete Pfanne und fiel mit leisem Klappen wieder auf das Kochbuch in ihrem Schooße nieder. Beim Tone von ihres Gatten Stimme sprang sie auf und stellte sich vor ihn halb schlaftrunken, die Augen weit offen.

—— Hilf Miss Vanstone, sagte der Hauptmann. Und das nächste Mal, wenn Du Dich wieder auf dem Stuhle vergissest, schlaf in gerader Haltung, ärgere mich nicht dadurch, daß Du so schief umgelegt schläfst.

Mrs. Wragge machte ihre Augen noch weiter auf und sah Magdalenen an in hilfloser Verwunderung.

—— Frühstückt der Hauptmann bei Kerzenlicht? fragte sie leise. Und habe ich den Eierkuchen nicht gemacht?

Ehe die Berichtigung ihres Gatten mit einem neuen Anschreien erfolgen konnte, nahm Magdalene sie mitleidig beim Arme und führte sie aus dem Zimmer.

—— Noch etwas Anderes außer dem Ziel, das ich kenne? wiederholte Hauptmann Wragge, als er allein war. Ist nach alle Dem doch ein Herr im Hintergrunde? Wird Unheil im Finstern gebrütet, auf das ich nicht gerechnet hatte?



Kapiteltrenner

Drittes Capitel.

Gegen sechs Uhr am nächsten Morgen erwachte Magdalene, als ihr das Licht auf das Gesicht fiel, indem Kämmerlein auf dem Rosmaringäßchen.

Sie fuhr aus ihrem tiefen nicht mit Träumen umkränzten Schlummer der vergangenen Nacht mit jenem unheimlichen befremdlichen Gefühl beim ersten Erwachen auf, welches Jeden befällt, der die erste Nacht in einem fremden Bette geschlafen hat.

—— Nora! rief sie halb im Schlafe, als sie die Augen öffnete.

Den nächsten Augenblick ermunterte sich ihr Geist und ihre Sinne machten sie mit der Wirklichkeit bekannt. Sie sah sich in dem elenden Zimmerchen mit äußerstem Mißbehagen um, je mehr sie davon erkannte. Der Gegensatz der Unsauberkeit, welchen der Ort zu Allem, was sie bisher in ihrem Schlafgemach zu sehen gewöhnt war, bot, die in seiner dürftigen Ausstaffierung zur Schau getragene thatsächliche Vernachlässigung jener anmuthenden Sauberkeit und Reinlichkeit der zum täglichen Gebrauche bestimmten Bequemlichkeiten, mit welchen sie von frühester Kindheit auf sich umgeben gesehen hatte, verletzten das jeder gebildeten Dame zur zweiten Natur gewordenen Gefühl für achtsamste Körperpflege in Magdalenen. So geringfügig an sich der Einfluß solcher Dinge erscheinen mußte, wenn man sie mit dem Ernst ihrer gegenwärtigen Lage in Vergleich setzte, so brachte doch der bloße Anblick des Kruges und des Waschbeckens in einem Winkel der Kammer ihren ersten Entschluß, als sie erwachte, zur Reise. Sie beschloß von dem Augenblicke an, unter allen Umständen das Rosmaringäßchen zu verlassen.

Wie aber sollte sie dasselbe verlassen? Mit Hauptmann Wragge oder ohne ihn?

Sie zog sich an, indem sie sich vor jedem Dinge in dem Zimmer scheute, das sie dabei entweder mit ihren Händen ober ihren Kleidern berührte, und öffnete darauf das Fenster. Die Herbstluft fühlte sich scharf, aber angenehm an, und das kleine Stückchen Himmel, das sie erschauen konnte, war schon von dem jungen Sonnenlichte mit warmem Glanz verklärt. In der Ferne die Stimmen der Bootsleute auf dem Flusse und das Gezwitscher der Vögel auf dem moosigen Grün, das den alten Stadtwall überwucherte, das waren die einzigen Töne, welche die Stille des Morgens unterbrachen. Sie setzte sich ans Fenster und nahm in ihrem Geiste den Faden der Gedanken wieder auf, den sie aus Ermüdung die Nacht vorher verloren hatte.

Der erste Gegenstand, auf den sie zurückkam, war Hauptmann Wragge vagabundischen Andenkens.

Der »moralische Landwirth« hatte vollständig seinen Zweck verfehlt, um ihr persönliches Mißtrauen gegen ihn zu beseitigen, so verschmitzt und abgefeimt er auch durch das offene Bekenntniß der gegen Andere ausgeführten Hintergehungen und Schwindeleien dagegen angekämpft hatte. Er hatte allerdings ihre Meinung von seinen Fähigkeiten erhöht, hatte sie auch wohl durch seine humoristische Lebensanschauung erheitert, hatte sie durch seine Sicherheit selbst in Erstaunen gesetzt: aber daß er ein erbärmlicher Mensch war, diese Ueberzeugung hatte sich bei ihr in derselben Festigkeit erhalten, als zu der Zeit, wo sie ihn zuerst getroffen hatte. Wäre der einzige Plan in ihrer Seele der Plan auf die Bühne zu gehen gewesen, unter allen Verhältnissen hätte sie den mehr als zweideutigen Beistand des Haupmanns Wragge gleich auf der Stelle von der Hand gewiesen.

Allein die gefährliche Reise, auf welche sie sich abenteuerlich begeben, hatte noch ein anderes Ziel im Auge, ein dunkles fernes Ziel, ein Ziel mit Wolfsgruben aus dem Wege dahin, ganz andere als die flachen Wolfsgruben auf dem Wege zur Bühne. In der geheimnißvollen Morgenstille vertiefte sich ihr Geist in dies zweite und weitergehende Vorhaben, und die verächtliche Gestalt des Schwindlers erhob sich vor ihr in einem neuen Lichte.

Sie versuchte, dieselbe aus ihren Gedanken zu entfernen, um wie bisher in ihren Gefühlen weiter über ihr und fern von ihr weg zu stehen.

Nachdem sie sich ein wenig mit ihrer Kleidung zu schaffen gemacht, nahm sie das weißseidene Täschchen aus ihrem Busen, das sie in der Abschiedsnacht auf Combe-Raven mit eigenen Händen gefertigt hatte. Es war oben an der Oeffnung mit zarten seidenen Schnüren zugezogen. Das Erste, das sie, nachdem sie es geöffnet, herausnahm war eine Locke von Franks Haar, welche mit einem Stückchen Silberfaden befestigt war, das Nächste war ein Papierumschlag mit den Auszügen aus ihres Vaters letztem Willen und ihres Vaters Briefe (an Mr. Pendril). Das Letzte war ein ganz klein zusammen gebrochenes Päckchen Banknoten im Werthe von nahezu zweihundert Pfund, der Erlös (wie Miss Garth richtig vermuthet hatte) des Verkaufes ihres Schmuckes und ihrer Kleider, bei welchem das Dienstmädchen in der Erziehungsanstalt heimlich Beistand geleistet hatte. Sie that die Banknoten sofort wieder hinein, ohne noch einmal darauf zu sehen, und sah dann die Haarlocke gedankenvoll an, die auf ihrem Schooße lag.

—— Du bist doch besser, als gar Nichts, sagte sie, indem sie mit der sinnigen Zärtlichkeit, wie sie Mädchen eigen ist, mit ihr sprach. Ich kann doch manchmal sitzen und Dich anschauen, bis ich fast denke, ich sehe Frank. Ach mein Theurer, mein Liebling!

Ihre Stimme zitterte leise, und sie drückte die Haarlocke mit schmachtender Anmuth an die Lippen. Diese fiel aus ihren Fingern in ihren Busen. Ein liebliches Roth blühte auf ihren Wangen auf und verbreitete sich bis an den Hals, als ob es dem fallenden Haar folgte. Sie schloß ihre Augen und ließ ihr schönes Haupt sanft herabsinken. Die Welt verging ihr, und für einen zauberischen Augenblick öffnete der Gott der Liebe die Pforten des Paradieses vor der Tochter Evas. ——

Das alltägliche Geräusch in der benachbarten Straße, welches zunahm, je mehr der Morgen vorrückte, nöthigte sie zur harten Wirklichkeit der dahin rauschenden Zeit zurückzukehren. Sie erhob ihren Kopf mit einem schweren Seufzer und öffnete noch einmal ihre Augen in dem gemeinen und elenden Zimmerchen.

Die Auszüge aus dem Testament und dem Briefe, die letzten Andenken an ihren Vater, welche jetzt so eng verbunden waren mit dem Vorhaben, welches ihren Geist erfüllte, —— lagen vor ihr. Der vorübergehende Farbenschimmer auf ihren Wangen erblich, als sie die kleine Schrift auf ihrem Schooße aufblätterte. Die Auszüge aus dem Testamente standen obenan auf der Seite. Sie beschränkten sich auf die wenigen rührenden Worte, mit welchen der Verstorbene Vater seine Kinder um Vergebung bittet wegen des Fleckens ihrer Geburt und sie anfleht, der unablässigen Liebe und Sorge zu gedenken, durch welche er bemüht gewesen sei, ihnen Entschädigung dafür zu geben. Der Auszug ans dem Briefe an Mr. Pendril kam sodann. Sie las die letzten von trüber Ahnung erfüllten Stellen laut vor sich hin:

Um Gotteswillen kommen Sie an dem Tage, wo Sie Dieses erhalten —— kommen Sie und erlösen Sie mich von dem schrecklichen Gedanken, daß meine beiden geliebten Töchter in diesem Augenblicke unversorgt sind. Wenn mir Etwas zustoßen sollte und wenn mein Wunsch, ihrer Mutter gerecht zu werden, wegen meiner kläglichen Rechtsunkenntniß damit endigte, Nora und Magdalene ohne Erbe zu hinterlassen, so würde ich keine Ruhe im Grabe haben! ——

Unter diesen Zeilen wieder und ganz am Ende der Seite war die schreckliche Erläuterung zu dem Briefe geschrieben, die von Mr. Pendrils Lippen gefallen war:

—— ...Mr. Vanstones Töchter sind Niemandes Kinder, und das Gesetz überläßt sie ohne Hilfe der Gnade ihres Oheims.

Ohne Hilfe, als diese Worte gesprochen wurden, ohne Hilfe nach Allem, was sie beschlossen hatte, nach Allem, was sie geopfert hatte. Die Zusicherung ihrer und ihrer Schwester natürlichen Ansprüche, geheiligt durch den ausdrücklichen Wortlaut der letzten Wünsche ihres Vaters, die Rückberufung Franks aus China, die Rechtfertigung ihres Entweichens vor Nora: Alles hing von ihrem verzweifelten Plane ab, das verlorene Erbtheil auf jede Gefahr hin dem Manne wieder abzujagen, welcher seine Bruderskinder zu Bettlern gemacht und beschimpft hatte. Und doch war dieser Mann für sie noch eine Nebelgestalt! So wenig wußte sie von ihm, daß sie in dem Augenblicke nicht einmal seinen Aufenthaltsort kannte.

Sie erhob sich und maß das Zimmer mit, der geräuschlosen, nachlässigen Anmuth eines wilden Thieres des Waldes in seinem Käfig.

—— Wie kann ich ihn in der Finsterniß erreichen? sprach sie zu sich selbst. Wie kann ich ihn ausfindig machen....?

—— Sie hielt plötzlich inne. Ehe sie in Gedanken ihre Frage zu Ende geführt hatte, war ihr Hauptmann Wragge wieder vor die Seele getreten.

Ein Mann, der nur zu gut im Dunkeln zu handthieren gewohnt war, ein Mann, mit unendlichen Hilfsquellen von List und Kühnheit, ein Mann der bei einem gemeinen Dienste zaudern würde, zu dem man ihn gebrauchen wollte, wenn nur der Dienst ihm die Taschen füllte: war dies das Werkzeug, dessen ihre Hand in ihrer gegenwärtigen Noth bedurfte? Zwei Nothwendigkeiten, die sie erledigen mußte, bevor sie einen Schritt vorwärts thun konnte, standen klar vor ihrer Seele: die Notwendigkeit, mehr von ihres Vaters Bruder zu erfahren, als sie bis jetzt wußte, und die Notwendigkeit, so lange die Nachforschung dauerte, sich selbst persönlich verborgen zu halten und ihn dadurch sicher und unvorsichtig zu machen. Entschlossen und selbständig wie sie war, mußte sie doch die unerläßliche Späherarbeit beim Anfang einem Andern überlassen. In ihrer Lage nun, wo war da ein dazu bereites menschliches Wesen in ihrem Bereiche außer dem Vagabunden ein paar Treppen unter ihr? Nicht ein einziges. Sie dachte eifrig darüber nach, sie dachte lange darüber nach. Nicht ein einziges! Die Wahl stand sofort vor ihr: die Wahl, entweder den Gauner zu nehmen, oder ihr Vorhaben aufzugeben.

Sie blieb mitten im Zimmer stehen.

—— Was ist das Schlimmste, das er thun kann? sprach sie zu sich selbst. Mich betrügen. Gut! Wenn mein Geld ihn mir dienstbar macht, was dann? Er soll mein Geld haben!

Sie kehrte unwillkürlich zu ihrem Platze am Fenster zurück. Ein Augenblick später, und sie war entschlossen. Ein Augenblick später, und sie that den ersten verhängnisvollen Schritt »auf der schiefen Ebene« —— sie war einig mit sich, es darauf ankommen zu lassen und es mit Hauptmann Wragge zu versuchen.

Um neun Uhr pochte die Wirthin an Magdalenens Thür und zeigte ihr mit des Hauptmann Wragges freundlichen Grüßen an, daß das Frühstück bereit sei. Sie fand Mrs. Wragge allein, angethan mit einem umfangreichen braunen holländischen Umschlagtuche, mit einem schlotterigen Kragen und einem Aufputz von schmutzigem blaßrothen Bande. Die frühere Kellnerin von Darchs Speisehaus war versunken in den Anblick einer großen Schüssel, in der sich ein lederartiges etwas ungeheuerliches Etwas von verschieden schattierter gelber Farbe, die stark mit kleinen schwarzen Flecken versetzt war, zu befinden schien.

—— Das ist es! sagte Mrs. Wragge Eierkuchen mit Grünem. Die Wirthin half mir. Und Das ists nun, was wir fertig gebracht haben. Fragen Sie den Hauptmann nach Nichts, wenn er herein kommt, ja nicht, er ist ’ne gute Seele. Das Ding da ist nicht schön gerathen. Wir hatten verschiedenes Unglück damit. Er ist ins Feuer gefallen. Auf der Treppe ist er uns hingefallen Er hat den jüngsten Buben der Wirthin verbrannt, er ging immer dabei herum und saß dabei. Gott stärke Sie, er ist nicht halb so gut inwendig, als er aussieht! Fragen Sie ja nach Nichts. Vielleicht merkt er Nichts, wenn Sie Nichts darüber sagen. Was sagen Sie zu meinem Tuche? Ich hätte gar zu gern ein weißes. Haben Sie einmal ein weißes bekommen? Wie ist es ausgeputzt? Machen Sie, sagen Sie’s mir!

Das gefürchtete Eintreten des Hauptmanns erstickte die nächste Frage in ihrem Munde. Ein Glück für Mrs. Wragge, daß ihr Mann viel zu verlänglich auf den verheißenen Ausspruch von Magdalenens Willensmeinung war, als daß er den Küchenangelegenheiten die gewohnte Beachtung schenken konnte. Als das Frühstück vorüber war, ließ er Mrs. Wragge bei Seite gehen und erwähnte den Eierkuchen nur im Vorbeigehen durch die Bemerkung, es solle ganz bei ihr stehen, ob sie ihn »dem Hunde geben« wolle.

—— Wie sieht mein kleines Anerbieten bei Tageslicht aus? frug er, indem er für Magdalenen und sich die Stühle zurecht rückte. Wie soll es nun heißen, entweder: Hauptmann Wragge nehmen Sie sich meiner an —— oder: Hauptmann Wragge, guten Morgen ——?

—— Sie, sollen es gleich hören, versetzte Magdalene. Ich habe erst noch Etwas vorauszuschicken. Ich sagte Ihnen gestern Abend, daß ich noch etwas Anderes vor hätte außer dem Zwecke, mir auf der Bühne meinen Erwerb zu suchen...

—— Ich bitte um Verzeihung, unterbrach sie Hauptmann Ihren Erwerb zu suchen?

—— Ganz recht. Meine Schwester und ich, wir Beide sind auf unsere eigenen Kräfte, um unser tägliches Brod zu verdienen, angewiesen.

—— Wie!!! schrie der Hauptmann, indem er mit einem offenen Ausdruck von Mißbehagen aufsprang. Die Töchter meines reichen und vielbeweinten verschwägerten Verwandten genöthigt, sich selbst durchzuschlagen? unmöglich —— ungeheuer, ausbündig unmöglich!

Er setzte sich wieder nieder und sah Magdalenen an, als ob sie ihm eine persönliche Beleidigung angethan hätte.

—— Sie sind nicht unterrichtet von dem vollen Umfange unseres Mißgeschicks, sagte sie ruhig. Ich will Ihnen erzählen, was geschehen ist, ehe ich weiter gehe.

Sie sagte es ihm ohne Weiteres in den deutlichsten Worten, die sie finden konnte, und mit so wenig Einzelheiten als möglich.

Hauptmann Wragges vollständige Verwirrung ließ ihm nur über eine Folge, die sich seinem Geiste aus dem Mitgetheilten ergab, Klarheit des Bewußtseins übrig. Das Anerbieten der Fünfzig Pfund Belohnung für die vermißte junge Dame, das Von dem Advocaten herrührte, stieg augenblicklich in seiner Achtung so hoch wie nie vordem.

—— Verstehe ich recht, horchte er, daß Sie ganz und gar ohne augenblickliche Geldmittel sind?

—— Ich habe meine Kleinodien und Kleider verkauft, sagte Magdalene unwillig über seine gemeine Anspielung auf die Geldfrage Wenn mein Mangel an Uebung und Kenntnissen mich auf einem Theater nicht gleich vorwärts kommen läßt, so bin ich in den Stand gesetzt zu warten, bis die Bühne im Stande ist mich zu bezahlen.

Der Hauptmann schätzte in Gedanken die Ringe, Armbänder und Halsketten, die seidenen, atlassenen und Spitzengewänder der Tochter eines reichen Mannes ab, nämlich, wohlgemerkt, zum Drittel ihres wirklichen Werthes. Einen Augenblick später sank die Fünfzigpfundbelohnung plötzlich wieder zu der tiefuntersten Stufe der Achtung dieses schlauköpfigen Mannes herab.

—— Recht so, sagte er in seinem geschäftsmäßigsten Tone. Es ist nicht die geringste Besorgniß da, mein liebes Kind, daß Sie auf der Bühne nicht gleich vorwärts kommen sollten, wenn Sie augenblickliche Geldmittel haben und sich meines Beistandes bedienen.

—— Ich muß noch mehr Beihilfe haben, als Sie mir schon angeboten haben, oder kann gar keine brauchen, sagte Magdalene. Ich habe ernstere Schwierigkeiten vor mir, als die Schwierigkeit, York zu verlassen und die Schwierigkeit, meinen Weg zur Bühne zu finden.

—— Was Sie sagen? Ich bin ganz Ohr, bitte, drücken Sie sich deutlicher aus.

Sie überlegte ihre nächsten Worte sorgfältiger, ehe sie über ihre Lippen kamen.

—— Es sind da einige Nachforschungen anzustellen, sagte sie, welche von Wichtigkeit für mich sind. Wenn ich sie selber vornähme, so würde ich den Argwohn der Person, der die Forschungen gelten, erregen und würde daher wenig oder gar nichts von Dem, was ich wissen will, in Erfahrung bringen. Wenn die Nachforschungen durch einen Dritten ausgeführt werden könnten, ohne daß ich dabei zum Vorschein käme, so würde mir dadurch ein Dienst von unendlich größerer Wichtigkeit geleistet, als der, zu welchem Sie sich gestern Abend erboten.

Hauptmann Wragges Vagabundengesicht wurde ernst und gespannt aufmerksam.

—— Darf ich fragen, meinte er, welcher Art die Nachforschungen wohl sind?

Magdalene zögerte, sie hatte nothwendiger Weise Michael Vanstones Namen trennten müssen, als sie dem Hauptmann von dem Verlust ihres Erbes erzählte. Sie mußte ihm denselben unvermeidlicher Weise noch einmal nennen, wenn sie sich seiner Beihilfe bediente. Er würde ihn ohne Zweifel selbst entdecken aus dem offen zu Tage liegenden Zusammenhang, ehe sie noch viel Worte weiter gesprochen haben würde, mochte sie dieselben so achtsam fassen, als sie nur wollte. War unter diesen Umständen wohl ein denkbarer Grund vorhanden, sich vor der unverblümten Hinweisung auf Michael Vanstone zu scheuen? Kein denkbarer Grund, —— und doch sie scheute sich.

Zum Beispiel, fuhr Hauptmann Wragge fort, sind es Nachforschungen nach einem Manne oder einer Frau; Nachforschungen über einen Feind oder einen Freund....

—— Einen Feind, antwortete sie ruhig.

Ihre Antwort hätte vielleicht der Hauptmann noch immer im Dunkeln gelassen, allein ihre Augen gaben ihm Licht.

—— Michael Vanstone! dachte der schlaue Wragge. Sie schießt gefährliche Blicke, ich habe jetzt mehr Fühlung meines Weges.

—— In Absicht der Person nun, die der Gegenstand Ihrer Nachforschungen ist, begann er wieder, sind Sie sich darüber vollkommen klar im Geiste, was Sie gern wissen möchten?

—— Vollständig klar, erwiderte Magdalene Ich wünsche zunächst zu wissen, wo er sich aufhält?

—— So? Und dann?

—— Ich muß von seinen Gewohnheiten wissen, dann davon, wer die Leute sind, mit denen er umgeht, was er mit seinem Gelde macht....

Sie dachte eine Weile nach.

Uns noch Eins, sagte sie, —— ich muß wissen, ob eine Frau in seinem Hause ist, eine Verwandte oder eine Haushälterin, die Einfluß auf ihn hat.

—— So weit ganz unverfänglich, sagte der Hauptmann. Was weiter?

—— Nichts. Das Uebrige ist mein Geheimniß.

Die Wolken auf Hauptmann Wragges Angesicht begannen sich zu verziehen. Er kam mit seinem gewohnten Scharfsinn auf seine gewohnte Wahl zwischen dem Entweder-Oder zurück.

Diese Nachforschungen von ihrer Seite, dachte er, zielen auf eines von den beiden Dingen ab: ein Unheil oder Geld! Wenn es ein Unglück setzen soll, so will ich ihr schon durch die Finger schlupfen. Wenn es Geld ist, so will ich mich nützlich machen mit Rücksicht auf die Zukunft.

Magdalenens wachsame Augen beobachteten argwöhnisch den Entwickelungsgang seiner Gedanken.

—— Hauptmann Wragge, sagte sie, wenn Sie Zeit zur Ueberlegung brauchen, so sagen Sie es offen heraus.

—— Ich brauche keinen Augenblick, versetzte der Hauptmann. Stellen Sie nur immerzu Ihre Abreise von York, Ihre Bühnenlaufbahn und ihre geheimen Nachforschungen unter meine Fürsorge. Hier bin ich ohne Vorbehalt zu Ihrer Verfügung. Sprechen Sie das Wort aus: nehmen Sie mich?

Ihr Herz schlug heftig, ihre Lippen wurden trocken, aber sie sprach das Wort:

—— Ja.

Es trat eine Pause ein. Magdalene saß schweigend im Kampfe mit der unbestimmten Furcht vor der Zukunft, welche sich nach ihrer Antwort in ihrem Geiste zu regen anfing. Hauptmann Wragge einerseits war ersichtlich von der Erwägung einer neuen Auflage von Entweder-Oder in Anspruch genommen. Seine Hände stiegen in den leeren Schacht seiner Taschen hinunter und untersuchten mit weiser Fürsorge für die Zukunft deren Fassungsvermögen als Schatzkammern für Gold und Silber. Der Glanz der edlen Metalle lag auf seinem Angesichte, die Glätte der edlen Metalle lag in seiner Stimme, als er ich mit einer neuen Ladung Worten ausrüstete und die Unterhaltung wieder aufnahm.

—— Die nächste Frage, sagte er, ist die Zeitfrage. Erfordern diese vertraulichen Nachforschungen von unserer Seite sofortige Aufmerksamkeit oder haben sie Zeit?

—— Für den Augenblick haben sie Zeit, versetzte Magdalene. Ich wünsche, bevor die Nachforschungen angestellt werden, meine Freiheit vor jeder Einmischung von Seiten meiner Freunde sicher zu stellen.

—— Sehr gut. Der erste Schritt zur Ausführung dieses Zweckes ist, daß wir den Rückzug antreten —— gestatten Sie mir als Militär diese technische Umschreibung —— daß wir morgen aus York den Rückzug antreten. Ich sehe meinen Weg soweit klar vorgezeichnet; aber ich bin ganz in Bereitschaft, wie wir bei der Miliz zu sagen pflegten, auf die weiteren Marschbefehle. Die nächste Richtung, die wir einschlagen, sollte mit Rücksicht darauf ausgewählt werden, wie wir Ihre Bühnenabsichten fördern. Ich bin auch ganz bereit dazu, wenn ich erst weiß, welches Ihre Absichten sind. Wie kamen Sie überhaupt darauf, ans Theater zu denken? Ich sehe das heilige Feuer in Ihnen brennen, aber sagen Sie mir, wer hat es angezündet?

Magdalene konnte ihm bloß nach einer Seite hin Aufschluß darüber geben. Sie konnte nur auf die für immer entschwundenen Tage zurückschauen und ihm die Geschichte von ihrem ersten Schritt zur Bühne auf Evergreen-Lodge erzählen. Hauptmann Wragge hörte mit gewohnter Höflichkeit zu, erhielt aber ersichtlich keinen zufriedenstellenden Eindruck von dem Gehörten. Ein Publikum von Freunden, war ein Publicum, dem er insgeheim abgeneigt war Glauben zu schenken, und das vom Bühnenleiter abgegebene Urteil war eben das Urteil eines Mannes, welcher seine Bezahlung in der Tasche und eine künftige Berücksichtigung seiner im Auge hatte, als er selbiges abgab.

——Interessant, äußerst interessant, sagte er, als Magdalene zu Ende war, aber nicht maßgebend, entscheidend für einen nüchternen Mann. Eine Probe Ihrer Fähigkeiten ist unumgänglich nöthig, um mir das rechte Licht zu geben. Ich bin selbst auf dem Theater gewesen, ich kenne das Lustspiel »Die Eifersüchtigen« von Anfang bis zu Ende recht gut. Ein Bruchstück ist Alles, was ich brauche, wenn Sie nicht die Worte vergessen haben, ein Stück von der Rolle der »Lucie« und ein Stück von der der »Julie«.

—— Ich habe die Worte nicht vergessen, sagte Magdalene traurig, und ich habe die kleinen Bücher bei mir, in denen mein Dialog aufgeschrieben war. Ich habe mich nie von ihnen getrennt; sie erinneren mich an eine Zeit....

Ihre Lippe zitterte, und eine Anwandlung tiefen Wehes machte sie schweigen.

—— Nervenleidend also, bemerkte der Hauptmann mit Nachsicht. Durchaus kein so übles Zeichen. Die größten Bühnenkünstlerinnen sind nervenleidend. Befolgen Sie deren Beispiel und überwinden Sie es. Wo sind die Rollen? Ach, hier sind sie schon! Ich will Ihnen die Stichworte geben —— es wird schon Alles vorübergehen wie die Zahnärzte beim »Holen« sagen, ehe man sichs versieht ——. Nehmen Sie das hintere Empfangszimmer für die Bühne und mich betrachten Sie als das Publikum. Klingling geht die Glocke des Regisseurs, der Vorhang rollt auf, Ordnung auf der Galerie, Verstummen im Parterre —— Lucie tritt auf!

Sie kämpfte hart, um sich zu fassen; sie drängte den Gram zurück, den unschuldigen, natürlichen, menschlichen Gram um die Gegenwart und den Verstorbenen ——, um die Thränen zu verhalten, welche er ihr schier entlocken wollte. Mit Willensstärke setzte sie die Hände kalt zusammen klammernd an, um zu beginnen. Als die ersten bekannten Worte über ihre Lippen gingen, kam Frank zu ihr zurück über die weite See her, und das Gesicht ihres todten Vaters schaute sie an mit dem Lächeln aus glücklicher alter Zeit. Die Stimmen ihrer Mutter und ihrer Schwester sprachen mild in der duftigen ländlichen Stille, und die Gartenwege auf Combe-Raven öffneten sich noch einmal vor ihrem Blicke. Mit einem schwachen Klageruf sank sie auf einen Stuhl, ihr Haupt fiel vorwärts auf den Tisch, und sie brach leidenschaftlich in Thränen aus.

Hauptmann Wragge sprang augenblicklich auf. Sie schaudern, als er näher kam und winkte ihm heftig mit der Hand von sich weg.

—— Lassen Sie mich allein, sagte sie, überlassen Sie mich eine Minute mir selber.

Der gefällige Wragge zog sich nach dem Vorderzimmer zurück, sah aus dem Fenster und pfiff leise vor sich hin.

—— Der Familienzug schon wieder! sagte er. Es kommt noch Hysterie ins Spiel.

Nachdem er eine bis zwei Minuten gewartet hatte, kehrte er zurück, um nachzusehen.

—— Ist Etwas, womit ich Ihnen dienen könnte? frug er. Kaltes Wasser? Gebrannte Federn? Flüchtiges Salz? Aerztliche Hilfe? Soll ich Mrs. Wragge rufen? Sollen wir es bis morgen verschieben?

Sie fuhr empor wild und mit brennenden Wangen, den Ausdruck einer verzweifelten Selbstüberwindung im Gesichte, eine gereizte Entschlossenheit in ihrem ganzen Wesen.

—— Nein! sagte sie. Ich muß mich selbst abhärten, und ich wills! Setzen Sie sich wieder nieder und sehen Sie mich spielen.

—— Bravo! rief der Hauptmann. Nehmen Sie einen muthigen Anlauf dagegen, meine Schöne, und sofort wirds vorbei sein!

Sie nahm einen Anlauf, verstört und mit Mißtrauen gegen sich selbst, mit erhobener Stimme und mit fieberähnlicher Glut auf ihren Wangen. Der ganze ungekünstelte mädchenhafte Zauber der Ausführung in glücklicherer Zeit war verschwunden. Die angeborene Anlage für die Bühne, die in ihr lag, trat hart und schroff zu Tage, entkleidet jedes mildernden Reizes, welcher sie vormals geschmückt hatte. Sie würde jeden Mann von feinerem Gefühl abgestoßen und kalt gelassen haben. Hauptmann Wragge aber, ihn riß sie geradezu hin. Er setzte seine Höflichkeit aus den Augen, er vergaß seine langen Redensarten. Der eigentliche Geist von des Mannes ganzem Vagabundenleben sprach sich unwiderstehlich in seinem ersten Gefühlsausbruche aus.

—— Wer zum Teufel hätte Das gedacht? Sie kann spielen wahrhaftig trotz alle Dem!

In dem Augenblicke, als diese Worte seinen Lippen entfuhren, faßte er sich anch schon wieder und schlüpfte zurück in seine gewöhnliche Redecanäle hinein. Magdalene unterbrach ihn in seinem ersten Compliment.

—— Nein, sagte sie, ich habe einmal die Wahrheit aus Ihnen heraus gebracht, ich brauche Nichts mehr.

—— Verzeihen Sie, antwortete der unverbesserliche Wragge Sie brauchen ein wenig Nachhilfe, und ich bin der Mann, sie Ihnen zu geben.

Mit diesen Worten stellte er einen Stuhl vor sie hin und begann sich auszusprechen.

Sie saß in Stillschweigen da. Eine düstere Gleichgültigkeit und Abgestorbenheit begann sich in ihrem Wesen zu zeigen, ihre Wangen wurden wieder bleich, und ihre Augen sahen müde und ausdruckslos nach der Wand vor ihr. Hauptmann Wragge bemerkte diese Zeichen von Verstimmung und Mißvergnügen mit sich selbst nach der Anstrengung, die sie gemacht hatte, und fühlte, wie wichtig es sei, sie wieder aufzurichten, indem es galt, sogleich offen und gerade über den Hauptpunkt mit ihr zu reden. Sie hatte in seinen Krämeraugen einen neuen Werth erhalten. Sie hatte in ihm den Gedanken, mit ihrer Jugend, ihrer Schönheit und ihrer hervorragenden Befähigung für die Bühne eine Spekulation zu verbinden, rege gemacht, wie ihm zuvor, ehe er sie spielen gesehen, nie beigekommen war. Der alte Milizsoldat war rasch auf seinen Vortheil bedacht. Er und seine Pläne waren geborgen, als Magdalene sich setzte, um zu hören, was er ihr zu sagen hatte.

—— Mr. Huxtables Meinung ist auch die meinige, begann er. Sie sind zur Schauspielerin geboren. Aber Sie müssen erst Anleitung erhalten, ehe sie Etwas auf der Bühne ausrichten können. Ich bin unbeschäftigt, ich bin sachverständig, ich habe Andere unterrichtet, —— ich kann auch Sie unterrichten. Vertrauen Sie nicht meinem Worte, so trauen Sie meinem Blicke für mein eigenes Interesse. Ich will es zu meinem Interesse machen, daß ich mir Mühe mit Ihnen gebe und schnell damit zu Stande komme. Sie sollen mich für meinen Unterricht von Ihrem Erwerb auf der Bühne bezahlen. Ihre erste Jahreseinnahme zur Hälfte, ein Drittel Ihrer dritten Jahreseinnahme und die Hälfte Ihres ersten Benefizes auf einem Londoner Theater. Was sagen Sie dazu? Liegt es wohl in meinem Interesse, Sie vorwärts zu bringen, oder nicht?

Soweit der Anschein ging und soweit die Bühne reichte, war es offenbar, daß er seine und Magdalenens Interessen zusammen verkettet hatte. Sie sagte ihm Das und wartete, daß er noch mehr sagte.

—— Vier bis sechs Wochen Studien, fuhr der Hauptmann fort, werden Ihnen eine vernünftige Idee geben von Dem, was Sie leisten können. »Es bildet ein Talent sich in der Stille«, und diese Stille für Sie müssen wir erst suchen. Hier können wir sie nicht finden; denn wir können Sie nicht als eine strenge Gefangene wochenlang im Rosmaringäßchen behalten. Ein ruhiger Ort auf dem Lande, sicher vor jeder Einmischung und Unterbrechung, ist der Platz, den wir einen Monat wenigstens brauchen. Verlassen Sie sich auf meine Oertlichkeitskunde durch ganz Yorkshire, und denken Sie, daß es so gut ist, als wäre der Ort schon gefunden. Ich sehe keine Schwierigkeiten, irgendwo außer der Schwierigkeit, morgen unsern Rückzug anzutreten.

—— Ich nahm an, daß Sie bereits gestern Abend Ihre Anordnungen getroffen hätten? bemerkte Magdalene.

—— Ganz recht, versetzte der Hauptmann. Sie sind auch gestern Abend getroffen, und es sind folgende. Wir können nicht mit der Eisenbahn fort, weil der Advocatenschreiber ohne Zweifel am Yorker Bahnhofe auf der Lauer liegt nach Ihnen. Sehr gut; wir nehmen statt Dessen die Landstraße und gehen in unserm eigenen Wagen fort. Wo aber in aller Welt sollen wir den herbekommen? —— Wir bekommen ihn, vom Bruder der Wirthin, der ein Pferd und eine Kutsche zum Vermiethen hat. Jene Kutsche kommt also morgen früh an das Ende des Rosmaringäßchens. Ich nehme meine Frau und meine Nichte mit hinaus, um ihnen die Schönheiten der Umgegend zu zeigen. Wir haben einen Picnic-Speisekober bei uns, welcher unser Vorhaben Vor aller Augen kund macht. Sie verkleiden sich mit einem Shawl, einem Hut und Schleier von Mrs. Wragge. Wir wenden York den Rücken, und fort gehts zu einem Vergnügungsausflug für den Tag, ich und Sie auf dem Vordersitz, Mrs. Wragge und der Kober auf dem Rücksitz. Wieder gut. Einmal auf der Landstraße, was thun wir dann? Wir fahren an den ersten Haltepunct über York hinaus nach Norden, Süden oder Osten, wie wir es nachmals beschließen. Kein Advocatenschreiber ist da, um Sie zu erwarten. Sie und Mrs. Wragge steigen aus, den Kober bei erster Gelegenheit öffnend. Anstatt junges Huhn und Champagner, enthält er einen Reisesack mit alledem, was Sie für die Nacht brauchen Sie nehmen Ihre Billete nach einem vorher bestimmten Orte, und ich fahre mit der Kutsche zurück nach York. Wieder hier angekommen, hole ich das zurückgelassene Gepäck und schicke nach der Wirthin unten:

—— Die Damen sind über den Ort Soundso (natürlich ein falscher Name) so entzückt, daß sie beschlossen haben, dort zu bleiben. Nehmen Sie gefälligst die Wochenmiethe an anstatt der Aufkündigung für die Woche. Guten Tag.

—— Sieht sich der Schreiber am Yorker Bahnhof nach mir um? Es fällt ihm nicht ein. Ich nehme mein Billet vor seiner Nase. Ich folge Ihnen mit dem Gepäck auf der Eisenbahn nach, und wo ist die Spur von Ihrer Abreise? Nirgends. Die Fee ist verschwunden, und die Vertreter und Handlanger des Gesetzes sind in der Tinte.

—— Warum sprechen Sie von Schwierigkeiten? fragte Magdalene. Die Schwierigkeiten scheinen doch beseitigt zu sein.

—— Alle außer einer, sagte Hauptmann Wragge mit bedeutungsvollem Nachdruck auf dem letzten Worte, die große Schwierigkeit der Menschheit von der Wiege bis zum Grabe: —— Geld.

Er machte langsam sein grünes Auge zu, seufzte aus tiefem Grunde und vergrub seine zahlungsunfähigen Hände in seine schlechterdings kein Erträgniß gehenden Taschen.

—— Wozu wird das Geld gebraucht? fragte Magdalene.

—— Um die Billete zu bezahlen, versetzte der Hauptmann mit rührender Einfachheit. Ich bitte, bemerken Sie wohl! Ich habe mich niemals dazu verstanden, werde mich nie dazu verstehen, einem menschlichen Wesen auf dem bewohnten Erdkreise einen Heller zu bezahlen. Ich spreche in Ihrem, nicht in meinem Interesse.

— Meinem Interesse?

—— Gewiß Sie können morgen nicht sicher aus York hinauskommen ohne die Kutsche. Und ich kann die Kutsche nicht bekommen ohne Geld. Der Bruder der Wirthin wird sie hergeben, wenn er die Rechnung seiner Schwester quittiert sieht und wenn er das Geld für die Tagesfuhre zum Voraus erhält, nicht anders. Gestatten Sie mir die Sache von dem geschäftlichen Standpunkte aus zu beleuchten. Wir sind übereingekommen, daß ich für meinen Lehrgang in der Bühnenkunst von Ihren künftigen Bühneneinnahmen bezahlt werden soll. Sehr gut. Ich stelle lediglich Wechsel auf meine zukünftigen Aussichten aus, und Sie, von welcher diese Aussichten abhängen, sind natürlich mein Banquier. Es ist nur um des Beispiels willen, wenn ich meinen Antheil an Ihrer ersten Jahresgage zu dem gänzlich unverhältnißmäßigen Betrage von hundert Pfund schätze. Diese Summe halb, diese Summe zu einem Viertel....

—— Wie viel brauchen Sie? fragte Magdalene ungeduldig.

Hauptmann Wragge war sehr in Versuchung, die an der Spitze der Handplacate ausgeworfene Belohnung zur Grundlage seiner Berechnung zu nehmen. Doch aber fühlte er, wie wichtig es für die Zukunft war, sich gegenwärtig noch zu mäßigen, und da er in Wirklichkeit ein zwölf bis dreizehn Pfund brauchte, verdoppelte er einfach den Betrag und sagte:

—— Fünfundzwanzig.

Magdalene nahm das kleine Täschchen aus ihrem Busen und gab ihm mit Geringschätzung und Erstaunen über die vielen dabei verlorenen Worte, mit denen er sie überschüttet hatte, um sie auf eine so mäßige Weise zu betrügen, das Geld. In früherer Zeit flossen auf Combe-Raven durch einen Federzug ihres Vaters fünfundzwanzig Pfund in die Hände eines Jeden im Hause, der sie haben wollte.

Hauptmann Wragges Augen verweilten auf dem kleinen Täschchen, wie die Augen der Verliebten auf ihren Geliebten ruhen.

—— Glücklich ein solches Täschchen! murmelte er, als sie es wieder in den Busen that.

Er stand auf, verschwand in einer Ecke des Zimmers, brachte dann sein hübsches Bücherfutteral zum Vorschein und schloß es feierlich auf dem Tische vor Magdalenen und sich auf.

—— Es ist einmal meine Natur so, mein liebes Kind, einmal meine Natur, sagte er, indem er eins von den plumpen in Kalbsleder und Pergament gebundenen Bücherchen öffnete. Ein Vertrag hat zwischen uns stattgefunden. Ich muß es schwarz auf weiß haben.

Er öffnete das Buch auf einer unbeschriebenen Seite und schrieb mit schöner kaufmännischer Hand den Kopftitel ein:

Miss Vanstone die Jüngere in Abrechnung mit Horatio
Wragge, vormals in der Königl. Miliz.

Soll. | Haben. 24. September 1846: ver- | Auf Abschlag bezahlt am anschlagter Werth von | 24. September 1846 die H. Wragges Anteil | Summe von an Miss V's erster | Jahreseinnahme, nämlich | = 200 Pf. St. | 25 Pf. St.

Als er die Summen eingetragen und auch durch Eintragung unter dem Soll kund gegeben hatte, daß Magdalenens schnelles Gewähren seines Verlangens bei ihm nicht weggeworfen sei, drückte er sein Löschpapier auf die nasse Tinte und legte das Buch weg mit der Miene eines Mannes, der ein verdienstliches Werk vollbrachte und der sich damit großthun könnte.

—— Entschuldigen Sie, wenn ich Sie sogleich verlassen muß, sagte er. Zeit ist von Wichtigkeit. Ich muß mich der Kutsche versichern. Wenn Mrs. Wragge hereinkommt, sagen Sie ihr Nichts, sie ist nicht klar genug, um sich auf sie verlassen zu können. Wenn sie sich herausnimmt, Sie auszufragen, so brechen Sie gleich ab. Sie brauchen nur laut mit ihr zu reden. Bitte, nehmen Sie mein ganzes Ansehen bei ihr an und seien Sie so laut mit Mrs. Wragge, als ich es bin!

Er setzte seinen hohen Hut auf, verbeugte sich, lächelte und trippelte aus dem Zimmer.

Indem Magdalene nur Gefühl für das Eine, für die Wohlthat, allein zu sein, und von keinem weiteren Eindruck deutliches Bewußtsein hatte, als von der unbestimmten Ahnung, daß eine ernste Veränderung mit ihr und ihrer Lage vorgegangen war: ließ sie die Vorkommnisse an dem Morgen wie Schatten an ihrer Seele vorüber ziehen und wartete gleichgültig auf Das, was der Tag weiter mit sich bringen werde. Nach Verlauf einiger Zeit öffnete sich leise die Thür. Die Riesengestalt von Mrs. Wragge schritt in das Zimmer und blieb vor Magdalenen in feierlichem Erstaunen stehen.

—— Wo sind Ihre Sachen? fragte Mrs. Wragge mit einem Ausbruch unverhaltbarer Sorge. Ich bin oben gewesen und habe in Ihre Schubkasten gesehen. Wo sind Ihre Nachtgewänder und Nachthauben? und Ihre Unterröcke und Strümpfe? und Ihre Haarnadeln und Bärenfettbüchsen und alles Uebrige?

—— Mein Gepäck ist auf dem Bahnhofe geblieben, sagte Magdalene.

Mrs. Wragges Mondgesicht erheiterte sich ein wenig. Der unverwüstliche weibliche Zug der Neugier versuchte in ihren matten blauen Augen aufzublitzen, flimmerte aber nur kläglich und erstarb.

—— Wie viel Gepäck? frug sie vertraulich. Der Hauptmann ist fortgegangen. Wir wollen gehen und es holen!

—— Mrs. Wragge! schrie eine entsetzliche Stimme an der Thür.

Zum ersten Male seit Magdalene zurückdenken konnte, war Mrs. Wragge taub für den gewöhnlichen Sporn. Sie versuchte wirklich eine schwache Gegenvorstellung in Gegenwart ihres Mannes.

—— Ach, laß sie doch ihre Sachen holen! bat Mrs. Wragge. Ach, die arme Seele, laß sie doch ihre Sachen holen!

Der unerbittliche Zeigefinger wies auf einen Winkel des Zimmers, senkte sich dann langsam, wie seine Frau sich vor demselben zurückzog, und blieb plötzlich in der Gegend ihrer Schuhe halten.

—— Höre ich doch immer ein Klappen auf den Dielen! rief Hauptmann Wragge mit vollkommnen Abscheu aus. Ja, allerdings. Wieder hinten übergetreten! Der linke Schuh dies Mal! Zieh ihn an, Mrs. Wragge! zieh ihn an! —— Die Kutsche wird morgen früh neun Uhr hier sein, fuhr er zu Magdalenen gewendet fort. Wir können möglicherweise Ihren Koffer nicht mehr einfordern. Hier ist Schreibpapier, Setzen Sie ein Verzeichniß des Nothwendigsten, das Sie brauchen, auf. Ich will damit in einen Laden gehen, die Rechnung für Sie bezahlen und das Paquet hierher bringen. Wir müssen den Koffer opfern, wir müssen in der That.

Während Mrs. Wragges Gatte so mit Magdalenen sprach, hatte sie selbst sich wieder aus ihrem Winkel hervorgeschlichen und war noch dem Hauptmann nahe genug gekommen, um die Worte Laden und Paquet zu verstehen. Sie schlug ihre großen Hände in unverhohlener Aufregung zusammen und verlor sofort alle ihre Selbstbeherrschung.

——— Ach, wenn es, im Laden zu kaufen gibt, laß mich Das machen! schrie Mrs. Wragge Sie geht aus, um ihre Sachen zu kaufen! Ach, laß mich mit ihr gehen, bitte, laß mich mit ihr gehen!

—— Setz Dich! schrie sie der Hauptmann an. Gerade! Mehr nach rechts, noch mehr. Bleib, wo Du bist!

Mrs. Wragge faltete ihre Hände in stiller Verzweiflung auf ihrem Schooße und brach sanft in Thränen aus.

—— Ich kaufe so gern im Laden, bat das arme Geschöpf, und ich komme jetzt so wenig dazu!

Magdalene schrieb ihr Verzeichniß fertig, und Hauptmann Wragge verließ sofort das Zimmer mit demselben.

—— Lassen Sie sich nicht Von meiner Frau belästigen, sagte er freundlich, als er fortging. Halten Sie sie kurz, die arme Seele, halten Sie sie kurz!

—— Weinen Sie nicht, sagte Magdalene und suchte Mrs. Wragge zu trösten, indem sie selbige auf die Schultern klopfte. Wenn das Paquet kommt, sollen Sie es zuerst aufmachen.

—— Ich danke Ihnen, meine Liebe, sagte Mrs. Wragge, indem sie sanft ihre Thränen trocknete, ich danke Ihnen herzlich. Geben Sie nicht acht auf mein Taschentuch, ich bitte. Es ist so klein! Ich hatte früher eine hübsche Anzahl davon mit Spitzenrändern. Sie sind alle fort. Es thut Nichts! Es wird mich freuen, Ihr Paquet zu öffnen und Ihre Sachen zu sehen. Sie sind sehr gut gegen mich. Ich habe Sie gern. Ich dächte —— Sie werden aber nicht böse? — Sie gäben mir einen Kuß.

Magdalene beugte sich über sie mit der freien Anmuth und Liebenswürdigkeit früherer Zeiten und berührte ihre verblichenen Wangen.

—— Lasse man mich etwas Unschuldiges thun! dachte sie mit geheimem Schmerz. Ach, lasse man mich etwas Unschluldiges und Freundliches thun um der alten Zeiten willen!

Sie fühlte ihr Auge feucht werden und wandte sich schweigend hinweg.

In der Nacht kam keine Ruhe über sie. In der Nacht kämpften die empörten Mächte des Lichts und der Finsterniß ihren schrecklichen Kampf um ihre Seele und ließen den Streit zwischen sich noch unentschieden, als der Morgen graute. Als die Uhr des Yorker Münsters Neun schlug, folgte sie Mrs. Wragge an den Wagen und nahm ihren Platz neben dem Hauptmann ein. Eine Viertelstunde später, und York lag hinter ihnen, die Landstraße streckte sich offen und hell im Morgenlichte vor ihnen aus.



Kapiteltrenner

Viertes Buch.

Zweite Zwischenscene.

Chronik der Ereignisse, aufbewahrt in Haupmann Wragges Bücherfutteral.

I.
(Chronik über October 1846.)

Ich habe mich in den Schooß meiner Familie zurückgezogen. Wir wohnen in dem abgelegenen Dorfe Ruswarp an den Ufern der Esk, ziemlich zwei Meilen landwärts von Whitby. Unsere Wohnungen sind bequem, und wir erfreuen uns außerdem der Wohlthat einer tüchtigen hübschen Wirthin. Mrs. Wragge und Miss Vanstone kamen vor mir hier an in Gemäßheit des Planes, den ich behufs der Bewerkstelligung unseres Rückzugs von York festgestellt hatte. Ich folgte ihnen einen Tag später allein mit dem Gepäck. Als ich den Bahnhof verließ, hatte ich die Genugthuung, den Advocatenschreiber in eifrigem Gespräch mit dem Criminalbeamten, dessen Ankunft ich vorhergesagt hatte, zu sehen. Ich ließ ihn im ruhigen Besitze der Stadt York und der ganzen umliegenden Gegend. Er hat höflich ein Gleiches gethan und uns seinerseits im ruhigen Besitze des Eskthales, dreißig Meilen entfernt von ihm, gelassen.

Merkwürdige Erfolge haben sich sogleich nach meinen ersten Bemühungen zur Ausbildung von Miss Vanstones Bühnentalent ergeben.

Ich habe entdeckt, daß sie ein außerordentliches Talent für Mimik besitzt. Sie hat die Beweglichkeit des Gesichts, die biegsame, modulationsfähige Stimme und die scharfe dramatische Auffassung, welche eine Dame zu Charakterrollen und Verkleidungen auf der Bühne geschickt machen. Alles, was ihr noch fehlt, ist Unterricht und Uebung, um sie ihrer Anlagen vollkommen zu versichern. Die so bei ihr gemachte Erfahrung hat einen Gedanken bei mir wieder lebendig gemacht, welcher mir ursprünglich bei einem der At-home-Vorstellungen [Die At-home-Unterhaltungen spielen in England eine große Rolle. Einerseits sind es Unterhaltungen in Privatgesellschaften, welche von Damen ans der vornehmen Welt in ihren Wohnungen veranstaltet und zu welchen Einladungen mit der Formel:

Mrs. SOUNDSO
at home
Sonnabend, den 24. Mai d. J. 9 Uhr Abends.

versendet werden. Dies at home bedeutet, daß die genannte Dame an dem betreffenden Tage Gesellschaft empfängt. Es wird musiziert, getanzt conversirt, es werden Charaden, Sprichwörter, lebende Bilder aufgeführt u. s. w. Manchmal wird Dies auf den Einladungskarten auch noch besonders namhaft gemacht. Anderer Art sind die At-home-Abende einzelner Schauspieler, welche in neuerer Zeit beliebt geworden sind. Zeigt ein Künstler oder eine Künstlerin ein solches »at Home« mit oder ohne Programm in den Zeitungen an, so heißt Das, das Publicum wird eingeladen, sich von dem betreffenden Künstler für einen ganzen Abend durch dramatische Soloscenen und vielleicht mit genauer Einhaltung der dreifachen aristotelischen Einheit unterhalten zu lassen. Die Scenen bestehen meist ans Nachahmungen berühmter Persönlichkeiten, auch wohl Nachahmungen anderer, und zwar bekannter Schauspieler von den großen Bühnen Londons, Nachahmungen fremder Nationalitäten, Nachahmungen schottischer und irischer Volkstypen. Man sieht immer einen und denselben Künstler aus der Bühne, der nur auf Augenblicke verschwindet, um die nöthigen Kostümwechsel zu vollbringen. Die Pausen werden mit Orchestermusik ausgefüllt, die eingelegten Gesänge mit selbiger begleitet. Es gibt Saisons in London, wo gleichzeitig fünf bis sechs Künstler in diesem Genre Vorstellungen geben. Ein Künstler nannte diese dramatischen Kunststücke sein Portefeuille. W.]

des verstorbenen unnachahmlichen Schauspielers Charles Mathews aufstieg. Ich war Weinhändler in damaliger Zeit, wie ich mich erinnere. Wir ahmten die Weinerzeugung der Natur in einer Hinterküche zu Brompton nach und brachten einen Tischwein zu Stande, einen blassen und merkwürdigen Sherry, tonischen Charakters, rund auf der Zunge, beliebt beim Hofe von Spanien, für neunzehn und ein halb Schilling das Dutzend, Flaschen mitgerechnet; siehe Prospekt aus jener Zeit. Der Gewinn war für mich und meine Theilnehmer nur gering, wir waren dem Geschmack der Zeit zu weit voraus und bei dem Flaschenhändler zu weit im Rückstande. Indem ich aus Mangel an Geld zugleich mit meinem Witz zu Ende war und sah, welche vollen Häuser Mathews machte, kam mir der Gedanke, eine mimische Nachahmung des großen Mimen selbst loszulassen, und zwar in Gestalt von At-home-Scenen, gespielt von einer Dame. Das einzige geringfügige Hinderniß war und blieb nur, eben die Dame zu finden. Von dieser Zeit bis jetzt habe ich vergebens darnach gesucht. Endlich habe ich die rechte Person aufgetrieben, ich habe nunmehr die Dame gefunden. Miss Vanftone besitzt Jugend und Schönheit in eben dem Maße, als Talent. Lehre ihr die Kunst der dramatischen Maske, Wragge, versieht, sie mit den geeigneten Anzügen für verschiedene Charaktere, entwickele ihre Anlagen für Gesang und Spiel, lege ihr eine Menge gescheidtes Zeug in den Mund, damit sie zum Publicum reden kann; kündige an »eine At-home-Vorstellung von einer jungen Dame«; verblüffe das Publikum durch eine dramatische Unterhaltung, welche Von Anfang bis zuletzt lediglich das Werk jener jungen Dame und von deren Gewandtheit ist; nimm die Anordnung der Sache ganz in Deine Hände: und was folgt als nothwendige Consequenz? Ruhm für meine schöne Anverwandte und ein Vermögen für mich selbst.

Ich theilte diese Betrachtungen so offen wie gewöhnlich Miss Vanstone mit, indem ich mich erbot, den Monolog zu schreiben, das ganze Geschäft in die Hände zu nehmen und den Gewinn zu theilen. Ich vergaß keineswegs meiner Sache dadurch Nachdruck zu verleihen, daß ich sie von den eifersüchtigen Ränken unterrichtete, denen sie begegnen würde, und von den Hindernissen, mit denen sie, wenn sie zum Theater ginge, zu schaffen bekommen werde, sprach. Und ich spielte endlich damit den Trumpf aus, daß ich auf die geheimen Nachforschungen welche ihr am Herzen liegen, und auf die persönliche Unabhängigkeit anspielte, welche sie sich zu erwerben sucht, bevor sie nach ihren Ermittelungen zu handeln beginnt.

—— Wenn Sie zur Bühne gehen, sagte ich, werden Ihre Dienste von einem Theaterunternehmer um Geld erkauft werden, und er wird auf seinen Ansprüchen bestehen, gerade wenn Sie von ihm frei sein müßten. Wenn Sie aber im Gegentheil meinen Plänen sich anschließen, so werden Sie Ihr eigener Herr sein und Ihr eigener Director, und Sie können Ihre Laufbahn machen, wie Sie wollen.

Diese letzte Erwägung schien sie zu packen. Sie nahm sich einen Tag Bedenkzeit, und als der Tag um war, gab sie ihre Einwilligung.

Ich hatte die ganze Verhandlung sofort schwarz auf weiß gebucht. Unser Uebereinkommen ist äußerst befriedigend, außer in einem einzigen Puncte. Sie zeigt ein krankhaftes Mißtrauen, ihren Namen unter irgend eine ihr vorgelegte Urkunde zu setzen. Sie sagt rund heraus, daß sie keine Urkunde unterzeichnen möge. So weit es in ihrem Interesse ist, sie mit Geldmitteln für die Zukunft zu versehen, verpflichtet sie sich mündlich, fortzufahren. Wenn es aber aufhört, in ihrem Interesse zu sein, so spricht sie offen die Drohung aus, den Vertrag zu kündigen und eine Woche darauf fortzugehen. Sie ist ein schwer zu befriedigendes Mädchen, sie hat bereits richtig herausgefühlt, welchen Werth sie für mich hat. Ein süßer Trost ist mir geblieben: ich habe die Buchführung über die Einnahmen, und da will ich denn schon dafür sorgen, daß meine schöne Base nicht allzu rasch reich werden soll, so weit ich es nämlich hindern kann.

Meine Bemühungen, Miss Vanstone für den bevorstehenden dramatischen Versuch vorzubereiten, unterstützte ich durch zwei anonyme Briefe, welche ich im Interesse der jungen Dame abfaßte und versandte. Da ich nämlich merkte, daß sie sich zu viel Gedanken machte, wie sie mit ihren Freunden aufs Reine käme, und daher meinem Unterricht nicht ihre ganze Aufmerksamkeit mehr schenkte, schrieb ich anonym an den Rechtsanwalt, der die Nachforschung nach ihr in seinen Händen hat, und ersuchte ihn in höflichen Worten, sich nicht weiter zu bemühen. Den Brief schickte ich im Einschluß an einen meiner Freunde in London mit der Weisung, ihn zu Charingcroß aufzugeben. Eine Woche später schickte ich durch denselben Canal einen zweiten Brief, in welchem ich den Adoocaten ersuchte, mich schriftlich in Kenntniß zu setzen, ob er und seine Clienten sich entschlossen hätten, meinem Rathe zu folgen oder nicht. Ich wies ihn mit scherzhafter Anspielung auf den Widerstreit der zwischen uns obschwebenden Interessen an, seinem Briefe folgende Aufschrift zu geben:

Wir Du mir, so ich Dir, Postamt, West Strand.

In wenigen Tagen langte die Antwort an, und zwar in Folge einer Verabredung mit meinem Freunde in London heimlich an das Postamt zu Whitby expediert.

Die Erwiderung des Advocaten war kurz und bestimmt.

Mein Herr!

Wenn mein Rath befolgt worden wäre, so würden Sie und Ihr anonymer Brief mit der Verachtung, welche Sie verdienen, behandelt worden sein. Allein die Wünsche von Miss Magdalene Vanstones ältester Schwester haben ein Anrecht darauf, von mir berücksichtigt zu werden, das ich nicht bestreiten kann, und auf Ihr Ersuchen benachrichtige ich Sie, daß alle weiteren Maßregeln von meiner Seite zurückgenommen sind, unter dem ausdrücklichen Bedingniß, daß dies Zugeständniß zur Eröffnung eines Briefwechsels wenigstens zwischen den beiden Schwestern führt. Ein Brief von der älteren Miss Vanstone folgt im Einschlusse. Wenn ich binnen einer Woche nicht höre, daß er richtig in Empfang genommen worden ist, werde ich die Sache noch einmal den Händen der Polizei übergeben.

William Pendril.

Ein gestrenger Mann, dieser William Pendril. Ich kann von ihm nur sagen, was ein hochgestellter Edelmann einmal von seinem Diener sagte:

—— Ich möchte ein solches Temperament, wie es der Bursche hat, nicht haben um alle Schätze dieser Welt!

Wie sichs von selbst versteht, sah ich erst in den Brief, den der Rechtsanwalt im Einschluß beigelegt hatte, bevor ich ihn abgab. Miss Vanstone die Aeltere schilderte die unsägliche Beunruhigung, welche sie empfinde, weil sie ohne Nachricht von ihrer Schwester sei, zeigte an, daß sie eine Stelle als Erzieherin einer Familie angenommen habe und daß sie dieselbe schon binnen acht Tagen antreten werde. Sie sehne sich daher nach einem Briefe, der sie trösten solle, bevor sie an das schwere Werk, die Uebernahme ihrer neuen Pflichten, herangehe. Als ich das Couvert wieder zugemacht hatte, begleitete ich die Uebergabe des Briefes an Miss Vanstone die Jüngere mit einer Verwahrung.

—— Sind Sie Ihrer Standhaftigkeit jetzt mehr sicher, als damals, wo ich Sie zuerst traf? sagte ich.

Schnell fertig war sie mit der Antwort:

—— Hauptmann Wragge, als Sie mich auf dem Walle von York trafen, war ich noch nicht so weit gegangen, daß ich nicht mehr zurück gekonnt hätte. Jetzt bin ich so weit gegangen.

Wenn sie Das wirklich fühlt —— und ich glaube, sie fühlt es selbst —— so kann der Briefwechsel mit der Schwester Nichts schaden. Sie schrieb noch denselben Tag äußerst ausführlich, weinte unendlich über ihren eigenen Schreibebrief und war den Abend merkwürdig übler Laune und schroff gegen mich. Sie hat keine Erfahrungen, das arme Mädchen, sie hat traurig wenig Erfahrung von der Welt. Wie tröstlich zu wissen, daß ich gerade der Mann bin, sie damit auszustatten!



Kapiteltrenner

II.
(Chronik über November.)

Wir haben uns in Derby eingerichtet. Die dramatische Unterhaltung ist zu Papier gebracht, und die Proben nehmen ihren stetigen Fortgang. Alle Schwierigkeiten sind beseitigt, nur nicht die ewige Schwierigkeit rücksichtlich des Geldpunctes Miss Vanstones Hilfsquellen reichen wohl ganz gut für Unsere persönlichen Bedürfnisse aus, die Miethe eines Pianoforte zur Uebung und den Ankauf und die Fertigung der nöthigen Kleider eingerechnet. Aber die Unkosten, um die Unterhaltung ins Werk zu setzen, übersteigen die Mittel, die wir besitzen. Ein Freund von mir, der beim Theater ist und den ich für unser Unternehmen zu interessieren gehofft hatte, ist, wie es sich leider herausstellt, selbst in einer Krisis in seiner Laufbahn. Das Feld des menschlichen Mitleids, aus dem ich hätte die nöthige Geldernte ziehen können, ist mir verschlossen, da es an Zeit fehlt, es zu bestellen und zu behalten. Ich sehe, es bleibt kein ander Mittel übrig —— wenn wir bis Weihnachten zu Rande sein wollen —— als einen von den Musikhändlern hier anzugehen, welcher, wie man sagt, ein speculativer Mann ist. Eine Privatprobe in dieser Wohnung, und ein Gewinn, der die Taschen eines habgierigen Dritten füllen wird, das sind die Opfer, welche die grausame Nothwendigkeit mir bei diesem Werke auferlegt. Gut. Es ist noch ein Trost wenigstens dabei. Ich will den Musicalienhändler prellen.



Kapiteltrenner

III.
(Chronik über Dezember Erste Hälfte.)

Der Musicalienhändler nöthigt mir unwillkürlich meine Achtung ab. Von den menschlichen Wesen, die mir im Laufe meines Lebens aufgestoßen sind, ist er einer der Wenigen, die sich nicht prellen lassen. Er hat sich unsere hilflose Lage ganz meisterhaft zu nutze gemacht und uns für Aufführungen zu Derby und Nottingham mit gewinnsüchtiger Rücksichtslosigkeit gegen alle Interessen außer seinem eigenen solche Bedingungen auferlegt, daß ich, so eifrig und gern ich auch Alles schwarz auf weiß zu Papier zu bringen pflege, es in der That nicht über mich gewinnen kann, den schnöden Gewinn desselben aufzuzeichnen. Es ist unnöthig zu sagen, daß ich mein Bestes gethan habe, indem ich mit meiner schönen Verwandten den ärmlichen Ueberschuß, der uns blieb, theilte. Das Blättchen wird sich schon ein Mal für uns wenden. Mittlerweile bedaure ich aufrichtig, den Musicalienhändler des Orts nicht früher gekannt zu haben. ——

Was meine Person anbetrifft, so habe ich keine Ursache, über Miss Vanstone Klage zu führen. Wir haben die Einrichtung getroffen, daß sie ihren Freunden regelmäßig ihre Adresse poste restante angibt, sobald wir den Ort wechseln. Außerdem, daß sie auf diese Weise mit ihrer Schwester in Briefwechsel steht, schreibt sie auch an einen gewissen Mr. Clare, der in Somersetshire lebt. Derselbe hat alle zwischen ihr und seinem Sohne gewechselten Briefe zu besorgen. Sorgfältiges Nachspüren hat mich belehrt, daß dieses letztgenannte Individuum jetzt in China ist. Da ich von allem Anfang vermuthet hatte, daß ein Herr im Hintergrunde stehen möchte, so freut es mich höchlich zu wissen, daß sich Selbiger in die weite Nebelferne Asiens verzogen hat. Möge er recht lange dort verweilen!

Die kleine Sorge, einen Namen ausfindig zu machen, unter welchem unsere talentvolle Magdalene auftreten soll, ist auf meine Schultern gelegt worden. Sie ist in Bezug aus diesen Gegenstand vollkommen gleichgültig.

—— Geben Sie mir irgend einen Namen, welchen Sie wollen, sagte sie, ich habe auf einen so viel Recht, wie auf den andern. Machen Sie selbst einen.

Ich habe mich schon bereit erklärt, ihren Wünschen zu genügen. Die Hilfsmittel meiner kaufmännischen Bibliothek enthalten eine Liste von passenden Namen, die man annehmen kann. In fünf Minuten können wir uns einen aussuchen, wenn der bewundernswürdige Geschäftsmensch, der uns jetzt in seinen Händen hat, fertig ist, um seine Ankündigungen loszulassen. In diesem Puncte ist mein Herz leicht genug: alle meine Sorgen betreffen einzig und allein die schöne Debütantin. Ich hege nicht den geringsten Zweifel, daß sie Wunder thun wird, wenn sie nur an dem ersten Abend bei sich selber ist. Wenn aber die Briefpost von dem Tage schlimm ausfällt, daß sie nämlich durch einen Brief ihrer Schwester aufgeregt wird, dann zittere ich wegen der Folgen.



Kapiteltrenner

IV.
(Chronik über Dezember Zweite Hälfte.)

Meine reichbegabte Nichte ist zum ersten Male öffentlich aufgetreten und hat den Grundstein unseres künftigen Reichthums gelegt.

An dem ersten Abend war das Publicum zahlreicher, als ich zu hoffen gewagt hatte. Der Reiz der Neuheit einer ganzen »Abendunterhaltung, welche von Anfang bis zu Ende lediglich und allein auf den Leistungen einer jungen Dame ohne weitere Mitwirkung beruht« (siehe die Anzeige) machte die Neugier des Publicums rege, und die Sitze waren recht hübsch besetzt. Das Glück fügte es, daß an dem Tage kein an Miss Vanstone gerichteter Brief kam. Sie war vollständig bei sich, bis sie das erste Kleid anzog und die Klingel für den Beginn der Musik hörte. In diesem kritischen Augenblicke brach sie plötzlich zusammen.

Ich fand sie allein im Wartezimmer, schluchzend und sprechend wie ein Kind.

-- Ach, mein armer Vater, mein armer Vater! Ach, mein Gott, wenn er mich jetzt sähe!

Meine Erfahrung in solchen Dingen gab mir sogleich an die Hand, daß hier die Behandlung mit flüchtigem Salz auf der einen und vernünftigem Zureden auf der andern Seite »angezeigt« sei. Im Nu gaben wir ihr die Concertstimmung, entzündeten das Feuer ihrer Augen und regten sie so an, daß die Röthe ihrer Wangen die Schminke blaß erscheinen ließ. Der Vorhang ging in die Höhe, als wir sie in die Rothglühhitze gebracht hatten. Sie griff die Sache so kühn an, genau so, wie sie es in dem hinteren Empfangzimmer im Rosmaringäßchen gemacht hatte. Ihre persönliche Erscheinung erledigte die Frage ihrer Aufnahme beim Publikum sofort und glänzend, noch ehe sie die Lippen geöffnet hatte.

Sie spielte ihre Charakterdarstellungen, ihre Gesangsscenen und ihren Monolog in fieberhafter Eile herunter, machte Versehen zu Dutzenden, hielt aber nicht einen Augenblick inne, sie zu verbessern und riß das Volk mit sich fort in einem wahren Wirbelwind, gar nicht wartend auf den Applaus. Die ganze Geschichte war zwanzig Minuten eher zu Ende, als wir gerechnet hatten. Sie führte es richtig durch bis zu Ende. Aber eine Minute nachdem der Vorhang gefallen war, sank sie auf dem Sopha der Garderobe in Ohnmacht. Der Musicalienhändler hatte vor lauter Erstaunen schier den Verstand verloren, ich hatte keinen Anzug, um darin zu erscheinen: kurz wir mußten den Arzt hinaustreten lassen, um dem Publicum die nöthige Entschuldigung zu machen, das sie herausrief, bis das Haus erdröhnte Ich versah unsern medicinischen Sprecher mit einer hübschen Ansprache hinter dem Vorhange hervor und hörte niemals in meinem Leben solchen Applaus von einem vergleichsweise so kleinen Publikum. Ich fühlte den Tribut, fühlte ihn tief.

Vor fünfzehn Jahren hatte ich mich in derselben Stadt kümmerlich durchgeschlagen als Vorleser der Zeitungen mit erklärenden Randglossen für die Gesellschaft eines Gasthauses. Und jetzt war ich wieder hier, dies Mal aber auf einem »grünen Zweig«.

Es ist unnöthig zu sagen, daß meine erste Maßregel war, den Musicalienhändler sofort bei Seite zu schieben. Er fragte den nächsten Morgen vor ohne Zweifel mit einem liberalen Vorschlage, das Engagement noch über Derby und Nottingham auszudehnen. Meine Nichte wurde verleugnet, sie sei nicht wohl genug, um ihn zu empfangen, und, als er nach mir fragte, wurde er berichtet, ich wäre nicht auf. Ich war gerade dabei, den Fall unserer begabten Magdalene eindringlich vorzustellen Ihre Antwort war im höchsten Grade zufriedenstellend. Sie wollte sich Niemandem auf immer verbindlich machen, am wenigsten gegenüber einem Manne, der ihre und meine Lage zu schmutziger Uebervortheilung mißbraucht hatte. Sie wolle ihr eigener Herr sein und den Gewinn mit mir theilen, so lange sie kein Geld habe und so lange es ihr so gefalle. So weit war Das gut. Allein der Grund, den sie gleich nachher für den schmeichelhaften Vorzug, den sie mir gab, anführte, war weniger nach meinem Geschmacke.

—— Der Musicalienhändler ist mit Nichten der Mann, den ich brauche, um meine Nachforschungen auszuführen, sagte sie. Sie sind der Mann.

Mir will dies zähe Zurückkommen auf jene Nachforschungen so inmitten der ersten Verwirrung ihres Erfolges gar nicht gefallen. Das sieht für die Zukunft verteufelt schlimm aus.



Kapiteltrenner

V.
(Chronik über Januar 1847.)

Sie hat bereits die Teufelskralle gezeigt. Sie fängt an, mir allmählich fürchterlich zu werden.

Nach dem Schlusse des Nottinghamer Engagements, dessen Erfolge denen von Derby wenigstens gleich kamen, wo nicht sie übertrafen, schlug ich vor, die Unterhaltung zunächst in Newark zu veranstalten, da wir sie ganz in die eigenen Hände genommen hatten.

Miss Vanstone hatte Nichts dawider, bis wir auf die Zeitfrage kamen. Da aber setzte sie mich in Staunen durch ihr beharrliches Verlangen von einer Woche Aufschub, ehe sie wieder öffentlich aufträte.

—— Zu welchem denkbaren Zweck denn? frug ich.

—— Zu dem Zweck, um die Nachforschungen zu beginnen, die ich Ihnen bereits zu York erwähnt habe, antwortete sie.

Ich machte ihr nun augenblicklich die durch diesen Aufschub erwachsende Gefahr recht groß vor, indem ich ihr alle möglichen Gegengründe in jeder erdenklichen Form vor die Seele führte. Sie blieb aber fest und unbeweglich. Ich versuchte sie durch die Kostenfrage mürbe zu machen. Sie antwortete mir dadurch, daß sie mir ihren Antheil an den Einnahmen zu Derby und Nottingham einhändigte, und damit waren meine Auslagen in der Weise gedeckt, daß fast zwei Guineen auf den Tag entfielen. Wer hat nur zuerst das Maulthier als lebendiges Beispiel der Halsstarrigkeit hingestellt? Welche geringe Kenntniß vom Weibe muß der Mann gehabt haben!

Hier ließ sich nun Nichts mehr dagegen thun. Ich brachte wie gewöhnlich meine Weisungen schwarz auf weiß zu Papier.

Meine ersten Bemühungen sollten auf die Entdeckung Von Mr. Michael Vanstones Aufenthalt gerichtet sein. Es wurde auch von mir erwartet, daß ich herausbekommen sollte, wie lange er daselbst wohl bleiben werde und ob er Combe-Raven verkauft hätte oder nicht.

Meine nächsten Ermittelungen sollten mich mit seinen Lebensgewohnheiten und seiner Anwendung des Geldes bekannt machen.

Ich sollte mir von seinem engeren Freundeskreise, von seinem gegenwärtigen Verhältnisse zu Mr. Noël Vanstone, seinem Sohne, Kenntniß verschaffen.

Endlich sollten die Nachforschungen damit schließen, ob es vielleicht irgend eine weibliche Anverwandte oder eine andere Frau zur Leitung des Hauswesens in seinem Hause gäbe, die bekanntermaßen Einfluß auf Vater oder Sohn hätte.

Wenn meine lange Uebung in der Bestellung des Feldes der menschlichen Gutmüthigkeit mich nicht an geheime Nachforschungen über die Angelegenheiten anderer Leute gewöhnt hätte, so würde ich wohl manche von diesen Fragen für in der Spanne Zeit von acht Tagen zu schwer zu erledigen gehalten haben. Wie die Sache aber stand, erntete ich den Segen: eigener Erfahrung und brachte die Antworten noch einen Tag früher, als ausgemacht war, nach Nottingham zurück. Sie lauten in regelmäßiger Ordnung zur Bequemlichkeit bei künftigem Gebrauche folgendermaßen:

Ad I. Mr. Michael Vanstone lebt jetzt auf German Place in Brighton und wird wahrscheinlich so lange dort bleiben, als er die Luft sich zuträglich findet. Er traf am letzten September aus der Schweiz in London ein und verkaufte Combe-Raven, wie es stand und lag, sofort nach seiner Ankunft.

Ad II. Seine Lebensgewohnheiten sind verborgen und geheimnißvoll: er macht und empfängt selten Besuche. Sein Geld ist, wie man annimmt, theils in Staatspapieren, theils in Eisenbahnactien, welche die Panic Von achtzehnhundertsechsundvierzig überstanden haben und in ungemein raschem Steigen begriffen sind, angelegt. Seit seiner Ankunft in England hat er auch mit großem Scharfblick im Häuserkauf speculirt. Er besitzt einige Häuser in entlegenen Theilen von London und einige Häuser in gewissen Badeorten an der Ostküste, welche, wie es scheint, immer mehr in Aufnahme kommen. In allen diesen Fällen soll er merkwürdig gute Geschäfte gemacht haben.

Ad III. Es ist nicht leicht zu entdecken, wer eigentlich seine vertrauten Freunde sind. Zwei Namen nur sind bis jetzt ermittelt. Der Erste ist Admiral Bartram, welcher in früherer Zeit Mr. Michael Vanstone freundschaftliche Verpflichtungen schuldig war. Der Zweite ist Wir. George Bartram, Neffe des Admirals, und jetzt im Hause auf German Place für kurze Zeit auf Besuch. Mr. George Bartram ist der Sohn von des verstorbenen Mr. Andreas Vanstones Schwester, die auch gestorben ist. Er ist daher Geschwisterkind mit Mr. Noël Vanstone. Dieser Letztere, nämlich besagter Mr. Noël Vanstone, ist bei vortrefflicher Gesundheit und lebt in einem ausgezeichneten Verhältnisse zu seinem Vater an German Place.

Ad IV. Es gibt keine weibliche Anverwandte in Mr. Michael Vanstones Familienkreise. Allein eine Haushälterin befindet sich dort, welche seit seiner Frau Tode in seinen Diensten gestanden ist und welche dadurch einen starken Einfluß aus Vater und Sohn gewonnen hat. Sie ist aus der Schweiz gebürtig, schon ziemlich in den Jahren und Witwe. Ihr Name ist Mrs. Lecount.

Als ich diese Mittheilungen in Miss Vanstones Hände legte, machte sie keine Bemerkung weiter, als daß sie mir dankte. Ich versuchte, sie zu bewegen, mich ins Vertrauen zu ziehen. Ohne Erfolg. Es kam nur zu einem abermaligen Höflichkeitbeweise, dann sprang sie plötzlich wieder auf einen andern Gegenstand, die dramatische Unterhaltung, über. Auch gut. Wenn sie mir nicht die Aufklärung gibt, die ich brauche, so liegt der Schluß nahe: ich muß mir selber helfen.

Geschäftliche Erörterungen mögen den übrigen Raum dieser Seite einnehmen. Wenden wir uns zum Geschäftlichen zurück.

Stand der Finanzen. Dritte Januarwoche. ___________________________________|_________________________________ Ort der Ausführung: | Aufführungen: Newark. | zwei. ___________________________________|_________________________________ Reineinnahme, | Reineinnahme, schwarz auf weiß. | wirklich in Casse: 25 Pf. St. | 32 Pf. St. 10 Schill. ___________________________________|_________________________________ Gewinnvertheilung,angeblich: | Gewinnverteilung in Wirklichkeit: Miss V. . . . 12 Pf St. 10 Sch. | Miss V. . . . 12 Pf St. 10 Sch. Ich . . . . . 12 = = 10 Sch. | Ich . . . . . 20 = = - Sch. ___________________________________|_________________________________ Privatüberschuß der Woche, | oder auch | selbst zuerkanntes Ehrengeschenk: | 7 Pf. St. 10 Schill. | ___________________________________|_________________________________ Geprüft: | Durchgesehen und für richtig | befunden. H. WRAGGE. | H. WRAGGE.

Das nächste Bollwerk britischer Sympathien, das wir mit Sturm nehmen, ist Sheffield. Wir beginnen in der ersten Woche des Februar.



Kapiteltrenner

VI.
(Chronik über Februar.)

Uebung hat meiner schönen Verwandten die Sicherheit verliehen, welche, wie ich voraussagte, mit der Zeit kommen werde. Ihr Kniff, ihre Person durch die Annahme ganz verschiedener Charaktermasken zu verstellen, verblüfft ihr Publicum dermaßen, daß dieselben Leute zwei Mal hereingehen, um nur herauszubekommen, wie sie es eigentlich anfängt. Es ist ein Fehler des englischen Publicums, nie zu wissen, wenn es etwas Gutes genug gesehen hat, und Das kommt uns zu passe. Man versucht in der That, sie durch Hervorruf zur Wiederholung eines ihrer Charaktere zu bewegen, einer alten nordenglischen Dame, mimische Nachahmung der ehrenwerthen Lehrerin in des seligen Mr. Vanstones Familie, welcher ich mich auf Combe-Raven vorstellte. Gerade diese einzelne Darstellung entzückt die Leute höchlich. Ich finde Das sehr natürlich. Solch eine außerordentliche Darstellung des höhern Alters durch ein Mädchen von neunzehn ist auf der Bühne noch nicht dagewesen, so lange ich in meinen Theatererinnerungen zurückdenken kann.

Ich finde selbst, daß der Ton, in dem ich Dieses niederschreibe, gedrückter ist, als sonst: ich vermisse meine frühere Spannkraft und meinen Humor. Die Sache ist, ich bin wegen der Zukunft arg verstimmt. Auf der Höhe unseres Glückes kommt meine ganz verdrehte Schülerin immer wieder auf ihren leidigen Familienzwist zurück. Ich fühle, daß ich jeden Augenblick in Absicht des Vanstone ein Spielball ihrer Laune werde, wenn es ihr in den Kopf schießt, ich der Baumeister ihres Glückes und ihrer baren Erfolge. Zu kläglich, bei meiner armen Seele, zu kläglich!

Sie hat auf Grund der Nachforschungen die sie mich zu machen nöthigte, bereits gehandelt. Sie hat zwei mal an Mr. Michael Vanstone geschrieben.

Auf den ersten Brief erfolgte keine Antwort. Auf den zweiten erhielt sie eine Rückäußerung Ihre teuflische Schlauheit hinderte mich auf eine ganz unerwartete Weise, denselben aufzufangen. Später am Tage, als sie ihn selbst geöffnet und die Antwort gelesen hatte, legte ich ihr eine neue Schlinge. Das Mittel verfing, aber Nichts weiter. Ich hatte, als sie den Rücken gewendet, eine halbe Minute Zeit, in das Couvert zu schauen. Es enthielt Nichts, als ihren eigenen Brief, der zurückgesendet wurde. —— Sie ist nicht das Mädchen, welches sich eine Beleidigung wie diese ruhig sollte gefallen lassen. Unheil wird daraus kommen. Unheil für Michael Vanstone, was hienieden von keinen Folgen sein würde, Unheil für mich, was eine wahrlich sehr ernste Sache wäre.



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VII.
(Chronik über März.)

Nach den Vorstellungen zu Sheffield und Manchester haben wir uns nach Liverpool, Preston und Lancaster begeben. Wieder eine Veränderung in dieser Windrose von einem Mädchen! Sie hat keine Briefe mehr an Michael Vanstone geschrieben und ist so eifrig darauf versessen, Geld zusammen zu schlagen, als ich selber. Wir haben große Einnahmen, arbeiten uns aber auch zu Tode. Ich sehe diese Veränderung bei ihr nicht gern, sie hat vor, irgendwie zu antworten, sonst würde sie nicht diesen außerordentlichen Eifer zeigen, ihre Börse zu füllen. Nichts, das ich andrehen kann, keine falsche Rechnungsablage, keine mir selbst zuerkannten Ehrengeschenke —— können diese Börse leer machen. Der Erfolg der »Unterhaltung« und ihr eigener Scharfblick für alle ihre Interessen zwingen mich buchstäblich in eine vergleichsweise anständige und ehrliche Handlungsweise hinein. Sie steckt mehr als ein Drittel des Reingewinns in ihre Tasche, trotz aller meiner kühnsten Kunststücke, ihr zuvorzukommen. Und Dies passiert mir in meinem Alter, Dies muß ich erleben nach meiner langen und erfolgreichen Laufbahn als »moralischer« Landwirth und Industrieritter! Zeichen der Bewunderung sind etwas Geringfügiges, aber sie drücken meine Empfindungen aus, und schreibe ich sie denn getrost hin.



Kapiteltrenner

VIII.
(Chronik über April und Mai.)

Wir haben noch sieben große Städte besucht und befinden uns jetzt zu Birmingham. Indem ich meine Bücher befrage, finde ich, daß Miss Vanstone durch die »Unterhaltung« bis jetzt die ungeheure Summe von nahezu vierhundert Pfund eingenommen hat. Es ist wohl möglich, daß mein eigener Gewinn elende ein oder zweihundert Pfund mehr beträgt. Aber dafür bin ich ja der Schmied ihres Glückes, der Verleger sozusagen ihres Werkes und, wenn nur eins davon, dann bin ich schlecht bezahlt.

Ich machte die obige Entdeckung am neunundzwanzigsten des Monats, Jahrestag der Wiedereinsetzung meines königlichen Vorfahren in der Kunst der Bearbeitung des menschlichen Mitleids, Karls des Zweiten. Ich hatte mit genauer Noth mein Bücherfutteral wieder zugemacht, als das undankbare Mädchen, dessen Ruhm mein Werk ist, in das Zimmer kam und mir in eben soviel Worten anzeigte, daß die Geschäftsverbindung zwischen uns vor der Hand zu Ende sei.

Ich versuche nicht, meine Gefühle zu schildern, ich erzähle nur die Thatsachen. Sie eröffnete mir anscheinend mit größter Seelenruhe, daß sie der Rast bedürfe und daß sie »neue Dinge in Aussicht nähme«. Sie würde möglicherweise mich als Beistand dabei brauchen, würde auch möglicherweise wieder auf die »Unterhaltung« zurückkommen. Auf jeden Fall werde es genügen, wenn wir uns gegenseitig unsere Adressen angäben, unter welchen wir uns vorkommenden Falls schreiben könnten. Da sie nicht beabsichtige, mich Knall und Fall zu verlassen, so wolle sie bis nächsten Tag (es war ein Sonntag) bleiben und Montag Morgen zu ihrer Abreise bestimmen. Das war ihre Erklärung, fast in eben soviel Worten.

Gegenvorstellungen wären, Das wußte ich aus Erfahrung, sofort zurückgewiesen worden. Eine Gewalt hatte ich über sie nicht auszuüben. Der einzige Weg, den ich bei diesem Vorkommnisse einzuschlagen hatte, war: ausfindig zu machen, wie ich meinen Vortheil am Besten wahrte; und auf dieser Bahn dann, ohne einen Augenblick durch unnöthiges Zögern zu verlieren, vorzugehen.

Ein klein wenig Nachdenken hat mich dann zu der Ueberzeugung gebracht, daß sie einen tief angelegten Plan gegen Michael Vanstone im Schilde führt. Sie ist jung, hübsch, gewandt und rücksichtslos. Sie hat Geld genug zusammengeschlagen, um davon leben zu können, und hat auch Zeit genug für sich, um die schwache Seite eines alten Mannes ausfindig zu machen. Sie schreitet furchtlos zum Kampfe mit Mr. Michael Vanstone, angethan mit den erlaubten Waffen ihres Geschlechts. Braucht sie wohl mich zu einem Vorhaben wie Dieses? unsicher. Wünscht sie etwa nur, mich auf leichte Weise loszuwerden? Wahrscheinlich. Bin ich ein Mann, der sich von seinem Pflegling so behandeln läßt? Entschieden nein: Ich bin der Mann, den Weg mir vorgezeichnet zu sehen durch eine saubere Aufeinanderfolge von Entweder-Oder, und hier sind Letztere:

Ernstlich. Meine Geneigtheit gegenüber ihrem Vorhaben auszudrücken, Adressen mit ihr zu wechseln und dann insgeheim alle ihre künftigen Schritte im Auge zu behalten.

Zweitens. Zärtliche Besorgniß im Tone des erfahrenen Vaters auszusprechen und ihr zu drohen, ihrer Schwester und dem Advocaten ein Licht aufzustecken und Dieselben herbeizurufen, wenn sie bei ihrer Absicht beharrt.

Drittens. Die Kenntniß, die ich schon besitze, aufs Beste zu verwerthen, indem ich aus ihr ein Geschäftchen zwischen Mr. Michael Vanstone und mir herausschlage.

Für jetzt gefällt mir der letzte von diesen drei Wegen am Besten. Aber mein Entschluß ist viel zu wichtig, als daß ich mich übereilen sollte. Heute ist erst der neunundzwanzigste Ich will meine Chronik der Ereignisse bis Montag aussetzen.

Den 31. Mai.

Meine Entweder-Oder und ihre Pläne, Beides ist um den Haufen geworfen worden.

Die Zeitung kam, wie gewöhnlich, nach dem Frühstück herein. Ich überlas sie und stieß auf diesen merkwürdigen Satz unter den Todesanzeigen des Tages:

Am 29. D. † ZU Brighton MICHAEL VANSTONE, Esq., FRÜHER IN ZÜRICH, 77 JAHRE ALT.

Miss Vanstone war im Zimmer gerade anwesend, als ich diese zwei überraschenden Zeilen las. Sie hatte den Hut auf, ihre Koffer standen gepackt da, sie wartete ungeduldig, bis es Zeit war, an die Eisenbahn zu fahren. Ich überreichte ihr das Papier ohne ein Wort von meiner Seite. Ohne ein Wort von ihrer Seite sah sie dahin, worauf ich zeigte, und las die Nachricht von Michael Vanstones Tode.

Die Zeitung fiel ihr aus der Hand, und sie schlug rasch ihren Schleier herunter. Ich fing noch einen Augenblick auf, ehe sie ihr Angesicht vor mir verbarg. Der Eindruck auf mein Gemüth war im höchsten Grade erschreckend. Um es auf meine gewöhnliche humoristische Weise auszudrücken, ihr Gesicht machte es mir klar, das; die auffallendste, empfindlichste That, welche Michael Vanstone, Esq., früher in Zürich, in seinem Leben vollbracht hatte, die war, welche er zu Brighton am 29. des laufenden Monats vollendet.

Da ich unter den vorliegenden Umständen die Todtenstille im Zimmer recht störend fand, so gedachte ich, eine Bemerkung fallen zu lassen. Meine Achtsamkeit auf das eigene Interesse gab mir sogleich einen Gegenstand an die Hand. Ich erwähnte die »Unterhaltung«.

—— Nach Dem, was vorgefallen ist —— sagte ich, nehme ich an, daß wir mit unseren Vorstellungen nach wie vor fortfahren?

—— Nein, antwortete sie hinter dem Schleier hervor. Wir fahren mit meinen Nachforschungen fort.

—— Nachforschungen über einen Verstorbenen?

—— Nachforschungen über des Verstorbenen Sohn.

—— Mr. Noël Vanstone?

—— Ja, Mr. Noël Vanstone.

Da ich meinerseits keinen Schleier hatte, um mein Gesicht ihren Blicken zu entziehen, so beugte ich mich nieder und hob das Zeitungsblatt auf. Ihre teuflische Entschlossenheit setzte mich für einen Augenblick vollständig außer Fassung. Ich mußte mich in der That erst sammeln, ehe ich wieder mit ihr sprechen konnte.

—— Sind die neuen Nachforschungen so harmloser Art als die alten? frug ich.

—— Ganz ebenso harmlos.

—— Was soll ich nach Ihrem Wunsche heraus zu bekommen suchen?

—— Ich wünsche zu erfahren, ob Mr. Noël Vanstone nach dem Begräbniß noch zu Brighton bleibt.

—— Und wenn nicht?

—— Wenn nicht, werde ich seine neue Adresse, wo er auch immer sich aufhalten möge, wissen müssen.

— Ganz wohl, und was weiter?

—— Ich wünsche, daß Sie dann ermitteln, ob des Vaters ganzes Geld an den Sohn fällt.

Ich fing an zu sehen, wohin sie abzielte. Das Wort Geld war mir eine Ohrenweide, ich fühlte mich ganz wieder in meinem Fahrwasser.

—— Noch etwas Anderes? frug ich.

—— Nur noch Eins, antwortete sie. Bringen Sie zuverlässig heraus, wenn Sie so gut sein wollen, ob Mrs. Lecount, die Haushälterin, in Mr. Noël Vanstones Dienst bleibt oder nicht.

Ihre Stimme modulierte ein wenig, als sie Mrs. Lecounts Name erwähnte. Sie ist augenscheinlich scharfsinnig genug, um bereits Mißtrauen gegen die Haushälterin zu hegen.

—— Meine Auslagen sollen mir wie gewöhnlich bezahlt werden? fragte ich.

—— Wie gewöhnlich.

—— Wann soll ich nach Brighton aufbrechen?

—— So bald Sie nur können.

Sie stand auf und verließ das Zimmer. Nach einem augenblicklichen Zögern entschloß ich mich den neuen Auftrag auszuführen. Je geheimere Nachforschungen ich für meine schöne Anverwandte besorge, desto schwerer soll es ihr werden, los zu werden —— ihren ganz ergebenen Getreuen, Horatio Wragge.

Mein Aufbruch nach Brighton zu morgen läßt sich durch Nichts aufschieben. Also gehe ich morgen. Wenn Mr. Noël Vanstone in seines Vaters Erbe tritt, ist er das einzige menschliche Wesen mit irdischem Goldsegen, welches mir das Gefühl ungetrübten Neides einzuflößen nicht im Stande ist.



Kapiteltrenner

IX.
(Chronik über Juni.)

Den 9.

Ich kam gestern mit meinen eingesogenen Erkundigungen zurück. Hier sind sie, für mich zum Gebrauche in künftiger Zeit niedergeschrieben:

Mr. Noël Vanstone verließ gestern Brighton und zog sich zu dem Zwecke, seine Geschäfte in London treiben zu können, in eines von seines Vaters leerstehenden Häusern aus der Vauxhallpromenade in Lambeth zurück. Diese merkwürdig simple Wahl eines Aufenthaltsortes von Seiten eines reichen Herrn gibt zu der Vermuthung Grund und Anlaß, als ob Mr. N. V. sich nur schwer von seinem Gelde trennen könne.

Mr. Noël Vanstone ist seines Vaters Nachfolger im Besitz unter folgenden Umständen geworden. Mr. Michael Vanstone ist, wie es den Anschein hat, merkwürdig genug gerade wie Mr. Andreas Vanstone gestorben, ohne Testament nämlich, mit dem Unterschiede jedoch, daß der jüngere Bruder einen nicht rechtskräftigen letzten Willen, der ältere Bruder aber gar kein Testament hinterließ. Die hartköpfigsten Männer haben auch ihre schwachen Seiten, und Mr. Michael Vanstones schwache Seite scheint eine unüberwindliche Scheu gewesen zu sein, den Fall seines Todes ins Auge zu fassen. Sein Sohn, seine Haushälterin und sein Advocat hatten alle Drei immer und immer wieder versucht, ihn dazu zu bringen, eine letztwillige Verfügung zu. treffen, hatten aber nimmer seinen hartnäckigen Entschluß zu erschüttern vermocht, die Vollziehung des einzigen geschäftsmäßigen Acts, den er nachweislich in seinem Leben übersehen hatte, hinaus zu schieben. Zwei Aerzte waren bei ihm in seiner letzten Krankheit; sie gaben ihm zu bedenken, daß er zu alt sei, um hoffen zu dürfen, es zu überstehen: Alles vergebens. Er zeigte seinen eigenen bestimmten Entschluß an, nicht sterben zu wollen. Seine letzten Worte auf dieser Welt waren —— ich erfuhr sie von der Amme, welche Mrs. Lecount beistand ——:

—— Ich befinde mich von Minute zu Minute besser; schickt sofort nach dem Wagen und laßt mich ausfahren.

Dieselbe Nacht zeigte es sich, daß »Freund Hein« doch noch hartnäckiger sei, als er, und der Sohn (das einzige Kind) konnte bloß nach dem Laufe des Gesetzes das Besitzthum antreten. Niemand zweifelt, daß das Ergebniß dasselbe gewesen sein würde, wenn ein Testament gemacht worden wäre.

Der Vater und der Sohn hatten Beide volles Vertrauen zu einander, und man wußte, daß sie allezeit auf dem freundlichsten Fuße mit einander gelebt hatten.

Mrs. Lecount bleibt bei Mr. Noël Vanstone in demselben Dienstverhältniß als Haushälterin, in welchem sie schon bei Lebzeiten seines Vaters gestanden hatte, und hat ihn nach seiner neuen Wohnung auf der Vauxhallpromenade begleitet. Es ist bei männiglich ausgemacht und bekannt, daß sie bei der Wendung, welche die Dinge genommen haben, schlecht weggekommen ist. Wenn Mr. Michael Vanstone sein Testament gemacht hätte, so würde sie ohne Zweifel ihr hübsches Vermächtniß erhalten haben. Jetzt ist sie von Mr. Noël Vanstones Dankbarkeit abhängig, und sie sieht keineswegs darnach aus, sollte ich mir denken, als wenn sie diesen Anspruch einschlafen lassen wollte, ohne zu rechter Zeit einen gelinden Rippenstoß zu geben.

Ob die künftigen Pläne meiner schönen Verwandten in dieser Richtung auf Unheil anrichten, oder auf Geld abzielen, ist mehr, als ich zur Zeit zu sagen vermag. Auf jeden Fall glaube ich ihr prophezeien zu können, daß sie ein gewaltiges Hinderniß in Mrs. Lecount zu bekämpfen finden wird.

So viel zu meiner eigenen Wissenschaft von der Sache, wie sie eben gegenwärtig steht. Die Art und Weise, wie diese Ermittelungen von Miss Vanstone aufgenommen wurden, zeugte von dem undankbarsten Mißtrauen gegen mich. Sie vertraute meinem Ohr Nichts, als den Ausdruck ihres besten Dankes. Ein scharfsinniges Mädchen, ein verteufelt scharfsinniges Mädchen. Aber einen Mann foppen ist einmal schon zu viel, zumal wenn der Name dieses Mannes zufällig Wragge ist.

Kein Wort mehr von der »Unterhaltung«, kein Wort mehr davon, ob wir uns von gegenwärtigen Aufenthaltsorte wegbegeben wollten. Sehr gut. Meine rechte Hand verwettet sich, gegen die linke, Zehn gegen Eins darauf, sie wird sich mit dem Sohne in Verbindung setzen, wie sie’s mit dem Vater gemacht hat. Zehn gegen Eins, sie schreibt an Mr. Noël Vanstone, ehe der Monat zu Ende ist.

Den 23.

Sie hat mit der heutigen Post geschrieben. Allem Anscheine nach ein langer Brief, denn sie drückte zwei Marken aufs Couvert (Privatanmerkung für mich selbst: Die Antwort abfangen.)

Den 22., 23., 24.

Privatanmerkung erneuert: Die Antwort abfangen.

Den 25.

Die Antwort ist da. Als früherer Milizsoldat hatte ich natürlich eine Kriegslist »angestrengt«, um den Brief in die Hand zu bekommen. Der Erfolg, welcher alle Ausdauer in pfiffigen Planen belohnt, hat auch mich belohnt, und ich habe also den Brief zu Händen bekommen.

Der Brief ist nicht von Mr. Noël Vanstone, sondern von Mrs. Lecount geschrieben. Sie stellt sich auf den höchst möglichsten moralischen Standpunkt in einem Tone spöttischer Höflichkeit. Mr. Noël Vanstones zarte Gesundheit und neuer Verlust hindern Ihn, selbst zu schreiben. Alle weiteren Briefe von Miss Vanstone werden uneröffnet zurückgesendet werden. Jede persönliche Annäherung wird die sofortige Anrufung des Schutzes der Gerichte zur Folge haben. Mr. Noël Vanstone, welcher von seinem verstorbenen, tief beweinten Vater ausdrücklich vor Miss Madalene Vanstone gewarnt worden sei, habe den Rath seines Vaters noch nicht vergessen. Betrachte es als einen auf das Ehrengedächtniß des besten der Männer geworfenen Schandflecken, wenn man annehmen wollte, daß sein eigenes Verhalten gegen Miss Vanstone ein anderes als dasjenige sein könnte, welches sein Vater befolgt habe. Das sei Dasjenige, was er Mrs. Lecount zu sagen beauftragt habe. Sie selbst habe sich bestrebt, sich in der versöhnlichsten Sprache auszudrücken; sie habe versucht, Miss Vanstone den unnöthigen Schmerz zu ersparen (aus Höflichkeitsrücksichten), sich mit dem Familiennamen angeredet zu sehen. Sie hege die feste Zuversicht, daß diese Zugeständnisse, die für sich selber sprachen, nicht weggeworfen sein würden. (Dies ist der Hauptinhalt des Briefes, und dies sein Schluß.)

Ich ziehe aus dem kleinen Schriftstück zwei Schlüsse. Erstlich, daß Dies zu ernstem Unheil führen wird. Zweitens, daß Mrs. Lecount bei all ihrer Höflichkeit eine gefährliche Person ist, mit der sich schwer umgehen läßt Ich wünschte, ich sähe meinen Weg sicher vorgezeichnet vor mir. Bis jetzt ist Dies nicht der Fall.

Den 29.

Miss Vanstone hat meinen Schutz verlassen, und die ganze gewinnreiche Zukunft der dramatischen Unterhaltung ist daher so gut für mich verloren, als sie selber!

Ich bin beschwindelt ——, ja ich, der letzte Mann unter Gottes Sonne, von welchem es nach menschlichem Denken erwartet werden konnte, daß er auf diese kläglich unliebsame Weise von sich selber schreiben werde —— ich bin beschwindelt.

Die Anzeige ihrer bevorstehenden Abreise wurde mir gestern mitgetheilt. Nach einigen neuen höflichen Redensarten über die ihr zu Brighton verschafften Ermittelungen deutete sie an, daß es nöthig wäre, die Nachforschungen ein wenig weiter fortzusetzen. Ich erbot mich sofort, selbige wie früher zu übernehmen.

—— Nein, sagte sie, dies Mal liegen sie nicht auf Ihrem Wege. Es sind Nachforschungen über ein Weib, und ich bin gewillt, dieselben in Person vorzunehmen.

Indem ich innerlich der Ueberzeugung war, daß dieser neue Entschluß geradewegs auf Mrs. Lecount abzielte, versuchte ich ein paar unschuldige Fragen in dieser Richtung an sie zu richten. Sie lehnte mit aller Seelenruhe ab, mir darauf Rede zu stehen. Ich fragte sodann, wann sie wegzugehen beabsichtige. Sie wollte den Achundzwanzigsten reisen. Nach welchem Bestimmungsorte? —— London. Auf lange? —— Wahrscheinlich nicht. Ganz allein? —— Nein mit mir? —— Nein Mit wem sonst? —— Mit Mrs. Wragge, falls ich nichts dagegen hätte. Guter Gott, zu welchem denkbaren Zwecke? —— Zu dem Zwecke, um eine anständige Wohnung zu finden, was sie kaum auszuführen hoffen konnte, wenn sie nicht von einer älteren Freundin begleitet war. Und sollte ich in meiner Eigenschaft als älterer Freund in dieser Angelegenheit ganz bei Seite gelassen werden? —— Das war zur Stunde unmöglich auszumachen. Sollte ich ihr nicht einmal Briefe übermitteln, welche vielleicht unter unserer jetzigen Adresse an sie kommen könnten? —— Nein. Sie wollte auf der Post schon selber ihre Anordnungen darüber treffen, und sie möchte mich zugleich um eine Adresse ersuchen, unter der ich selber einen Brief von ihr erhalten könnte, falls sich später ein Briefwechsel nöthig machen sollte. Weitere Fragen zu thun, nachdem sie diese letzte Antwort gegeben, wäre nur eine unnütze Zeitverschwendung gewesen. Ich sparte meine Zeit, indem ich keine weiteren Fragen that.

Es war mir klar, daß unsere gegenwärtige Stellung zu einander dieselbe war, wie vor dem Ereigniß von Michael Vanstones Tode. Ich kam wie früher auf meine Wahl der einzuschlagenden Verfahrungsweisen zurück Welchen Weg wiesen mich meine eigenen Interessen? Etwa dahin, der Möglichkeit zu vertrauen, daß sie mich wieder brauchen werde? Oder dahin, ihr mit der Einmischung ihrer Verwandten und Freunde zu drohen? Oder endlich dahin, die Dinge, die ich schon wußte, zu einem einträglichen Geschäft zwischen der reichen Linie der Familie und mir selbst zu verwerthen? Der letzte der drei Wege war derjenige, den ich bereits beim Vater vorgezogen hatte. Ich zog ihn abermals vor beim Sohne.

Der Zug ging ziemlich vier Stunden später nach London ab und führte sie hinweg, begleitet von Mrs. Wragge. Meine Frau ist leider ein zu großer Schwachkopf, als daß sie in der gegenwärtigen Lage irgendwie thätig zu verwenden wäre. Doch wird sie mittelbar von Nutzen sein, dadurch daß sie Miss Vanstone in Verbindung mit mir hält, und in Erwägung dieses Umstandes will ich mich für eine gewisse Zeit dazu verstehen, meine Kleider selbst zu bürsten, mein Kinn selbst zu barbieren und die anderen Unzuträglichkeiten auf mich zu nehmen, welche die eigene Bedienung mir verursachen wird. Alle schwachen Verstandesfunken, welche Mrs. Wragge früher noch stellenweise besessen hat, scheinen schließlich ihr auch noch verloren gegangen zu sein. Als sie die Erlaubniß erhielt, nach London gehen zu dürfen, erfreute sie uns sofort durch zwei Fragen. Könnte sie Etwas im Laden kaufen? Und dürfte sie das Kochbuch zurücklassen? Miss Vanstone sagte Ja zu der einen Frage, und ich sagte Ja zu der andern, und von dem Augenblicke an ist Mrs. Wragge aus dem Lachen nicht herausgekommen. Ich bin noch heiser von der vergeblich wiederholten Anwendung meines mündlichen Anfeuerungsmittels und mußte sie im Eisenbahnwagen zu meinem unsäglichen Verdruß beide Schuhe übergetreten verlassen. Unter gewöhnlichen Umständen würden diese abgeschmackten Einzelheiten sich nicht in meinem Gedächtniß befestigt haben. Allein wie die Sachen jetzt stehen, führt meines unglücklichen Weibes Schwachsinn in seiner gegenwärtigen Lage zu Folgen, die Keines von uns voraussehen kann. Sie ist nicht mehr und nicht weniger, denn ein erwachsenes Kind, und ich kann deutlich bemerken, wie Miss Vanstone ihr gerade aus diesem Grunde mehr vertraut, als sie einem Weibe von klarerm Verstande vertrauen würde. Ich kenne kleine dicke Kinder vielleicht noch besser, als meine schöne Verwandte sie kennt, und ich sage, man nehme sich vor jeder Form der Unschuld bei Menschen in Acht, wenn es darauf ankommt, ein Geheimniß sicher zu bewahren.

Doch kehre ich lieber zu dem Geschäftlichen zurück. Hier bin ich nun zwei Uhr Nachmittag an einem schönen Sommertage ganz allein, um die sicherste Art und Weise, wie ich meinerseits Mr. Noël Vanstone nahe kommen kann, zu überlegen. Meine eigene Ansicht und Vermuthung von seinem knickerigen Charakter entmuthigen mich keineswegs. Ich habe meiner Zeit von Leuten, die ihr Geld gerade ebenso zärtlich liebten wie er, ganz erfreuliche Summen gezogen. Die wirkliche Schwierigkeit, die es zu beseitigen gibt, ist das lebendige Hinderniß, Mrs. Lecount. Wenn ich mich nicht ganz irre, so verdient diese Dame eine ziemlich erstliche Betrachtung von meiner Seite. Ich will für heute meine Chronik schließen und Mrs. Lecount die gebührende Beachtung schenken..

Drei Uhr.

Ich schlage diese Seiten wieder auf, um eine Entdeckung niederzuschreiben, die mich äußerst überrascht hat.

Als ich die letzte Auszeichnung vollendet hatte, kam mir ein Umstand wieder ins Gedächtniß, den ich bemerkt hatte, als ich diesen Morgen die Damen auf die Eisenbahn begleitete. Ich sah nämlich, daß Miss Vanstone nur einen von ihren drei Koffern mit sich genommen hatte, und es fiel mir nun ein, daß eine geheime Durchsuchung des zurückgebliebenen Gepäckes möglicherweise von erwünschtem Erfolge sein könnte. Da ich in gewissen Perioden meines Lebens gewohnt gewesen, mit fremden Schlössern mich bekannt zu machen, so fand ich keine Schwierigkeit dabei, mich mit Miss Vaustones Koffern auf vertrauten Fuß zu setzen. [Der würdige »Hauptmann«, den die Leser bereits als Schwindler, Hochstapler (vornehmer Bettler) und Urkundenfälscher kennen gelernt haben, gibt in diesen Bekenntnissen einer schönen Seele nicht undeutlich zu verstehen, daß er auch in anderer Hinsicht ein ausgemachter Gauner war. Sein letztes Geständniß bringt ihn in die Kategorie der Nachschlüsseldiebe, Makkener wie diese Classe in der deutschen Gaunersprache heißt. Dr. jur. C. B. is. Ave-Lallemant sagt in seinem höchst interessanten Werke »Das Deutsche Gaunerthum Leipzig, 1858.« Bd. 2. S. 154 Folgendes über diese »Künstler«: »Das Makkenen ist der Diebstahl aus Verschlüssen —— ohne Einbruch oder ohne ganze oder theilweise Zerstörung der Verschlüsse —— mit Anwendung von Schlüsseln, welche dem für das Schloß ursprünglich gearbeiteten Schlüssel mehr oder minder vollständig nachgearbeitet sind und daher Nachschlüssel, Diebsschlüssel oder auch Dietrithe enannt werden. Die Kunst des Makkenens hat daher die zwiefache Aufgabe, die Herstellung der Nachschlüssel und die heimliche und gechickte Anwendung der Nachschlüssel. Beide Aufgaben weiß das Gaunerthum vollständig zu lösen. Keine gaunerische Kunst ist verlässiger und ergiebiger, keine hat eine einfachere Basis und eine breitere Cultur als das Makkenen.« (Makkenen kommt aus dem Hebräischen und bedeutet eigentlich das falsche Stechen beim Kartenspiel) W.] Der eine von den beiden bot nichts Interessantes dar. Der andere, welcher zur Aufbewahrung der Theateranzüge, Toilettengegenstände und anderer Requisiten, welche zu der dramatischen Unterhaltung gebraucht wurden, diente, erwies sich eher meiner Aufmerksamkeit werth: denn er führte mich geradewegs zur Entdeckung von einem der Geheimnisse seiner Besitzerin.

Ich fand in dem Koffer alle Anzüge vollzählig vor —— jedoch auffallend mit Ausnahme eines einzigen. Dieser einzige war der Anzug der alten Dame —— aus Nordengland, der Rolle, die ich bereits als die beste von den Darstellung meines Pfleglings namhaft gemacht und als in Stimme und Benehmen von ihrer alten Erzieherin, Miss Garth, entlehnt und »abgenommen« bezeichnet habe. Die Perücke, die Augenbrauen, der Hut mit Schleier, der Mantel inwendig wattirt, um ihren Rücken und die Schultern zu entstellen, die Pflästerchen und die Schminke, um ihr Gesicht alt zu machen und ihre Farbe, zu verändern: Alles war weg. Nur das Kleid war zurückgeblieben, eine Seide mit bunten Blumen, die sich recht gut auf der Bühne machte, aber in Farbe und Muster zu auffallend war, »Um bei Tageslicht eine Besichtigung aushalten zu können. Die anderen Theile des Anzugs sind ruhig genug, um eine Beobachtung zu vertragen, der Hut und der Schleier sind nur altmodisch, und der Mantel ist von einer düstern grauen Farbe. Aber aus einer Entdeckung wie diese läßt sich ein klarer Schluß ziehen. So gewiß ich hier sitze, so gewiß ist sie eben im Begriff, den Krieg gegen Noël Vanstone und Mrs. Lecount unter einer Verkleidung zu eröffnen, die keines von jenen beiden Leuten einen denkbaren Grund haben kann äußerlich zu entdecken: unter der Verkleidung und in der Rolle von Miss Garth.

Welches Verfahren soll ich unter diesen Umständen einschlagen? Da ich ihr Geheimniß heraus habe, was soll ich damit anfangen? Dies sind sehr beachtenswerthe Erwägungen. Ich bin fast in Verlegenheit und weiß nicht, wie ich mich verhalten soll.

Es ist etwas mehr als die bloße Thatsache, daß sie sich gerade so verkleidet, um ihre geheimen Zwecke zu erreichen, —— was mich so in Verwirrung setzt.

Hunderte von Mädchen setzen sich in den Kopf, eine Verkleidung anzunehmen, und hundert Beispiele davon werden Jahr aus Jahr ein in den öffentlichen Blättern mitgetheilt. Allein mein Ex-Pflegling ist nicht einen Augenblick mit den halbschürigen Abenteuerinnen der Zeitungen zu verwechseln. Sie ist im Stande, ein großes Stück über die Grenze hinauszugehen, ja, sich als Mann zu verkleiden und die Stimme und das Benehmen eines Mannes anzunehmen. Sie hat eine angeborene Gabe, Charaktere darzustellen, wie ich bei keinem Weibe gefunden habe, und ist so lange damit-öffentlich aufgetreten, bis sie ihrer eigenen Kraft bewußt geworden ist und ihr Talent für Verkleidungen bis auf den höchsten Grad ausgebildet hat. Ein Mädchen, welches die scharfblickendsten Leute dadurch überrascht, daß es eine solche Eigenschaft, wie die eben erwähnte, dazu in Scene setzt, um seine besonderen Zwecke im Privatleben dadurch zu fördern, und welches diese Eigenschaft durch den Entschluß erhöht, sich den Weg zu seinem Ziele selber zu bahnen, und diesem Entschlusse getreu bis zu dieser Zeit jedes Hinderniß hinweg geräumt hat: Das ist ein Wesen, welches ein Berückungsexperiment versucht, das neu und gefährlich genug ist, um auf diese oder jene Weise zu sehr ernsten Folgen zu führen. Dies ist meine Ueberzeugung, gegründet auf lange Erfahrung in der Kunst, meine Mitmenschen zu täuschen. Ich sage von dem Unternehmen meiner schönen Verwandtin, was ich nicht eher darüber gesagt oder gedacht habe, als bis ich mich selbst mit dem inneren ihres Koffers bekannt gemacht hatte. Die Aussichten, ob sie den Kampf um ihr verlorenes Vermögen gewinnen wird oder nicht, sind nun so gleich abgewogen, daß ich, und wenn es mein Leben kosten sollte, nicht anzugeben vermag, wohin sich die Wagschale neigt. Alles, was ich bestimmt behaupten kann, ist, daß es sich mit verteufelter Gewißheit so oder so entscheiden wird an dem Tage, wo sie in Verkleidung Noël Vanstones Schwelle überschreiten wird.

Welchen Weg zeichnen mir meine Interessen jetzt vor? Auf Ehre, ich weiß es nicht.

Fünf Uhr.

Ich habe einen meisterhaften Vergleich zu Stande gebracht, ich habe mich entschieden nach beiden Seiten hin zu operiren und auf beiden Achseln zu tragen.

Mit heutiger Post habe ich einen anonymen Brief an Mr. Noël Vanstone aufgegeben. Derselbe wird auf dieselbe Weise an seine Bestimmung gelangen, welche ich mit Erfolg gebrauchte, um Mr. Pendril hinters Licht zu führen, und er wird die Vauxhallpromenade zu Lambeth morgen Nachmittags spätestens erreichen.

Der Brief ist kurz und hat folgenden Zweck, Er benachrichtigt Mr. Noël Vanstone in den beunruhigendsten Ausdrücken, daß er dazu ausersehen ist, das Opfer einer Verschwörung zu werden und daß das Haupt derselben eine junge Dame ist, welche bereits mit ihm und seinem Vater in Briefwechsel gestanden. Er bietet ihm den nothwendigen Nachweis an, um sich vollkommen sicher zu stellen unter der Bedingung, daß er den Schreiber schadlos hält für die ernstliche persönliche Gefahr, welche später eine solche Enthüllung für ihn zur Folge haben kann. Und er schließt mit der besonderen Bedingung, daß die Antwort in die »Times« eingerückt, mit der Aufschrift versehen werde: »EIN UNBEKANNTER FREUND« und deutlich angebe, welche Belohnung Mr. Noël Vanstone für den unschätzbaren Dienst auswerfe, welcher ihm geleistet werden solle.

Falls nicht eine unvermuthete Verwickelung eintritt, bringt mich dieser Brief gerade in die Lage, welche einzunehmen gegenwärtig mein Interesse ist. Wenn die Anzeige erscheint und die gebotene Belohnung groß genug ist, um mich zu bestimmen, in Feindeslager überzugehen, so gehe ich über. Erscheint keine Anzeige oder schlägt Mr. Noël Vanstone meinen kostbaren Beistand zu geringfügig an, so bleibe ich hier, warte die Zeit ab, bis meine schöne Verwandte mich wieder braucht oder bis ich mich ihr wieder nöthig mache, was auf Dasselbe hinauskommt. Wenn der anonyme Brief durch einen garstigen Zufall in ihre Hände fällt, so wird sie darin verächtliche Anspielungen auf mich selber finden, welche ich absichtlich eingemischt habe, um sie auf den Gedanken zu bringen, als sei der Schreiber eine von den Personen, welche ich bei der Ausführung jener Nachforschungen in ihrem Interesse zuziehen mußte. Wenn Mrs Lecount die Sache in die Hand nimmt und mir einen Fallstrick legt, so lehne ich ihre verführerische Einladung ab, indem ich mich ganz unbekannt stelle mit der ganzen. Sache, sofort wenn eine andere Person darin auftritt. Laßt das Ende kommen, wie es will, ich bin da, um Gewinn davon zu ziehen; ich bin da, beide Wege ins Auge fassend mit vollkommener Ruhe und Sicherheit, ein »moralischer Landwirth« mit seinen Augen auf zwei Ernten zugleich gerichtet und seine Schwindlersichel in Bereitschaft für jeden Ausfall.

Die nächst kommende Woche wird die Zeitung für mich mehr denn je Interesse haben. Es soll mich verlangen, auf welche Seite ich mich eintretenden Falls schlagen werde.



Kapiteltrenner

Fünftes Buch.

An der Vauxhallpromenade zu Lambeth.

Erstes Capitel.

Der alte erzbischöfliche Palast zu Lambeth auf dem südlichen Ufer der Themse, mit seiner Bischofspromenade und seinem Bischofsgarten und seiner Terrasse vorn am Flusse ist ein architektonisches Ueberbleibsel des London von früherer Zeit, das allen Freunden malerischer Schönheit in dem krämerischen London von heute werth und theuer ist. Südlich von diesem ehrwürdigen Gebäude liegt das Straßenlabyrinth von Lambeth, und fast halbwegs in jenem Theil des Häusergewirrs, der dem Flusse zunächst liegt, läuft die düstere Doppelreihe von Häusern, welche jetzt, wie ehedem unter dem Namen der Vauxhallpromenade bekannt ist.

Das Netz der traurigen Straßen, welches sich durch die umgebende Nachbarschaft erstreckt, enthält eine Bevölkerung, die zum großen Theil der ärmern Classe angehört. In den Durchgängen, welche von Läden wimmeln, zeigt sich auf dem schmutzigen Pflaster ohne Scheu der ekele Kampf mit der Armuth, sammelt seine Kräfte in den Wochentagen und schwillt Sonnabend Nachts zu einem Aufruhr an und sieht das Morgengrauen des Sonntags bei trübem Gaslicht Arme Frauen, deren Gesichter niemals lächeln, kommen zu den Fleischerläden in solchen Londoner Gegenden wie diese, die Ueberreste der Löhne ihrer Männer, welche diese nicht in den Kneipen verzehrt haben, fest mit der Hand umklammernd, mit Augen, welche das Fleisch verschlingen, das sie nicht zu kaufen wagen, mit gierigen Fingern, welche es lüstern berühren, wie die Finger ihrer reicheren Schwestern einen kostbaren Stein anfassen. In diesem Viertel wie in noch anderen Vierteln welche von den reichen Quartieren der Hauptstadt entfernt liegen, lungert der häßliche Londoner Strolch und Bummler mit dem Schmutz der Straße in seiner Redeweise, mit dem Staub der Straße auf seinen Kleidern, mit finsteren und rohen Blicken an der Straßenecke und vor der Thür der Ginkneipen, der öffentliche Schandfleck des Landes, das unbeachtete Anzeichen kommender Umwälzungen und Unruhen. Hier trifft das laute Selbstlob des modernen Fortschritts, welcher so viel in den Sitten reformirt hat, aber so wenig an den Menschen geändert hat —— auf den geraden Widerspruch, der seine Anmaßungen sofort zu Boden schlägt. Hier wo die Reichen der Nation wie jener Belsazar sich weiden an dem Schauspiel ihrer eigenen Prachtentfaltung, zeigt sich zugleich die von unsichtbarer Hand geschriebene Schrift auf der Wand, welche dem Herrscher Geld warnend zuruft, daß sein Ruhm in der Wage gewogen worden und seine Macht zu leicht befunden worden ist.

In solcher Nachbarschaft, wie diese liegend, gewinnt die Vauxhallpromenade durch die Folie dieser Vergleichung und entwickelt Ansprüche auf eine gewisse Anständigkeit, welche kein unparteiischer Beschauer anzuerkennen verfehlen kann. Noch besteht ein großer Theil der Promenade aus Wohnhäusern. An den vereinzelte teilen, wo Läden zum Vorschein kommen, sind diese Läden nicht belagert von dem Haufen stärker bevölkerter Passagen Der Verkehr ist nicht störend, auch wird das verzehrende Publicum nicht belästigt durch laute Aufforderungen »zu kaufen«. Vogelliebhaber haben sich die wahlverwandte Stille der Scene ausgesucht, und Tauben girren nun, Canarienvögel zwitschern nun auf der Vauxhallpromenade Alte Wagen und Cabs, Bettstellen von einem gewissen Alter, einzelne Wagenräder für Solche, welche eben ein einzelnes brauchen, um das Paar zu ergänzen: das Alles findet man hier in ein und derselben Niederlage. Ein Seitenarm des großen Gasstromes, welcher London zu einer —— erleuchteten Stadt macht, speist die Privatröhren der in dieser Gegend befindlichen Werkstätten. Hier haben die Anhänger von John Wesley sich einen Tempel aufgerichtet, welcher vor der Zeit der Methodistenbekehrung zu den Grundsätzen der kirchlichen Baukunst erbaut wurde. Und hier, das seltsamste Schauspiel von allen! —— aus der Stelle, wo einst Tausende von Lichtern flimmerten, wo süße Klänge der Musik die Nacht durchtönten, bis zum Morgen, wo die Schönheit und die Modewelt von London ein ganzes Jahrhundert hindurch zur Sommerzeit Feste und Bälle gaben, breitet sich heutzutage eine schreckliche Wildniß von Schmutz und Schutt aus, der verlassene todte Leib der unter freiem Himmel vermodernden Vauxhall-Gärten.

Am selbigen Tage, als Hauptmann Wragge die letzte Auszeichnung in seine »Chronik der Ereignisse« eintrug, erschien eine Frau am Fenster eines der Häuser an der Vauxhallpromenade und entfernte von dem Glase einen gedruckten Zettel, welcher an dasselbe geklebt war, um anzuzeigen, daß Zimmer zu vermiethen wären. Die Zimmer bestanden aus zwei Stuben, eine Treppe hoch. Sie waren eben für eine Woche fest genommen worden von zwei Damen, welche voraus bezahlt hatten, und diese zwei Damen waren Magdalene und Mrs. Wragge.

Sobald die Wirthin das Zimmer verlassen hatte, trat Magdalene ans Fenster und schaute vorsichtig durch dasselbe nach der Häuserreihe gegenüber. Die Häuser waren an Umfang und äußerm Ansehen im Vergleich zu den übrigen Gebäuden der Promenade vornehmer anzuschauen. Die Jahreszahl ihrer Erbauung war an einem derselben angeschrieben und ergab sich als das Jahr des Herrn 1759. Sie standen etwas zurück vom Pflaster der Straße, getrennt davon durch kleine Gartenstreifen. Diese eigentümliche Lage, dazu die Breite des Fahrwegs zwischen ihnen und den gegenüberliegenden kleineren Häusern machten es Magdalenen unmöglich, die Zahlen über den Thüren zu erkennen oder von Jemand, der an die Fenster kommen könnte, mehr als die bloßen allgemeinen Umrisse der Tracht und Gestalt zu sehen. Nichtsdestoweniger stand sie doch da, eifrig die Augen gerichtet auf ein Haus in der Reihe, das beinahe gerade gegenüber lag, das Haus, das sie sich angesehen hatte, ehe sie die Wohnung betreten, das Haus, das in diesem Augenblicke von Noël Vanstone und Mrs. Lecount bewohnt wurde.

Nachdem sie schweigend wohl zehn Minuten und darüber an dem Fenster Wache gestanden, blickte sie plötzlich in das Zimmer hinein, um den Eindruck, welche ihr Verhalten aus ihre Reisegefährtin ausgeübt hätte, zu beobachten.

Von dieser Seite zeigte sich nicht der geringste Grund zu Besorgnissen. Mrs. Wragge saß am Tische, ganz vertieft in das Ordnen und Zurechtlegen einer Reihe schlauer kaufmännischer Prospecte und verführerischer Preislisten, welche von ankündigenden Handelsleuten vertheilt und durch die Kutschfenster hereingeworfen waren, als sie den Londoner Bahnhof verließen.

—— Ich habe oft von Leseerleichterungen sprechen hören, sagte Mrs. Wragge, indem sie unaufhörlich die Lage der Zettel veränderte, wie ein Kind unermüdlich die Lage einer Anzahl Spielsachen ändert. Hier ist leichtes Lesen, gedruckt in hübschen Farben. Hier sind all die Sachen, die ich kaufen werde, wenn ich morgen in die Läden gehe. Geben Sie mir einen Bleistift, wenn Sie so gut sein wollen, —— nicht wahr, Sie nehmens nicht übel? —— ich brauche einen, um mir sie anzustreichen.

Sie sah zu Magdalenen auf, froh über ihre veränderten Umstände, und schlug in unverhaltbarer Lust mit ihren großen Händen auf den Tisch.

—— Kein Kochbuch! rief Mrs. Wragge Kein Schwirren in meinem Kopfe! Keinen Hauptmann morgen zu barbieren. Ich habe beide Schuhe übergetreten, mein Hut sitzt schief, und Niemand schilt mich aus. So wahr ich lebe, das nenne ich einen Festtag und keine Täuschung!

Ihre Hände fingen wieder an, lauter als je auf dem Tische zu trommeln, bis Magdalene sie beruhigte, indem sie ihr einen Bleistift einhändigte. Mrs. Wragge fand nun augenblicks ihre Würde wieder, pflanzte sich mit den Ellnbogen auf den Tisch und versenkte sich für den ganzen übrigen Theil des Abends in kaufselige Träume.

Magdalene kehrte ans Fenster zurück. Sie nahm einen Stuhl, setzte sich hinter den Vorhang und heftete abermals ihre Augen beharrlich auf das Haus gegenüber.

Die Vorhänge waren über die Fenster des ersten und zweiten Stockwerks heruntergelassen. Das Fenster des Parterrezimmers war nicht verhüllt und stand halb offen, aber kein lebendes Wesen kam demselben nahe. Thüren gingen auf, Leute kamen und gingen in den Häusern auf beiden Seiten, Kinder zu Dutzenden liefen auf die Straße hinaus, um zu spielen und machten Einfälle auf die kleinen Gartenstreifchen, um verlorene Bälle und Federspiele wieder herauszuholen, Schaaren von Leuten gingen fortwährend vor- und rückwärts, schwere Wagen, hoch aufgethürmt mit Waarengütern, zogen langsam der Straße entlang auf dem Wege nach oder von der nahen Eisenbahnstation: das ganze Tagestreiben und Leben des Stadtviertels rührte sich mit seiner ruhelosen Emsigkeit nach jeder Richtung hin, ausgenommen nach einer einzigen. Die Stunden vergingen —— und immer noch blieb das Haus drüben verschlossen, immer noch ließ sich weder außen noch innen irgend ein Lebenszeichen wahrnehmen. Der einzige Zweck, welcher Magdalene bestimmt hatte, sich selbst nach der Vauxhallpromenade zu begeben —— der Zweck, die Blicke, Gewohnheiten und Lebensweise von Mrs. Lecount und ihrem Herrn von einem »Luginsland« aus, der ihr nur selbst bekannt war, zu studiren, war bis jetzt gänzlich verfehlt. Nachdem sie drei Stunden am Fenster gewartet, hatte sie noch nicht einmal so viel entdeckt, um gewiß zu wissen, ob das Haus überhaupt bewohnt war.

Bald nach sechs Uhr störte die Wirthin Mrs. Wragges Studien durch Auflegen des Tischtuchs zum Essen. Magdalene setzte sich an den Tisch in einer Stellung, in der sie noch immer im Stande war, die Aussicht aus dem Fenster zu beherrschen. Nichts zeigte sich. Das Essen ging zu Ende; Mrs. Wragge —— schläfrig durch den narkotischen Einfluß des Anstreichens der Prospekte und durch Speise und Trank, was sie Beides mit einem durch die Abwesenheit des Hauptmannes verschärften Appetite zu sich genommen —— zog sich nach einem Lehnstuhl zurück und fiel in einer Stellung in Schlummer, welche ihrem Gatten die heftigste Seelenaufregung verursacht haben würde. Es schlug Sieben. Die Schatten des Sommerabends wurden länger und länger auf dem grauen Pflaster und den braunen Häuserwänden. Und immer noch blieb die verschlossene Hausthür gegenüber verriegelt, immer zeigte das eine offene Fenster Nichts als die schwarze Leere des Zimmers dahinter, leblos und unveränderlich, als wenn das Zimmer ein Grab gewesen wäre.

Mrs. Wragges süßes Schnarchen wurde immer tiefer in der Tonart, der Abend rückte langsam und träge vor. Es war fast acht Uhr: da ereignete sich endlich Etwas. Die Hausthür nach der Straße ging drüben zum ersten Male auf, und ein Frauenzimmer wurde auf der Schwelle sichtbar.

War diese Frau Mrs. Lecount? Nein. Denn als sie näher kam, zeigte ihr Anzug, daß es ein Dienstmädchen war. Dasselbe hielt einen großen Hausschlüssel in der Hand und ging offenbar aus, um einen Weg zu verrichten. Erregt einestheils von Neugier, anderntheils von der Eingebung des Augenblicks, was Beides ihre ungestüme Natur zur Thätigkeit trieb nach dem unthätigen Verhalten diese vielen Stunden vorher, setzte Magdalene ihren Hut auf und beschloß, dem Dienstmädchen nach seinem Bestimmungsort nachzugehen, wo er auch sein möge.

Das Frauenzimmer führte sie nach dem großen mit Läden besetzten Durchgang ganz in der Nähe, welcher der Lambethweg heißt. Nachdem die Dienerin in eine kleine Entfernung getreten und sich mit der Unsicherheit einer mit der Oertlichkeit nicht gut vertrauten Person umgesehen hatte, ging sie über die Straße und trat in einen Papierladen. Magdalene ging ebenfalls über die Straße und folgte ihr.

Der unter diesen Umständen unvermeidliche Verzug, ehe sie in den Laden kam, ließ Magdalenen versäumen zu hören, was das Mädchen verlangt hatte. Die ersten Worte jedoch, die von dem Manne hinter dem Ladentische gesprochen wurden, drangen an ihr Ohr und belehrten sie, daß der Zweck des Mädchens war, einen »Eisenbahnführer« zu kaufen.

—— Meinen Sie einen Führer für diesen Monat oder einen Führer für Juli? fragte der Mann im Laden, zu seiner Kunde gewandt.

—— Der Herr hat mir nicht gesagt, welchen, antwortete das Frauenzimmer. Alles was ich weiß, ist, daß er übermorgen aufs Land geht.

—— Uebermorgen ist der erste Juli, sagte der Verkäufer. Der Führer, den Ihr Herr braucht, ist der Führer für den neuen Monat. Derselbe erscheint aber erst morgen.

Indem sich das Mädchen bereit erklärte den nächsten Tag wieder vorzufragen verließ es den Laden und schlug den Weg ein, der nach der Vauxhallpromenade zurückführte.

Magdalene kaufte die erste beste Kleinigkeit, die sie auf dem Ladentisch sah und kehrte eilig in derselben Richtung nach Hause zurück. Die Entdeckung, welche sie da soeben gemacht hatte, war von sehr ernster Wichtigkeit für sie, und sie fühlte die Nothwendigkeit, mit so wenig als möglich Zeitverlust darnach zu handeln.

Als sie in das Vorderzimmer der Wohnung trat, fand sie Mrs. Wragge, die eben aufgewacht war, in schläfriger Verwirrung, ihre Mütze auf die Schultern herunter hängend, einen ihrer Schuhe suchend. Magdalene suchte ihr die Ueberzeugung beizubringen, daß sie nach der Reise erschöpft und daß es das Beste sei, was sie thun könne, wenn sie zu Bette ginge. Mrs. Wragge war Vollkommen willfährig diesen Wink zu befolgen, vorausgesetzt, daß sie nur erst den Schuh wieder gefunden hätte. Bei dem Suchen nach dem Schuh bemerkte sie unglücklicherweise die Prospekte, welche auf ein Nebentischchen gelegt waren, und erlangte nun sofort ihre Erinnerung an die früheren Vorgänge des Abends wieder.

—— Geben Sie mir ’mal den Bleistift, sagte Mrs. Wragge, indem sie hastig die Prospekte zusammen raffte. Ich kann noch nicht zu Bette gehen, ich bin erst halb damit zu Rande, die Dinge auszustreichen, die ich brauche. Lassen Sie ’mal sehen, wo blieb ich doch gleich stehen? »Versuchen Sie Finch’s Milchfläschchen für Säuglinge.« Nein! Hier steht ein Kreuz davor; das Kreuz besagt, daß ich keinen Gebrauch davon machen kann. »Trost im Felde. Duckler’s unzerstörbare Jagdhosen.« O, meine Liebe, meine Liebe, ich habe die Stelle verloren. O, nein, ich habe sie! Hier ist es, hier ist mein Zeichen davor. »Elegante Cashmir-Kleider; durchaus morgenländisch, sehr großartig; herabgesetzt auf ein Pfund neunzehn und ein halb Schilling. »Man beeile sich. Es sind nur noch drei übrig.« Nur noch drei! O, geben Sie mir das Geld und gehen wir und kaufen wir eines!

—— Heute Abend nicht, sagte Magdalene. Nicht wahr, Sie gehen lieber jetzt zu Bette und machen die Prospekte morgen fertig? Ich will sie Ihnen neben das Bett legen, und Sie können dann, sobald Sie aufmachen, Ihr Tagewerk mit ihnen beginnen.

Der Vorschlag fand bei Mrs.Wragges ohne Weiteres Beifall. Magdalene brachte sie in das nächste Zimmer und zu Bett wie ein Kind —— ihr Spielzeug neben sich. Das Zimmer war so eng und das Bett so klein, und Mrs. Wragge, angethan mit dem weißen Nachtgewande, der Vollmond ihres Gesichts umgeben mit dem weiten Hofe einer Nachtmütze sah so ungeheuerlich und unverhältnißmäßig groß aus, daß Magdalene, so beschäftigt ihr Geist mit ernsteren Dingen war, doch nicht ein Lächeln unterdrücken konnte, als sie ihrer Reisegefährtin gute Nacht sagte.

—— Ha, ha, schrie Mrs. Wragge seelenvergnügt, wir werden die Casimirrobe morgen haben. Kommen Sie ’mal her. Ich muß Ihnen ’was ins Ohr sagen. Gerade so wie Sie mich sehen —— werde ich jetzt schlafen, zusammengekrümmt und der Hauptmann ist nicht da, mich auszuschelten!

Das Vorderzimmer der Wohnung enthielt ein Sophabett, welches die Wirthin bald für die Nacht herrichtete. Als Dies geschehen, und die Lichter herein gebracht waren, fand sich Magdalene allein, um ihr künftiges Verhalten festzustellen, wie ihre eigenen Gedanken ihr es eingaben.

Die Fragen und Antworten, welche diesen Abend im Papierladen in ihrer Gegenwart gewechselt worden waren, brachten sie zweifellos zu dem Schlusse hin, daß ein Tag später Noël Vanstones gegenwärtiger Aufenthalt auf der Vauxhallpromenade zu Ende bringen werde. Ihr erster vorsichtiger Entschluß, nämlich erst einige Tage vergehen zu lassen in unverdächtiger Beobachtung des Hauses gegenüber, bevor sie sich hineinwagte, wurde durch die Wendung, welche die Dinge genommen hatten, vereitelt. Sie sah sich zu der heiklen Wahl hingedrängt, entweder den nächsten Tag blindlings ihr ganzes Wagstück zu vollbringen, oder aber dasselbe für eine künftige Gelegenheit, die vielleicht niemals kommen würde, aufzuschieben Einen Mittelweg gab es nicht. Ehe sie nicht Noël Vanstone mit eigenen Augen gesehen und das Schlimmste, das von Mrs. Lecount zu fürchten war, entdeckt hatte, ehe sie nicht diesen doppelten Zweck erreicht hatte —— mit der nöthigen Vorsicht, ihre eigene Person sorgsam im Hintergrunde zu halten —— eher konnte sie keinen Schritt vorwärts thun zur Ausführung des Vorhabens, das sie nach London geführt hatte.

Es verstrichen die Minuten der Nacht eine nach der andern, es folgten sich die drängenden Gedanken in ihrer Seele einer nach dem andern, und noch fand sie keinen Schluß, noch schwankte und zauderte sie mit einer Unsicherheit, welche ihr selbst neu an sich war. Endlich schritt sie ungeduldig durchs Zimmer, um die leidige Zerstreuung zu haben, ihre Reisetasche aufzuschließen und die für die Nacht nöthigen Dinge herauszunehmen Hauptmann Wragges Vermuthungen waren nicht unbegründet gewesen. Da, verborgen zwischen zwei Kleidern, waren die Stücke jenes Anzugs, den er in ihrem Koffer in Birmingham vermißt hatte. Sie legte dieselben, eins nach dem andern, um, wie um sich selbst zu beruhigen, daß Nichts, was sie brauchte, fehlte und kehrte noch einmal auf ihren Beobachtungsposten am Fenster zurück.

Das Haus gegenüber blieb dunkel bis auf das Wohnzimmer. Dort war der vorher aufgezogene Vorhang nunmehr übers Fenster niedergelassen. Das Licht, das hinter demselben brannte, zeigte ihr zuerst, daß das Zimmer bewohnt war. Ihre Augen wurden glänzend, und ihre Farbe belebte sich, als sie Dies sah.

—— Dort ist er! sprach sie zu sich selbst in leisem, gepreßtem Flüstern. Dort lebt er von unserm Gelde in dem Hause, welches die Warnung seines Vaters mir verschlossen hat!

Sie ließ den Vorhang fallen, den sie aufgehoben hatte, um hinauszusehen, kehrte zu ihrer Reisetasche zurück und nahm daraus die graue Perrücke, welche zu ihrem Bühnenanzug als nordenglische Dame gehörte. Die Perrücke war durch das Packen etwas in Unordnung gekommen; sie setzte sie auf und ging an den Toilettentisch, um sie aufzukämmen.

—— Sein Vater hat ihn vor Magdalene Vanstone gewarnt, sagte sie, indem sie die Stelle in Mrs. Lecounts Brief wiederholte und bitter auslachte, als sie sich im Spiegel sah, —— es soll mich verlangen, ob sein Vater ihn auch vor Miss Garth gewarnt hat? Morgen ist eher, als ich gerechnet hatte. Thut Nichts, —— morgen soll sichs zeigen.



Kapiteltrenner

Zweites Capitel.

Der Frühmorgen war, als Magdalene erwachte und hinausschaute, trübe und umzogen. Allein als die Zeit zur Frühstücksstunde Vorrückte, drohte der Regen nicht mehr, und sie konnte, ohne vom Wetter gestört zu werden, die erste Sorge des Tages beseitigen, die Sorge, ihre Reisegefährtin zeitweilig aus dem Hause zu schaffen.

Mrs. Wragge war angekleidet und stand, alle Hände voll Preiscourante und Prospekte, ungeduldig fortzukommen, gegen zehn Uhr fertig da. Früher am Tage hatte Magdalene bereits Einleitung getroffen, daß selbige unter die Obhut der ältesten Tochter der Wirthin, eines ruhigen, wohlerzogenen Mädchens, dessen eigenes Interesse bei dieser Einkaufsreise mittels eines kleinen Geldgeschenkes zum Ankauf eines Sonnenschirms und eines Musselinkleides alsbald gewonnen war, gestellt wurde. Gleich nach zehn Uhr ließ Magdalene Mrs. Wragge und ihre Begleiterin in einem Cab wegfahren. Sie selbst begab sich zur Wirthin, welche oben im Hause damit beschäftigt war, die Zimmer aufzuräumen; sie that Dies in der Absicht, um durch ein kleines zur rechten Zeit angeknüpftes Gespräch herauszufragen welches die Tagesgewohnheiten der Hausbewohner seien.

Sie erfuhr, daß außer Mrs. Wragge und ihr selbst keine anderen Miethleute da waren. Der Mann der Wirthin befand sich den ganzen Tag über außer dem Hause, da er auf einem Bahnhofe angestellt war. Ihre zweite Tochter war in Abwesenheit der älteren Schwester mit der Sorge für die Küche betraut. Die jüngeren Kinder waren in der Schule und sollten um Eins zum Essen nach Hause kommen. Die Wirthin selbst »machte feine Wäsche für Damen« und glaubte mit ihrer Arbeit den ganzen Vormittag vollauf zu thun zu haben in einem Stübchen hinter den vorderen Zimmern. Solchergestalt war es sehr leicht für Magdalenen, das Haus verkleidet zu verlassen und unbemerkt es zu verlassen, vorausgesetzt, daß sie nur ausging, ehe die Kinder zum Essen um ein Uhr zurückkamen

Um Elf waren die Zimmer in Ordnung, und hatte sich die Wirthin entfernt, um ihrer Beschäftigung nachzugehen. Magdalene schloß leise die Thür ihres Zimmers zu, ließ den Vorhang über das Fenster herunter und machte sofort ihre Anstalten zu dem gefährlichen Versuch dieses Tages.

Dasselbe lebhafte Vorgefühl von Gefahren, die vermieden, und Schwierigkeiten, die überwunden werden müßten, welches sie gemahnt hatte, das auffallende Stück des Charakteranzugs in dem Koffer zu Birmingham zurückzulassen, ließ jetzt ihren Geist den ungeheuren Unterschied zwischen einer bei Gaslicht zur Ergötzung eines Theaterpublicums angelegten Verkleidung und einer bei Tageslicht zur Täuschung der forschenden Augen zweier Fremden angenommenen Verkleidung klar genug empfinden. Das erste Stück des Anzugs, welches sie anlegte, war einer ihrer alten Röcke (gefertigt aus sogenanntem Alpacastoffe) von dunkelbrauner Farbe mit einem hübschen Muster von kleinen sternartigen weißen Tupfen. Eine doppelte Kante, welche unten am Saume dieses Gewandes herumlief, war die einzige Verzierung des Webers, welche sich darauf befand, eine Verzierung, welche mit dem Anzuge einer ältlichen Dame durchaus nicht unvereinbar war. Die Entstellung ihres Kopfes und ihres Gesichts war der nächste Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit. Sie setzte auf und ordnete die graue Perrücke mit der Geschicklichkeit, welche beständige Uebung ihr verliehen hatte, befestigte die falschen Augenbrauen (welche etwas groß gehalten und aus dunklerem Haar als die Perrücke gemacht waren) sorgfältig an ihrer rechten Stelle mit dem Gummi, den sie zu dem Ende zur Hand hatte, und schminkte ihr Gesicht mit dem gewöhnlichen Bühnenmaterial, um den durchsichtigen Schmelz ihrer Gesichtsfarbe in das düstere, gelbliche Ansehen einer kränklichen Frau zu verwandeln. Die Furchen und Runzeln des Alters folgten dann, und hier boten sich die ersten Schwierigkeiten. Die Kunst, welche bei Gaslicht von Erfolg war, verfing nicht bei Tage; die Schwierigkeit, die offenbar künstliche Natur der Runzeln zu verbergen, war schlechterdings unüberwindlich. Sie kehrte zu ihrer Reisetasche zurück, nahm daraus zwei Schleier und versuchte, indem sie ihren altmodischen Hut aufsetzte, hintereinander die Wirkung derselben. Einer der Schleier (aus schwarzen Spitzen) war zu dick, um zur Sommerzeit ohne Aufsehen zu erregen über dem Gesicht getragen zu werden. Der andere, von einfacher Gaze, ließ ihre Züge gerade noch so unbestimmt durch denselben sehen, daß sie etliche Furchen (viel weniger, als sie bei ihren Vorstellungen anzuwenden pflegte) auf der Stirn und an den Mundwinkeln anbringen konnte. Aber kaum war dies Hinderniß beseitigt, so that sich schon wieder neues auf: die Schwierigkeit, wie sie ihren Schleier unten behalten sollte, während sie mit Anderen sprach, ohne einen haltbaren Grund für ein solches Verfahren. Eine augenblickliche Ueberlegung und ein Blick auf ihre kleine Porzellanpalette von Schminkfarben gaben ihrem allezeit erfinderischen Geiste den Gedanken ein, eine sichtbare Entschuldigung, den Schleier beständig herunterzulassen, zu schaffen. Sie entstellte sich wohlweislich durch künstliches Rothumrändern ihrer Augenlider, um den Anschein einer Augenentzündung hervorzubringen, den kein anderer Mensch als höchstens ein Arzt —— und dieser Arzt selbst nur in der größten Nähe —— als falsch erkennen konnte. Sie sprang auf und blickte mit Siegesfreude auf die häßliche an sich selbst vollbrachte Verwandlung, welche ihr der Spiegel zeigte. Wen konnte es befremden, wenn sie jetzt ihren Schleier herunter trug und sie Mrs. Lecount um die Erlaubniß bat, mit ihrem Rücken gegen das Licht zu sitzen?

Ihre letzte Verrichtung war das Umwerfen des ruhigen grauen Mantels, welchen sie von Birmingham mitgebracht hatte und welcher inwendig von Hauptmann Wragges eigenen kundigen Händen wattiert worden war, um die jugendliche Anmuth und Schönheit ihres Rückens und ihrer Schultern zu verbergen. Da ihr Anzug nunmehr vollständig war, o probierte sie nun den Gang, den man ihr als zu ihrer Maske passend gelehrt hatte, einen Gang mit etwas Hinken. Dann, nach einem Versuch von einer Minute, ehrte sie vor den Spiegel zurück, um sich in der Verstellung ihrer Stimme und ihrer Gebärden zu üben. Dies war der einzige Theil ihrer Rolle, in welchem sie mit ihren natürlichen Mitteln eine Nachahmung Von Miss Garth zu bewerkstelligen im Stande war, und hier war die Aehnlichkeit vollständig. Die rauhe Stimme, die etwas derbe Art, die Gewohnheit, gewisse Redewendungen mit einem nachdrücklichen Kopfnicken zu begleiten, das northumbrische Schnurren (burr), das sich bei jedem Worte mit einem r vernehmen ließ: alle diese persönlichen Eigenthümlichkeiten der alten nordenglischen Erzieherin waren sprechend ähnlich wiedergegeben. Die nunmehr vollendete Verstellung ihrer ganzen Person war buchstäblich, wie Hauptmann Wragge sie bezeichnet hatte, ein Triumph der Kunst der Verkleidung. Den einzigen Fall ausgenommen, daß man ihr nahe ins Gesicht sah bei starkem Lichte, hätte kein Mensch, der jetzt Magdalenen sah, einen Augenblick gedacht, daß sie etwas anderes als ein kränkliches, mißgegstaltetes, abstoßendes Weib von wenigstens fünfzig Jahren sei.

Ehe sie die Thür aufschloß, sah sie sich sorgfältig um, um sich zu versichern, daß keines von ihren Bühnenrequisiten offen liegen geblieben war, falls die Wirthin in ihrer Abwesenheit das Zimmer betreten sollte. Der einzige vergessene Gegenstand, welcher ihr gehörte, war ein Päckchen mit Briefen von Nora. Sie hatte sie in der Nacht gelesen und jetzt während des Ankleidens unter den Spiegel bei Seite gelegt. Als sie die Briefe wegnahm, um sie beizulegen, durchblitzte sie der Gedanke zum ersten Male:

—— Ob wohl Nora mich erkennen würde, wenn wir uns auf der Straße träfen?

Sie sah in den Spiegel und lächelte traurig.

—— Nein, sagte sie, —— nicht einmal Nora.

Sie riegelte die Thür auf, nachdem sie erst von ihrem Beobachtungsposten aus sich umgeschaut hatte. Es war bald zwölf Uhr. Es blieb nur eine Stunde übrig, um ihr verzweifeltes Wagstück auszuführen und in die Wohnung zurückzukehren, ehe die Kinder der Wirthin aus der Schule zurückkamen.

Ein augenblickliches Lauschen auf dem Treppenabsatze überzeugte sie, daß Alles in dem Gange unten ruhig war. Sie stieg geräuschlos die Treppe hinunter und erreichte die Straße, ohne ein lebendes Wesen auf ihrem Wege aus dem Hause angetroffen zu haben. Eine Minute später war sie über die Straße und hatte den Klopfer an Noël Vanstones Thür angeschlagen.

Die Thür wurde von demselben Dienstmädchen geöffnet, dem sie den Abend vorher zu dem Papierladen gefolgt war. Mit einem augenblicklichen Zittern, welches an den denkwürdigen ersten Abend ihres öffentlichen Auftretens erinnerte, fragte Magdalene (mit Miss Garths Stimme und mit Miss Garths Art und Weise) nach Mrs. Lecount.

—— Mrs. Lecount ist ausgegangen, Madame, sagte das Dienstmädchen.

—— Ist Mr. Vanstone zu Hause? fragte Magdalene, die ihre Entschlossenheit wiederfand beim ersten Hindernisse, das ihr entgegentrat.

—— Mein Herr ist noch nicht ausgestanden, Madame.

Abermals eine Täuschung! Ein schwächerer Charakter würde die Warnung beachtet haben. Magdalenens Charakter erhob sich erst recht zum Widerstande gegen selbige.

—— Welche Zeit wird Mrs. Lecount zurück sein? fragte sie.

—— Gegen ein Uhr, Madame.

—— Sagen Sie, daß ich wieder vorfragen werde, sobald als möglich nach ein Uhr. Ich wünsche namentlich Mrs. Lecount zu sprechen. Mein Name ist Miss Garth.

Sie wandte sich und verließ das Haus. Zurück auf ihr Zimmer zu gehen, davon konnte nicht die Rede sein. Das Dienstmädchen sah ihr nach (wie Magdalene daran bemerkte, daß sie nicht die Thür schließen hörte) und überdies würde sie sich, wenn sie wieder hineinginge, der Gefahr aussetzen, gerade um die Zeit wieder auszugehen, wenn die Kinder der Wirthin in der Nähe des Hauses wären. Sie wandte sich, ohne Etwas zu denken, nach der rechten Seite und schritt weiter, bis sie die Vauxhallbrücke erreichte; dort wartete sie, indem sie über den Fluß sah.

Die Pause unbenutzter Zeit vor ihr war beinahe eine Stunde. Wie konnte sie dieselbe ausfüllen?

Als sie sich diese Frage verlegte, erwachte in ihrer Seele aufs Neue der Gedanke, der ihr zuerst aufgestoßen war, als sie das Päckchen Briefe von Nora weggelegt hatte. Ein plötzlicher Gedanke der That, der nämlich, das elende Ganze ihrer Verkleidung auf die Probe zu stellen, mengte sich unter die höheren und reineren Gefühle ihres Herzens und verstärkte noch ihr natürliches Verlangen, das Angesicht ihrer Schwester zu sehen, obschon sie nicht wagte, sich zu erkennen zu geben und zu sprechen. Noras spätere Briefe hatten mit allen Einzelheiten ihr Leben als Erzieherin beschrieben, ihre Lehrstunden, ihre Freistunden, ihre Ausgehstunden für sich und ihre Zöglinge. Es war gerade noch Zeit für Magdalene, wenn sie sofort einen Wagen finden konnte, nach dem Hause von Noras Herrschaft zufahren mit der Aussicht, noch ein paar Minuten eher dahin gelangen, als die Ausgehstunde ihrer Schwester kam.

—— Ein Blick auf sie wird mir mehr sagen, als hundert Briefe!

ZNit diesem Gedanken in ihrer Seele, mit dem einzigen Zwecke, unter dem Schutze der Verkleidung Nora auf ihren täglichen Spaziergang zu folgen, eilte Magdalene über die Brücke und begab sich auf das nördliche Ufer des Flusses.

So beim Wendepunkte ihres Lebens, so in der Zwischenzeit, ehe sie den unwiderruflichen Schritt that und die Schwelle von Noël Vanstones Thür überschritt —— führten sie die himmlischen Mächte, siegreich über die Mächte der Finsternis; in dem Kampfe um sie, weg von dem Schauplatze ihrer beabsichtigten Täuschung und trieben gnädig sie eilends weiter und immer weiter von dem unseligen Hause.

Sie ließ den ersten leeren Cab halten, der an ihr vorüberkam, sagte dem Kutscher, er solle sie nach New-Street in den Spring-Gardens fahren, und versprach ihm das doppelte Fährgeld, wenn er den Bestimmungsort in einer gegebenen Zeit erreiche. Der Mann verdiente das Geld, ja verdiente mehr, wie der Erfolg zeigte. Magdalene hatte nicht zehn Schritte vorwärts gethan in New-Street, auf dem Wege nach dem St. James-Park, als die Thür eines Hauses gegenüber aufging, und eine Dame in Trauerkleidern heraustrat, begleitet von zwei kleinen Mädchen. Die Dame schlug ebenfalls die Richtung nach dem Park ein, ohne ihren Kopf nach Magdalenen zu wenden, als sie die Treppenstufen vor dem Hause herunterstieg. Es that Das nichts, denn Magdalene sah mit dem Herzen, und dieses sagte ihr, daß sie Nora vor sich habe.

Sie folgte Derselben hinein in St. James-Park und von da längs des Mall in den Grünen Park, indem sie näher und näher kam, als sie das Gras erreichten und den Zügel hinanstiegen in der Richtung des Hyde-Park-Ende. Ihre begierigen Augen verschlangen jede Einzelheit an Noras Anzuge und entdeckten jede, auch die leiseste Veränderung, welche an ihrer Gestalt und ihrer Haltung stattgefunden hatte. Sie war seit dem Herbste magerer geworden, ihr Haupt neigte sich ein wenig nach vorn, sie ging mit Mühe. Ihre Trauerkleidung, welche in der bescheidenen Anmuth und Sauberkeit gehalten war, die kein Mißgeschick von ihr nehmen konnte, war ihrer veränderten Lage angemessen; ihr schwarzes Kleid war von Taffet, ihr schwarzer Shawl und schwarzer Hut waren von der schlichtesten und wohlfeilsten Art. Die beiden kleinen Mädchen, welche sie, auf jeder Seite eines, führte, waren in Seide gekleidet. Magdalene haßte sie instinctmäßig.

Sie machte einen weiten Bogen auf dem Grase, dergestalt, um sich nach und nach zu wenden und ihrer Schwester entgegen zu kommen, ohne den Verdacht zu erwecken, daß das Zusammentreffen ein absichtliches wäre. Ihr Herz schlug hastig, eine brennende Glut stieg in ihr auf, als sie an ihr falsches Haar, ihre falsche Farbe, ihre falsche Kleidung dachte und das traute Schwesterangesicht näher und näher kommen sah. Sie gingen aneinander dicht vorüber. Noras dunkle, sanfte Augen schauten anf mit einem tieferen Licht in sich, mit einer trüberen Schönheit als früher —— und sahen wieder weg davon, als von dem Gesicht einer Fremden. Dieser Blick von der Dauer eines Moments traf Magdalenen ins Herz. Sie stand in den Boden gewurzelt da, als Nora vorübergegangen war. Ein Abscheu vor der elenden Verkleidung, welche sie trug, ein herzzerschneidendes Bangen, die Bande zu zerreißen und ihr schamerglühtes gemaltes Angesicht an dem Busen Noras zu bergen, kam über sie und versetzte Leib und Seele in Spannung. Sie wandte sich und sah sich um.

Nora und die beiden Kinder hatten die Anschwellung des grünen Grundes erreicht und waren nahe bei einem der Thore in dem eisernen Gitter, welches den Park von der Straße trennt. Gezogen von einem unwiderstehlichen Zauber folgte Magdalene ihnen abermals, holte sie ein, als sie das Thor erreichten und hörte die Stimmen der Kinder ungezogen darüber streiten, welchen Weg sie gehen sollten. Sie sah, wie Nora sie durch das Thor führte und dann stehen blieb und mit ihnen sprach, indem sie auf einen Augenblick wartete, um über die Straße gehen zu können. Sie wurden um so lauter und ungeduldiger, je mehr sie ihnen zusprach. Das Jüngere; ein Mädchen von acht bis neun Jahren, wurde, wie es bei Kindern vorkommt, plötzlich sehr unleidlich, weinte, schrie und schlug sogar nach der Erzieherin. Die Leute auf der Straße blieben stehen und lachten, einige von ihnen riethen scherzend zu einer kleinen gesunden Züchtigung, eine Frau fragte Nora, ob sie die Mutter der Kinder wäre, eine Andere beklagte sie laut, daß sie die Erzieherin des Kindes wäre. Ehe Magdalene ihren Weg durch die Menge nehmen konnte, ehe ihr alles Andere vergessen machender Eifer, ihrer Schwester zu helfen, sie für jede andere Erwägung blind gemacht und sie halbverrathen an Noras Seite gebracht hatte, fuhr ein offener Wagen langsam über das Pflaster in seinem Weiterfahren gehindert durch das Gedränge der Wagen vor ihm. Eine alte Dame saß darin, hörte das Schreien des Kindes, erkannte Nora und rief sie augenblicklich an. Der Bediente drängte die Menge auseinander, und die Kinder wurden in den Wagen geschafft.

—— Ein wahres Glück, daß ich des Weges einher kam, sagte die alte Dame, indem sie mit Geringschätzung Nora bedeutete, auf dem Rücksitze Platz zu nehmen; Sie konnten niemals meine Tochterkinder leiten, und Sie werden es niemals.

Der Bediente schlug den Tritt in die Höhe, der Wagen fuhr dahin mit den Kindern und der Erzieherin, der Haufe zerstreute sich, und Magdalene war wieder allein.

—— Da mag es denn drum sein! dachte sie mit bitterem Gefühl. Ich würde sie nur schmerzlich aufgeregt haben. Wir würden nur den Jammer des Abschieds gehabt haben, um aufs Neue zu leiden.

Sie kehrte unwillkürlich um und wandte sich wie im Traume nach dem freien Platze im Parke zurück. Indem sie sich mit der Stärke ihrer Liebe zu ihrer Schwester wappnete, mit der Heftigkeit des Unwillens, den sie fühlte um ihrer Schwester willen, gewann der schreckliche Versucher ihres Lebens noch einmal soviel Macht über sie, als zuvor. Durch all die Schminke und die Entstellung der Verkleidung blitzte die stolze Verzweiflung dieser starken und leidenschaftlichen Seele in ihren wilden und entsetzlichen Blicken hindurch. Nora zu einem Gegenstande öffentlicher Neugier und Belustigung gemacht, Nora auf offener Straße ausgescholten; Nora, das um schnöden Lohn erkaufte Opfer der Unverschämtheit einer alten Frau und der Ungezogenheit eines Kindes —— und derselbe Mann, der Frank nach China geschickt hatte, schuld auch hieran! und nach diesem Manne der Sohn desselben schuld daran! Der Gedanke an ihre Schwester, welcher sie von dem Schauplatz ihrer beabsichtigten Täuschung weggeführt hatte, welcher ihr das Bewußtsein ihrer Verkleidung verhaßt gemacht, war nun der Gedanke, der jene Mittel heiligte oder alle Mittel, um ihr Ziel zu erreichen; der Gedanke, welcher Schwingen setzte an ihre Füße und sie zurücktrieb näher und immer näher nach dem verhängnißvollen Hause!

Sie verließ den Park wieder und fand sich in den Straßen, ohne zu wissen wo. Noch einmal rief sie den ersten Cab an, der an ihr vorbeikam, und wies den Kutscher an, nach der Vauxhallpromenade zu fahren.

Der Wechsel vom Gehen zum Fahren beruhigte sie. Sie fühlte, wie sie wieder zu sich selber und zu ihrem Anzuge zurückkam. Die Notwendigkeit, sich zu versichern, daß kein widriger Zufall sich zugetragen bezüglich ihrer Verkleidung in der Zwischenzeit, daß sie ihr Zimmer verlassen hatte, drängte sich ihrer Seele sofort auf. Sie ließ den Kutscher an dem ersten Pastetenladen halten, an dem er vorüber kam, und erhielt dort Gelegenheit, einen Spiegel zu befragen, ehe sie sich wieder nach Vauxhallpromenade zurück wagte.

Ihr grauer Kopfputz war in Unordnung gerathen und der altmodische Hut ein wenig verschoben. Sonst hatte Nichts gelitten. Sie berichtigte die wenigen Mängel ihres Anzugs und kehrte zu dem Cab zurück. Es war halb Zwei, als sie an das Haus kam und zum zweiten Mal an Noël Vanstones Thür klopfte. Die Magd öffnete dieselbe, wie vorher.

—— Ist Mrs. Lecount zurückgekommen?

—— Ja, Madame. Gehen Sie hierhin, wenns gefällig ist.

Die Magd ging Magdalenen auf einem leeren Gange voran, führte sie hinter einer Treppe ohne Teppich weg und öffnete die Thür eines Zimmers im hinteren Theile des Hauses. Das Zimmer wurde von einem Fenster erhellt, das auf einen Hof hinausging, die Wände waren kahl, der getäfelte Fußboden war ohne Decke. Zwei Kammerstühle standen an der Wand, und ein Küchentisch war unter das Fenster gestellt. Auf dem Tische stand ein Glasgefäß mit Wasser und einer Miniaturpyramide von Felsstückchen, dazwischen grünes Moos in der Mitte Schnecken klebten an den Wänden des Gefäßes, Froschzwerge und kleine Fische schwammen in dem grünlichen Wasser, glatte Eidechsen und schlammige Frösche schlichen ihren stillen Weg hinein und heraus auf dem moosigen Felsen, und auf dem Gipfel der Pyramide da saß einsam und allein, kalt wie der Stein, braun wie der Stein, unbeweglich wie der Stein, eine kleine helläugige Kröte. Die Kunst, Fische und Gewürm als Hausschooßthiere zu halten, war zu damaliger Zeit noch nicht heimisch in England, und Magdalene bebte daher beim Eintritt in das Zimmer mit unüberwindlichem Erstaunen und Abscheu beim Anblick des ersten Aquariums, das sie gesehen, zurück.

—— Erschrecken Sie nicht, sagte eine Frauenstimme hinter ihr. Meine Lieblinge thun Niemandem Etwas.

Magdalene drehte sich um und stand Mrs. Lecount gegenüber. Sie hatte, indem sie ihre Vorurtheile aus den Brief gründete, welchen die Haushälterin an sie geschrieben hatte, ein hartes, verschlagenes, übellauniges, unverschämtes altes Weib zu sehen erwartet. Und nun fand sie sich einer Dame von sanftem, einschmeichelndem Benehmen gegenüber, deren Kleidung die Sauberkeit, der Geschmack und die matronhafte Einfachheit selber, deren äußere Persönlichkeit nichts mehr und nichts weniger als ein Sieg des Widerstandes ihrer Natur über den zerstörenden Einfluß der Zeit war. Wenn Mrs. Lecount ein fünfzehn bis sechszehn Jahre von ihrem wahren Alter verleugnet und sich für eine Achtunddreißigerin ausgegeben hätte, so würde kein Mann unter Tausenden oder keine Frau unter Hunderten Bedenken getragen haben, ihr Glauben zu schenken. Ihr dunkles Haar hatte eben nur einen Anflug von Grau und nicht mehr. Es war glatt gescheitelt unter einem fleckenlosen Spitzenhäubchen Nicht eine Runzel war auf ihrer glatten weißen Stirn oder ihren vollen weißen Wangen zu entdecken. Ihr Doppelkinn hatte ein Grübchen, und ihre Zähne waren ein Wunder von Regelmäßigkeit und blendender Weiße. Ihre Lippen hätte man genau genommen als zu dünn betrachten können, wenn sie nicht ihren Mangel durch ein gefälliges und einschmeichelndes Lächeln aufs Wirksamste gut zu machen verstanden hätten. Ihre großen schwarzen Augen würden stolz ausgesehen haben, wenn sie im Gesicht einer andern Frau sich befunden hätten; in Mrs. Lecounts Antlitz waren sie von sanftem und schmachtendem Ausdrücke. Sie ruhten mit zärtlichem Interesse auf jedem Gegenstande, den sie sahen, auf Magdalenen, auf der Kröte ob dem künstlichen Felsen, auf der Hofaussicht aus dem Fenster, auf ihren eigenen fleischigen, schönen Händen, welche sie beim Sprechen sanft an einander rieb, auf ihrem hübschen Batistvorhemdchem welches sie mit Wohlgefallen anzuschauen pflegte, so lange sie Anderen beim Sprechen zuhörte. Das elegante schwarze Kleid, in welchem sie das Andenken an Michael Vanstone betrauerte, war nicht eigentlich ein Anzug, es war vielmehr ein gut ausgeführtes Compliment für den Tod. Ihre Musselinschürze, weiß wie die Unschuld, war selbst ein kleines häusliches Gedicht. Ihre schwarzen Ohrringe waren so anspruchslos, daß sogar ein Quäker sie anzusehen für keine Sünde gehalten haben würde. Der behäbigen Fülle ihres Gesichts entsprach die behäbige Fülle ihrer Gestalt; dieselbe gleitete sanft über den Boden, wenn sie ging, sie floß dahin in ruhiger Wellenbewegung. Es gibt wenig Männer, welche Mrs. Lecount so ganz und gar vom platonischen Standpunkte aus würden haben betrachten können; junge Leute, Neulinge im Leben, würden sie unwiderstehlich gefunden haben, nur Frauen hätten ihre Herzen gegen sie verhärten und unbarmherzig durch diese schöne lächelnde Außenseite in das Innere dringen können. Magdalene konnte nach dem ersten Blicke auf diese Venus aus der Herbstzeit des weiblichen Lebens sich nur zu sehr Glück dazu wünschen, daß sie den Boden erst in Verkleidung zu sondieren gekommen war, ehe sie in ihrer eigenen Person den Kampf gegen Mrs. Lecount aufnahm.

—— Habe ich das Vergnügen, die Dame vor mir zu sehen, welche diesen Morgen zum Besuch kam? fragte die Haushälterin. Spreche ich mit Miss Garth?

Etwas in dem Ausdrucke ihrer Augen, als sie diese Frage that, mahnte Magdalene, ihr Gesicht weiter ab von dem Fenster nach dem Zimmer hinein zu drehen, als sie es bisher gethan. Der bloße Gedanke, daß die Haushälterin vielleicht sie doch schon unter einem zu starken Lichte gesehen, erschütterte ihre Selbstbeherrschung für den Augenblick. Sie ließ sich Zeit, dieselbe wiederzugewinnen und antwortete nur durch eine Verneigung.

—— Empfangen Sie meine Entschuldigung, Madame, wegen des Ortes, an welchem ich genöthigt bin Sie zu empfangen, fuhr Mrs. Lecount in fließendem Englisch, aber mit fremdem Accent, fort. Mr. Vanstone ist hier nur zu einem vorübergehenden Zwecke. Wir reisen morgen Nachmittag an die See, und es wurde für nicht der Mühe werth erachtet, das Haus ordentlich einzurichten. Wollen Sie nicht einen Stuhl nehmen und mich durch Angabe des Zweckes Ihres Besuches erfreuen?

Sie trat unmerklich Magdalenen einen bis zwei Schritte näher und stellte einen Stuhl für sie hin gerade gegenüber dem Lichte des Fensters.

—— Bitte, nehmen Sie Platz, sagte Mrs. Lecount, indem sie mit dem zärtlichsten Interesse die entzündeten Augen ihres Gastes durch den Gazeschleier betrachtete.

—— Ich leide, wie Sie sehen, an einem Augenübel, erwiderte Magdalene, indem sie fortwährend ihr Gesicht halb vom Fenster abhielt und ihre Stimme sorgsam dem Klange von Miss Garths Organe näherte. Ich muß Sie um die Erlaubniß bitten, meinen Schleier heruntergelassen zu tragen und mich vom Lichte abwärts zu setzen.

Sie sagte diese Worte und fühlte sich wieder Herrin ihrer selbst. Mit vollkommener Fassung zog sie den Stuhl in den Winkel des Zimmers vom Fenster zurück und setzte sich so, daß der Schatten ihres Hutes stark auf ihr Gesicht niederfiel. Mrs. Lecounts salbungsvoller Mund murmelte eine höfliche Beileidsbezeigung. Mrs. Lecounts liebenswürdige schwarze Augen sahen mit noch mehr Interesse auf die fremde Dame als zuvor. Sie stellte einen Stuhl für sich selbst hin, gerade in eine Linie mit Magdalenens Sessel und hielt sich so nahe an die Wand, daß ihr Gast genöthigt war, entweder sein Haupt ein weniger nach dem Fenster herumzuwenden, oder durch Nichtansehen der Person, mit der er sprach, unhöflich zu werden.

—— Ja, sagte Mrs. Lecount mit einem vertraulichen kleinen Husten. Und welchem Umstande verdanke ich die Ehre Ihres Besuchs?

—— Darf ich Sie erst fragen, ob mein Name Ihnen schon zufällig bekannt ist? sagte Magdalene, indem sie sich nothgedrungen zu ihr hinwendete, aber dabei kaltblütig ihr Taschentuch zwischen ihr Gesicht und das Licht hielt.

— Nein, antwortete Mrs. Lecount mit einem zweiten Hüsteln, das vielleicht ein wenig härter klang als das erste. Der Name Miss Garth ist mir nicht bekannt.

—— In diesem Falle, fuhr Magdalene fort, werde ich die Veranlassung, die mich dazu bringt, Ihnen beschwerlich zu werden, am Besten erklären, wenn ich Ihnen sage, wer ich bin. Ich lebte viele Jahre als Erzieherin in der Familie des verstorbenen Mr. Andreas Vanstone auf Combe-Raven, und ich komme hierher im Interesse seiner verwaisten Kinder.

Mrs. Lecounts Hände, welche immer bis dahin rastlos sanft über einander weggeglitten waren, wurden auf einmal still, und Mrs. Lecounts Lippen, welche sich unwillkürlich schlossen, verriethen gleich zu Anfang der Unterredung, daß sie in der That, zu dünn waren.

—— Ich bin überrascht, daß Sie draußen das Licht vertragen können ohne einen grünen Augenschirm, bemerkte sie gelassen, indem sie die Selbstvorstellung der Pseudo Miss Garth so vollständig unbeachtet ließ, als ob sie gar nicht gesprochen hätte.

Ich finde, daß ein Schirm über meinen Augen in dieser Jahreszeit sie zu sehr erhitzt, versetzte Magdalene, indem sie ohne Wanken der Haushälterin eine gleiche Ruhe entgegensetzte. Darf ich Sie fragen, ob Sie gehört haben, was ich Ihnen soeben über den Gegenstand meines Besuchs in diesem Hause gesagt habe?

—— Darf ich meinerseits Sie fragen, Madame, in welcher Art dieser Gegenstand mich betreffen kann? antwortete Mrs. Lecount.

—— Ei gewiß, sagte Magdalene. Ich komme zu Ihnen, weil Mr. Noël Vanstones Absichten in Bezug auf die beiden jungen Damen denselben kund gethan wurden in einem Briefe von Ihnen selbst.

Diese offene Antwort that ihre Wirkung. Sie belehrte Mrs. Lecount, daß die fremde Dame besser unterrichtet war, als sie Anfangs vermuthet hatte, und daß es unter diesen Umständen kaum gerathen sei, sie ungehört gehen zu lassen.

—— Bitte um Verzeihung, sagte die Haushälterin, ich verstand erst nicht recht, jetzt verstehe ich Vollkommen. Sie sind im Irrthum, Madame, wenn Sie glauben, daß ich von Einfluß bin oder irgend etwas ausrichten kann in dieser unliebsamen Sache. Ich bin das Organ von Mr. Noël Vanstone, die Feder, die er hält, wenn Sie den Ausdruck gestatten wollen, —— weiter Nichts. Er ist ein Manier, und wie andere Kranken hat er seine schlechten und seine guten Tage. Es war sein böser Tag, als seine Antwort an die junge Person geschrieben wurde. —— (Soll ich sie Miss Vanstone nennen? —— ich will es mit Vergnügen. Das arme Mädchen! Denn wer bin ich, daß ich Unterscheidungen machen sollte, und was geht es mich an, ob ihre Eltern verheirathet waren oder nicht? Wie ich schon gesagt habe, es war einer von Mr. Noël Vanstones bösen Tagen, als jene Antwort abgeschickt ward, und daher hatte ich sie zu schreiben, einfach als sein Secretär in Ermangelung eines Bessern. Wenn Sie in Angelegenheiten dieser jungen Damen —— soll ich sie junge Damen nennen, wie Sie sie eben genannt haben? —— nein, ich will sie die Miss Vanstones nennen, die armen Dinger.

—— Wenn Sie in Angelegenheiten dieser Miss Vanstones sprechen wollen, so will ich Mr. Noël Vanstone Ihren Namen melden und den Zweck Ihres werthen Besuches bei mir. Er ist allein in dem Empfangszimmer und heute ist einer seiner guten Tage. Ich habe den Einfluß einer alten Dienerin über ihn, und ich will diesen Einfluß mit Vergnügen zu Ihren Gunsten anwenden. Soll ich gleich gehen? fragte Mrs. Lecount, indem sie mit dem freundlichsten Eifer, sich nützlich zu machen, aufstand.

—— Wenn es Ihnen gefällig ist, sagte Magdalene mit dankbarer Heiterkeit, und wenn ich nicht Ihre Güte zu sehr in Anspruch nehme.

—— Im Gegentheil, erwiderte Mrs. Lecount, Sie thun mir damit einen gefallen, indem Sie mir verstatten, in meinem beschränkten Kreise die Ausführung einer edelen That fördern zu dürfen.

Sie verneigte sich, lächelte und verschwand aus dem Zimmer.

Als Magdalene allein war, ließ sie dem Unwillen, den sie in Mrs. Lecounts Gegenwart hatte unterdrücken müssen, freien Lauf. Im Mangel eines bessern Gegenstandes für ihren Zorn nahm sie die Kröte vor. Der Anblick des häßlichen kleinen Gewürmes, welches behaglich auf seinem Felsenthrone saß und mit seinen glänzenden Augen ausdruckslos ins Leere starrte, regte jeden Nerv in ihrem Körper auf. Sie sah das Thier mit tiefem Haß und Abscheu an und redete zornig mit demselben durch ihre Zähne.

—— Ich möchte wissen, wessen Blut am Kältesten fließt, sagte sie, Deines, Du kleines Scheusal, oder Mrs. Lecounts? Ich möchte wissen, welches das Schlammigste ist, ihr Herz oder Dein Rücken? Du abscheulicher Molch, weißt Du, was Deine Herrin ist? Deine Herrin ist ein Satan!

Die fleckige Haut unter dem Maul der Kröte zog sich geheimnißvoll zusammen, dann streckte sie sich wieder, als ob sie die eben an sie gerichteten Worte hinunter gewürgt hätte. Magdalene fuhr zurück aus Abscheu vor der ersten wahrnehmbaren Bewegung an dem Leib des Thieres, so gering sie war, und setzte sich wieder. Sie hatte sich keinen Augenblick zu früh gesetzt. Die Thür ging geräuschlos auf, und Mrs. Lecount erschien noch einmal.

—— Mr. Vanstone will Sie empfangen, sagte sie, wenn Sie so gut sein wollen, ein paar Minuten zu verziehen. Er wird die Klingel des Sprechzimmers ziehen, wenn seine augenblickliche Beschäftigung beendigt, und er bereit ist, Sie zu empfangen. Nehmen Sie sich in Acht, Madame, daß Sie nicht seine Laune verderben oder ihn irgendwie aufregen. Sein Herz ist für Die, welche um ihn waren, von frühester Jugend auf ein Gegenstand ernster Sorge gewesen. Es ist kein wirkliches Leiden da, es ist nur chronische Schwäche, eine fettige Entartung, ein Mangel an Lebenskraft im Organe selbst. Sein Herz wird ganz ruhig gehen, wenn Sie seinem Herzen nicht zu viel zumuthen. Das ist der Rath all der Aerzte, die ihn besucht haben. Vergessen Sie Das nicht und halten Sie daher Maß in Ihrer Unterhaltung. Da wir einmal von Aerzten sprechen, haben Sie schon ein Mal die Goldene Salbe gegen Ihr trauriges Augenleiden versucht? Sie ist mir als ein treffliches Mitte! geschildert worden.

—— Bei mir hat sie nicht angeschlagen, versetzte Magdalene scharf. Bevor ich Mr. Noël Vanstone sehe, fuhr sie fort, möchte ich fragen ...

—— Bitte um Entschuldigung, unterbrach sie Mrs. Lecount. Bezieht sich Ihre Frage irgendwie auf jene beiden armen Mädchen?

—— Sie betrifft die Miss Vanstones.

—— Dann kann ich nicht darauf eingehen. Entschuldigen Sie mich, ich kann mich in der That nicht über diese armen Mädchen auslassen (ich bin wirklich erfreut zu hören, daß Sie sie die Miss Vanstones nennen!), außer in Gegenwart meines Herrn und mit meines Herrn ausdrücklicher Erlaubniß. Lassen Sie uns von etwas Anderm sprechen, während wir hier warten. Wollen Sie meinen Schauthierbehälter in Augenschein nehmen? Ich habe allen Grund anzunehmen, daß er in England eine vollständige Neuigkeit ist.

—— Ich nahm ihn in Augenschein, als Sie das Zimmer verlassen hatten, sagte Magdalene.

—— Wirklich? Sie haben kein Interesse daran, möchte ich behaupten. Ganz natürlich. Ich nahm auch kein Interesse daran, bis ich heirathete. Mein theurer Gatte —— todt seit vielen Jahren —— bildete meinen Geschmack und erzog mich nach sich selbst. Sie haben doch von dem verstorbenen Professor Lecomte, dem ausgezeichneten schweizerischen Naturforscher, gehört? Ich bin seine Wittwe. Der englische Kreis in Zürich, in welchem ich in Diensten meines verstorben Herrn lebte, änderte meinen Namen englisch in Lecount um. Ihre edlen Landsleute wollen nichts Ausländisches um sich haben, selbst nicht einen Namen, wenn sie es irgend umgehen können. Aber ich sprach ja von meinem Gatten —— meinem theuren Gatten, der mir gestattete, ihn in seinen Forschungen zu unterstützen. Ich habe nach seinem Tode nur noch ein einziges Interesse behalten, das Interesse an der Wissenschaft. Ausgezeichnet in Vielen Dingen, war der Professor groß in den Reptilien. Er hinterließ mir seine Exemplare und seinen Thierbehälter, ein anderes Vermächtniß hatte ich nicht. Hier ist der Behälter. Alle Exemplare starben, nur nicht dieser kleine ruhige Kerl, diese allerliebste kleine Kröte. Sind Sie verwundert, daß ich sie liebe? Da ist Nichts zu verwundern. Der Professor lebte lange genug, um mich über das gemeine Vorurtheil gegen das Geschlecht, »das da kreucht auf Erden«, zu erheben. Wenn mans recht betrachtet, ist das Reptiliengeschlecht schön zu nennen. Wenn mans recht zergliedert, ist das Reptiliengeschlecht lehrreich im höchsten Grade.

Sie streckte ihren kleinen Finger aus und streichelte sanft den Rücken der Kröte mit der Spitze desselben.

—— So wohlthuend bei der Berührung, sagte Mrs. Lecount. So allerliebst und kühl in diesem Sommerwetter! Die Klingel des Sprechzimmers erscholl. Mrs. Lecount stand auf, beugte sich zärtlich über das Aquarium und zirpte beim Fortgehen der Kröte zu, als ob es ein Vogel gewesen wäre.

—— Mr. Vanstone ist bereit, Sie zu empfangen. Folgen Sie mir, wenn es gefällig ist, Miss Garth.

Mit diesen Worten öffnete sie die Thür und ging voran aus dem Zimmer.



Kapiteltrenner

Viertes Capitel.

Mrs. Lecount kehrte in das Empfangszimmer zurück, in der einen Hand das Stück von Magdalenens Kleide, in der andern Hauptmann Wragges Brief.

—— Sind Sie das Frauenzimmer los geworden? fragte Mr. Noël Vanstone. Haben Sie endlich die Thür geschlossen hinter Miss Garth.

—— Nennen Sie das Weib nicht Miss Garth, Sir, sagte Mrs. Lecount mit verächtlichem Lächeln. Sie ist eben sowenig Miss Garth, als Sie es sind. Wir haben das Vergnügen gehabt, uns ein Stück Mummenschanz recht gut vormachen zu lassen, und wenn wir unserm Gaste die Verkleidung genommen hätten, so würden wir, denke ich, niemand Anderes als Miss Vanstone selbst darunter gefunden haben. —— Hier ist ein Brief für Sie, Sir, den der Briefträger eben dagelassen hat.

Sie legte den Brief auf den Tisch, ihrem Herrn zu Händen. Mr. Noël Vanstone in seinem Erstaunen über die ihm eben kundgethane Entdeckung blickte mit seiner ganzen Aufmerksamkeit unverwandt auf das Gesicht seiner Haushälterin. Er sah nicht einmal den Brief an, als sie ihm denselben vorlegte.

—— Nehmen Sie mein Wort darauf, Sir, fuhr Mrs. Lecount fort und setzte sich ruhig nieder, —— wenn sie, unser Gast, nach Hause kommt, wird sie ihr graues Haar in einen Koffer legen und wird jene schlimme Entzündung in ihren Augen mit warmem Wasser und einem Schwamme beseitigen. Wenn sie die Runzeln in ihrem Gesichte so gut gemalt hätte, als die Entzündung in ihren Augen, so würde das Licht mir Nichts gezeigt haben, und ich wäre gewiß betrogen worden. Aber ich durchschaute diese Malerei, ich sah unter ihrer dunkeln Gesichtsfarbe die Haut eines jungen Frauenzimmers, ich hörte in diesem Zimmer ebenso eine wahre Stimme, von Leidenschaft bewegt, als eine falsche Stimme, verstellt durch einen fremden Accent — und so traue ich denn nicht einem Stücke der äußern Erscheinung der Dame von Kopf bis zu Füßen. Das Mädchen selbst wars nach meiner Ansicht, Mr. Noël, ein verwegenes Mädchen.

—— Warum schlossen Sie nicht die Thür und schickten nach der Polizei? frug Mr. Noël. Mein Vater würde nach der Polizei geschickt haben. Sie wissen so gut als ich selbst, Lecount, mein Vater hätte nach der Polizei geschickt.

— Erlauben Sie, Sir, sagte Mrs. Lecount, ich denke, Ihr Vater hätte erst noch abgewartet, bis er mehr Handhaben für die Polizei gehabt hätte, als wir deren jetzt haben. Wir werden die Dame wiedersehe, Sir, Vielleicht wird sie das nächste Mal mit ihrem eigenen Gesichte und ihrer eigenen Stimme hierherkommen. Ich bin neugierig zu sehen, wie ihr Gesicht aussieht; ich bin neugierig zu wissen, ob ich von ihrer Stimme in der leidenschaftlichen Erregung genug gehört habe, um die Stimme auch im ruhigen Tone wiederzuerkennen. Ich besitze ein kleines Andenken an ihren Besuch, von dem sie nichts weiß; und sie wird mir nicht so leicht entgehen, als sie wohl denkt. Wenn es sich als ein nützliches Andenken erweist, dann sollen Sie erfahren, was es ist. Wenn nicht, so will ich es unterlassen, Sie mit einem solchen kleinen Gegenstande zu behelligen —— Erlauben Sie mir, Sir, Sie an den Brief, den Sie zur Hand haben, zu erinneren. Sie haben ihn noch nicht angesehen.

Mr. Noël Vanstone erbrach den Brief. Er fuhr zusammen, als sein Auge auf die ersten Zeilen fiel, zauderte und las ihn dann in Eile vollends durch. Das Papier entfiel seiner Hand, und er sank in seinen Stuhl zurück. Mrs. Lecount erhob sich mit der Lebhaftigkeit einer jungen Frau und hob den Brief auf.

—— Was ist Vorgefallen, Sir? fragte sie.

Ihr Gesicht verwandelte sich, als sie die Frage stellte, und ihre großen schwarzen Augen blickten starr in aufrichtigem Staunen und Schrecken.

—— Schicken Sie nach der Polizei! schrie ihr Herr. Lecount, ich bestehe darauf, daß ich Schutz erhalte. Schicken Sie nach der Polizei!

—— Darf ich den Brief lesen, Sir?

Er winkte schwach mit der Hand. Mrs. Lecount las den Brief aufmerksam durch und legte ihn, als sie fertig war, ohne ein Wort auf den Tisch.

—— Und Sie haben mir Nichts zu sagen? fragte Mr. Noël Vanstone, indem er seine Haushälterin in heller Verzweiflung ansah. Lecount, ich soll beraubt werden! Der Schurke, der den Brief schrieb, weiß Alles und will mir Nichts sag, bis ich ihn dafür bezahle. Ich soll beraubt werden! Hier auf dem Tische liegt Eigenthum im Werthe von Tausenden von Pfunden, Eigenthum, das gar nicht ersetzt werden kann, Eigenthum, das alle gekrönten Häupter in Europa nicht aufzuweisen hätten, wenn sie’s auch versuchten. Schließen Sie mich ein, Lecount, und schicken Sie nach der Polizei!

Anstatt nach der Polizei zu schicken, nahm Mrs. Lecount einen großen grünen Papierfächer vom Kaminsims und setzte sich vor ihren Herrn.

—— Sie sind aufgeregt, Mr. Noël, sagte sie, Sie sind erhitzt. Lassen Sie mich Ihnen Kühlung geben.

Mit einem Gesicht, das so hart wie je war, mit weniger Zärtlichkeit in Blick und Wesen, als die meisten Frauen gezeigt haben würden, wenn sie eine halbertrunkene Fliege aus einem Milchkruge gerettet hätten, fächelte sie ihn schweigend und geduldig fünf Minuten oder noch länger. Keinem sachverständigen Auge, das die eigenthümliche bläuliche Blässe seiner Farbe und die auffallende Anstrengung, mit der er athmete, gesehen hätte, würde es entgangen sein, daß das große Organ des Lebens in diesem Manne für die Verrichtung, zu der es bestimmt war, zu schwach war. Das Herz arbeitete bei ihm so schwer, als wenn es das Herz eines lebensmatten alten Mannes gewesen wäre.

—— Haben Sie sich erholt, Sir? fragte Mrs. Lecount. Können Sie ein wenig denken? Können Sie Ihre bessere Einsicht wieder walten lassen?

Sie stand auf und legte ihre Hand auf sein Herz, mit gerade so viel kalter Aufmerksamkeit und so wenig ursprünglicher Theilnahme, als wenn sie die Schüsseln beim Mittagsessen angefühlt hätte, um sich zu versichern, ob sie gehörig gewärmt wären.

—— Ja, fuhr sie fort, indem sie sich wieder setzte und die Bewegung des Fächers fortsetzte, Sie bessern sich schon, Mr. Noël. —— Fragen Sie mich nicht über diesen anonymen Brief, bis Sie selbst darüber nachgedacht und selbst zuerst Ihre Meinung zu erkennen gegeben haben.

Sie fuhr mit dem Fächeln fort und sah ihn dabei fest an.

—— Denken Sie, sagte sie, denken Sie über die Sache nach, Sir, ohne jedoch sich anzustrengen, Ihre Gedanken auszusprechen. Vertrauen Sie meiner innigen Theilnahme für Sie, da ich sie schon aus Ihren Augen lese. Ja, Mr. Noël, dieser Brief ist ein elender Versuch, sie einzuschüchtern. Was will er besagen? Er besagt, daß Sie der Gegenstand einer von Miss Vanstone geleiteten Verschwörung sind. Wir wissen Das bereits —— die Dame mit den entzündeten Augen hat es uns erzählt. Wir haben bereits die ganze Verschwörung beinahe in der Hand. Was sagt der Brief weiter? Er sagt, der Schreiber habe Ihnen werthvolle Mittheilungen zu machen, wenn Sie ihn dafür bezahlen wollten. Wie nannten Sie doch diese Person eben selbst, Sir?

—— Ich nannte sie einen Schurken, sagte Mr. Noël Vanstone, indem er nunmehr seine Selbstbeherrschung wiedererlangte und sich mehr und mehr in seinem Stuhle aufrichtete.

—— Ich bin darin mit Ihnen vollkommen einverstanden, Sir, wie ich in jeder andern Beziehung es mit Ihnen bin, fuhr Mrs. Lecount fort. Es ist entweder ein Schurke, der wirklich diese Mittheilung macht und aufrichtig meint, was er sagt —— oder aber ein Werkzeug der Miss Vanstone, und sie hat ihn zu diesem Briefe veranlaßt, zum Zwecke, uns noch unter einer andern Form der Verkleidung irre zu führen. Ob nun der Brief wahr ist oder ob der Brief falsch ist —— lese ich nicht jetzt Ihre eigenen weiseren Gedanken, Mr. Noël? ——: Sie wissen etwas Besseres zu thun, als Ihre Feinde durch vorzeitiges Anrufen der Polizei dahin zu bringen, daß sie auf ihrer Hut sind. Ich bin darin ganz mit Ihnen einverstanden, jetzt noch keine Polizei. Sie werden diesen anonymen Mann oder diese anonyme Frau gern in dem Glauben lassen, daß Sie leicht zu erschrecken sind. Sie werden ihm wegen der Mittheilung zum Danke eine Schlinge legen, wie er sie Ihnen wegen des Geldes gelegt hat; Sie werden auf den Brief antworten und sehen, was aus der Antwort wird; und Sie werden erst dann die kostspielige Hilfe der Polizei anrufen, wenn Sie wissen, daß die Ausgabe nöthig ist. Ich bin wieder mit Ihnen einverstanden, keine Ausgaben, wenn es sich umgehen läßt. In jedem Stücke, Mr. Noël, sind meine und Ihre Meinung in dieser Sache eins.

—— Sehen Sie die Sache in diesem Lichte, Lecount, wirklich? sagte Mir. Noël Vanstone. Ich denke so, ich denke wahrlich so. Ich würde keinen Pfennig für die Polizei ausgeben, wenn ichs umgehen könnte.

Er nahm den Brief wieder auf und wurde beim zweiten Male Lesen ärgerlich und verwirrt.

—— Aber der Mann will Geld haben! brach er ungeduldig heraus. Sie scheinen zu vergessen, Lecount, daß der Mann Geld braucht.

—— Geld, das Sie ihm anbieten, Sir, erwiderte Mrs. Lecount, aber, wie Ihre Gedanken bereits zum Voraus wissen, Geld, das Sie ihm nicht geben. Nein, nein! Sie sagen zu diesem Manne: Halten Sie Ihre Hand auf, mein Herr —— und wenn er sie aufhält, so geben Sie ihm einen Klapps für seine Mühe und stecken Ihre Hand wieder in die Tasche. —— Ich freue mich außerordentlich, Sie wieder lachen zu sehen, Mr. Noël, freue mich, zu sehen, wie Sie Ihre gute Laune wieder bekommen. Wir wollen den Brief durch eine Anzeige in der Zeitung beantworten, wie der Schreiber angibt; eine Anzeige ist so wohlfeil! Ihre arme Hand zittert ein wenig, soll ich statt Ihrer die Feder führen? Ich bin nicht geschickt dazu, mehr zu thun; aber ich kann immer Versprechens, die Feder zu halten.

Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie in das Hinterzimmer und kehrte mit Feder, Tinte und Papier zurück. Indem sie eine Löschpapierunterlage auf ihren Knien hielt und aussah wie ein Musterbild heiterer Unterwürfigkeit, setzte sie sich noch einmal gerade vor den Stuhl ihres Herrn.

—— Soll ich schreiben, Sir, wie Sie es. mir vorsagen? oder soll ich einen kleinen Entwurf machen, und Sie verändern ihn dann? Ich will einen kleinen Entwurf machen. Lassen Sie mich den Brief sehen. Wir sollen es in die Times einrücken lassen und folgende Aufschrift machen:

EIN UNBEKANNTER FREUND.

—— Was soll ich sagen, Mr. Noël? Warten Sie, ich will es schreiben, und dann können Sie es selbst sehen:

EIN UNBEKANNTER FREUND wird ersucht mittels Ankündigung eine Adresse anzugeben, unter der ein Brief ihn finden kann. Für die Mittheilung, die er anbietet, wird er bei Empfang belohnt werden durch eine Zahlung von...

—— Welche Summe wünschen Sie angegeben zu sehen, Sir?

—— Setzen Sie Nichts hin, sagte Mr. Noël Vanstone mit einem plötzlichen Ausbruch von Ungeduld. Geldsachen sind mein Geschäft, ich sage, Geldsachen sind mein Geschäft, Lecount. Ueberlassen Sie die mir.

—— Ganz gewiß, Sir, versetzte Mrs. Lecount und überreichte ihrem Herrn das Conceptbuch. Sie werden doch nicht vergessen, bei dem Gelderbieten um so mehr freigebig zu sein, als Sie von vornherein mit sich eins sind, daß Sie Nichts hergeben werden?

—— Sagen Sie mir Nichts vor, Lecount! Ich will Nichts von Dictiren wissen! sagte Mr. Noël Vanstone, indem er seine Selbständigkeit immer ungeduldiger geltend machte. Ich bin willens, dies Geschäft selbst zu erledigen. Ich bin hier Herr, Lecount!

—— Sie sind allerdings hier Herr, Sir.

—— Vor mir war mein Vater hier Herr. Und ich bin meines Vaters Sohn. Ich sage Ihnen, Lecount, ich bin meines Vaters Sohn!

Mrs. Lecount verneigte sich mit unterwürfiger Miene.

—— Ich bin willens, diejenige Geldsumme zu setzen, welche ich für gut finde, fuhr Mr. Noël Vanstone fort, indem er heftig seinen kleinen Flachskopf schüttelte. Ich bin willens, diese Anzeige selber abzuschicken. Die Dienstmagd soll sie zur Annahmestelle beim Papierhändler tragen, um sie in die »Times« rücken zu lassen. Wenn ich zwei Mal klingele, so schicken Sie mir das Mädchen. Verstehen Sie mich, Lecount? Schicken Sie mir das Mädchen.

Mrs. Lecount verneigte sich abermals und ging langsam nach der Thür. Sie wußte es, wann sie ihren Herrn lenken konnte und wann sie ihn allein gehen lassen mußte. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, ihn in allen Hauptsachen zu gängeln, um ihn dafür nachher in allen Siebensachen gewähren zu lassen. Es war ein Merkmal seines schwachen Charakters, —— wie eines jeden schwachen Charakters —— sich auf Kleinigkeiten zu steifen. Das Ausfüllen der Lücke in der Anzeige war die Kleinigkeit bei dieser Sache; und Mrs. Lecount beschwichtigte den Argwohn ihres Herrn, als gängele sie ihn, dadurch, daß sie augenblicklich nachgab.

—— Mein Maulthier hat hinten ausgeschlagen, dachte sie bei sich in ihrer Sprache, als sie die Thür öffnete. Ich kann heute Nichts mehr mit ihm anfangen.

—— Lecount! rief ihr Herr, als sie in den Gang hinaustrat. Kommen Sie zurück.

Mrs. Lecount kam .zurück.

—— Sie sind doch nicht böse auf mich, nicht wahr nicht? frug Mr. Noël Vanstone unruhig.

—— O gewiß nicht, Sir, erwiderte Mrs. Lecount. Wie Sie bereits gesagt haben: Sie sind hier Herr.

—— Gute Seele, geben Sie mir eine Hand!

Er küßte ihr die Hand und lächelte übers ganze Gesicht vor Freude über dies sein zärtliches Beginnen.

—— Lecount, Sie sind eine ganz ehrenwerthe Person!

—— Ich danke Ihnen, Sir, sagte Mrs. Lecount.

Sie machte einen Knix und ging hinaus.

—— Wenn er in seinem Affenschädel nur ein wenig Grütze hätte, sprach sie auf dem Gange vor sich hin, was für ein ausgemachter Schurke würde er sein!

Sich selbst überlassen versank Mr. Noël Vanstone in eifrige Betrachtungen über die offen gelassene Stelle in dem Entwurfe der Anzeige Mrs. Lecounts auf den ersten Anschein überflüssiger Wink, in seinem Gelderbieten ja recht freigebig zu sein, wenn er mit sich eins sei, daß er doch Nichts geben wolle, war auf eine tiefe Kenntniß seines Charakters gegründet gewesen. Er hatte die schmutzige Liebe zum Gelde von seinem Vater geerbt, ohne jedoch zugleich auch den starrköpfigen Sinn und die Sicherheit seines Vaters in der Erkenntniß des passenden Gebrauches des Geldes mitzuerben. Der einzige Gedanke in Bezug auf das Geld, den er hatte, war der, es ja recht festzuhalten. Er war ein so eingefleischter Knicker, daß schon die bloße Möglichkeit, wenigstens dem Anschein nach freigebig zu sein, ihn in Schrecken setzte. Er nahm die Feder zur Hand und legte sie wieder hin. Er las den anonymen Brief wohl zum dritten Male und schüttelte darüber argwöhnisch mit dem Kopfe.

—— Wenn ich nun diesem Menschen eine große Summe Geldes biete, dachte er plötzlich, wie kann ich wissen, ob er nicht doch ein Mittel findet, mich zu zwingen, sie ihm wirklich zu zahlen? Frauenzimmer sind immer vorlaut und schnell. Die Lecount ist auch immer schnell bei der Hand. Ich habe den Nachmittag vor mir —— ich will den Nachmittag dazu verwenden, darüber nachzudenken.

Aergerlich legte er das Conceptbuch und den Entwurf der Anzeige auf den Stuhl, den Mrs. Lecount eben verlassen hatte. Als er zu seinem eignen Sessel zurückkehrte, schüttelte er seinen kleinen Kopf feierlich und schlug seinen weißen Schlafrock über die Kniee zusammen mit der Miene eines in eifrige Gedanken versunkenen Mannes. Minute auf Minute verrann, die halben und die Viertelstunden folgten einander auf dem Zifferblatte von Mrs. Lecounts Uhr, und noch blieb Mr. Noël in Ungewißheit befangen, noch immer wurde die Klingel des Empfangszimmers nicht in Bewegung gesetzt, um das Mädchen zu rufen.

* * * * * * * * * * *

Mittlerweile hatte Magdalene sich klüglich gehütet, auf ihre Wohnung zu über die Straße zu schreiten, und war erst, nachdem sie in der Nähe einen Umweg gemacht, zurückgekehrt. Als sie sich wieder auf der Vauxhallpromenade befand, war der erste Gegenstand, der ihre Aufmerksamkeit erregte, ein vor der Thür ihrer Wohnung haltender Cab. Als sie ein paar Schritte näher kam, sah sie die Tochter der Wirthin am Kutschenschlage stehen und sich mit dem Kutscher wegen des Fahrgeldes herumstreiten. Sowie Magdalene bemerkte, daß das Mädchen ihr den Rücken zukehrte, machte sie sich sofort diesen Umstand zu Nutze und schlüpfte unbemerkt ins Haus.

Sie eilte in dem Gange hin, stieg die Treppe hinan und stand plötzlich auf dem ersten Absatze ihrer Reisegefährtin gegenüber! Da stand Mrs. Wragge mit einem Haufen kleiner Päckchen auf den Armen, ängstlich auf das Ende des Streites mit dem Cabkutscher auf der Straße wartend. Umzukehren war unmöglich, der Klang der zornigen Stimmen unten näherte sich dem Gange im Hause. Zu zögern war noch schlimmer, als bloß unnöthig Nur eine Wahl blieb, die Wahl vorwärts zu gehen, und diese traf denn auch Magdalene in ihrer Rathlosigkeit Sie schob Mrs. Wragge bei Seite, ohne ein Wort zu sagen, lief in ihr Zimmer, warf ihren Mantel, den Hut und die Perrücke ab und schleuderte sie in den leeren Raum zwischen dem Sophabette und der Wand, wo sie Niemand sehen konnte.

In den ersten Augenblicken raubte das Erstaunen der guten Mrs. Wragge die Sprache, und sie blieb auf dem Flecke, wo sie stand, angewurzelt stehen. Zwei von den Gepäckstücken auf ihren Armen fielen auf die Treppe herunter. Der Anblick dieses Mißgeschicks richtete sie wieder auf.

—— Diebe! schrie Mrs. Wragge, indem ihr plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schoß, Die — be! Die — be!

Magdalene hörte sie durch die Thür, welche sie nicht Zeit genug gehabt hatte zuzumachen.

—— Sind Sie es, Mrs. Wragge? rief sie hinaus mit ihrer Stimme. Was gibt es denn?

Sie nahm ein Handtuch, während sie sprach, tauchte es ins Wasser und fuhr damit rasch über den unteren Theil ihres Gesichts. Bei dem Klange der befreundeten Stimme wandte sich Mrs. Wragge um, ließ dabei ein drittes Päckchen fallen und stieg, ohne in ihrem Staunen darauf Acht zu geben, das zweite Treppenstück hinauf. Magdalene trat auf den Treppenabsatz des ersten Stockes hinaus mit dem Handtuch vor der Stirn, als ob sie Kopfweh habe. Ihre falschen Augenbraunen erforderten einige Zeit, ehe sie abgelöst werden konnten und ein augenblicklich vorgeschütztes Kopfweh gab den besten Vorwand ab, den sie eben gleich fand, um sie so vollständig zu verbergen, wie sie jetzt verdeckt waren.

—— Warum bringen Sie das Haus in Aufregung? frug sie. Ich bitte Sie, seien Sie doch still. Ich kann vor Kopfschmerz kaum aus den Augen sehen.

—— Ist ein Unglück geschehen, Madame? fragte die Wirthin aus dem Gange herauf.

—— Gott behüte, versetzte Magdalene. Meine Freundin ist etwas furchtsamer Natur, und der Streit mit dem Kutscher hat sie erschreckt. Zahlen Sie dem Manne, was er verlangt, und lassen Sie ihn ziehen.

—— Wo ist sie? fragte Mrs. Wragge, vor Furcht leise flüsternd. Wo ist das Weib, das an mir vorüber in Ihr Zimmer lief?

—— Ach was! sagte Magdalene. Kein Weib ist an Ihnen vorüber gelaufen, wie Sie es nennen. Sehen Sie herein und suchen Sie es selbst.

Sie machte die Thür weit auf. Mrs. Wragge schritt in das Zimmer, sah sich überall um, erblickte Niemand und drückte nun ihr bodenloses Erstaunen über dieses Ergebniß dadurch aus, daß sie ein Viertes Päckchen fallen ließ und kläglich zitterte vom Wirbel bis zur Zehe.

—— Ich sah sie aber doch hineingehen, sagte Mrs. Wragge in schreckergriffenem Tone. —— Ein Weib in einem grauen Mantel und mit einem Schaufelhut —— Ein grobes Weib. —— Es lief an mir auf der Treppe vorbei, ja das that es. Hier ist das Zimmer und kein Weib darinnen. Geben Sie mir ein Gebetbuch! rief Mrs. Wragge, wurde todtenbleich und ließ ihre ganze übrige Packerei vollends fallen, als wollte sie ein Füllhorn leeren.

—— Ich muß etwas Gutes lesen. Ich muß an mein letztes Stündlein denken. Ich habe einen Geist gesehen.

—— Unsinn! sagte Magdalene Sie sind im Traume; das Einkaufen hat Sie zu sehr angegriffen. Gehen Sie in Ihr Zimmer und setzen Sie Ihren Hut ab.

—— Ich habe wohl von Geistern in Nachtgewändern erzählen hören, von Geistern in Betttüchern und von Geistern in Ketten, fuhr Mrs. Wragge fort und stand dabei [wie Max im »Freischütz«] inmitten des Zauberkreises der am Boden verzettelten Leinwandpackereien wie festgebannt still. Hier ist aber ein Geist, schlimmer als jene insgesamt: ein Geist in einem grauen Mantel und mit einem Schaufelhute. Ich weiß es ja wohl, was es ist, fuhr Mrs. Wragge in reu- und wehmüthige Thränen ausbrechend fort, es ist ein Strafgericht für mich, weil ich mich so glücklich fühlte, da ich vom Hauptmann so weit weg bin. Es ist ein Strafgericht für mich, weil ich mit übergetretenen Schuhen in den Läden von halb London gewesen bin, erst an dem einen Schuh, dann auch an dem andern, und zwar die ganze Zeit über, wo ich aus war. Ich bin ein gar sündhaftes Geschöpf. Lassen Sie mich nicht allein gehen, was Sie auch thun mögen, lassen Sie mich nicht allein gehen!

Sie faßte Magdalenen fest am Arme und fing beim bloßen Gedanken, daß sie allein bleiben sollte, aufs Neue zu zittern an.

Das Einzige, das hier zu thun übrig blieb, war, sich den Umständen zu fügen. Magdalene brachte Mrs. Wragge zu einem Stuhle, nachdem sie denselben erst so gestellt hatte, daß sie ihrer Reisegefährtin so lange den Rücken kehren konnte, als sie mit etwas Wasser die falschen Augenbraunen ablöste.

—— Warten Sie ein Weilchen, sagte sie, und sehen Sie zu, ob Sie sich beruhigen können, während ich meinen Kopf naß mache.

—— Mich beruhigen? wiederholte Mrs. Wragge. Wie soll ich mich beruhigen, wenn mein Kopf so brummt, als wollte er mir zerspringen. Das schlimmste Schwirren und Sausen, das ich je über, das Kochbuch bekommen habe, war ein Spaß gegen das Sausen, das ich jetzt über den Geist bekommen habe. Ach, das ist ein klägliches Ende eines Festtages für mich! Sie können mich wieder zurücknehmen, meine Liebe, wann es Ihnen beliebt —— ich habe bereits genug daran!

Als Magdalene endlich mit den Augenbraunen fertig war, so hatte sie nun Zeit, den unglücklichen Eindruck, den das Gemüth ihrer Gefährtin erfahren hatte, mit allen Mitteln der Ueberredungskunst zu bekämpfen, welche ihr Scharfsinn ihr eingab.

Der Versuch erwies sich als vergeblich. Mrs. Wragge beharrte bei dem Glauben, daß sie auf übernatürliche Weise einen Besuch aus der Geisterwelt erhalten habe, freilich auf Grund eines so thatsächlichen Beweises, welcher im Vorbeigehen gesagt gar mancher gescheidteren Geisterseherin genügt haben würde. Alles was Magdalene thun konnte, war, sich durch vorsichtige Fragen zu vergewissern, daß Mrs. Wragge nicht rasch genug gewesen war, zu erkennen, daß der angebliche Geist und die alte nordenglische Dame in der »Unterhaltung« ein und dieselbe Person waren. Als sie sich in diesem Betracht beruhigt hatte, konnte sie alles Uebrige nur der natürlichen Unfähigkeit, Eindrücke festzuhalten, wenn solche nicht beständig erneuert wurden, überlassen, welche eine von den bezeichnenden Schwächen im Charakter ihrer Reisegefährtin war. Nachdem sie Mrs. Wragge durch die wiederholte Versicherung aufgerichtet, daß eine einmalige Erscheinung nach Gesetz und Herkommen der Geisterwelt gar Nichts zu bedeuten habe, wenn nicht unmittelbar zwei andere daraus folgten, nachdem sie ruhig ihre Aufmerksamkeit auf die in der Hausflur und auf der Treppe verlorenen Packereien hingelenkt und ihr versprochen hatte, die Verbindungsthür zwischen den beiden Zimmern halboffen zu lassen, falls sie, Mrs. Wragge, ihrerseits sich anheischig mache, in ihre Kammer zu gehen und kein Wort mehr von dem entsetzlichen Gegenstande, der Geistererscheinung, zu sagen —: verschaffte sie sich endlich Gelegenheit, über die Ereignisse des merkwürdigen Tages ungestört nachzudenken.

Zwei ernste Folgen hatten sich an ihren ersten Schritt geknüpft. Mrs. Lecount hatte sie dabei ertappt, wie sie mit ihrer eigenen Stimme sprach, und der unglückliche Zufall hatte sie in ihrer Verkleidung mit Mrs. Wragge zusammengeführt.

—— Welchen Vortheil hatte sie gewonnen, um ihn gegen dies Mißgeschick in die Waagschale legen zu können? Den Vortheil, daß sie nun Von Noël Vanstone und von Mrs. Lecount mehr wußte, als sie vielleicht in Monaten entdeckt hätte, wenn sie sich nur auf Nachforschungen Anderer hätte verlassen müssen. Eine Ungewißheit, die sie bisher beunruhigt und gestört hatte, war nun bereits beseitigt. Der Plan, welchen sie insgeheim gegen Michael Vanstone ausgedacht hatte und den Hauptmann Wragges scharfe Spüraugen bereits zum Theil durchschaut hatten, als sie ihm zuerst anzeigte, daß ihre Theilhaberschaft jetzt aufgelöst werden müsse, mußte ausgegeben werden, weil er bei Michael Vanstones Sohne nicht anschlagen würde, Das sah sie klar ein. Die Gewohnheit seines Vaters, zu speculiren, war der Angelpunct gewesen, um welchen das ganze Rüstwerk ihrer ausgedachten Verschwörung sich zu drehen berechnet war. In dem doppelt schmutzigen Charakter des Sohnes war kein solcher handhafter Punkt zu entdecken. Mr. Noël Vanstone war gerade auf dem Punkte unverwundbar, aus welchem sein Vater anzugreifen gewesen wäre.

Wenn sie nun zu diesem Schlusse gekommen war, wie sollte sie ihr künftiges Verhalten einrichten? Welche neuen Mittel konnte sie ausfindig machen, um trotz der arglistigen Wachsamkeit der Mrs. Lecount und Noël Vanstones knauserigem Mißtrauen dennoch ihren Zweck zu erreichen?

Sie saß vor dem Spiegel und kämmte in tiefen Gedanken ihr Haar, während diese höchst wichtigen Erwägungen ihren Geist beschäftigten. Die Aufregung des Augenblicks hatte ihr Fieberglut in die Wangen getrieben und ihre großen grauen Augen glänzend gemacht. Sie war sich bewußt, daß sie schöner als je aussah, wußte, daß ihre Schönheit nach der Entfernung der Verkleidung durch den Gegensatz gewann. Ihr liebliches lichtbraunes Haar sah dichter und weicher aus als je zuvor, jetzt da es befreit war von der häßlichen Umhüllung durch die graue Perrücke. Sie flocht es bald so, bald so mit raschen, geschickten Fingern, sie ließ es schwer über ihre Schultern fallen, sie warf es wieder hinter dieselben in einen Haufen und wandte sich seitwärts um zu sehen, wie es fiel, um ihren Rücken und ihre Schultern befreit von der künstlichen Entstellung durch den wattierten Mantel zu sehen. —— Einen Augenblick darauf schaute sie wieder gerade in den Spiegel hinein, begrub ihre beiden Hände in ihrem Haar und sah mit den Ellenbogen auf dem Tische näher und immer näher auf das Spiegelbild ihrer selbst hin, bis ihr Athem das Glas trübe machte.

—— Ich kann jeden Mann um den Finger wickeln, dachte sie und lächelte dabei Siegesstolz, so lange ich mein Aussehen behalte! Wenn der verächtliche Elende mich jetzt sähe....

Sie scheute sich, ihren Gedanken zu Ende zu führen, mit einem plötzlichen Schauder vor sich selbst und wandte sich bebend und die Hände vor das Gesicht drückend vom Spiegel weg.

—— Ach, Frank, murmelte sie, nur um Deinetwillen, welch ein Geschöpf könnte ich werden!

Mit begierigen Fingern zog sie die kleine weißseidene Tasche aus ihrem geheimen Versteck in ihrem Busen, ihre Lippen bedeckten ihn mit stillen heißen Küssen.

—— Mein Liebling, mein Engel! Ach, Frank wie lieb’ ich Dich!

Die Thränen traten ihr ins Auge. Sie trocknete sie hastig, steckte das Täschchen wieder an seinen Platz und wandte dem Spiegel den Rücken.

—— Nichts weiter von mir selbst, dachte sie, Nichts weiter heute von meinem tollen, elenden Ich!

Indem sie sich vor jeder weiteren Ueberlegung ihres nächsten Schrittes scheute, sich scheute Vor dem Gedanken an die immer dunkler werdende Zukunft, mit welcher nunmehr Noël Vanstone in ihren geheimsten Gedanken in Verbindung gesetzt ward, sah sie sich ungeduldig im Zimmer nach irgend einer häuslichen Beschäftigung um, mit welcher sie gleichsam vor sich selber flüchten könnte. Der Verkleidungsanzug, den sie zwischen die Wand und das Bett geworfen hatte, kam ihr wieder in den Sinn. Es war unmöglich, ihn dort zu lassen. Mrs. Wragge, die jetzt dabei war, ihre Packereien auszusuchen und zu ordnen, konnte endlich ihrer Beschäftigung müde werden und jeden Augenblick zurückkommen an das Bett treten und den grauen Mantel sehen. Was sollte damit werden?

Ihr erster Gedanke war, die Verkleidung in ihre Reisetasche zurückzuthun. Allein nach Dem, was geschehen war, war es mißlich, dieselbe so nahe bei sich zu behalten, wo sie und Mrs. Wragge unter demselben Dache beisammen waren. Sie beschloß, sich derselben noch denselben Abend zu entledigen, und wollte sie kühnlich nach Birmingham zurückschicken. Ihre Hutschachtel paßte in ihre Reisetasche Sie nahm dieselbe heraus, warf die Perrücke und den Mantel hinein und drückte ohne Erbarmen den Hut oben darauf platt zusammen. Der Rock, den sie noch nicht ausgezogen hatte, war ihr gewöhnlicher; Mrs. Wragge hatte sie schon oft darin gesehen, es war nicht nöthig, denselben mit zurückzuschicken. Ehe sie die Schachtel zumachte, schrieb sie hastig folgende Zeilen auf ein Blatt Papier:

—— Ich nahm aus Versehen die inliegenden Sachen mit fort. Heben Sie mir dieselben gefälligst mit meinem übrigen Gepäck in Ihrer Verwahrung auf, bis Sie wieder von mir hören.

Indem sie das Papier auf den Hut oben drauf legte, adressierte sie die Schachtel an Hauptmann Wragge zu Birmingham, trug sie sofort hinunter und schickte die Tochter der Wirthin damit zu der nächsten Annahmestelle (Receiving Please) fort.

—— Diese Schwierigkeit wäre erledigt, dachte sie, als sie wieder auf ihr Zimmer hinaufging.

Mrs. Wragge war noch damit beschäftigt, ihre Packereien aus ihrem engen, kleinen Bette zu ordnen. Sie drehte sich mit einem leisen Schrei um, als Magdalene zu ihr hineinschaute.

—— Ich dachte, es wäre wieder der Geist, sagte Mrs. Wragge. Ich werde mir zur Warnung dienen lassen, was mir begegnet ist. Ich habe alle meine Packereien hübsch gerade gestellt, wie es der Hauptmann gern sehen würde. Ich bin ordentlich in meinen beiden Schuhen; wenn ich heute Nacht meine Augen schließe, was mir wohl kaum möglich sein wird, will ich so gerade liegen, als meine Beine es nur gestatten. Ich will auch nie wieder einen freien Tag haben, so lange ich lebe. Ich hoffe, es wird mir Vergeben werden, sagte Abs. Wragge, indem sie betrübt das Haupt schüttelte. Ich hoffe in Demuth, es wird. mir vergeben werden.

— Vergeben! wiederholte Magdalene. Wenn anderen Frauen so wenig vergeben zu werden brauchte, als Ihnen, dann stände es gut, sehr gut! Wollen Sie nicht ein paar von diesen eingepackten Sachen aufmachen? Wohlan! Ich möchte sehen, was Sie heute eingekauft haben.

Mrs. Wragge zögerte, seufzte zerknirscht, besann sich ein Weilchen, streckte dann ihre Hand furchtsam nach einem von den Packeten aus, dachte aber sogleich wieder an die Mahnung ans der Geisterwelt und bebte vor ihren eigenen Einkäufen zurück mit einer verzweifelten Anstrengung, sich selbst zu beherrschen.

—— Machen Sie, Dies hier auf, sagte Magdalene, um sie zu ermuthigen, was ist da drin?

Mrs. Wragges blaue Augen fingen an ein klein wenig glänzend zu werden, trotz ihrer Zerknirschung, allein sie schüttelte mit Seibstverleugnung den Kopf. Die große Leidenschaft für das Einkaufen mochte wieder ihre Rechte fordern, aber noch war ihr der Geist nicht aus den Gedanken gewichen.

—— Haben Sie es wohlfeil eingekauft? frug Magdalene vertraulich.

—— Spottwohlfeil, rief die arme Mrs. Wragge und fiel mit dem ganzen Leibe in die ihr gelegte Schlinge, indem sie dabei das Packet mit den Blicken verschlang, als ob Nichts vorgefallen wäre.

Magdalene hielt sie im Geplauder über die Einkäufe eine Stunde und noch länger fest und entschloß sich dann sehr klüglich, ihre Aufmerksamkeit von allen Gespenstererinnerungen durch einen Spaziergang mit ihr abzulenken.

Als sie die Wohnung verließen, öffnete sich drüben die Thür von Noël Vanstones Hause, und das Dienstmädchen erschien, um abermals einen Gang zu verrichten. Sie war dies Mal ersichtlich mit einer Briefbesorgung betraut, da sie sorgfältig ein Schreiben in der Hand trug. Magdalene, die sich bewußt war, selber noch keinen Plan gefaßt zu haben, weder zu Trutz noch zu Schutz, war mit einer augenblicklichen Furcht verlänglich zu wissen, ob denn Mrs. Lecount sich schon entschlossen hätte, neue Beziehungen anzuknüpfen, und ob der Brief etwa an »Miss Garth« gerichtet sei.

Der Brief trug keine solche Adresse. Mr. Noël Vanstone hatte endlich seine verzwickte Geldfrage entschieden. Die offen gelassene Stelle in der Anzeige war ausgefüllt, und Mrs. Lecounts Annahme der anonymen Warnung des Hauptmann Wragge war nun unterwegs, um in die »Times« gerückt zu werden.



Kapiteltrenner

Drittes Capitel.

—— Miss Garth, Sir —— sagte Mrs. Lecount, indem sie die Thür des Empfangszimmers öffnete und im Tone und der Art und Weise einer gut gezogenen Dienerin das Erscheinen des Besuches anmeldete.

Magdalene befand sich in einem langen, schmalen Zimmer, bestehend aus einem vorderen und einem hinteren Gemach, welche beide zu einem einzigen gemacht worden waren, indem man die Flügelthüren aufgemacht hatte. Nicht weit vom Fenster der Vorderseite, mit dem Rücken gegen das Licht gewandt, sah sie einen schwächlichem flachsblonden, selbstgefälligen kleinen Mann in einem schönen weißen Schlafrock, der viel zu groß für ihn war, auf der Brust im Knopfloche ein Veilchensträußchen, sitzen. Er sah dreißig bis fünfunddreißig Jahre alt aus. Sein Gesicht hatte eine so zarte Farbe, wie das eines jungen Mädchens, seine Augen waren vom hellsten Blau, seine Oberlippe war geschmückt mit einem kleinen weißen Schnurrbärtchen, gewichst und an beiden Enden wie Miniaturkorkzieher gedreht. Wenn ein Gegenstand seine Aufmerksamkeit besonders erregte, so schloß er halb seine Augen und blinzelte darauf hin. Wenn er lächelte, runzelte sich die Haut seiner Schläfen in ein Gewirr kleiner Runzeln zusammen. Er hatte einen Teller mit Erdbeeren auf seinem Schooße mit einer Serviette darunter, um die Reinheit seines weißen Schlafrocks zu schonen. Zu seiner Rechten stand ein großer runder Tisch, bedeckt mit einer Sammlung fremdländischer Seltenheiten, welche aus den Vier Weltgegenden zusammengebracht schienen. Ausgestopfte Vögel aus Afrika, Porzellanungeheuer aus China, Silberzierrathen und Geschirr aus Indien und Peru, Mosaikarbeiten aus Italien und Bronzegüsse aus Frankreich waren Alles bunt durcheinander aufgeschichtet mit ihren plumpen Holzschachteln und schmutzigen Lederbüchsem in welche sie zur Reise Verpackt werden sollten. Der kleine Mann entschuldigte sich mit freundlichem, aber dummem Lächeln und in geziertem Tone wegen seines Raritätenkrimskrams, seines Schlafrocks und seiner schwachen Gesundheit, winkte mit der Hand nach einem Stuhle und erklärte sich mit gemessener Höflichkeit bereit, die Wünsche seines Gastes zu vernehmen. Magdalene sah auf ihn mit einem augenblicklichen Zweifel, ob Mrs. Lecount sie nicht getäuscht habe. War dies der Mann, welcher unbarmherzig den Weg verfolgte, auf dem sein unbarmherziger Vater vor ihm gewandert war? Sie konnte es kaum glauben.

—— Nehmen Sie doch einen Stuhl, Miss Garth, wiederholte er.

Als er bemerkte, daß sie zweifelhaft war, nannte er seinen Namen mit erhobener, dünner, ärgerlich werdender Stimme:

—— Ich bin Mr. Noël Vanstone Sie wünschten mich zu sprechen; hier bin ich.

—— Erlauben Sie mir, mich zu entfernen, Sir? fragte Mrs. Lecount.

—— Durchaus nicht! versetzte ihr Herr. Bleiben Sie hier, Lecount, und leisten Sie uns Gesellschaft —— Mrs. Lecount besitzt mein vollstes Vertrauen, fuhr er zu Magdalenen gewendet fort. Was Sie mir auch zu sagen haben, sagen Sie ihr mit. Sie ist ein Stück des Hauses. Es giebt kein zweites Haus in England, das einen solchen Schatz wie Mrs. Lecount aufzuweisen hat.

Die Haushälterin hörte das Lob ihrer häuslichen Tugenden mit an, die Augen unverwandt auf ihr elegantes Vorhemdchen geheftet. Aber Magdalenens rascher Scharfblick hatte vorher einen zwischen Mrs. Lecount und ihrem Herrn gewechselten Blick belauscht, welcher ihr bewies, daß Mr. Noël Vanstone vorher seine Weisung erhalten hatte, was er in Gegenwart seines Gastes zu sagen und zu thun habe. Dieser Argwohn und die Hindernisse, welche das Zimmer bot, daß sie ihren Platz nicht so vom Lichte abgewendet wählen konnte, mahnten Magdalene, auf ihrer Hut zu sein.

Sie hatte ihren Stuhl erst beinahe inmitten des Zimmers gesetzt. Ein augenblickliches Ueberlegen bestimmte sie jedoch, ihren Sessel nach links zu setzen, um sich gerade an die innere Seite und zwar dicht neben den linken Pfosten der Flügelthür zu setzen. In dieser Stellung versperrte sie geschickt den einzigen Weg, aus welchem Mrs. Lecount um den großen Tisch herum kommen und, indem sie einen Stuhl neben ihrem Herrn nahm, Magdalenen von vorn ansehen konnte. Auf der rechten Seite des Tisches war der leere Raum durch das Kamin und seinen Vorraum, durch einige Reisetaschen und eine große Kiste eingenommen. Es blieb für Mrs. Lecount keine Wahl, sie mußte sich selbst in eine Linie mit Magdalene an den andern Pfosten der Flügelthür setzen, oder sich hinter dem Gaste unhöflich vorbei drängen, mit der zu deutlichen Absicht, ihm ins Gesicht zu sehen. Mit einem bezeichnenden kleinen Husten, und mit einem festen Blick aus ihren Herrn gab die Haushälterin diesen Posten verloren und nahm ihren Platz an der rechten Thürpfoste.

—— Warte ein wenig, dachte Mrs. Lecount, die Reihe kommt schon noch an mich!

—— Geben Sie Acht, Madame, wo Sie sind, rief Mr. Noël Vanstone, als Magdalene zufällig an den Tisch kam, indem sie den Stuhl rückte. Geben Sie Acht auf die Aermel Ihres Mantels! Entschuldigen Sie, Sie hätten beinahe dort den silbernen Leuchter herunter gestoßen. Ich bitte, denken Sie nicht, daß es ein gewöhnlicher Leuchter ist. Es ist nichts von der Art, es ist ein Leuchter aus Peru. Es sind nur drei von dem Muster auf der Welt. Einer ist im Besitze des Präsidenten von Peru, einer ist im Vatikan eingeschlossen und einer steht auf meinem Tische. Kostet zehn Pfund, ist aber fünfzig werth. Einer von meines Vaters Einkäufen, Madame. Alle diese Sachen sind Einkäufe meines Vaters. Es giebt kein Haus in England, welches solche Seltenheiten besitzt, als dieses. Setzen Sie sich, Lecount; ich bitte, machen Sie es sich bequem. Mrs. Lecount ist wie die Seltenheiten, Miss Garth: sie ist einer von den Einkäufen meines Vaters. Sie sind einer von den Einkäufen meines Vaters, nicht wahr, Lecount? Mein Vater war ein merkwürdiger Mann, Madame; Sie werden hier an ihn aus jedem Schritte erinnert. Ich habe in diesem Augenblicke seinen Schlafrock an. Eine solche Leinwand wie diese wird jetzt nicht mehr gemacht, Sie können sie nicht bekommen um Geld und gute Worte. Wollen Sie vielleicht den Faden einmal anfühlen? Vielleicht verstehen Sie Nichts vom Faden? Vielleicht wollen Sie lieber mit mir von jenen beiden Fräulein, Ihren Schülerinnen, sprechen? Es sind zwei, nicht wahr? Sind es hübsche Mädchen? Voll, frisch, echt englische Schönheiten?

—— Entschuldigen Sie, Sir, unterbrach ihn Mrs. Lecount mit traurigem Tone. Ich muß wirklich bitten, mich entfernen zu dürfen, wenn Sie von den armen Dingern in solcher Weise sprechen Ich kann nicht dabei sitzen, Sir, und hören, wie sie lächerlich gemacht werden. Nehmen Sie Rücksicht aus ihre Lage, Rücksicht ans Miss Garth.

—— Sie gute Seele! sagte Mr. Noël Vanstone, indem er die Haushälterin mit blinzelnden Augen anschaute. Sie treffliche Lecount! Ich versichere Sie, Madame, Mrs. Lecount ist eine würdige Person. Sie werden bemerken, daß sie die beiden Mädchen bemitleidet. Ich gehe nicht so weit, allein ich kann ihnen Zugeständnisse machen. Ich bin ein Mann mit weitem Herzen. Ich kann für dieselben und für Sie nachgiebig sein.

Er lächelte mit der herzlichsten Artigkeit und nahm dabei eine Erdbeere von dem Teller auf seinem Schooße zu sich.

—— Sie betrüben Miss Garth in der That, Sir, ohne daß Sie es beabsichtigen. Sie betrüben Miss Garth, erwiderte Mrs. Lecount. Sie ist nicht so an Sie gewöhnt, als ich es bin. Nehmen Sie Rücksicht auf Miss Garths Lage, Sir. Thun Sie mir den Gefallen, nehmen Sie Rücksicht aus Miss Garth.

So lange hatte Magdalene festes Stillschweigen bewahrt. Der herznagende Unwillen, welcher sie augenblicklich verrathen haben würde, wenn sie ihn hätte an die Oberfläche treten lassen, machte ihr Herz rasch und stolz aufwallen und warnte sie, so lange Noël Vanstone sprach, ihre Lippen ja geschlossen zu halten. Sie würde ihn ununterbrochen noch einige Minuten länger haben reden lassen, wenn Mrs. Lecount sich nicht zum zweiten Male eingemischt hätte. Die ausgesuchte Unverschämtheit des Mitleids der Haushälterin war eine weibliche Unverschämtheit und mahnte sie, sich unausgesetzt selbst zu beherrschen. Sie hatte Miss Garths Stimme und Wesen nie besser nachgeahmt als hier, indem sie die nächsten Worte sprach:

—— Sie sind sehr gütig, sagte sie zu Mrs. Lecount; ich beanspruche nicht mit besonderer Rücksicht behandelt zu werden. Ich bin eine Erzieherin und erwarte Das nicht. Ich habe nur um eine Gefälligkeit zu bitten. Ich bitte Mr. Noël Vanstone um seiner selbst willen anzuhören, was ich ihm zu sagen habe.

—— Verstehen sie, Sir? bemerkte Mrs. Lecount. Es scheint, daß Miss Garth Ihnen einige ernste Warnungen zu ertheilen hat. Sie sagt, Sie sollten sie anhören um Ihrer selbst willen.

Mr. Noël Vanstones schöne Farbe wurde sofort weiß. Er setzte den Erdbeerteller unter die Ankäufe seines Vaters. Seine Hand zitterte, und seine kleine Gestalt bewegte sich unruhig auf dem Stuhle. Magdalene beobachtete ihn aufmerksam.

—— Schon eine Entdeckung, dachte sie, er ist ein Feigling! ——

—— Was meinen Sie damit, Madame? fragte Mr. Noël Vanstone mit deutlicher Furcht in Blick und Haltung. Was meinen Sie damit, daß Sie sagen, ich müßte es um meinetwillen anhören? Wenn Sie hierher kommen, mich einzuschüchtern, so kommen Sie an den unrechten Mann. Meine Charakterstärke war in unserm Kreise zu Zürich allgemein bekannt; nicht wahr, Lecount?

—— Ja wohl, Sir, sagte Mrs. Lecount. Aber wir wollen Miss Garth hören; vielleicht habe ich sie mißverstanden?

—— Im Gegentheil, versetzte Magdalene, Sie haben meine Meinung ganz richtig erfaßt. ein Zweck, daß ich hierher gekommen bin, ist, Mr. Noël Vanstone vor den Folgen des Verfahrens zu Warnen, welches er jetzt eingeschlagen hat.

—— Lassen Sie Das! bat Mrs. Lecount. O, wenn Sie diesen armen Mädchen beistehen wollen, dann sprechen Sie nicht so! Mildern Sie seinen Entschluß durch Bitten, Madame, befestigen Sie ihn nicht durch Drohungen!

Sie übertrieb ein wenig den Ton der Demuth, in welchem sie diese Worte sprach, machte den tadelnden Blick, der sie begleitete, zu deutlich. Wenn Madalene nicht bereits deutlich genug gesehen hätte, daß es Mrs. Lecounts gewöhnlicher Kunstgriff war, Alles und Jedes anstatt ihres Herrn im Wege der ersten Instanz zu entscheiden und dann ihn zu überreden, daß er nicht nach dem Entschlusse seiner Haushälterin, sondern nach seinem eigenen handle: jetzt würde sie es gesehen haben.

—— Hören Sie, was die Lecount eben gesagt hat? bemerkte Mr. Noël Vanstone. Sie hören das freiwillige Zeugniß einer Person, die mich von Kindesbeinen auf gekannt. Nehmen Sie sich in Acht, Miss Garth, nehmen Sie sich in Acht!

Er legte selbstgefällig die Zipfel seines Schlafrocks über seinen Knien zurecht und nahm seinen Teller mit Erdbeeren wieder auf den Schooß.

—— Ich wünsche nicht, Sie zu beleidigen, sagte Magdalene. Ich möchte Ihnen nur gern die Augen öffnen für die Wahrheit. Sie kennen nicht die Charaktere der beiden Schwestern, deren Vermögen in Ihren Besitz gefallen ist. Ich habe sie von Kindheit auf gekannt, und ich komme, um Ihnen mit meiner Erfahrung in Ihrem und meiner Schülerinnen Interesse zur Seite zu stehen. Sie haben Nichts zu fürchten von der älteren der Beiden; diese nimmt das harte Loos, das Sie und vor Ihnen Ihr Vater über sie verhängt haben, geduldig hin. Der Sinn der jüngeren Schwester ist entgegengesetzter Art. Sie hat sich bereits geweigert, sich dem Beschlüsse Ihres Vaters zu fügen, und sie verschmäht es jetzt, sich mit Mrs. Lecounts Brief zufrieden zu geben. Nehmen Sie mein Wort darauf, sie ist im Stande, Ihnen ernstliche Noth zu machen, wenn Sie darauf beharren, sie zu Ihrer Feindin zu machen.

Mr. Noël Vanstone wechselte noch ein Mal die Farbe und begann auf dem Stuhle hin und her zu rücken.

—— Ernstliche Noth zu machen, wiederholte er mit weit offenen Augen. Wenn Sie meinen, mit Briefschreiben, Madame, so hat sie schon Noth genug gemacht. Sie hat ein Mal an mich und zwei Mal an den Vater geschrieben. Einer von den Briefen an meinen Vater war ein Drohbrief, nicht wahr, Lecount?

—— Sie sprach ihre Gefühle aus, das arme Kind, sagte Mrs. Lecount. Ich hielt es für hart, ihr den Brief zurückzusenden, aber Ihr theurer Vater mußte es ja am Besten wissen. Was ich damals sagte, war: Warum soll man sie nicht ihre Gefühle aussprechen lassen? Was sind nach Allem ein paar Drohworte? In ihrer Lage, du lieber Gott, sind es Worte und weiter Nichts.

—— Ich rathe Ihnen, sich nicht zu sehr darauf zu verlassen, sagte Magdalene Ich kenne sie besser als Sie.

Sie hielt nach diesen Worten inne, hielt inne mit Schrecken. Der Stachel von Mrs. Lecounts Mitleid hatte sie beinahe gereizt, ihren angenommenen Charakter zu vergessen und —— mit ihrer eigenen Stimme zu sprechen.

—— Sie haben die von meiner Schülerin geschriebenen Briefe erwähnt, begann sie zu Noël Vanstone gewendet aufs Neue, als sie sich wieder ruhig fühlte. Wir wollen darüber nichts sagen, was sie an Ihren Vater geschrieben hat; wir wollen nur von Dem sprechen, was Dieselbe an Sie geschrieben hat. Ist etwas unziemendes in ihrem Briefe, Etwas darin gesagt, was nicht wahr ist? Ist es nicht wahr, daß diese beiden Schwestern grausam um den Theil gekommen sind, den ihres Vaters Testament für sie bestimmte? Sein Testament spricht noch heute für Dieselben und für ihn und spricht nur deshalb erfolglos, weil er sich nicht versah, daß seine Verheirathung ihn nöthige, es aufs Neue zu machen, und weil er starb, bevor er den Irrthum wieder gut machen konnte. Können Sie Das in Abrede stellen?

Mr. Noël lächelte und aß eine Erdbeere.

—— Ich versuche nicht, es zu leugnen, sagte er. Fahren Sie fort, Miss Garth.

—— Ist es nicht wahr, beharrte Magdalene, daß das Gesetz, welches diesen Schwestern das Geld genommen hat, deren Vater kein zweites Testament gemacht hat, dasselbe nun Ihnen gegeben hat, Ihnen, dessen Vater gar kein Testament gemacht hat? Dies ist doch hart für jene verwaisten Mädchen, nehmen Sie es, wie Sie wollen.

—— Sehr hart, versetzte Noël Vanstone. Es erscheint Ihnen gewiß auch in jenem Lichte, Lecount?

Mrs. Lecount schüttelte den Kopf und schloß ihre hübschen schwarzen Augen.

—— Merkwürdig, sagte sie, ich kann es nicht anders ausdrücken, merkwürdig. Wie nur die junge Person, nein, wie Miss Vanstone die jüngere herausbrachte, daß mein verstorbener ehrenwerther Herr kein Testament gemacht hat, Das bin ich nicht im Stande, mir zu erklären. Vielleicht hat es in den Zeitungen gestanden? Aber ich unterbreche Sie, Miss Garth. Sie haben Nichts mehr zu sagen über den Brief Ihres Zöglings?

Sie zog geräuschlos ihren Stuhl, als sie diese Worte sprach, einige Zoll über die Linie des Stuhles ihres Gastes nach vorn. Der Versuch war sehr hübsch ausgeführt, erwies sich aber unnütz Magdalene hielt nur ihren Kopf mehr nach links, und die Packkiste auf dem Boden verhinderte Mrs. Lecount, noch weiter vorzurücken.

—— Ich habe nur noch eine Frage zu thun, sagte Magdalene. Meine Schülerin machte in ihrem Briefe Mr. Noël Vanstone einen Vorschlag. Ich bitte mir zu sagen, warum er abgelehnt hat, ihn zu berücksichtigen.

—— Meine gute Dame! rief Mr. Noël Vanstone, indem er seine weißen Augenbrauen in spöttischem Erstaunen aufzog; sprechen Sie im Ernste? Wissen Sie, was das für ein Vorschlag war? Haben Sie den Brief gesehen?

—— Ich spreche ganz im Ernste, sagte Magdalene, und ich habe auch den Brief gesehen. Er ersucht Sie, zu bedenken, wie Mr. Andreas Vanstone’s Vermögen in Ihre Hände gelangt ist, er theilt Ihnen mit, daß die eine Hälfte des Vermögens, getheilt zwischen seine Töchter, der ihnen durch sein Testament bestimmte Theil war, und er fordert von Ihrem Gerechtigkeitsgefühle, daß Sie für seine Kinder thun, was er für sie gethan hätte, wenn er am Leben geblieben wäre. In deutlichen Worten verlangt er von Ihnen, daß Sie die eine Hälfte des Geldes den Töchtern geben, die andere Hälfte überläßt er Ihnen. Das ist der Vorschlag. Warum haben Sie sich geweigert, ihn in Erwägung zu ziehen?

—— Aus dem einfachsten Grunde, den es gibt, Miss Garth, sagte Mr. Noël Vanstone mit ausgezeichneter Laune. Gestatten Sie mir, Sie an das wohlbekannte Sprichwort zu erinneren: Was soll dem Narren Geld? [A fool and his money are soon parted.] Das will sagen: Ein Narr ist, wer sein Geld so leicht hergibt. Was ich auch sonst sein mag, ein Narr bin ich nicht.

—— Nehmen Sie es nicht auf diese Weise, Sir, tadelte Mrs. Lecount. Seien Sie ernsthaft, ich bitte, seien Sie ernsthaft!

—— Ganz unmöglich, Lecount, erwiderte ihr Herr. Ich kann nicht ernsthaft sein. Mein armer Vater, Miss Garth, stellte sich in dieser Sache auf einen hohen sittlichen Standpunct. Die Lecount stellt sich ebenfalls auf einen hohen sittlichen Standpunct, nicht wahr, Lecount? Ich mache es nicht so. Ich habe zu lange in der Luft des Festlands gelebt, als daß ich mir über sittliche Standpunkte den Kopf zerbrechen sollte. Mein Verfahren in dieser Angelegenheit ist so klar wie: zweimal zwei vier ist. Ich habe das Geld bekommen, und ich wäre ein Schwachkopf, wenn ich es wieder hergäbe. Das ist mein Standpunct! Einfach genug, nicht wahr? Ich streite nicht über meine Würdigkeit, ich habe mit Ihnen Nichts vor den Gerichten zu thun, welche ganz auf meiner Seite sind; ich verdenke es Ihnen nicht, daß Sie hierher gekommen sind als ganz fremde Person, um meinen Entschluß zu erproben und umzuwandeln, ich verdenke es den beiden Mädchen nicht, daß sie gern ihre Finger in meinen Beutel stecken möchten. Alles was ich sage, ist: ich bin nicht ein solcher Thor, daß ich ihn öffnete. Pas si bête! wie wir im englischen Kränzchen zu Zürich zu sagen pflegten. Sie verstehen doch Französisch, Miss Garth? Pas si bête!

Er setzte noch einmal seinen Erdbeerteller bei Seite und wischte seine Finger sauber an der schönen weißen Serviette ab.

Magdalene behielt ihre Ruhe. Wenn sie ihn durch eine Regung ihrer Hand in dem Augenblicke hätte tödten können, so würde sie dieselbe wahrscheinlich erhoben haben. Aber sie behielt ihre Ruhe.

—— Soll ich Das so verstehen, fragte sie, daß die letzten Worte, die Sie in dieser Sache abzugeben haben, die Worte sind, welche Mrs. Lecount in Ihrem Namen gesagt hat?

—— Vollkommen richtig, erwiderte Mr. Noël Vanstone.

—— Sie haben Ihres eigenen Vaters Vermögen eben so gut, wie das von Mr. Andreas Vanstone geerbt, und doch fühlen Sie keine Verpflichtung, nach Billig- und Gerechtigkeitsrücksichten oder aus Großmuth gegen diese zwei Schwestern zu handeln? Alles was Sie ihnen sagen zu müssen glauben, ist: Sie haben das Geld bekommen, und Sie weigern sich, einen einzigen Heller davon fahren zu lassen.

—— Höchst genau dargestellt! Miss Garth, Sie sind eine geschäftskundige Dame. Lecount, Miss Garth ist eine geschäftskundige Dame.

—— Lassen Sie mich aus dem Spiele, Sir, rief Mrs. Lecount, indem sie anmuthig ihre fleischigen weißen Hände rieb. Ich kann es nicht ertragen! Ich muß hier vermitteln. Lassen Sie mich —— ach wie nennen Sie es doch im Englischen? —— einen Vorschlag einbringen. Lieber Mr. Noël Sie verschmähen es recht verkehrter Weise, sich selbst gerecht zu werden. Sie haben bessere Gründe, als den Grund, den Sie Miss Garth angegeben haben. Sie befolgen das Ihnen von Ihrem ehrwürdigen Vater gegebene Beispiel, Sie halten es für eine Pflicht gegen sein Andenken, in dieser Sache gerade so zu handeln, wie er vor Ihnen gehandelt hat. Das ist ein Grund, Miß Garth —— ich beschwöre Sie auf meinen Knien, fassen Sie Dies als seinen Grund auf. Er wird thun, was sein theurer Vater that, nicht mehr und nicht weniger. Sein theurer Vater machte ein Anerbieten, und er selbst will dieses Erbieten wieder machen. Ja, Mr. Noël, Sie werden sich erinneren, was das arme Mädchen in seinem Briefe Ihnen sagte. Ihre Schwester ist genöthigt gewesen, als Erzieherin in die Welt zu gehen, und sie selbst hat außer dem Verlust ihres Vermögens zugleich die Hoffnung, sich vermählt zu sehen, auf viele, viele Jahre schwinden lassen müssen. Sie werden sich daran erinneren —— und nicht wahr, Sie werden auch die hundert Pfund der Einen und die hundert Pfund der Andern geben, wie sie Ihr bewundernswerther Vater früher angeboten hat? Wenn er Dies thut, Miss Garth, wird er da genug thun? Wenn er jeder von diesen unglücklichen Schwestern hundert Pfund gibt ....?

—— Er wird diese Beleidigung bereuen bis an sein letztes Stündlein, sagte Magdalene.

In dem Augenblick, wo diese Antwort über ihre Lippen ging, hätte sie Alles darum gegeben, wenn sie dieselbe hätte zurücknehmen können. Mrs. Lecount hatte endlich ihren Stachel an der rechten Stelle eingesenkt. Jene jähen Worte Magdalenens waren ihr leidenschaftlich herausgefahren —— in ihrer eignen Stimme.

Nur die Gewohnheit des öffentlichen Auftretens bewahrte sie davor, den gefährlichen Fehler, den sie eben begangen, noch handgreiflicher zu machen, indem sie etwa versuchte, ihn zu verbessern. Hier kam ihr ihre frühere Uebung von der dramatischen Unterhaltung zu Hilfe und vermochte sie augenblicklich, in Miss Garths Stimme fortzufahren, als wenn Nichts vorgefallen wäre.

—— Sie meinen es gut, Mrs. Lecount, fuhr sie fort, aber Sie verletzen, anstatt wohlzuthun. Meine Schülerinen werden kein solches Erbieten, wie Sie es machen, annehmen. Ich bedaure, eben noch heftig gesprochen zu haben, ich bitte, entschuldigen Sie.

Sie blickte dabei scharf forschend der Haushälterin ins Angesicht, während sie jene versöhnlichen Worte sprach. Mrs. Lecount Vereitelte dies scharfe Ansehen indem sie das Taschentuch vor ihre Augen hielt. Hatte sie den augenblicklichen Uebergang in Magdalenens Stimme von dem Tone, den sie angenommen hatte, zu ihrer natürlichen Sprache wahrgenommen oder nicht? Es war unmöglich zu sagen.

—— Was kann ich mehr thun! murmelte Mrs. Lecount hinter ihrem Taschentuche. Geben Sie mir Zeit zu denken, geben Sie mir Zeit mich zu fassen. Darf ich einen Augenblick hinausgehen, Sir? Meine Nerven sind durch diese traurige Scene erschüttert. Ich muß ein Glas Wasser haben, oder ich falle in Ohnmacht, glaube ich. Gehen Sie noch nicht, Miss Garth. Ich bitte Sie, lassen Sie uns Zeit, diesen trübseligen Gegenstand gründlich zu erledigen; ich bitte Sie, bleiben Sie, bis ich zurückkomme. Es waren zwei Eingangsthüren in das Zimmer. Eine, die Thür in das vordere Empfangszimmer dicht an Magdalenens linker Seite. Die andere, die Thür in das hintere Zimmer, welche hinter ihr lag. Mrs. Lecount zog sich höflich zurück durch die offenen Flügelthüren, und zwar durch diesen letzteren Ausgang anscheinend deswegen, um nicht den Gast zu stören durch Vorbeigehen. Magdalene wartete, bis sie die Thür hinter sich öffnen und wieder schließen hörte, und entschloß sich dann, die Gelegenheit, sich mit Noël Vanstone allein zu finden, aufs Beste zu benutzen. Die gänzliche Hoffnungslosigkeit, in dieser gemeinen Seele eine großmüthige Regung hervorzubringen, war ihr nun aus eigener Erfahrung nur zu klar geworden. Die letzte übrige Aussicht war, ihn zu behandeln, wie es seine feige Natur verlangte, und durch seine Furcht Einfluß auf ihn zu gewinnen. Ehe sie aber sprechen konnte, brach Mr. Noël Vanstone selbst das Schweigen. So pfiffig er auch es verbergen wollte, er war halb ärgerlich, halb ängstlich darüber, daß seine Haushälterin ihn im Stiche gelassen hatte. Er konnte seinen Gast nicht mehr fest ansehen, er zeigte eine nervöse Aengstlichkeit, sie zur Ruhe zu sprechen, bis Mrs. Lecount zurückkäme.

—— Ich bitte Sie, bedenken Sie, Madame, ich habe niemals in Abrede gestellt, daß der Fall ein harter wäre, begann er. Sie sagten vorhin, daß Sie nicht die Absicht hätten, mich zu beleidigen —— und ich mag meinerseits Sie auch nicht beleidigen... Darf ich Ihnen ein paar Erdbeeren anbieten? Wollen Sie vielleicht meines Vaters Einkäufe besehen? ... Ich versichere Sie, Madame, ich bin von Natur ein galanter Mann und habe Gefühl für diese beiden Schwestern, namentlich die jüngere. Fassen Sie mich bei meiner Gutmüthigkeit, so haben Sie meine schwache Seite gefunden. Nichts würde mir mehr Vergnügen machen, als wenn ich hörte, daß Miss Vanstones Geliebter (ich nenne sie wahrlich immer Miss Vanstone, und Mrs. Lecount nennt sie auch so) —— ich sage also, Madame, Nichts würde mir mehr gefallen, als wenn ich hörte, daß Miss Vanstones Geliebter zurückgekommen wäre und sie geheirathet hätte. Wenn eine Summe Geldes, die man ihm darliehe, ihn vielleicht zurückführen könnte, wenn die gebotene Sicherheit gut wäre, und wenn mein Advocats sich damit zufrieden erklärte....

—— Halten Sie ein, Mr. Vanstone, sagte Magdalene. Sie haben eine ganz falsche Meinung von der Person, mit der Sie es zu thun haben. Sie sind vollkommen im Irrthume, wenn Sie annehmen, daß die Verheirathung der Jüngern Schwester —— wenn sie auch binnen hier und acht Tagen geschehen könnte —— irgend welchen Unterschied machen würde in der Ueberzengung, in der sie sich an Ihren Vater und an Sie zu schreiben gedrungen fühlte. Ich will nicht in Abrede stellen, daß sie sich an die Hoffnung klammert, ihre Verheirathung zu beschleunigen und an die Hoffnung, ihre Schwester aus einem Leben von Abhängigkeit und Demüthignng zu befreien. Allein wenn nun auch diese beiden Ziele auf andere Weise erreicht wären, Nichts würde sie dazu vermögen, Sie im ruhigen Besitze des Erbes zu belassen, das ihr Vater seinen Kindern zugedacht hatte. Ich kenne sie, Mr. Vanstone, Sie ist ein namenlos, heimathlos, freundlos Wesen. Das Gesetz, welches sich Ihrer angenommen, das Gesetz, welches sich aller ehelichen Kinder annimmt, wirft dies Wesen hilflos auf die Gasse: es ist Ihr Gesetz, nicht das seinige Sie erkennt es nur als das Werkzeug schmählicher Unterdrückung, eines unerträglichen Unrechts an. Das Gefühl jenes Unrechts treibt sie einher, wie von bösen Geistern erfaßt. Der Entschluß, dies Unrecht zu rächen, brennt in ihr, wie die Fackel der Nemesis. Wenn jenes arme und elende Mädchen morgen verheirathet und reich wäre um viele Tonnen Geldes, glauben Sie, es würde einen Finger breit von seinem Vorsatze weichen? Ich sage Ihnen, sie würde bis zum letzten Athemzuge Widerstand leisten dem schnöden Unrecht, welches die hilflosen Kinder durch das Unglück von ihres Vaters Hintritt betroffen hat! Ich sage Ihnen, sie würde vor keinem Mittel zurückschrecken welches nur ein verzweifeltes Weib ergreifen kann, Ihre geschlossenen Hände aufzubrechen, und sollte sie bei dem Versuche sterben!

Sie hielt plötzlich inne. Noch einmal hatte ihr eigenes Wesen, daß sich nicht verleugnen ließ, sie verrathen. Noch einmal hatte der angeborene Adel dieses irregeleiteten Charakters die Oberhand gewonnen über die Täuschung, welche sie eben im Begriff war zu vollbringen. Das Scheingewebe des Augenblicks schwand aus ihren Gedanken, und der Entschluß ihres Lebens that sich unaufhaltsam kund nach Außen in ihren eigenen Worten, ihren eigenen Tönen, heiß und immer heißer aus ihrem Herzen strömend. Sie sah den kläglichen Kobold vor sich, der schweigend auf seinem Stuhle kauerte. Hatte seine Furcht ihm Besinnung genug gelassen, den Wechsel in ihrer Stimme zu bemerken? Nein, sein Gesicht sprach die Wahrheit, die Furcht hatte ihn ergriffen. Diesmal war der Augenblick ihr günstig gewesen. Die Thür hinter ihrem Stuhle hatte sich noch nicht geöffnet.

—— Keine Ohren außer den seinigen haben mich gehört, dachte sie mit dem Gefühle unsäglicher Befriedigung. Ich bin Mrs. Lecount entgangen.

Dies war aber mit nichten der Fall. Mrs. Lecount hatte gar nicht das Zimmer verlassen. ——

Nachdem die Haushälterin die Thür geöffnet und sie, ohne hinauszugehen, wieder geschlossen hatte, kniete sie geräuschlos hinter Magdalenens Stuhle nieder. Indem sie sich an den Pfosten der Flügelthür lehnte, nahm sie eine Scheere aus ihrer Tasche, wartete, bis Noël Vanstone (dessen Blicken sie ebenfalls ganz verborgen war) Magdalenen anredete und deren Aufmerksamkeit auf sich zog. Dann beugte sie sich vor mit der offenen Scheere in der Hand. Der Saum von dem Kleide der falschen Miss Garth, der braune, weißtüpflige Alpacarock, berührte den Boden im Bereich der Haushälterin, Mrs. Lecount hob den äußeren von den beiden rund um den Rand des Gewandes laufenden Besätzen einen über den andern in die Höhe und schnitt leise ein kleines unregelmäßiges Stück des Stoffes aus der inneren Frisur, legte dann die äußere wieder glatt über dieselbe um die Lücke zu verbergen. Während sie die Scheere wieder eingesteckt hatte, aufgestanden: war und sich hinter der Pfoste der Flügelthür verborgen hatte, war eben Magdalene mit ihren letzten Worten fertig. Mrs. Lecount wiederholte ruhig die Ceremonie des Oeffnens und Schließens der Thür des Hinterzimmers und begab sich auf ihren Platz zurück.

—— Was ist in meiner Abwesenheit vorgefallen, Sir? fragte sie mit Erstaunen im Angesichte, an ihren Herrn sich wendend. Sie sind bleich, Sie sind aufgeregt! Ach, Miss Garth, haben Sie die Warnung vergessen, welche ich Ihnen in der andern Stube gegeben habe?

—— Miss Garth hat Alles vergessen, rief Mr. Noël Vanstone, indem er durch das Wiedererscheinen von Mrs. Lecount seine verlorene Fassung wiederfand. Miss Garth hat mir in der unerhörtesten Weise gedroht. Ich verbiete Ihnen, eines von den beiden Mädchen noch zu bedauern, Lecount, namentlich nicht das jüngere. Dies ist das verzweifeltste Geschöpf, von dem ich je gehört habe! Wenn sie mein Geld nicht im Guten bekommen kann, droht sie, schon im Bösen dazu kommen zu wollen. Miss Garth hat mir Das ins Gesicht gesagt. Mir ins Gesicht! wiederholte er, indem er seine Arme übereinander schlug und tödtlich beleidigt aussah.

—— Beruhigen Sie sich, Sir, sagte Mrs. Lecount, ich bitte, beruhigen Sie sich und lassen Sie mich mit Miss Garth sprechen —— Ich bedaure hören zu müssen, Madame, daß Sie vergessen haben, was ich Ihnen im nächsten Zimmer gesagt habe. Sie haben Mr. Noël aufgeregt, Sie haben den Interessen, für die Sie hier wirken wollten, ins Gesicht geschlagen und haben doch nur wiederholt, was wir schon wußten. Die Sprache, die Sie sich erlaubt haben in meiner Abwesenheit, ist dieselbe Sprache, welche Ihre Schülerin thöricht genug war zu führen, als sie den zweiten Brief an meinen verstorbenen Herrn schrieb. Wie kann eine Dame von Ihren Jahren und Erfahrungen im Ernste solchen Unsinn wiederholen? Dies Mädchen macht sich groß und droht. Sie will Dies thun, will Jenes thun. Sie besitzen ihr Vertrauen, Madame. Sagen Sie mir, wenn Sie so gut sein wollen, was kann sie denn thun?

So scharf auch der Pfeil gespitzt war, er prallte ohne zu treffen ab. Mrs. Lecount hatte ihren Stachel schon zu oft angewendet. Magdalene, vollkommen wieder mächtig ihrer angenommenen Rolle, erhob sich und beendigte mit Fassung die Unterredung. Unbekannt wie sie war mit Dem, was hinter ihrem Stuhle vorgegangen war, sah sie doch eine Veränderung in Mrs. Lecounts Blick und Benehmen, die ihr nichts Gutes weissagte und ihr längeres Verweilen im Hause nicht räthlich erscheinen ließ.

—— Ich bin nicht im Vertrauen meiner Schülerin, sagte sie. Ihre eigenen Handlungen werden Ihre Frage beantworten, wenn die Zeit gekommen ist. Ich kann Ihnen nur aus meiner eigenen Erfahrung von ihr sagen, daß sie keine leere Prahlerin ist. Was sie an Mr. Michael Vanstone schrieb, Das war sie bereit auszuführen; sie war wirklich im Begriff es zu thun, als ihre Pläne dur seinen Tod zerstört wurden. Mr. Michael Vanstones Sohn braucht nur in seines Vaters Fußtapfen zu treten, um über kurz oder lang zu erfahren, daß ich mich in meiner Schülerin nicht geirrt habe und daß ich nicht hierher gekommen bin, um ihn durch leere Drohungen einzuschüchtern. Mein Geschäft ist zu Ende. Ich lasse Mr. Noël Vanstone die Wahl zwischen zwei Wegen. Ich lasse ihm die Wahl, mit Mr. Andreas Vanstones Töchtern zu theilen, oder bei seiner gegenwärtigen Weigerung zu verharren und der Folgen zu gewärtigen.

Sie verbeugte sich und ging nach der Thür.

Mr. Noël Vanstone sprang auf, Unwillen und Schrecken auf seinem weißen Gesichte, Beides um die Oberhand kämpfend. Bevor er die Lippen öffnen konnte, senkten sich Mrs. Lecounts fleischige Hände auf seine Schultern, drückten ihn sanft auf seinen Stuhl zurück und stellten den Teller mit Erdbeeren in die vorige Lage auf seinen Schooß.

—— Erquicken Sie sich, Mr. Noël, mit noch ein paar Erdbeeren, sagte sie, und überlassen Sie Miss Garth mir.

Sie folgte Magdalenen in den Gang und schloß die Thür des Zimmers hinter ihr.

—— Wohnen Sie in London, Madame? fragte Mrs. Lecount.

—— Nein, erwiderte Magdalene. Ich wohne in der Provinz.

—— Wenn ich an Sie zu schreiben hätte, wohin kann ich meinen Brief adressieren?

—— Auf die Post in Birmingham, sagte Magdalene, indem sie den Ort nannte, den sie zuletzt verlassen hatte und nach welchem alle Briefe an sie gerichtet wurden.

Mrs. Lecount wiederholte die Angabe, um sie sich einzuprägen, ging zwei Schritte im Gange vor und legte ruhig ihre rechte Hand auf Magdalenens Arm.

—— Ein Wort als guten Rath, Madame, sagte sie, ein Wort zum Abschied. Sie sind eine kühne Frau und eine schlaue Frau. Seien Sie nicht zu kühn, seien Sie nicht schlau. Sie wagen mehr, als Sie denken.

Sie erhob sich plötzlich auf die Zehen und flüsterte die nächsten Worte in Magdalenens Ohr:

—— Ich habe sie ganz in meiner Hand! sagte Mrs. Lecount mit schneidender, starker Betonung auf jeder Sylbe.

Ihre linke Hand schloß sich fest zusammen, als sie sprach. Es war die Hand, in der sie das Stückchen Zeug aus Magdalenens Kleide verborgen trug, die Hand, welche es in diesem Augenblicke fest zusammendrückte.

—— Was wollen Sie damit sagen? fragte Magdalene, sie von sich stoßend.

Mrs. Lecount ging höflich voraus, um die Hausthür zu öffnen.

—— Ich will Nichts damit sagen, sagte sie, warten Sie ein wenig, und die Zeit wird es lehren. Eine letzte Frage, Madame, ehe ich Ihnen Lebewohl sage. Als Ihre Schülerin ein kleines unschuldiges Kind war, spielte sie da manchmal mit Kartenhäusern.

Magdalene antwortete ungeduldig durch eine bejahende Gebärde.

—— Sahen Sie sie da manchmal ihr Haus höher und höher aufbauen, fuhr Mrs. Lecount fort, bis es eine Pagode von Karten war? Sahen Sie, wie ihre kleinen Kinderaugen da sich weit öffneten und darauf blickten und so stolz waren auf Das, was sie schon vollbracht hatte, daß sie gern noch mehr thun,mochte? Sahen Sie da, wie sie ihre kleine hübsche Hand still und ihren unschuldigen Athem an sich hielt und noch eine Karte auf die Spitze legte, und dadurch das ganze Haus einen Augenblick später in einen Trümmerhaufen auf den Tisch zusammenbrach? Ach, Sie haben Das gesehen! Bestellen Sie doch, wenn Sie so gut sein wollen, folgende freundliche Mittheilung an sie. Ich möchte behaupten, sie hat nun das Haus hoch genug gebaut, und ich empfehle ihr, sich in Acht zu nehmen, ehe sie noch eine Karte auflegt.

—— Ich werde es an sie bestellen, sagte Magdalene mit Miss Garths Herbigkeit und Miss Garths nachdrucksvollem Kopfnicken. Aber ich zweifle sehr, daß sie sich daran kehren wird. Ihre Hand ist doch noch fester, als Sie denken, und ich meine wohl, sie wird die andere Karte auflegen.

—— Und das Haus zusammenwerfen, sagte Mrs. Lecount.

—— Und es wieder aufbauen, antwortete Magdalene. Ich wünsche Ihn einen guten Morgen.

—— Guten Morgen, sagte Mrs. Lecount und öffnete die Thür. Ein letztes Wort, Miss Garth. Vergessen Sie nicht, was ich Ihnen im Hinterzimmer gesagt habe! Versuchen Sie doch die Goldene Salbe gegen das traurige Leiden Ihrer Augen!

Als Magdalene über die Schwelle der Thür schritt, begegnete sie dem Briefträger, der die Haupttreppe herauf kam, einen Brief aus seinem Bunde in der Hand.

—— Noël Vanstone, Esq.? hörte sie den Mann sagen, als sie durch das Gärtchen am Hause nach der Straße ging.

Sie ging durch das Gartenthor, unbewußt, vor welch neuer Schwierigkeit und Gefahr ihr rechtzeitiges Gehen sie bewahrt hatte. Der Brief, den der Briefträger eben in die Hände der Haushälterin gelegt hatte, war kein anderer, als der anonyme Brief an Noël Vanstone von —— Hanptmann Wragge.



Kapiteltrenner

Sechstes Buch.

Aus Hauptmann Wragges und Magdalenes Familienpapieren.

I.
(Auszug aus dem Inseratentheile der »Times«)

»EIN UNBEKANNTER FREUND« wird ersucht, mittelst Ankündigung eine Adresse anzugeben, unter der ein Brief ihn finden kann. Für die Mittheilung, die er anbietet, wird er bei Empfang belohnt werden durch eine Zahlung von
Fünf PFUND.



Kapiteltrenner

II.
Hauptmann Wragge an Magdalene.

Birmingham, den 2. Juli 1841

Liebe Magdalene!

Der Koffer mit den Stücken des Anzuges, den Sie irrthümlicherweise mitgenommen haben, ist richtig in meine Hände gelangt. Ich werde denselben so lange bestens aufheben, bis ich wieder von Ihnen höre.

Ich ergreife diese Gelegenheit, um Ihnen noch ein Mal die Versicherung zu geben, daß ich Ihren Interessen allezeit unwandelbar und treu dienen werde. Ohne gerade zu versuchen, mich in Ihr Vertrauen einzudrängen, darf ich mir wohl erlauben zu fragen, ob Mr. Noël Vanstone sich hat bereit finden lassen, Ihnen gerecht zu werden? Ich fürchte nur zu sehr, daß er sich dessen geweigert hat, für welchen Fall ich —— die Hand aufs Herz —— feierlich erkläre, daß seine niedrige Denkungsart mich empört. Warum habe ich die Ahnung, daß Sie sich vergebens an ihn gewendet haben? Warum muß ich mich dabei ertappen, daß ich diesen Menschen eigentlich recht wie ein schädliches Geschmeiß betrachte? Wir sind einander durchaus fremd; ich weiß von ihm nicht mehr als Das, was ich bei Gelegenheit der für Sie eingezogenen Erkundigungen über ihn in Erfahrung brachte. Hat mein inniges Mitgefühl für Alles, was Sie betrifft, mir die Gabe der Weissagung verliehen? Oder um es phantastisch auszudrücken: gibt es wirklich Etwas wie eine Vorexistenz der Seele? Und hat Mr. Noël Vanstone mich vielleicht schon einmal tödtlich beleidigt, nämlich auf einem andern Himmelskörper?

Ich schreibe, liebe Magdalene, wie Sie sehen, mit meinem gewöhnlichen Humor. Aber es ist mein voller Ernst, meine Dienste ganz zu Ihrer Verfügung zu stellen. Was die Bedingungen anbetrifft, so machen Sie sich keinen Augenblick darüber Gedanken. Ich nehme von vornherein jede Bedingung an, welche Sie mir zu gewähren für gut finden. Wenn Ihre Pläne darauf abzielen, so bin ich bereit, Mr. Noël Vanstone in Ihrem Interesse so lange zu pressen, bis ihm das Gold aus allen Poren schwitzt. Verzeihen Sie das unartige Gleichniß! Mein Eifer, Ihnen nützlich zu werden, macht sich in Worten Luft, legt Ihnen dieselben im Rohzustande zu Füßen und überläßt es Ihrem Geschmacke, dieselben mit dem gewähltesten Wortschmuck der englischen Sprache zu verbrämen?

Wie geht es meiner unglücklichen Frau? Ich muß leider fürchten, daß es Ihnen unmöglich fallen wird, ihr das Uebertreten der Schuhe abzugewöhnen und ihre persönliche Erscheinung mit den ewigen Gesetzen des Ebenmaßes und der Ordnung in inklang zu bringen. Versucht sie, mit Ihnen vertraulich zu werden? Ich habe mich immer gewöhnt, sie in dieser Hinsicht in einer gewissen Entfernung zu halten. Sie hat mich niemals anders als Hauptmann anreden dürfen, und bei den seit unserer Verheirathung nur selten vorkommenden Gelegenheiten» wenn sie durch Umstände veranlaßt war, mir zu schreiben, wurde ihre Eingangsformel der Anrede streng auf ein »Lieber Herr« beschränkt. Nehmen Sie diese kleinen Familiengeheimnisse als nutzbare Winke auf, welche Ihnen in dem Umgange mit Abs. Wragge zu Statten kommen werden, und betrachten Sie mich, der ich mit ängstlicher Spannung auf neue Nachricht von Ihnen harre, als

Ihren aufrichtig ergebenen
Horatio Wragge.



Kapiteltrenner

III.
Nora an Magdalene.

(Uebersendet mit den beiden folgenden Briefen an das Postamt Birmingham)

Kensingtom Westmoreland - House,
den l. Juli 1847.

Innig geliebte Magdalene!

Wenn Du Deinen nächsten Brief schreibst —— und ich bitte Dich, schreibe bald! —— so sende denselben unter meiner Adresse an Miss Garth.

Jetzt, wo Alles vorbei ist, darf ich Dir gestehen, daß ich nicht glücklich war. Ich bemühte mich so ehr als möglich die Zuneigung der beiden kleinen Mädchen, die ich zu unterrichten hatte, zu gewinnen; allein sie konnten mich wohl von Anfang an nicht leiden, scheint es; warum? weiß ich nicht. Ueber ihre Mutter habe ich keinen Grund zu klagen. Allein ihre Großmutter, welche in der That die Hauptrolle im Hause spielte, machte mir das Leben recht schwer. Meine Unerfahrenheit im Unterrichtgeben war der beständige Gegenstand ihrer bitteren Bemerkungen, und sie betrachtete meine Plage und Noth mit den Kindern so, als wenn ich mir dieselbe z eigenem Gefallen bereitete. Ich erzähle Dir Dies, damit Du nicht denkst, daß ich bedaure, meine Stelle aufgegeben zu haben. Weit entfernt davon, meine Liebe, bin ich vielmehr herzlich froh, aus jenem Hause fort zu sein.

Ich habe mir etwas Geld gespart, Magdalene, und ich möchte es, ach! so gern dazu verwenden, ein paar Tage bei Dir zuzubringen. Mein Herz verlangt nach dem Anblick der Schwester; meine Ohren sehnen sich nach dem Klange ihrer Stimme. Ein Wort von Dir, das mir sagt, wo ich Dich treffen kann, Das ist Alles, was ich brauche. Ueberlege es Dir, ich bitte Dich, überlege es Dir.

Glaube ja nicht, daß ich durch dies erste Mißglücken entmuthigt bin. Es gibt noch manche gute Menschen auf der Welt, und ein paar davon werden mich schon nächstens in Dienste nehmen. Der Weg zum Glücke ist oft sehr schwer zu finden, schwerer, denke ich, für Frauen, denn für Männer. Doch wenn wir nur geduldig streben und lange genug streben, so erreichen wir ihn endlich doch —— im Himmel, wenn auch nicht auf Erden. Ich denke, daß mein nächster Weg jetzt der zu Dir, zu einem Wiedersehen mit Dir ist. Vergiß Das nicht, meine Liebe, das nächste Mal, wenn Du gedenkest

Deiner
Nora.



Kapiteltrenner

IV.
Miss Garth an Magdalene.

Westmoreland-House, den l. Juli 1847.

Liebe Magdalene!

Fürchten Sie nicht, nutzlose Vorwürfe zu lesen, wenn Sie meine Handschrift erblicken. Der einzige Zweck dieser Zeilen ist, Ihnen Etwas mitzutheilen, was Ihre Schwester ihrerseits Ihnen gewiß nicht sagen wird. Sie weiß kein Wort davon, daß ich an Sie schreibe. Sagen Sie ihr auch Nichts davon, wenn Sie ihr unnöthige Besorgniß und mir unnöthigen Kummer ersparen wollen.

Noras Brief meldet Ihnen ohne Zweifel, daß sie ihre Stelle ausgegeben hat. Ich halte es für meine traurige Pflicht, hinzuzufügen, daß sie dieselbe um Ihretwillen aufgegeben hat.

Die Sache ging so zu; Die Herren Wyath Pendril und Gwilt sind die Sachwalter desjenigen Herrn, in dessen Familie Nora ihre Stelle hat. Der Lebensberuf, den Sie sich gewählt haben, ist bereits seit letztem December allen drei Herren bekannt. Sie wurden bei einer Vorstellung zu Derby von der Person entdeckt, welche Sie in York hatte suchen sollen, und diese Entdeckung wurde vor einigen Tagen von Mr. Wyatt Noras Principal mitgetheilt als Antwort auf eine directe Anfrage über Sie von Seiten jenes Herrn. Seine Gattin und seine Mutter (welche bei ihm lebt) hatten ausdrücklich gewünscht, daß er jene Nachforschungen anstelle, da sie durch Noras ausweichende Antworten auf alle ihre Schwester betreffenden Fragen argwöhnisch geworden waren. Sie kennen Nora zu gut, um sie darob zu tadeln. Ausflüchte waren der einzige Ausweg, den ihr Ihr gegenwärtiges Leben übrig ließ, um nicht eine grobe Unwahrheit zu sagen.

Denselben Tag ließen die beiden Damen des Hauses, die ältere und die jüngere, Ihre Schwester vor sich kommen und sagten ihr, daß sie erfahren hätten, Sie träten öffentlich auf und zögen unter angenommenem Namen im Lande von Ort zu Ort. Sie waren gerecht genug, um Nora nicht darob zur Rechenschaft zu ziehen, sie waren gerecht genug, anzuerkennen, daß ihre Führung untadellos sei, wie ich es ihnen verbürgt hatte, als ich ihr die Stelle verschaffte. Aber zugleich machten sie es ihr zur unerläßlichen Bedingung, falls sie länger in ihren Diensten bleiben wolle, daß sie Ihnen niemals erlauben dürfe, sie in deren Hause zu besuchen oder sie zu treffen und mit ihr auszugehen, wenn sie die Kinder bei sich hätte. Ihre Schwester, welche mit Geduld Alles hingenommen hatte, was ihr selbst aufgebürdet wurde, fühlte augenblicklich den auf Sie geworfenen schnöden Vorwurf. Sie verwies Dies ihrer Herrschaft sofort mit aller Entschiedenheit. Stolze orte folgten, und sie verließ noch denselben Abend das Haus.

Es fällt mir nicht ein, Sie dadurch unnöthig in Betrübnis; zu versetzen, daß ich Ihnen den Verlust dieser Stelle als ein Unglück darstellte. Nora fühlte sich nicht so glücklich in derselben, als ich gehofft und vorausgesetzt hatte. Unmöglich konnte ich vorher wissen, daß die Kinder ungezogen und unbändig waren, noch daß die Mutter des Eheherrn jeder Person im Hause ihre Herrschsucht fühlen ließ. Ich will gern zugeben, wie gut es ist, daß Nora aus dieser Stellung heraus ist. Aber der Kummer hört hier nicht auf. Denn nach Allem, was wir, Sie und ich, Gegentheiliges wissen, wird der Kummer fortdauern. Was in dieser Stelle vor vorgefallen ist, kann auch in einer andern vorfallen. Ihre Lebensweise ——, wie tadellos Ihre Ausführung auch immer sein mag, und ich will Ihnen ja die Gerechtigkeit widerfahren lassen, zu glauben, daß sie tadellos ist —— ist für alle anständigen Leute eine verdächtige. Ich habe lange genug in dieser Welt gelebt, um zu wissen, daß neun Zehntel der englischen Frauen in ihrem Gefühl für Anstand und gute Sitte keine Rücksicht nehmen und keine Gnade kennen. Noras nächste Herrschaft kann Sie wieder aufspüren, und Nora wird möglicherweise ihre nächste Stelle wieder aufgeben müssen, ohne daß wir uns je wieder in der Lage befinden, ihr einen Ersatz, für dieselbe schaffen zu können.

Ich überlasse Ihnen, Dies zu bedenken. Mein Kind, denken Sie ja nicht, daß ich hart gegen Sie bin. Ich bin nur besorgt für die Ruhe Ihrer Schwester. Wenn Sie die Vergangenheit vergessen und zurückkehren wollen, Magdalene, so Vertrauen Sie Ihrer alten Gouvernante, sie wird dieselbe auch vergessen und Ihnen eine Heimath bereiten, wie sie Ihr Vater und Ihre Mutter einstmals ihr selber bereitet haben.

Allezeit, meine Liebe, Ihre getreue Freundin,

Harriet Garth.



Kapiteltrenner

V.
Francis Clare jun. an Magdalene.

Shanghai in China, den 28. April 1847.

Meine liebe Magdalene!

Ich habe die Antwort auf Deinen Brief infolge meines Gemüthszustandes, der mich unfähig machte, an Dich zu schreiben, verschoben. Ich bin noch jetzt unfähig dazu, doch ich fühle, daß ich es nicht länger verschieben darf. Mein Ehrgefühl gibt mir Kraft, und ich unterziehe mich der schmerzlichen Aufgabe, diesen Brief zu schreiben.

Mit meinen Aussichten in China ist es ganz aus. Das Handelshaus, an das ich wie ein Waarenballen abgefertigt worden bin, hat meine Geduld erschöpft durch eine ganze Reihe von kleinen Beleidigungen, und ich war es der Achtung vor mir selbst schuldig, aus dessen Diensten zu treten, nachdem ich von Anfang an nicht nach Verdienst geschätzt worden war. Meine Rückkehr nach England unter solchen Umständen kommt gar nicht in Frage. Ich bin in meinem Vaterlande zu grausam behandelt worden, als daß ich —— auch wenn ich könnte —— dahin zurückzukehren wünschte. Ich beabsichtige mich an Bord eines kleinen Kauffahrers in diesen Gewässern zu begeben, um in der Eigenschaft eines Handlungsgehilfen meinen Weg allein zu gehen, wenn ich es vermag. Wie es enden wird, oder was mir nun begegnen wird, ich vermag es nicht zu sagen. Es kommt wenig darauf an, was aus mir wird. Ich bin ein heimatloser Pilger und ein Verbannter, und zwar ganz und gar durch Anderer Schuld. Der unbarmherzige Wunsch der Meinigen, mich loszuwerden, hat seinen Zweck erreicht. Man ist mich mit guter Art losgeworden.

Es bleibt mir nur noch ein Opfer zu bringen übrig, das Opfer der theuersten Gefühle meines Herzens. Mit keinen Aussichten vor mir, mit keiner Hoffnung, nach Hause zurückkehren zu können, wie kann ich darauf rechnen, meinen Verpflichtungen gegen Dich nachzukommen? Durchaus nicht! Ein selbstsüchtigerer Mensch, als ich bin, würde Dich fort und fort durch jene Verpflichtungen gebunden halten, ein weniger überlegender Mann, als ich, wäre im Stande, Dich Jahre lang warten zu lassen und schließlich ohne allen Zweck. So grausam man auch meine Gefühle mit Füßen getreten hat, so sind dieselben doch zu zart, als daß sie mir diese Handlungsweise gestatteten. Ich schreibe Dies mit Thränen in meinen Augen nieder: Du sollst Dein Schicksal nicht an einen Ausgestoßenen knüpfen. Nimm diese Zeilen eines gebrochenen Herzens als die Worte der Lösung seines Versprechens auf. Unsere Verbindung ist zu Ende.

Der einzige Trost; der mich aufrecht erhält, Dir Lebewohl sagen zu können, ist, daß Keines von uns anzuklagen ist. Du magst unter dem Einflusse meines Vaters schwach gehandelt haben, aber gewiß hast Du in der besten Absicht von der Welt so gehandelt. Niemand außer mir wußte, welches die verhängnißvollen Folgen meiner Vertreibung aus England sein würden: aber Niemand hörte auf mich. Ich gab meinem Vater nach, ich gab Dir nach, und Dies ist nun das Ende davon!

Ich leide zu heftig, als daß ich mehr schreiben könnte. Möchtest Du nie erfahren, was mich die Auflösung unserer Verbindung gekostet hat! Ich bitte Dich, klage Dich nicht selbst an! Es ist nicht Deine Schuld, daß alle meine Thatkraft von Anderen mißleitet worden ist —— es ist nicht Deine Schuld, daß ich niemals eine gute Gelegenheit gehabt habe, im Leben vorwärts zu kommen. Vergiß den verlassenen Unglücklichen, der seine inbrünstigen Gebete für Dein Glück emporschickt und Dir alles Gute wünschen und immerdar bleiben wird Dein Freund,

Francis Clare jun.



Kapiteltrenner

VI.
Francis Clare sen. an Magdalene.

(Als Begleitbrief des vorhergehenden Schreibens.)

Ich sagte es immer Ihrem armen Vater, daß mein Sohn ein Narr sei; aber ich wußte noch nicht, daß er ein Elender war, bis die letzte Post aus China kam. Ich habe allen Grund anzunehmen, daß er seine Herren verlassen hat —— unter den kläglichsten Umständen. Vergessen Sie ihn von dieser Zeit an, wie ich selbst. Als wir, Sie und ich, das letzte Mal uns gegenüber standen, benahmen Sie sich sehr gut in dieser Angelegenheit. Alles was ich jetzt zum Danke daraus sagen kann, sage ich: —— meine Tochter, ich bin um Sie in Kummer und Sorge. F. C.



Kapiteltrenner

VII.
Mrs. Wragge an ihren Mann.

lieber Herre um Gotteswillen kommen Sie und stehen Sie uns bei Sie hatte gestern einen schrecklichen Brief ich weiß nicht welcher Art aber sie las ihn im Bette und als ich mit dem Frühstück hereinkam fand ich sie todt und wenn der Arzt nicht zwei Thüren davon gewesen wäre so würde niemand Anders sie wieder ins Leben zurückgebracht haben und sie sitzt und sieht entsetzlich aus und will kein Wort sprechen und ihre Augen entsetzen mich so sehr daß ich von Kopf bis zu Fuße zittere und bebe ach thun Sie mirs zu Liebe und kommen Sie ich habe mich beeilt so sehr als nur möglich und ich habe sie so gern und sie war immer so gut gegen mich und der Wirth sagt er fürchte sie werde sich ein Leids anthun ich wünschte ich könnte gerade schreiben aber ich zittere so sehr Ihr gehorsames Eheweib matilde wragge entschuldigen Sie die Fehler und ich bitte Sie kommen Sie und stehen Sie uns bei. Der Doktor gut Mann wird noch Einiges mit eigner Hand hinzufügen aus Furcht Sie könnten meine Schrift nicht lesen und verbleibe noch ein mal Ihr gehorsames Eheweib matilde wragge.

(Nachschrift vom Doctor.)
Sir,

erlauben Sie mir Sie zu benachrichtigen, daß ich gestern in ein Nachbarhaus auf der Vauxhallpromenade gerufen wurde, um einer jungen Dame Beistand zu leisten, welche plötzlich erkrankt war. Ich konnte sie nur mit äußerster Anstrengung aus einer der hartnäckigsten Ohnmach en erwecken, welche mir in meiner Erinnerung vorgekommen sind. Seit jener Zeit hat sie keinen Rückfall gehabt, aber es besteht jedenfalls irgend ein schwerer Kummer, der auf ihrer Seele lastet und welchen es bisher unmöglich war, von ihr wegzunehmen. Sie sitzt, wie mir berichtet wird, ganz still und durchaus ohne Bewußtsein von Allem, was um sie vorgeht, stundenlang mit einem Briefe in der Hand, welchen sie sich von Niemandem nehmen läßt. Wenn dieser Zustand des Seelendruckes andauert, so können die traurigsten Gemüthsstörungen daraus folgen; und ich thue nur meine Schuldigkeit, wenn ich rathe, daß irgend eine Verwandte oder Freundin sich ihrer annehme, welche Einfluß genug über sie hat, um sie aufzurichten.

Ihr gehorsamer Diener,
Richard Jarvis,
praktischer Wundarzt



Kapiteltrenner

VIII.
Nora an Magdalene.

Den 5. Juli.

Um Gotteswillen, schreibe mir eine Zeile, um mir zu sagen, ob Du noch in Birmingham bist und wo ich Dich dort finden kann! Ich habe eben vom alten Mr. Clare Nachricht bekommen. Ach, Magdalene, wenn Du mit Dir selbst kein Erbarmen hast, habe mit mir Erbarmen! Der Gedanke, Dich allein zu wissen unter fremden Leuten, der Gedanke, daß Dir das Herz gebrochen sein muß unter diesem fürchterlichen Schlage, verläßt mich keinen Augenblick, Keine Worte können Dir sagen, was ich um Dich leide!

Meine liebe gute Schwester, gedenke der bessern Zeit daheim, bevor der elende Schurke sich in Dein Herz stahl, gedenke der glücklichen Zeit au Combe-Raven, wo wir immer beisammen waren. Ach, behandle mich doch nicht als Fremde, ja nicht! Wir stehen jetzt allein auf der Welt, laß mich kommen Dich zu trösten —— laß mich für Dich mehr sein als eine Schwester, wenn ich kann. Nur eine Zeile, nur eine Zeile, um mir anzusagen, wo ich Dich finden kann!



Kapiteltrenner

IX.
Magdalene an Nora.

Den 7. Juli.

Alles was Deine Liebe für mich wünschen kann, hat Dein Brief vollbracht. Du, nur Du allein hast den Weg zu meinem Herzen gefunden. Ich konnte wieder denken, wieder fühlen, nachdem ich gelesen hatte, was Du an mich schriebst.

Laß mich durch diese Versicherung Deine Besorgnisse beschwichtigen. Mein Geist lebt und athmet wieder auf, er war todt, bis ich Deinen Brief bekam.

Der Schlag, den ich erlitten habe, hat eine seltsame Ruhe in mir hinterlassen. Ich habe ein Gefühl, als ob ich mich losgetrennt hätte von meinem früheren Ich, als ob die Hoffnungen, welche mir einst so theuer waren, allesamt weit in der Zeit hinter mir lägen. Ich kann auf das Wrack meines Lebens ruhiger hinblicken, Nora, als Du selbst es vermöchtest, wenn wir wieder beisammen wären. Ich kann mir bereits wieder soviel zutrauen, an Frank zu schreiben.

Mein Liebling, ich glaube, keine Frau weiß selbst, wie unendlich sie sich dem Manne ihrer Liebe hingegeben, bis zu dem Augenblicke, wo der Mann übel an ihr gehandelt hat. Kannst Du mir meine Schwachheit verzeihen, wen ich Dir bekenne, daß ich ein tiefes Weh im Herzen empfand, als ich in Deinem Briefe die Stelle las, wo Du Frank einen Schurken und Elenden nennst? Niemand kann mich darob so verachten, wie ich mich selbst verachte. Ich komme mir vor wie ein Hund, der zurück kriecht und die Hand seines Herrn leckt, die ihn eben geschlagen hat. Aber es ist einmal so, ich möchte es keinem Menschen außer Dir bekennen, es ist wirklich und wahrhaftig so! Er hat mich getäuscht und verlassen, er hat mir ein leidiges Lebewohl geschrieben —— aber nenne ihn nur nicht einen Schurken! Wenn er bereut und zu mir zurückkehrte, so würde ich lieber sterben, als ihn jetzt noch heirathen; aber es gibt mir einen Stich ins Herz, wenn ich das Wort Schurke über ihn von Deiner Hand geschrieben sehe! Wenn er in seinen Bestrebungen schwach ist, wer stellte seine Schwäche über seine Kraft hinaus auf die Probe? Glaubst Du, daß Dies vorgekommen wäre, wenn Michael Vanstone uns nicht unser Vermögen geraubt und Frank von mir weg nach China vertrieben hätte? Binnen hier und acht Tagen wäre das Wartejahr zu Ende gewesen, und ich wäre Franks Weib geworden, wenn meine Mitgift mir nicht genommen worden wäre.

Du wirst sagen, nach Allem was vorgefallen ist, ist es gut, daß Ich Dem entgangen bin. Meine Liebe, es ist etwas Verkehrtes in meinem Herzen, welches antworten Nein! Besser, Franks unglückliches Weib sein, als das freie Mädchen, das ich jetzt bin.

Ich habe ihm nicht geschrieben. Er schickt mir keine Adresse, unter der ich an ihn schreiben könnte, auch wenn ich wollte. Aber ich mag es gar nicht. Ich will warten, ehe ich ihm mein Lebewohl zurufe. Wenn jemals eine Zeit kommt, wo ich das Vermögen habe, das ich, wie mein Vater ihm einstens versprach, ihm zubringen sollte, weißt Du, was ich damit machen würde? Ich würde Alles Frank geben, als meine Rache für diesen Brief, als das letzte Lebewohl von meiner Seite für den Mann, der mich verlassen hat! Laß mich diesen Tag erleben! Laß mich in der Hoffnung besserer Zeiten für Dich leben, Nora, das ist ja alle Hoffnung, die mir noch übrig bleibt. Wenn ich an ein hartes Leben denke, so kann ich noch ein Mal die Thränen in meinen müden Augen spüren. Ich kann fast denken, zu meinem früheren bessern Selbst zurückgekehrt zu sein.

Du wirst mich nicht für hartherzig und undankbar halten, wenn ich sage, daß wir noch ein wenig warten müssen, ehe wir uns wiedersehen können, nicht wahr? Ich möchte erst besser im Stande sein, Dich zu sehen, als ich es jetzt bin. Ich möchte erst Frank weiter von mir entfernen und Dich dafür mir näher bringen. Sind das triftige Gründe? Ich weiß es nicht —— frage mich nicht nach Gründen. Nimm den Kuß, den ich für Dich hierher gedrückt habe, wo der kleine Kreis auf dem Papiere geschrieben ist, und laß uns dadurch für den Augenblick vereint sein, bis ich Dir wieder schreibe. Leb wohl, meine Liebe. Mein Herz ist Dir treu, Nora, aber ich wage Dich noch nicht zu sehen. Magdalene.



Kapiteltrenner

X.
Magdalene an Miss Garth.

Den 15. Juli.

Liebe Miss Garth!

Ich habe Sie lange auf diese Antwort warten lassen, nachdem Sie mir geschrieben; allein Sie wissen wohl, was vorgefallen ist, und werden mir verzeihen. Alles was ich zu sagen habe, kann in wenigen Worten gesagt werden. Sie können sich darauf verlassen, ich werde nimmer wieder das Gefühl für Wohlanständigkeit verletzen: ich habe die Welt genug kennen gelernt, um sie über das nächste Mal leicht selbst zu meiner Mitschuldigen zu machen. —— Nora wird meinetwillen nicht wieder eine Stelle aufzugeben brauchen —: mein Leben als öffentliche Künstlerin ist zu Ende. Es war —— Gott ist mein Zeuge! —— harmlos genug. Ich erlebe es vielleicht, Sie vielleicht auch noch, den Tag zu beklagen, wo ich es aufgab, allein nimmer werde ich dazu zurückkehren. Es hat mich verlassen, wie Frank mich verlassen hat, wie all mein besseres Denken und Fühlen außer meinen Gedanken an Nora mich verlassen hat.

Genug über mich selbst! Soll ich Ihnen einige Nachrichten geben, um diesen Brief ein wenig heiter zu machen? Mr. Michael Vanstone ist todt, und Mr. Noël Vanstone hat das Erbe meines Vermögens und Noras Vermögens angetreten. Er ist ganz würdig dieser Erbschaft. An der Stelle seines Vaters würde er uns ebenso zu Grunde gerichtet haben, wie es sein Vater gethan hat.

Weiter habe ich Ihnen Nichts mitzutheilen, das Sie interessieren könnte. Machen Sie sich keine Sorge um mich. Ich bemühe mich, meinen Geist wieder aufzurichten, ich bemühe mich, das arme betrogene Mädchen zu vergessen, welches in der guten alten Zeit zu Combe-Raven so thöricht war, sich in Frank zu verlieben. Manchmal kommt noch ein Weh über mich, welches mir anzeigt, daß jenes Mädchen noch nicht vergessen ist, aber es kommt nicht oft.

Es war recht lieb von Ihnen, daß Sie, als Sie an ein so verlorenes Geschöpf, wie ich bin, sich selbst als »allezeit meine Freundin« unterzeichnet haben. »Allezeit« ist ein kühnes Wort, meine liebe alte Gouvernante! Es soll mich verlangen, ob Sie jemals wünschen werden, es zurücknehmen zu können? Es würde keinen Unterschied machen, wenn Sie es wirklich zurücknähmen; bin ich doch dankbar eingedenk der Mühe, die Sie mit mir gehabt haben, als ich noch ein kleines Kind war. Ich habe Ihnen diese Mühe schlecht vergolten, habe Ihnen Ihre Liebe mir auch in der spätern Zeit schlecht vergolten. Ich bitte Sie um Verzeihung, und bemitleiden Sie mich. Das Beste, was Sie für uns Beide thun können, ist, mich vergessen.

Mit inniger Liebe

Ihre
Magdalene

NS. Ich öffne das Couvert, um noch eine Zeile hinzuzufügen. Um Gotteswillen zeigen Sie diesen Brief Nora nicht!



Kapiteltrenner

XI.
Magdalene an Hauptmann Wragge.

Vauxhallpromenade den 17. Juli.

Wenn ich nicht irre, war es abgeredet, daß ich Ihnen nach Birmingham schreiben sollte, sobald ich mich ruhig genug fühlte, an die Zukunft denken zu können. Mein Gemüth ist endlich wieder gefaßt, und ich bin nunmehr im Stande, die Dienste anzunehmen, welche Sie mir ohne Rückhalt ungetragen haben.

Ich bitte Sie, mir wegen der Art und Weise zu verzeihen, wie ich Sie bei Ihrer Ankunft in diesem Hause, als Sie die Nachricht von meinem plötzlichen Unwohlsein erhalten hatten, empfangen habe. Ich war völlig außer Stande, mich selbst zu beherrschen, ich litt unter einem Seelenschmerz, welcher mich für jene Zeit des Gebrauchs meiner Sinne beraubte. Es ist nun meine Schuldigkeit, Ihnen zu danken für die große Schonung, mit der Sie mich zu einer Zeit behandelten, wo Schonung für mich eine unendliche Gunst war.

Ich will Ihnen nun so deutlich und so kurz, als ich kann, angeben, welche Dienste mir leisten sollen.

In erster Linie ersuche ich Sie —— so geheim als möglich —— alle und jede Stücke meines in der dramatischen Unterhaltung gebrauchten Costüms zu veräußern. Ich habe diese Unterhaltung für ewige Zeit aufgegeben und wünsche frei und ledig zu sein aller Dinge, die mich zufällig künftighin daran erinneren könnten. Der Schlüsse! zu meinem Koffer ist diesem Briefe beigegeben.

Den andern Koffer, der meine eigenen Kleider enthält, werden Sie so gut sein mir hierher zu schicken. Ich bitte Sie nicht, mir ihn selbst mitzubringen, da ich Ihnen einen weit wichtigeren Auftrag zu geben habe.

Nach der Mittheilung, die Sie bei Ihrer Abreise für mich hinterließen, schließe ich, daß Sie während dieser Zeit Mr. Noël Vanstone von der Vauxhallpromenade bis zu seinem jetzigen Aufenthaltsorte verfolgt haben. Wenn Sie letzteren entdeckt haben und Sie ganz sicher sind, dabei weder Mrs. Lecounts noch ihres Herrn Aufmerksamkeit auf sich gezogen zu haben, so wünsche ich, daß Sie mir sofort eine Wohnung in derselben Stadt oder Ortschaft, in der Mr. Noël Vanstone seinen Aufenthalt genommen hat, zugleich für Sie und Mrs. Wragge besorgen. Ich schreibe Dies, wie wohl kaum erst nöthig zu bemerken ist, in der Annahme, daß, wo er auch immer jetzt verweilen mag, er sich einige Zeit daselbst aufhalten werde.

Wenn Sie für mich unter diesen Bedingungen ein kleines meublirtes Haus, das monatlich zu vermiethen ist, ausfindig machen können, so nehmen Sie es zunächst auf einen Monat. Sagen Sie, daß es für Ihre Frau, Ihre Nichte und Sie selbst ist, und bedienen Sie sich, wenn Sie wollen, irgend eines angenommenen Namens, sofern es ein solcher ist, welcher der argwöhnischsten Nachforschungen spotten kann. Ich überlasse dies Ihrer Erfahrung in solchen Dingen. Das Gehimniß, wer wir eigentlich sind, muß so ängstlich bewahrt werden, als hinge davon unser Leben ab.

Alle Auslagen, zu denen Sie bei der Ausführung meiner Wünsche veranlaßt werden könnten, werde ich Ihnen sofort zurückerstatten. Wenn Sie nur ein Haus der Art, wie ich es brauche, finden, dann ist es auch nicht nöthig, nach London zurückzukehren, um uns abzuholen. Wir können zu Ihnen kommen, sobald wir wissen, wohin wir uns wenden sollen. Das Haus muß ganz anständig sein und Mr. Noël Vanstones gegenwärtiger Wohnung, wo sie auch sein möge, wohlweislich so nahe als möglich liegen.

Sie müssen mir schon erlauben, in diesem Briefe über den Plan schweigen zu dürfen, den ich im Sinne habe. Ich möchte eine Erklärung bei Leibe nicht dem Papier anvertrauen. Wenn alle unsere Vorbereitungen fertig sind, sollen Sie aus meinem Munde hören, was Sie für mich thun sollen, und ich erwarte, daß Sie mir offen und frei sagen, ob Sie mir unter den günstigsten Bedingungen, die ich Ihnen gewähren kann, Beistand leisten wollen, wie ich ihn brauche.

Noch ein Wort, ehe ich diesen Brief zusiegele.

Wenn sich Ihnen, sobald Sie das Haus gemiethet haben und ehe wir uns wiedersehen, eine passende Gelegenheit bietet, mit Mr. Noël Vanstone oder Mrs. Lecount ein paar höfliche Worte zu wechseln, so machen Sie sich Das zu nutze. Es ist für meinen gegenwärtigen Plan von äußerster Wichtigkeit, daß wir mit einander bekannt werden, und Dies als das rein zufällige Ergebniß unserer nahen Nachbarschaft erscheine. Ich möchte, daß Sie wo möglich, noch ehe wir, Mrs. Wragge und ich, zu Ihnen kommen, den Weg zu diesem Endziele anbahnten. Ich bitte Sie auch, keine Gelegenheit zu verabsäumen, insbesondere Mrs. Lecount mit äußerster Aufmerksamkeit zu beobachten. Die Dienste, welche Sie mir von vornherein dadurch leisten können, daß Sie der scharfblickenden Frau eine Binde vor die Augen zu legen wissen, werden die werthvollste Hilfe sein, die Sie mir bis jetzt geleistet haben.

Es ist nicht nöthig, diesen Brief umgehend zu beantworten, vorausgesetzt, daß ich ihn nicht unter einer irrigen Annahme betreffs Dessen, was Sie seit Ihrer Abreise von London ausgerichtet haben, geschrieben habe. Ich habe unsere Wohnung noch für eine Woche länger behalten und kann also hier so lange auf Nachrichten von Ihnen warten, bis Sie mir die erwünschten Mittheilungen machen können. Sie können sich künftig unter allen möglichen Umständen vollständig auf meine Geduld. verlassen. Meine Launen sind zu Ende, und meine heftige Gemüthsart soll Ihre Nachsicht zum letzten Male auf die Probe gestellt haben. Magdalene.



Kapiteltrenner

XII.
Hauptmann Wragge an Magdalene.

Aldborough in Suffolk, Nordstein-Villa,
den 22. Juli.

Mein liebes Kind!

Ihr Brief hat mich entzückt und gerührt. Ihre Entschuldigungen haben den geraden Weg zu meinem Herzen gefunden, Dasselbe gilt von Ihrem Vertrauen auf meine geringen Fähigkeiten. Das Herz des alten Milizsoldaten schlägt stolz bei dem Gedanken an das Vertrauen, das Sie in ihn gesetzt haben, und thut das Gelübde, es auch zu verdienen. Dieser Gefühlsausbruch möge Sie nicht überraschen. Alle begeisterten Naturen müssen gelegentlich sich Luft machen, und meine Form des Ausbruchs sind Worte.

Alles was Sie von mir verlangten, ist geschehen. Das Haus ist gemiethet, der Name gefunden, und ich bin persönlich bekannt mit Mrs. Lecount. Wenn Sie diese allgemeine Uebersicht meiner Leistungen gelesen, werden Sie natürlich neugierig sein, die näheren Umstände in Erfahrung zu bringen. Nachstehend folgen sie, ganz wie Sie wünschen.

Den Tag, nachdem ich Sie in London verlassen hatte, spürte ich Mr. Noël Vanstone bis zu diesem kleinen heimischen Neste an der See nach. Einer von seines Vaters unzähligen Ankäufen, war ein Haus zu Aldborough, einem in Aufnahme kommenden Seebade, sonst hätte Mr. Michael Vanstone keinen Groschen dafür gegeben. In diesem Hause wohnt nun der verächtliche kleine Geizhals, der in London umsonst wohnte, jetzt abermals umsonst au der Küste von Suffolk. Er hat sich in seiner kleinen Wohnung für den Sommer und den Herbst eingerichtet, und Sie und Mrs. Wragge brauchen nur her zu mir zu kommen, um fünf Thüren weit von ihm in dieser feinen Villa zu wohnen. Ich habe das ganze Haus für wöchentlich drei Guineen bekommen, und es steht in unserm Belieben, auch noch den Herbst für denselben Preis darin zu bleiben. An einem Modebadeorte würde eine solche Wohnung sogar für das Doppelte dieser Summe noch wohlfeil sein.

Unser neuer Name ist mit sorgfältiger Beachtung Ihrer Winke ausgesucht worden. Meine Bücher —— ich hoffe doch, Sie haben meine Bücher nicht vergessen? —— enthalten unter dem Titel

»Menschenhäute zum Anziehen«

ein Verzeichniß von Personen, welche den irdischen Schauplatz ihres Wirkens verlassen haben und mit deren Namen, Familien und näheren Verhältnissen ich ganz vertraut bin. Einige dieser »Menschenhäute« habe ich selbst bei der Ausübung meines Berufes in früheren Perioden meiner Laufbahn »anziehen« müssen. Andere sind noch so gut als neue Anzüge und bleiben zum Gebrauche. Die »Haut«, welche ganz und gar für uns paßt, bekleidete ursprünglich die Leiber einer Familie mit Namen Bygrave. Ich stecke gegenwärtig in Mr. Bygraves Haut, und sie paßt mir wie angegossen. Wenn Sie so gut sein wollen, in Miss Bygrave (Taufname Susanne) zu schlüpfen, und wenn Sie nachher Mrs. Wragge —— auf irgend eine Art, mit dem Kopfe vornweg, wenn Sie wollen —— in Mrs. Bygrave (Taufname Julie) stecken wollen, so wird die Verwandlung vollständig sein. Erlauben Sie mir, Ihnen anzuzeigen, daß ich Ihr Onkel von väterlicher Seite bin. Mein würdiger Bruder hatte vor zwanzig Jahren in Belize auf Honduras einen Mahagony- und Campescheholzhandel. Er starb an jenem Orte und liegt auf der Südwestseite des dortigen Kirchhofs unter einem zierlichen Denkmal von dortigem Holz, geschnitzt von einem Naturkünstler, einem Neger, begraben. Neunzehn Monate später starb seine Frau in einer Pension zu Cheltenham an Schlagfluß. Sie galt für die wohlbeleibteste Frau in England und war im Erdgeschoß des Hauses untergebracht in Folge der Schwierigkeit, sie die Treppe hinauf und herunter zu schaffen. Sie sind deren einziges Kind. Sie sind seit dem Trauerfalle zu Cheltenham unter meiner Obhut gewesen; Sie sind den nächsten zweiten August zwanzig Jahre alt und, die Stärke abgerechnet, das leibhaftige Ebenbild Ihrer Mutter. Ich behellige Sie mit diesen Proben meiner vertrauten Kenntniß Ihrer neuen irdischen Familienhülle, um Ihren Geist betreffs künftiger Nachfragen zu beruhigen. Vertrauen Sie mir und meinen Büchern, es ist für jede Nachfrage gesorgt. Zur selbigen Zeit schreiben Sie sich unsern neuen Namen nebst Adresse auf und sehen Sie zu, wie Sie Ihnen zusagen:

Mr. Bygrave, Mrs. Bygrave, Miss Bygrave,
Nordstein-Villa,
Aldborough.

Bei meinem Leben, es liest sich merkwürdig gut!

Die letzte Einzelheit, die ich Ihnen zu geben habe, bezieht sich aus meine Bekanntschaft mit Mrs. Lecount.

Wir kamen gestern in dem Kräutergewölbe hier zusammen. Da ich meine Ohren spitzte, hörte ich, daß Mrs. Lecount eine besondere Art Thee haben wollte, welche der Mann nicht hatte und welche, wie er glaubte, erst in Ipswich zu schaffen war. Ich ersah mir augenblicklich diese Gelegenheit, um eine Bekanntschaft anzuknüpfen für die geringfügigen Kosten einer Reise nach jener blühenden Stadt.

—— Ich habe heute in Ipswich zu thun, sagte ich, und denke diesen Abend wieder zurück zu sein (wenn ich noch zur rechten Zeit zurück kann). Ich bitte, mir zu erlauben, Ihren Auftrag wegen des Thees zu übernehmen und ihn mit meinem eigenen Gepäck zurückzubringen.

Mrs. Lecount weigerte sich höflich, mir diese Mühe zu verursachen —— ich beharrte aber höflich dabei, solche zu übernehmen. Wir kamen ins Gespräch. Es ist nicht nöthig, Sie noch mit unserm Geplauder zu behelligen. Das Ergebniß desselben ist, daß Mrs. Lecounts schwache Seite, wenn sie eine solche überhaupt hat, ihr Geschmack an wissenschaftlichen: Forschungen ist, den ihr verstorbener Gatte, der Professor, ihr beigebracht hatte. Ich denke wohl, hier eine Aussicht vor mir zu haben, wie ich mich bei ihr in Gunst setzen und ihr, wie nothwendig, ein wenig Sand in ihre hübschen schwarzen Augen streuen kann. Auf Grund dieser Annahme kaufte ich mir denn auch, sobald ich den Thee zu Ipswich für die Dame gekauft hatte, für mich jenen berühmten Taschenleitfaden der Wissenschaft »Joyces Wissenschaftliche Gespräche«. Im Besitze eines raschen Gedächtnisses und eines unbegrenzten Selbstvertrauens habe ich nunmehr vor, meine irdische Hülle mit soviel schlagfertiger Wissenschaft anzufüllen, als sie nur fassen kann, und Mr. Bygrave Mrs. Lecount in der Rolle des bestunterrichtetsten Mannes, den sie nach des Professors Tode kennen gelernt, vorzuführen. Die Notwendigkeit, jener Frau eine Binde vor die Augen zu legen (um Ihren vortrefflichen Ausdruck zu gebrauchen), ist mir so klar wie Ihnen. Wenn es auf die von mir beabsichtigte Art und Weise geschehen kann, so beruhigen Sie sich: Wragge, angefüllt mit der Weisheit eines Joyce, ist der Mann dann es zu vollbringen.

Sie haben nun meinen ganzen Neuigkeitenschatz. Bin ich Ihres Vertrauens würdig oder nicht? Ich sage Nichts von der mich verzehrenden Begierde zu wissen, welches Ihre Absichten eigentlich sind; die Begierde wird ja befriedigt werden, sobald wir uns treffen. Noch niemals habe ich, mein theures Kind, so darnach verlangt, eine ergiebige Ausquetschung an einem menschlichen Wesen zu vollbringen. Ich sage Nichts weiter. Verbum sap. [Abkürzung für Verbum sapienti, ein Wort für den Gescheidten. Bei uns sagt man statt Dessen sapienti sat, für den Gescheidten genug (gesagt) oder »der Gescheidte kennt Das« (»Freischütz«). W.] Verzeihen Sie das Schulmeisterische einer lateinischen Anführung und halten Sie mich für

Ihren

ganz und gar ergebenen
Horatio Wragge.

NS. Ich warte meine Weisungen ab, wie Sie es wünschten. Sie haben nur zu bestimmen, ob ich zu dem Zwecke, Sie hierher zu geleiten, nach London kommen oder Sie hier erwarten und empfangen soll. Das Haus ist vollkommen in Bereitschaft, das Wetter reizend und die See so glatt als Mrs. Lecounts Schürze. Eben ist sie am Fenster vorübergegangen und wir haben uns gegenseitig zugenickt Ein scharfblickendes Weib, liebe Magdalene, aber Joyce und ich zusammen, wir werden wohl um eine Kleinigkeit selbigem überlegen sein.



Kapiteltrenner

XIII.
Aus dem EAST SUFFOLK ARGUS.

Aldborough. Wir erwähnen mit Vergnügen die Ankunft von Gästen in diesem gesunden und berühmten Badeorte, welche in der gegenwärtigen Saison zeitiger erfolgt, als gewöhnlich. Esto perpetua [»So möge es fortgehen« W.] ist Alles, was wir zu sagen haben.

Fremdenliste —— Angekommen seit der letzten Liste: Nordstein-Villa: Mrs. Bygrave, Miss Bygrave.



Kapiteltrenner

Siebentes Buch.

Zu Aldborough in Suffolk.

Erstes Capitel.

Die auffallendste Erscheinung, welche sich dem Fremden an den Küsten von Suffolk darbietet, ist die außerordentliche Schutzlosigkeit des Landes gegen die Verwüstungen der See.

In Aldborough sind die Ueberlieferungen des Orts wie anderwärts an dieser Küste meistentheils solche, welche buchstäblich sich in dunkler Meerestiefe verlieren. Die Lage der alten Stadt, einst ein lebhafter und blühender Hafenplatz, ist fast ganz in der See verschwunden. Die Nordsee hat Straßen, Marktplätze, Dämme und Promenaden hinweggeschwemmt, und die unbarmherzigen Wogen schlossen sich zur Vollendung ihres Zerstörungswerkes vor nicht länger als achtzig Jahren über dem Häuschen des Salzmeisters zu Aldborough, welches jetzt nur noch in der Erinnerung lebt als die Geburtsstätte des Dichters Crabbe.

Jahr für Jahr mehr zurückgedrängt von den vorrückenden Wogen, haben sich die Einwohner im gegenwärtigen Jahrhundert auf das letzte Stück Land zurückgezogen, welches fest genug ist, um angebaut werden zu können, ein Streifen Boden, welcher eingedämmt liegt zwischen einer Marsch auf der einen und dem Meere auf der andern Seite. Hier hat die Bevölkerung von Aldborough die Sicherheit ihrer Zukunft einigen Sandhügeln anvertraut, welche die Laune der Wellen aufgeworfen hat, wie um ihnen Muth zu machen, und kühnlich ihren netten kleinen Badeort errichtet. Das erste Stück ihrer Besitzungen von Land ist ein niedriger, natürlicher Damm von Kieselsteinen, über welchen ein öffentlicher Spaziergang liegt und gleichlaufend mit der See sich erstreckt. Diesen Spaziergang begrenzen in oft unterbrochener und ungleicher Linie die Sommerwohnungen des heutigen Aldborough, romantische kleine Häuser, die meistens in ihren eigenen Gärten stehen und hier und da als Gartenzier starrende Schiffsbilder haben, welche die Stelle von Bildsäulen unter den Blumen vertreten.

Von dem niederen Standort dieser Villen aus gesehen erscheint das Meer bei gewissen Zuständen der Luft höher als das Land, Küstenschiffe, die da heran segeln, nehmen riesige Verhältnisse an und sehen beunruhigend für die Fenster aus. Mit diesen kostbaren Häusern sind aber auch Gebäude von anderer Gestalt und Geschichte vermischt. Nach der einen Seite zu steht das kleine Rathaus des alten Aldborough, damals der Mittelpunct des verschwundenen Hafens und Fleckens, jetzt gegenüber den modernen Villen hart am Rande des Meeres. An einem andern Puncte erhebt sich ein hölzerner Wachthurm, gekrönt auf seinen Zinnen mit dem Schiffsbilde eines zerschellten russischen Schiffes, hoch über die benachbarten Häuser, und durch sein Gitterfenster kann man ernste Männer in dunkler Tracht im höchsten Stockwerk sitzen sehen, welche beständig Wache halten —— die Piloten von Aldborough, welche von ihrem Thurme nach Schiffen spähen, die ihrer Hilfe bedürftig sind. Hinter der so bunt zusammengewürfelten Reihe Häuser läuft die einzige unregelmäßige Straße der Stadt mit ihren festen Lootsenhäusern, ihren baufälligen Schiffsniederlagen und den daran hängenden Verkaufsläden. Nach dem Nordende zu ist die Straße durch die einzige Bodenerhebung begrenzt, die über die ganze Marschlandfläche sichtbar ist, ein niedriger bewaldeter Hügel, auf dem die Kirche erbaut ist. Am entgegengesetzten Ende führt die Straße zu einem öden Martellothurm und zu der verlassenen abgelegenen Vorstadt Slaughden zwischen dem Flusse Alden und dem Meere. Dies sind die Hauptmerkmale dieses interessanten kleinen Vorpostens der Küsten von England, wie er sich in gegenwärtiger Zeit den Blicken darstellt.

An einem heißen und wolkenumzogenen Julinachmittage, als am zweiten Tage, der verflossen war, seit er an Magdalene geschrieben hatte, schlenderte Hauptmann Wragge durch das Thor der Nordstein-Villa, [Von den erwähnten Ufersteinen und angespülten Kieseln so genannt; im Englischen North Shingles Villa. W.] um die Ankunft der Kutsche abzuwarten, welche damals Aldborongh mit der Ostbahn (Eastern Countries Railway) verband. Er kam gerade an den ersten Gasthof im Orte, als die Kutsche anlangte, und stand an der Thür bereit, um Magdalene und Mrs. Wragge zu empfangen, als sie aus dem Wagen stiegen.

Die Art und Weise, wie Hauptmann Wragge seine Frau empfing, zeichnete sich durchaus nicht aus durch einen unnöthigen Aufwand Von Zeit. Er schaute mißtrauisch nach ihren Schuhen, erhob sich auf die Zehen und setzte ihren Hut mit scharfem Ruck zurecht, sagte ihr in lautem Flüstern: »Halt Deinen Mund!« und nahm während der ganzen Zeit keine Notiz von ihr. Sein Willkommen für Magdalene, welcher mit dem gewöhnlichen Wortschwall anhob, stockte plötzlich mitten in seinem ersten Satze. Hauptmann Wragges Auge war ein scharfblickendes, und er fand sofort in Blick und Wesen seines früheren Pfleglings Etwas heraus, das eine tiefe Veränderung anzeigte.

Es lag eine tiefe Ruhe auf ihrem Gesichte, welche, außer wenn sie sprach, dasselbe so todt und kalt wie Marmor erscheinen ließ. Ihre Stimme war sanfter und gleichmäßiger, ihr Auge ruhiger, ihr Gang langsamer geworden als sonst. Wenn sie lächelte, so kam und ging Dies plötzlich und zeigte ein kleines nervöses Zucken an dem einen Mundtwinkel, was vorher nie zu bemerken gewesen war. Sie hatte die größte Geduld mit Mrs. Wragge, sie behandelte den Hauptmann mit einer ihm an ihr ganz neu vorkommenden Artigkeit und Achtung, aber sie war theilnahmslos gegen Alles. Die merkwürdigen kleinen Läden in den hinteren Straßen, die mächtig hereinragende See, das alte Rathaus dicht am Ufer, die Lootsen, die Fischer, die vorübersegelnden Schiffe: all diese Gegenstände betrachtete sie so gleichgültig, als wenn Aldborough ihr von ihrer Kindheit auf vertraut gewesen wäre. Sogar als der Hauptmann das Gartenthor der Nordstein-Villa öffnete und sie mit stolzer Freude in das neue Haus einführte, sah sie es kaum mit einem Auge an. Die erste Frage, die sie that, bezog sich nicht auf ihre Wohnung, sondern auf die Noël Vanstone’s.

—— Wie weit wohnt er von uns? fragte sie mit dem einzig wahrnehmbaren Zeichen von Bewegung, das ihr bisher entschlüpft war.

Hauptmann Wragge antwortete dadurch, daß er auf das fünfte Haus von der Nordstein-Villa auf der Seite Aldboroughs, die nach Slaughden zu lag, zeigte. Magdalene wandte sich sofort von dem Gartenthore ab, als er die Lage angab, und ging vor sich hin weiter vor, um sich das Haus näher anzusehen.

Hauptmann Wragge sah ihr nach und schüttelte bedenklich mit dem Kopfe.

—— Der Teufel halte mir den Herrn im Hintergrunde zurück, dachte er bei sich. Sie hat seinen Verlust noch immer nicht verschmerzt.

—— Darf ich nun sprechen? fragte eine furchtsame Stimme hinter ihm, welche sich demüthig von zehn Zoll oberhalb des Gipfels seines Strohhutes vernehmen ließ.

Der Hauptmann drehte sich um und stand seiner Frau gegenüber. Die mehr als gewöhnliche Verwirrung in ihrem Gesichte machte es ihm augenblicklich klar, daß Magdalene seine brieflichen Anweisungen nicht ausgeführt hatte und daß Mrs. Wragge in Aldborough angekommen war, ohne vollkommen unterrichtet zu sein von der gänzlichen Umwandlung, welche mit ihrer Person und ihrem Namen vor sich gehen sollte. Die Notwendigkeit, diesen Zweifel zu beseitigen, war zu offenbar, als daß hier zu spaßen war, und Hauptmann Wragge stellte, ohne einen Augenblick zu zögern, das nöthige Verhör an.

—— Steh gerade und höre mich an, begann er. Ich habe eine Frage an Dich zu richten; Weißt Du, in wessen Haut Du in diesem Augenblicke, steckst? Weißt Du, daß Du todt und begraben bist in London und daß Du Dich wie ein Phönix aus der Asche der Mrs. Wragge erhoben hast? Nein! Du weißt es augenscheinlich nicht. Das ist äußerst unangenehm. Wie ist Dein Name?

—— Mathilde, antwortete Mrs. Wragge in einem Zustande grenzenlosen Erstaunens.

—— Weit gefehlt! schrie der Hauptmann grimmig. Wie kannst Du Dich unterstehen, mir zu sagen, daß Dein Name Mathilde ist? Dein Name ist Julie. Wer bin ich? Halte den Korb mit belegten Brödchen gerade, sonst werfe ich ihn ins Meer! Wer bin ich?

—— Ich weiß es nicht, sagte Mrs. Wragge, indem sie dies Mal eingeschüchtert die negative Seite der Frage als rettenden Strohhalm aufgriff.

—— Setz Dich nieder! sagte ihr Gatte, indem er auf die niedere Gartenmauer der Nordstein-Villa hinwies. Mehr rechts! Noch mehr! So ists recht. Du weißt es also nicht? wiederholte der Hauptmann indem er seine Frau streng ins Auge faßte, sobald er es dahin gebracht, daß sie saß und ihr Gesicht auf eine Höhe mit dem seinigen gesenkt hatte. Laß mich das nicht zum zweiten Male hören. Laß mich nicht ein Weib auf dem Halse haben, das nicht weiß, wer ich bin, und das mich doch morgen früh rasiren soll. Sieh mich an! Mehr links, noch mehr, so ists recht. Wer bin ich? Ich bin Mr. Bygrave —— mit dem Vornamen Thomas. Wer bist Du? Du bist Mrs. Bygrave —— Vorname Julie Wer ist die junge Dame, die mit Dir von London her reiste? Jene junge Dame ist Miss Bygrave —— Vorname: Susanne Ich bin ihr gescheidter Onkel Tom, und Du bist ihre hohlköpfige Tante Julie. Sage es mir den Augenblick noch einmal vor wie den Katechismus! Wie ist Dein Name? —— Schone meinen armen Kopf! jammerte Mrs. Wragge. Ach bitte, schone meinen armen Kopf, bis ich den Postwagen überstanden habe.

—— Lassen Sie sie in Ruhe, sagte Magdalene, welche in diesem Augenblicke zu ihnen trat. Sie wird es schon mit der Zeit lernen. Kommen Sie ins Haus.

Hauptmann Wragge schüttelte seinen schlauen Kopf noch ein Mal.

—— Das ist ein schlechter Anfang, sagte er weniger höflich als sonst. Uns steht dies Mal schon die Dummheit meiner Frau im Wege.

Sie gingen ins Haus. Magdalene war vollkommen zufrieden mit den vom Hauptmann getroffenen Einrichtungen. Sie nahm das für sie in Bereitschaft gehaltene Zimmer an, hatte auch Nichts gegen das Dienstmädchen, das angenommen war, fand sich zur Theestunde den Augenblick, wo sie gerufen wurde, ein; allein sie zeigte nicht die Spur von Theilnahme an dem neuen Aufenthaltsorte um sie her. Bald nachdem die Tafel abgeräumt worden und obschon das Tageslicht noch nicht verschwunden war, kam die gewöhnliche Ermüdung nach Anstrengungen jeder Art über Mrs. Wragge, und sie erhielt den Befehl von ihrem Manne, das Zimmer zu verlassen, wobei er nicht vergaß, ihr einzuschärfen, die Schuhe nicht überzutreten —— und sich —— aber ganz ausdrücklich in der Rolle von Mrs. Bygrave —— zu Bette zu begeben. Sobald sie allein waren, sah der Hauptmann Magdalenen scharf an und wartete darauf, daß sie ihn anredete. Sie sagte Nichts. Er suchte dann die Unterhaltung durch eine höfliche Frage über den Stand ihrer Gesundheit zu eröffnen.

—— Sie sehen ermüdet aus, bemerkte er in seinem einschmeichelndsten Tone. Ich fürchte, die Reise ist zu anstrengend für Sie gewesen.

—— Nein, versetzte sie und sah mit vollkommener Gleichgültigkeit zum Fenster hinaus, —— ich bin nicht mehr erschöpft, als gewöhnlich. Ich sehe immer matt, aus, matt, wenn ich zu Bette gehe, matt, wenn ich aufstehe. Wenn Sie noch heute Abend hören wollen, was ich Ihnen zu sagen habe, so bin ich gern bereit, es Ihnen zu sagen. Können wir nicht ausgehen? Es ist sehr heiß hier, und das Summen jener Menschenstimmen ist nicht zum Aushalten.

Sie zeigte durchs Fenster auf eine Gruppe Bootsleute, welche müßig, wie nur Theerjacken müßig sein können, sich an der Gartenmauer herumtrieb.

— Giebt es keine ruhige Promenade an diesem armseligen Orte? fragte sie ungeduldig. Können wir nicht ein wenig frische Luft schöpfen und der Belästigung durch fremde Gesichter entgehen?

—— Es ist vollkommen still, wenn wir eine halbe Stunde weit vom Hause weggehen, erwiderte der immer schlagfertige Hauptmann.

—— Sehr gut. Kommen Sie also mit fort.

Mit einem matten Seufzer nahm sie ihren Strohhut und ihren leichten Musselinüberwurf von dem Seitentischchen, auf welches sie dieselben beim Hereintreten geworfen hatte. Hauptmann Wragge folgte ihr zum Gartenthore, blieb aber dann stehen, wie von einem neuen Gedanken ergriffen.

—— Entschuldigen Sie, flüsterte er vertraulich. Bei dem gegenwärtigen Zustande der Unwissenheit meiner Frau thun wir wohl nicht gut, sie so ohne Weiteres mit dem neuen Dienstmädchen allein im Hause zu lassen. Ich will sie insgeheim einschließen, für den Falls, daß sie aufwacht, ehe wir zurückkommen »Besser bewahrt, als beklagt« [sure bind, sure find.] —— Sie kennen ja den Spruch! Ich werde in einem Augenblicke wieder bei Ihnen sein.

Er eilte ins Haus zurück, und Magdalene setzte sich auf die Gartenmauer, um seine Rückkehr abzuwarten.

Sie hatte kaum diese Stellung angenommen, als zwei mit einander gehende Herren, deren Näherkommen auf der Landstraße sie vorher nicht bemerkt hatte, dicht an ihr vorüberkamen.

Die Tracht des einen der beiden Fremden zeigte an, daß er ein Geistlicher war. Die Lebensstellung seines Gefährten dagegen war für einen gewöhnlichen Beobachter nicht eben leicht zu unterscheiden. Geübte Augen würden wahrscheinlich an seinem Aussehen, seinem Auftreten und seinem Gange zur Genüge erkannt haben, daß er ein Seemann war. Er war ein Mann in der Vollkraft des Lebens, groß gewachsen, mager und muskulös, sein Gesicht zu einem tiefen Braun verbrannt, sein schwarzes Haar eben erst ins Graue spielend, seine Augen dunkel, tief und fest, die Augen eines Mannes von eiserner Entschlossenheit, gewohnt zu befehlen. Von den Beiden war er Magdalenen der Nächste, als er und sein Freund an der Stelle vorübergingen, wo sie saß, und er sah sie auf einmal betroffen über ihre Schönheit mit offener, herzlicher und unverstellter Bewunderung an, die zu aufrichtig war und ersichtlich zu unwillkürlich bei ihm zur Erscheinung kam, als daß man sie hätte für unverschämt halten können, —— und doch hielt sie Magdalene in ihrer augenblicklichen Stimmung dafür. Sie fühlte, wie des Mannes entschlossene schwarze Augen plötzlich wie Blitzstrahlen auf sie fielen, warf ihm einen finsteren Blick zu, wandte das Haupt weg und sah nach dem Hause hinter sich.

Den nächsten Augenblick blickte sie sich wieder um, um zu sehen, ob er gegangen wäre. Er war allerdings ein paar Schritte vorwärts gegangen, dann offenbar stehen geblieben und machte nun dieselbe Bewegung wie sie, um sie noch ein Mal anzusehen. Sein Gefährte, der Geistliche, bemerkte, daß Magdalene dem Anscheine nach verletzt war, nahm ihn daher vertraulich beim Arme und zwang ihn halb im Scherz, halb im Ernste mit fortzugehen. Beide verschwanden um die Ecke des nächsten Hauses. Als sie darum bogen, hielt der sonnverbrannte Seemann erst noch zwei Mal seinen Gefährten an und schaute noch zwei Mal zurück.

—— Ein Freund von Ihnen? fragte Hauptmann Wragge, der eben zu Magdalenen trat.

—— Durchaus nicht, erwiderte sie, ein ganz fremder Mensch. Er sah mich mit der unverschämtesten Art an. Ist er aus dem Orte?

—— Ich werde es augenblicklich herausbekommen, sagte der gefällige Hauptmann, machte sich an die Gruppe Bootsleute und richtete seine Fragen rechts und links mit der leichten Vertraulichkeit, die ihm trefflich eigen war.

Er kam in wenig Minuten mit einem ganzen Schatz von Ermittelungen zurück. Der Geistliche war wohlbekannt als der Pfarrer eines wenige Meilen landeinwärts gelegenen Ortes. Der dunkle Mann bei ihm war der Bruder seiner Frau, Capitän eines Handelsschiffes. Er blieb, glaubte man, als Gast nur auf kurze Zeit bei seinen Verwandten, indem er sich auf eine neue Reise vorbereitete. Der Name des Geistlichen war Strickland, und der Capitän hieß Kirke, das war Alles, was die Bootsleute über Beide zu sagen wußten.

—— Es ist einerlei, wer sie sind, warf Magdalene hin. Die Ungebildetheit des Mannes verletzte mich einen Augenblick. Wir sind nun fertig mit ihm. Ich habe an etwas Anderes zu denken, und Sie ebenfalls. Wo ist die einsame Promenade, welche Sie eben erwähnten? Welchen Weg schlagen wir ein?

Der Hauptmann zeigte nach Mittag auf Slaughden hin und bot seinen Arm an.

Magdalene zögerte, ehe sie ihn nahm. Ihre Augen wanderten forschend nach Noël Vanstones Hause hin. Er war im Garten draußen und schritt auf dem kleinen Rasenecke hin und her, das Haupt hoch emporgerichtet, und Mrs. Lecount bediente ihn feierlich, mit ihres Herrn grünem Fächer in der Hand. Als Magdalene Dies sah, nahm sie sofort des Hauptmanns rechten Arm, um so recht nahe an den Garten zu kommen, wenn sie aus ihrem Wege daran vorüber gingen.

—— Die Augen unserer Nachbarn sind auf uns gerichtet, und das Geringste, das Ihre Nichte thun kann, ist Ihren Arm nehmen, sagte sie mit bitterem Lachen. Kommen Sie! Lassen Sie uns vorwärts gehen!

—— Sie sehen her, flüsterte der Hauptmann. Soll ich Sie Mrs. Lecount vorstellen?

—— Heute Abend nicht, antwortete sie. Warten Sie und hören Sie erst, was ich Ihnen zunächst zu sagen habe.

Sie kamen an der Gartenmauer Vorüber. Hauptmann Wragge nahm seinen Hut mit einem pfiffigen Schwenken ab und erhielt von Mrs. Lecount eine anmuthige Verbeugung zur Erwiderung. Magdalene sah, wie die Haushälterin ihr Gesicht, ihre Gestalt und ihre Kleidung mit jenem widerwilligen Interesse, jener mißtrauischen Neugier musterte, welche Frauen bei ihrer gegenseitigen Beobachtung zu empfinden pflegen. Als sie über das Haus hinaus gingen, drang die scharfe Stimme von Noël Vanstone durch die Abendstille zu ihnen herüber.

—— Ein schönes Mädchen, Lecount, hörte sie ihn sagen. Sie wissen, ich bin ein Kenner in diesem Artikel, —— ein schönes Mädchen!

Als diese Worte gesprochen wurden, blickte sich Hauptmann Wragge in plötzlicher Ueberraschung nach seiner Gefährtin um. Ihre Hand zitterte heftig auf seinem Arme, und ihre Lippen waren fest geschlossen mit dem Ausdruck eines unsäglichen Schmerzes.

Langsam und schweigend wandelten die Beiden dahin, bis sie das südliche Ende der Häuser erreichten und in eine kleine Wildniß von Ufersteinen und verdorrtem Grase, das öde Ende von Aldborough, der einsame Anfang von Slaughden, kamen.

Es war ein schwüler, windstiller Abend. Im Osten die graue Majestät des Meeres in athemloser Ruhe, der Saum des Horizonts unvermerkt in die eintönige nebelige Luft verschwimmend, und die Schiffe in Schatten gehüllt still und ruhig daliegend auf der gleichfalls ruhigen See. Im Süden hoben sich der hohe Rücken des Seedammes und das grimmig dräuende Gemäuer jenes Wartthurmes [Wartthurm, im Original steht martello. So hießen an den Küsten des Mittelmeeres die gegen die Einfälle der Seeräuber errichteten Wachthürme, von denen in Nothzeiten wohl die Lärmglocke ertönte oder Feuersignale gegeben wurden. Zu Anfang dieses Jahrhunderts hat man auch die an den englischen Küsten gegen etwaige feindliche Landungen der Franzosen erbauten Thürme so genannt. W.] hoch empor auf seinem grasbewachsenen Unterbau und schlossen die Aussicht auf Alles, was dahinter lag, dunkel ab. Im Westen glühte ein düster funkelnder Streifen des Sonnenuntergangs in rothem Feuer an dem düster verhüllten Himmel, ließ die Bäume an den fernen Grenzen des großen binnenländischen Marschlandes dunkel und die kleinen glitzernden Wasserlachen als Blutlachen erscheinen. Näher dem Beschauer floß das träge Wasser des kleinen Flusses Alden geräuschlos aus seinem schlammigen Bette, und noch näher lag einsam und trübselig nach der bleichen Wasserseite hin der verlassene kleine Hafen von Slaughden mit seinen verlassenen Werften und Lagerhäusern. Von faulendem Holz und seinen wenigen verstreuten Küstenfahrzeugen, welche verlassen dalagen an dem schlammigen Flußufer. Kein Wellenschlag war hörbar am Gestade, kein Plätschern ließ sich von dem träge einherschleichenden Strome vernehmen. Dann und wann tönte der Schrei eines Seevogels aus der Gegend der Marsch herüber, und in Zwischenräumen drang von Pachthöfen fern in der Ebene des Binnenlandes das schwache Hörnerrufen der Hirten, um die Heerden heimzutreiben, traurig durch die Abendstille her.

Magdalene zog ihre Hand aus dem Arme des Hauptmanns und ging den Weg nach dem Erdaufwurfe des Wartthurmes.

—— Ich bin müde vom Gehen, sagte sie. Lassen Sie uns hier Halt machen und ausruhen. Sie setzte sich auf den Abhang und stützte sich auf ihren Ellnbogen, rupfte gedankenlos die Grasbüschel aus, die sich unter ihrer Hand befanden und warf sie in die Luft.

Als sie einige Minuten damit hingebracht hatte, wandte sie sich plötzlich zu Hauptmann Wragge.

—— Waren Sie von mir überrascht? fragte sie mit abgerissener Heftigkeit Finden Sie mich verändert?

Geleitet von dem richtigen Gefühl, das ihn stets begleitete, wußte nun der Hauptmann sogleich, daß die Zeit gekommen sei, wo er offen mit ihr zu reden und die Redeblumen für eine bessere Gelegenheit zu sparen hätte.

—— Wenn Sie die Frage stellen, muß ich sie beantworten, erwiderte er. Ja, ich finde Sie verändert.

Sie rupfte wieder einen Grasbüschel aus.

—— Sie werden hoffentlich den Grund errathen? fragte sie.

Der Hauptmann hütete sich wohlwe1slich, zu sprechen. Er antwortete nur mit einer Verbeugung.

—— Ich habe alle Rücksicht auf mich selbst verloren, fuhr sie fort und riß rasch und immer rascher an den Grasbüscheln. Wenn ich Ihnen nur so viel sage, heißt das vielleicht nicht viel; aber es mag Ihnen dazu verhelfen, mich zu verstehen. Es giebt Dinge, welche ich zu einer gewissen Zeit nimmermehr gethan hätte, und hätte es mir das Leben gekostet, Dinge, an die nur zu denken mich schaudern gemacht hätte. Jetzt kümmert es mich nicht, ob ich sie thue oder nicht. Ich bin mir selbst Nichts mehr, ich habe für mich selbst nicht mehr Interesse, als für diese Hand voll Gras. Ich werde wohl Etwas eingebüßt haben was ist es? Das Herz? Das Gewissen? Ich weiß es nicht. Wissen Sie es? Welchen Unsinn spreche ich da! Wen geht es an, was ich verloren habe? Es ist vorbei damit, und dadurch ist es auch aus. Ich glaube, mein Aeußeres ist noch mein Bestes, und das bleibt mir um jeden Preis. Ich habe mein gutes Aussehen nicht verloren, nicht wahr? Richtig, richtig! Brauchen mir nicht zu antworten, sich nicht anzustrengen, mir Höflichkeiten zu sagen. Ich bin ja heute Gegenstand der Bewunderung gewesen. Zuerst für den Seemann und dann für Mr. Noël Vanstone —— wahrlich genug für die Eitelkeit jedes weiblichen Wesens. Habe ich ein Recht, mich ein Weib zu nennen? Vielleicht nicht, ich bin noch ein Kind, das die Zähne bekommt. Ach weh mir, ich fühle, als wenn ich in den Vierzigen wäre!

Sie streute die letzten Grashalme in die Lüfte, wandte dann dem Hauptmanne den Rücken zu und ließ ihr Haupt sinken, bis ihre Wangen die Rasenbank berührten.

—— Sie fühlt sich so sanft und lieb an, sagte sie, indem sie sich anschmiegte, mit einer verzweifelten Zärtlichkeit, die schrecklich anzusehen war. Sie wirft mich nicht von sich. O Mutter Erde, Du einzige Mutter, die mir übrig blieb!

Hauptmann Wragge schaute sie an in sprachlosem Erstaunen. Die Erfahrungen über das Menschenherz, die er besaß, waren nicht im Stande, die Tiefe der entsetzlichen Selbsterniedrigung zu ermessen, welche in jenen ungestümen Worten sich Luft gemacht hatte, Worte, welche sie nun schnell zu noch ungestümeren Thaten hintrieben.

—— Verteufelt wunderlich! dachte er bei sich und wurde unruhig. Hat der Verlust ihres Geliebten ihr den Verstand geraubt?

Er bedachte sich noch eine Weile, und dann redete er sie an.

—— Lassen sie Das bis morgen, schlug der Hauptmann Vertraulich vor. Sie sind heute Abend ein wenig abgespannt. Keine Uebereilung, mein theures Kind, keine Uebereilung!

Sie erhob ihr Haupt den Augenblick wieder und sah sich um mit derselben gereizten Entschlossenheit, mit derselben verzweifelten Selbstverachtung, welche er auf ihrem Gesicht an dem denkwürdigen Tage zu York gesehen hatte, wo sie zum ersten Male vor ihm Komödie spielte.

—— Ich kam hierher, um Ihnen zu sagen, was ich im Sinne habe; sprechen Sie, und ich will es sagen!

Sie setzte sich wieder aufrecht auf den Abhang und sah, indem sie ihre Knie umklammern, unverwandt und gerade vor sich in die langsam sich verdunkelnde Landschaft hinaus.

In jener seltsamen Stellung blieb sie, bis sie sich gefaßt hatte, dann redete sie den Hauptmann folgendermaßen an, ohne den Kopf zu wenden, um sich nach ihm umzusehen:

—— Als wir Beide uns zum ersten Male begegneten, begann sie in abgerissenen Tönen, bemühte ich mich mit aller Macht, meine Gedanken zu verbergen. Ich weiß seit dieser Zeit genug, um zu sehen, wie ich mich vergeblich bemühte. Als ich Ihnen zu York zum ersten Male sagte, daß Michael Vanstone uns zu Grunde gerichtet habe, ahnten Sie, glaube ich, selbst, daß ich zugleich entschlossen war, Dies nicht zu ertragen. Ob Sie es wirklich ahnten, ob nicht —— es ist so. Ich verließ meine Freunde mit jenem Entschlusse in der Seele, und ich fühle ihn jetzt stärker, zehn Mal stärker als je in mir aufleben.

—— Zehn Mal stärker als je, wiederholte der Hauptmann. Ganz richtig, die natürliche Folge der Festigkeit des Charakters.

—— Nein. Die natürliche Folge davon, daß ich an nichts Anderes mehr zu denken habe. Ich hatte allerdings ein Mal noch an etwas Anderes zu denken, bevor Sie mich auf der Vauxhallpromenade erkrankt fanden. Jetzt habe ich an nichts Anderes zu denken. Vergessen Sie das nicht, damit Sie es wissen, wenn Sie mich mein Lied in Zukunft immer auf derselben Saite spielen hören. Zuerst eine Frage. Ahnten Sie, was ich zu thun vorhatte, an jenem Morgen, wo Sie mir die Zeitung zeigten und als ich die Nachricht von Michael Vanstones Tod las?

—— Im Allgemeinen, versetzte Hauptmann Wragge, ahnte ich so Etwas, im Allgemeinen, daß Sie vorhätten, Ihre Hand in seinen Beutel zu stecken und wie es ganz in der Ordnung wäre —— sich daraus zu nehmen, was Ihr Eigenthum wäre. Ich fühlte mich damals tief verletzt dadurch, daß Sie mir nicht erlaubten, Ihnen Beistand zu leisten. Warum ist sie so zurückhaltend gegen mich, dachte ich bei mir selbst; warum ist sie so ohne allen Grund zurückhaltend?

—— Sie sollen sich von jetzt an nicht mehr über Zurückhaltung zu beklagen haben, fuhr Magdalene fort. Ich sage es Ihnen offen, wenn die Ereignisse nicht so gekommen wären, wie sie gekommen sind, so würden Sie mir allerdings Beistand geleistet haben. Wenn Michael Vanstone nicht gestorben wäre, so würde ich nach Brighton gegangen sein und unter einem angenommenen Namen sicher meinen Weg, um mit ihm bekannt zu werden, gefunden haben. Ich hatte Geld genug bei mir, um einige Monate mit Ihnen recht anständig leben zu können. Ich würde diese Zeit angewandt, ich würde, wenn nöthig, ein ganzes Jahr gewartet haben, um Mrs. Lecounts Einfluß auf ihn zunichte zu machen, und ich würde endlich diesen Einfluß auf meine Art in meine Hände bekommen haben. Ich hatte den Vortheil des Alters voraus, den Vortheil der Neuheit, den Vortheil unentwegbarer Verzweiflung für mich, und ich würde gesiegt haben. Ehe das Iahr zu Ende gewesen, ehe das Halbjahr verflossen wäre, würden Sie Mrs. Lecount von ihrem Herrn entlassen gesehen haben, würden Sie erlebt haben, wie ich ins Haus aufgenommen worden wäre an ihrer Stelle, als Michael Vanstones angenommene Tochter, als die treue Freundin, welche ihn in seinen alten Tagen Vor einer Abenteuerin bewahrt hätte. Es haben Mädchen, die auch nicht älter waren als ich, anscheinend eben so verwegene Täuschungen versucht und sie bis zuletzt durchgeführt. Ich hatte meine Geschichte in Bereitschaft, hatte alle meine Pläne wohl erwogen; ich wollte auf meine Art die schwache Seite des alten Mannes angreifen, welche Mrs. Lecount schon vor mir für ihre Angriffe ausfindig gemacht hatte —— und ich sage Ihnen nochmals, ich würde meinen Zweck erreicht haben.

—— Ich denke Das auch, sagte der Hauptmann. Und wie weiter?

—— Mr. Michael Vanstone würde dann seinen Geschäftsführer gewechselt haben. Sie würden dessen Stelle eingenommen haben, und jene kühnen Speculationen, denen er sich so leidenschaftlich hingab, würden ihn um das Vermögen gebracht haben, das er erst meiner Schwester und mir geraubt hatte. Bis aus den letzten Heller, Hauptmann Wragge, so gewiß als Sie hier sitzen, bis auf den letzten Heller! Eine kühne Verschwörung, eine gewaltige Umgarnung, nicht wahr? Das kümmert mich wenig! Jede Verschwörung, jede Täuschung ist vor meinem Gewissen gerechtfertigt durch das elende Gesetz, das uns schutzlos gelassen hat. Sie sprachen eben noch von meiner Zurückhaltung. Habe ich die endlich abgeworfen? Habe ich mich endlich in der elften Stunde ausgesprochen?

Der Hauptmann legte seine Hand feierlich aufs Herz und ließ abermals einen seiner breitesten Redeergüsse los.

—— Sie erfüllen mein Herz mit unnützem Bedauern, sagte er. Wenn der Mann gelebt hätte, welch eine Ernte würde ich da von ihm gezogen haben! Welche ungeheuren Geschäfte in der »moralischen Landwirthschaft« würden mir da vergönnt gewesen sein als moderner Industrieritter hier zu machen! »Ars longa« sagte Hauptmann Wragge, mit Pathos einen gelehrten Anlauf nehmend, »vita brevis!« [Lang ist die Kunst, kurz das Leben. W.]. Lassen Sie uns eine Thräne weinen über die verpaßte Gelegenheit in der Vergangenheit und versuchen, was für Trost die Gegenwart uns bieten kann. Eine Folgerung steht mir klar Vor der Seele. Der Versuch, den Sie mit Mr. Michael Vanstone machen wollten, ist ganz ohne Aussicht, mein gutes Kind, in der Anwendung auf dessen Sohn. Sein Sohn ist unzugänglich für alle und jede Form der Verlockung mit Geld. Sie können sich auf mein heiliges Wort verlassen, fuhr der Hauptmann in der Erinnerung an die Antwort auf seine Anzeige in der »Times« zornig fort, wenn ich Ihnen mittheile, daß Mr. Noël Vanstone gerade heraus gesagt die gemeinste Geldseele der Christenheit ist.

—— Ich kann mich auf meine eigene Erfahrung eben so gut verlassen, sagte Magdalene; ich habe ihn gesehen und mit ihm gesprochen, ich kenne ihn besser als Sie. Noch eine Enthüllung, Hauptmann Wragge, für Sie ganz besonders! Ich schickte Ihnen gewisse Kleidungsstücke zurück, nachdem sie den Dienst geleistet, um deswillen ich sie nach London mitgenommen hatte. Mein Vorhaben war, mir verkleidet Zutritt zu Noël Vanstone zu verschaffen und mit eigenen Augen Mrs. Lecount und ihren Herrn anzusehen. Ich habe meinen Zweck erreicht und sage Ihnen noch ein Mal, ich kenne die beiden Leute in dem Hause drüben, mit denen ich zu thun hatte, besser als Sie.

Hauptmann Wragge drückte das höchliche Erstaunen aus und that die unschuldigen Fragen, welche ungefähr der Gemüthsverfassung einer völlig überraschten Person entsprachen.

—— Gut, begann er, als Magdalene ihm kurz geantwortet hatte, und welches ist der Eindruck auf Ihr Gemüth? Es muß doch ein Eindruck erfolgt sein, sonst wären wir nicht hier. Sie wissen Ihren Weg? Beiläufig, liebes Kind, wissen Sie wirklich Ihren Weg?

—— Ja, versetzte sie rasch; ich weiß meinen Weg.

Der Hauptmann rückte ein wenig näher an sie heran mit gespannter Neugier in jedem Zuge seines Vagabundengesichts.

—— Fahren Sie fort, flüsterte er mit ersichtlicher Spannung. Ich bitte Sie, fahren sie fort.

Sie schaute gedankenvoll in die sie umhüllende Finsterniß, ohne zu antworten, ohne dem Anscheine nach ihn gehört zu haben. Ihre Lippen schlossen sich fest zusammen, und ihre geschlungenen Hände klammerten sich unwillkürlich fester um ihre Sehne.

—— Die Thatsache läßt sich nun einmal nicht hinwegleugnen, sagte Hauptmann Wragge, indem er sie vorsichtig zum Sprechen reizen wollte, ——— der Sohn ist schwieriger zu behandeln, denn der Vater . . .

—— Nicht aus meine Art und Weise, unterbrach sie ihn plötzlich.

—— Wirklich? meinte der Hauptmann. Gut! Man sagt, es giebt einen nächsten Weg für jedes Ding, wenn wir nur lange genug suchen, ihn zu finden. Sie haben, glaube ich, lange genug gesucht, und die natürliche Folge davon ergiebt sich von selbst —— Sie haben ihn gefunden.

—— Ich habe mir keine Mühe gegeben, ihn zu suchen; ich habe ihn, ohne zu suchen, gefunden.

— Da haben Sie ja den Trumpf getroffen! schrie Hauptmann Wragge in großer Verwirrung. Liebes Kind, führt mich denn meine Ansicht von Ihrer gegenwärtigen Lage aber auch immer und ewig auf den Holzweg? Wenn ich recht verstehe, so ist da Mr. Noël Vanstone im Besitze von Ihrem und Ihrer Schwester Vermögen, wie sein Vater —— und ist entschlossen, es festzuhalten, gerade wie sein Vater?

—— Allerdings.

—— Und da sind Sie vollständig außer Stande, es durch gute Worte zu bekommen; vollständig außer Stande, es auf dem gerichtlichen Wege zu erhalten, —— und Sie wären wirklich ihm gegenüber eben so fest entschlossen, als Sie seinem Vater gegenüber waren, es wider seinen Willen durch List zu gewinnen?

—— Eben so fest entschlossen? Nicht um des Geldes wegen, wohl zu bemerken! Um des Rechtes wegen.

—— Gut also. Und die Mittel, um zu diesem Ihren Rechte zu gelangen, welche bei dem Vater, der nicht ein Geizhals war, schwierig waren, wären bei dem Sohne, welcher allerdings ein solcher ist, leicht für Sie?

—— Aeußerst leicht.

—— Geben Sie mir es schriftlich, daß ich ein Esel bin, zum ersten Male! schrie des Hauptmann, dem die Geduld riß. Lassen Sie mich hängen, wenn ich weiß, was Sie wollen!

Sie sah sich nach ihm zum ersten Male wieder um und blickte ihm gerade und fest ins Angesicht.

—— Ich will Ihnen sagen, was ich vorhabe, sprach sie. Ich habe vor, ihn zu heirathen ——.

Hauptmann Wragge fuhr in die Höhe und blieb versteinert vor Erstaunen stehen.

—— Merken Sie auf, was ich Ihnen sagte, sprach Magdalene, indem sie wieder wegsah. Ich habe alle Rücksicht auf mich selbst verloren. Ich habe jetzt nur noch einen Zweck im Leben, und je eher ich denselben erreiche und —— sterbe, desto besser. Wenn . . .

Sie hielt inne, änderte ihre Stellung ein wenig und deutete mit der einen Hand auf den schnell abfließenden Strom unterhalb ihrer Füße, welcher düster in dem dunkelnden Zwielicht schimmerte.

—— Wenn ich noch gewesen wäre, was ich einstens war, so würde ich mich in jenen Fluß gestürzt haben, ehe ich gethan hätte, was ich jetzt zu thun vorhabe. Wie es jetzt steht, kümmert es mich nicht mehr; ich plage meine Seele nicht mehr mit Bedenklichkeiten. Der nächste Weg, der schlimme Weg liegt vor mir. Den schlage ich ein, Hauptmann Wragge, und heirathe ihn.

—— und wollen Ihn gänzlich in Unwissenheit erhalten, wer Sie sind? sagte der Hauptmann, erhob sich langsam auf die Füße und wandte sich langsam um, ihr ins Gesicht zu sehen. Wollen ihn heirathen als meine Nichte —— Miss Bygrave?

—— Als Ihre Nichte, Miss Bygrave.

—— Und nach der Vermählung ——?

Seine Stimme zitterte, als er die Frage begann, und er ließ sie unvollendet.

—— Nach der Vermählung, sagte sie, brauche ich Ihren Beistand nicht mehr.

Der Hauptmann verneigte sich, als sie ihm jene Antwort gab, sah sie scharf an und fuhr dann plötzlich zurück, ohne ein Wort vorbringen zu können. Er ging einige Schritte hinweg und setzte sich dann mürrisch aufs Gras nieder. Wenn Magdalene sein Gesicht gesehen hätte bei dem schwindenden Lichte, so würde sie dasselbe betroffen gemacht haben; Zum ersten Male vielleicht seit seiner Knabenzeit hatte Hauptmann Wragge die Farbe gewechselt. Er war todtenbleich.

—— Haben Sie mir Nichts zu sagen? fragte sie. Vielleicht warten Sie darauf, zu hören, welche Bedingungen ich Ihnen zu bieten habe? Meine Bedingungen sind folgende: Ich zahle alle Auslagen hier und, wenn wir uns trennen, am Tage der Vermählung, erhalten Sie eine Abschiedsschenkung von zweihundert Pfund mit auf den Weg. Versprechen Sie mir Ihren Beistand unter diesen Bedingungen?

—— Was soll ich dabei thun? fragte er mit einem verstohlenen Blicke auf sie und einem plötzlichen Mißtrauen in seiner Stimme.

—— Sie sollen meinen und Ihren angenommenen Charakter bewahren, antwortete sie, und müssen alle Nachforschungen von Mrs. Lecount nach meinem wirklichen Namen vereiteln. Mehr verlange ich nicht. Für das Uebrige bin ich verantwortlich, nicht Sie.

—— Ich habe also Nichts zu schaffen mit Dem, was vorfällt —— zu irgend einer Zeit oder an einem Orte, nach der Vermählung?

—— Nicht das Geringste.

—— Ich kann Sie an der Kirchthüre verlassen, wenn mirs beliebt?

—— An der Kirchthüre mit Ihrem Solde in der Tasche.

—— Bezahlt von dem Gelde, das Sie selbst besitzen?

—— Natürlich; womit sollte ich sonst bezahlen?

Hauptmann Wragge nahm seinen Hut ab und fuhr sich mit dem Taschentuche übers Gesicht mit erheiterter Miene.

—— Geben Sie mir einen Augenblick Zeit zur Ueberlegung, sagte er.

—— So lange Sie wollen, versetzte sie, indem sie auf der Bank in ihre frühere Stellung zurücksank und zu ihrer früheren Beschäftigung zurückkehrte: wieder Grasbüschel herauszog und in die Luft warf.

Die Betrachtungen des Hauptmanns waren keineswegs dadurch verwickelt, daß sie von der Erwägung seiner eigenen Lage unnöthig abgeschweift wären zur Erwägung der Lage Magdalenens. Ganz unfähig, das ihr durch Franks ehrlosen Wortbruch widerfahrene Unrecht zu würdigen, —— ein Unrecht, das ihr mit einem einzigen herben Schlage die Hoffnung geraubt hatte, welche, obschon nur ein schöner Wahn, doch die treibende Kraft ihres Lebens gewesen war, —— nahm der Hauptmann die einfache Thatsache ihrer Verzweiflung gerade so hin, wie er sie fand, und sah dann geraden Wegs auf die Folgen des Vorschlags hin, den sie ihm gemacht hatte.

In der Aussicht vor der Verheirathung sah er weiter nichts Verfängliches, als die Ausführung einer Täuschung welche in nicht erheblicher Weise, es sei denn etwa in Absicht des dadurch erreichten Zweckes, verschieden war von den Täuschungen, welche sein Vagabundenleben ihn schon längst auszudenken und auszuführen gewöhnt hatte. In der Aussicht nach der Verheirathung entdeckte er durch das unheilverkündende Dunkel der Zukunft in düsteren Umrissen die lauernden Schreckbilden Entsetzen und Verbrechen, und dahinter die schwarzen Abgründe: Untergang und Tod. Ein Mann von unbegrenzter Kühnheit und Gewandtheit in seinem geringen, beschränkten Kreise, war der Hauptmann über diesen Kreis hinaus eben so demüthig und unterwürfig gegen die Majestät des Gesetzes, als der harmloseste Staatsbürger auf Erden, so vorsichtig betreffs seiner eigenen persönlichen Sicherheit, als der ausgemachteste Feigling, den je die Sonne beschien. Aber eine ernste Frage erfüllte jetzt sein Gemüth. Konnte er unter den ihm gebotenen Bedingungen an dem gegen Noël Vanstone angesponnenen Anschlage bis zu dem Punkte der Vollziehung der Ehe Theilnehmen und sich dann davon machen, ohne Gefahr, sich in die Folgen zu verwickeln, welche, wie seine Erfahrung ihm lehrte, sich daraus mit Gewißheit ergeben mußten?

So seltsam es auch klingen mag, sein Entschluß bei diesem Schritte wurde hauptsächlich durch keine geringere Person denn Mr. Noël Vanstone selbst beeinflußt. Der Hauptmann hätte vielleicht dem Gelderbieten widerstanden, das Magdalene ihm that; denn der Gewinn der »Unterhaltung« hatte seine Taschen mit dem mehr denn dreifachen Betrage der zweihundert Pfund gefüllt. Aber die Aussicht, im Finstern dem Manne einen Schlag zu versetzen, der seine Mittheilung und ihn selbst im Werthe einer Fünfpfundnote geschätzt hatte, erwies sich stärker als seine Vorsicht und seine Selbstbeherrschung.

Auf dem kleinen neutralen Boden der Selbstabschätzung sind die besten und die schlechtesten Männer einander gleich. Hauptmann Wragges Unwillen, als er die Antwort auf seine Mittheilung sah, wurde nicht etwa gemildert durch einen Rückblick auf seine eigene Führung. Er war so tödtlich verletzt, so gründlich aufgeregt, als wenn er ein ganz ehrenwerthes Anerbieten gemacht und nun zum Dank eine persönliche Beleidigung dafür erhalten hätte. Er war von diesem Groll zu sehr erfüllt gewesen, als daß er ihn aus seinem ersten Briefe an Magdalene hätte weglassen können. Er hatte sich bei jeder folgenden Gelegenheit, wenn Noël Vanstones Name genannt worden war, mehr oder weniger vergessen. Und jetzt bei der endlichen Entscheidung über den Weg, den er einschlagen sollte, stand das Motiv des Geldgewinnes —— man sagt damit nicht zu viel —— zum ersten Male in seinem Leben in zweiter Linie, und das Motiv der Bosheit trug den Sieg davon.

—— Ich nehme die Bedingungen an, sagte Hauptmann Wragge, indem er sich flink auf seine Beine erhob, unterwerfe mich auch natürlich den zwischen uns vereinbarten Verabredungen. Wir trennen uns am Hochzeitstage. Ich frage nicht, wohin Sie gehen, Sie fragen nicht, wohin ich gehe. Von jener Zeit an sind wir geschiedene Leute.

Magdalene erhob sich langsam von dem Rasenabhange. Eine verzweiflungsvolle Niedergeschlagenheit, eine trübe Verzagtheit zeigte sich in Blick und Wesen. Sie wies die dargebotene Hand des Hauptmanns zurück, und ihre Stimme, als Sie ihm antwortete, war so leise, daß er sie kaum verstehen konnte.

—— Wir sind einverstanden, sagte sie; —— und nun können wir zurückgehen. Sie können; mich morgen Mrs. Lecount vorstellen.

—— Ich muß erst noch einige Fragen thun, sagte der Hauptmann mit wichtiger Miene. Es sind mehr Gefahren in dieser Angelegenheit zu bestehen und mehr Fallstricke auf unserm Wege, als Sie zu vermuthen scheinen. Ich muß die ganze Geschichte Ihres Frühbesuches bei Mrs. Lecount wissen, bevor ich Sie und jene Frau mit einander ins Gespräch bringen kann.

—— Warten Sie bis morgen, brach sie ungeduldig heraus. Machen Sie mich heute Abend nicht toll durch Fragen darüber.

Der Hauptmann sagte Nichts weiter. Sie kehrten nach Aldborough um und gingen langsam heim.

Während der Zeit, daß sie die Häuser erreichten, hatte die Nacht sie überrascht. Weder Mond noch Sterne waren sichtbar. Eine schwache geräuschlose Brise, die vom Lande her wehte, hatte sich mit einbrechender Dunkelheit erhoben. Magdalene hielt auf der, einsamen Promenade inne, Um die Luft freier einzuathmen. Nach einiger Zeit wandte sie ihr Gesicht von der Brise weg und schaute nach dem Meere hinüber. Das unermeßliche Schweigen der ruhigen Gewässer, welche sich in der schwarzen Leere der Nacht verloren, war, erhaben. Sie stand» still und blickte in das Dunkel, als wenn seine Geheimnisse für sie erschlossen wären; sie ging langsam darauf zu, als wenn sie durch Unsichtbare Mächte hineingezogen würde.

—— Ich gehe ein Mal zur See hinunter, sagte sie zu ihrem Gefährten. Warten Sie hier, ich werde zurückkommen.

Er verlor sie in einem Augenblicke aus dem Gesichte; es war, als ob die Nacht sie verschlungen hätte. Er lauschte, zählte ihre Schritte nach dem Rascheln derselben auf dem Steingerölle in der tiefen Stille. Sie entfernten sich langsam weiter und weiter hinaus in die Nacht. Plötzlich hörte der Klang derselben auf. Ruhte sie jetzt auf ihrem Wege aus, oder hatte sie einen der Sandstreifen erreicht, welche von der Ebbe unbedeckt gelassen waren?

Er wartete und lauschte ängstlich. Die Zeit verging, und kein Ton drang zu ihm her. Er lauschte mit wachsendem Mißtrauen wegen der Finsterniß. Einen Augenblick später, und es kam ein Ton von dem unsichtbaren Ufer herauf. Schwach und fern von dem Gestade drunten schallte ein langer Schrei klagend durch die Stille. Dann war Alles wieder still.

In plötzlicher Unruhe schritt er vorwärts, um zu dem Ufer hinabzusteigen und sie zu holen. Ehe er über den Weg gehen konnte, drangen plötzlich eilende Schritte an sein Ohr. Er wartete einen Augenblick —— da ging plötzlich die Gestalt eines Mannes rasch des Weges entlang zwischen ihm und der See. Es war zu dunkel, um etwas vom Gesichte des Fremden zu schauen, es war nur möglich, zu erkennen, daß es ein großer Mann war, so groß wie jener Seemann von der Handelsflotte, dessen Name Kirke war.

Die Gestalt ging nordwärts und war augenblicklich dem Gesichte entschwunden. Hauptmann Wragge ging über den Weg, that einige Schritte das Gestade hinunter, blieb stehen und lauschte wieder. Das Geräusch von Schritten auf den Steinen traf abermals sein Ohr. —— Langsam wie der Ton ihn verlassen hatte, kam derselbe auch wieder zurück. Er rief, um sie zu sich zu lenken. Sie kam heran, bis er sie erkennen konnte —— ein Schatten, der den steinigen Hang hinanstieg und in der Dunkelheit der Nacht riesig wuchs.

—— Sie machen mir Angst, flüsterte er mit bewegter Stimme; ich fürchtete schon, es wäre Ihnen ein Leid zugegoßen. Ich hörte Sie aufschreien, als wenn Sie Schmerzen hätten.

—— Wirklich? sagte sie gleichgültig. Ich hatte allerdings Schmerzen. Es thut Nichts, — es ist nun vorüber.

Ihre Hand schwenkte Etwas hin und her, als sie mit ihm sprach. Es war das kleine seidene Täschchen, welches sie immer bis zu dieser Zeit auf ihrem Busen verborgen getragen hatte. Eine von den in ihm enthaltenen Reliquien, die Reliquie, von welcher sie vorher nicht den Muth gehabt hatte, sich zu trennen, war daraus für immer fort. Einsam an einem fremden Gestade hatte sie von sich gerissen das geliebteste ihrer Mädchenangedenken, die theuerste ihrer jungfräulichen Hoffnungen. Allein an einem fremden Gestade hatte sie die Locken von Franks Haar von ihrem einst so heiligen Platze genommen und hatte sie von sich geschleudert, hinaus in die See und das Dunkel! ——



Kapiteltrenner

Zweites Capitel.

Der lange Mann, welcher an Hauptmann Wragge in der Dunkelheit vorübergegangen war, schritt eilig auf der Promenade fürbaß, schwenkte über einen kleinen wüsten Platz weg und trat in das offene Thor des Hotel von Aldborough. Das Licht im Hausgange, welches, als er hindurch schritt, voll auf ihn fiel, erwies die Richtigkeit von Hauptmann Wragges Vermuthung und zeigte, daß der Fremde Mr. Kirke, der Kauffahrer war.

Als Kirke dem Wirthe in dem Gange begegnete, nickte er ihm mit der Vertraulichkeit eines alten Bekannten zu.

—— Haben Sie das Blatt erhalten? fragte er; ich möchte ein Mal die Fremdenliste nachsehen.

—— Ich habe es auf meiner Stube, Sir, sagte der Wirth, indem er in ein Wohnzimmer im hinteren Theile des Hauses vorausging.

—— Sie denken wohl, es seien vielleicht ein paar Freunde von Ihnen mit hier?

Ohne zu antworten, machte sich der Seemann über die Liste, sobald ihm die Zeitung behändigt war, und fuhr, Name für Name durchgehend, mit dem Finger darauf hinunter. Der Finger hielt plötzlich an bei der Zeile:

VILLA AMSEE: MR. NOËL VANSTONE.

Kirke, der Kauffahrer, wiederholte den Namen vor sich hin und legte das Blatt in Gedanken bei Seite.

—— Haben Sie jemanden Bekanntes gefunden, Capitän? fragte der Wirth.

—— Ich habe allerdings einen bekannten Namen gefunden, einen Namen, von dem mein Vater seiner Zeit oft gesprochen hat. Ist dieser Vanstone mit Familie hier? Wissen Sie, o eine junge Dame im Hause ist?

—— Ich kann es nicht sagen, Capitän Meine Frau wird gleich kommen, sie weiß es sicherlich genau. Es ist wohl geraume Zeit her, daß Ihr Vater diesen Mr. Vanstone kannte?

—— Allerdings geraume Zeit. Mein Vater kannte einen Subalternoffizier dieses Namens, als er mit seinem Regiment in Canada stand. Es wäre doch eigenthümlich, wenn dies derselbe Mann und wenn jene junge Dame seine Tochter wäre.

—— Nehmen Sie mirs nicht übel, Capitän —— aber die junge Dame scheint Ihnen ein wenig am Herzen zu liegen, sagte der Wirth mit gefälligem Lächeln.

Mr. Kirke sah nicht aus, als wenn ihm die Form, in welcher sich die gute Laune seines Gastgebers aussprach, sonderlich behagte. Er kam plötzlich und ohne Uebergang auf den jungen Subalternoffizier und das Regiment in Canada zurück.

—— Die Geschichte des armen Kerls war so kläglich, als ich nur je eine gehört hatte, sagte er, indem er dabei unwillkürlich wieder aus die Liste sah.

—— Würde es Ihnen möglich und genehm sein, dieselbe zu erzählen, Sir? fragte der Wirth. Kläglich oder nicht, eine Geschichte ist eine Geschichte, wenn Sie nur wissen, daß sie wahr ist.

Mr. Kirke zögerte.

—— Ich glaube kaum, daß ich recht daran thue, sie zu erzählen, sagte er. Wenn dieser Mann oder irgend welche Verwandte von ihm noch am Leben sind, so ist dies nicht gerade eine Geschichte, die sie gern Fremden mitgetheilt wissen möchten. Alles, was ich Ihnen erzählen kann, ist, daß mein Vater unter entsetzlichen Umständen der Rettungsengel jenes jungen Offiziers wurde. Sie verließen einander in Canada. Mein Vater blieb bei seinem Regiment der junge Offizier verkaufte sein Patent und kehrte nach England zurück, und von diesem Augenblicke an verloren sie sich beide aus dem Gesicht. Es wäre doch sonderbar, wenn dieser Vanstone hier eine und dieselbe Person wäre. Es wäre doch sonderbar . . .

Er unterbrach sich plötzlich selbst, als ob abermals eine Anspielung auf »die junge Dame« hätte über seine Lippen gehen sollen. In demselben Augenblicke trat die Frau des Wirthes herein, und Mr. Kirke richtete sofort seine Fragen an die höhere Instanz des Hauses.

—— Wissen Sie Etwas von diesem Mr. Vanstone, der hier unten auf der Fremdenliste steht? frug der Seemann. Ist er ein alter Mann?

—— Er ist eine elende kleine Figur, versetzte die Wirthin, aber er ist nicht alt, Capitän!

—— Dann ist er nicht der Mann, den ich meine. Vielleicht ist er des Mannes Sohn? Hat er ein paar Damen bei sich?

Die Wirthin schüttelte den Kopf und warf die Lippen mit Verachtung auf.

—— Er hat eine Haushälterin bei sich, sprach sie, eine Person, schon in den Jahren, aber nicht von der Art, die ich mag. Ich muß wohl sagen, daß ich vielleicht Unrecht habe, aber ich kann ein Mal ein geputztes Frauenzimmer in ihrem Alter nicht ersehen.

Bei dieser Beschreibung fing Mr. Kirke an irre zu werden; man sah es ihm an.

—— Ich muß mich in dem Hause geirrt haben, sagte er. Es ist doch ein achteckig zugeschnittener Rasenplatz vor Villa Amsee, und mitten auf dem Kieswege steht ein weiß angestrichener Flaggenstock.

—— Das ist ja nicht Villa Amsee, Sir! das ist Nordstein-Villa, von der Sie sprechen, Mr. Bygraves Wohnung.

Seine Frau und seine Nichte kamen heute mit der Post an. Seine Frau ist so groß, daß man sie ausstellen könnte, und kleidet sich so schauderhaft, wie ich es in meinem Leben nur je gesehen habe. Allein Miss Bygrave, die ist das Besehen werth, wenn ich mich so ausdrücken darf. Sie ist das hübscheste Mädchen meines Erachtens, das wir seit langer Zeit in Aldborough gehabt haben. Ich möchte wissen, wer sie sind. Kennen Sie den Namen, Capitän?

—— Nein, sagte Mr. Kirke mit einem Schatten von Enttäuschung in seinem dunklen wettergebräunten Gesicht, ich hörte den Namen noch nie zuvor.

Nach dieser Antwort erhob er sich, um sich zu verabschieden. Der Wirth lud ihn vergeblich ein, ein Glas zum Abschied mit ihm zu trinken; die Wirthin nöthigte ihn vergeblich, doch noch zehn Minuten zu bleiben und eine Tasse Thee mit ihnen einzunehmen. Er antwortete nur, daß seine Schwester ihn erwarte und daß er sogleich auf die Pfarre müsse.

Als Kirke das Hotel verließ, richtete er sein Gesicht nach Westen und ging landeinwärts auf der Hochstraße, so schnell als die Dunkelheit es ihm gestattete.

—— Bygrave? dachte er bei sich selbst. Jetzt wo ich den Namen kenne, wie viel gescheidter bin ich nun? Wenn es Vanstone gewesen wäre, würde meines Vaters Sohn wohl Aussicht gehabt haben, mit ihr bekannt zu werden.

Er hielt an und sah in der Richtung von Aldborough zurück.

—— Was für ein Narr ich doch bin! brach er plötzlich heraus, indem er seinen Stock aus den Boden stampfte. Ich war am letzten Geburtstage vierzig!

Er wandte sich um und ging, das Haupt gesenkt, schneller denn zuvor seinen Weg vorwärts; seine von Entschlossenheit zeugenden Augen schienen forschend zu Lande in das Dunkel hinauszuschauen, gerade wie er es so lange Zeit an dem Deck seines Schiffes zur See gethan hatte.

Nach einer Wanderung von mehr als einer halben Stunde erreichte er ein Dorf mit einer kleinen Kirche und Pfarre, einfältiglich und heimisch hineingebaut in eine Mulde. Er trat in das Haus von der Hinterseite und fand seine Schwester, die Gattin des Geistlichen, allein im Sprechzimmer bei ihrer Arbeit sitzen.

—— Wo ist Dein Mann, Lieschen? frug er und nahm sich einen Stuhl in der Ecke.

—— Wilhelm ist ausgegangen, um eine Kranke zu besuchen. Er hatte, als er ging, fügte sie lächelnd hinzu, gerade noch Zeit genug mir von der jungen Dame zu erzählen, und er erklärt, er wolle sich mit Dir in Aldborough nicht eher wieder sehen lassen, bis Du ein gesetzter, verheiratheter Mann wärest.

Sie hielt inne und sah ihren Bruder aufmerksamer an, als sie bisher gethan hatte.

—— Robert! sagte sie, indem sie ihre Arbeit weglegte und plötzlich durch das Zimmer weg zu ihm ging. Robert, Du siehst verdrießlich aus, ja traurig. Wilhelm lachte nur über Eure Begegnung mit der jungen Dame. Ist es denn ernsthaft? Sage mirs, wie sieht sie aus?

Er wandte bei dieser Frage den Kopf weg.

Sie setzte sich auf ein Fußbänkchen zu seinen Füßen und schaute fortwährend zu ihm hinauf.

—— Ist es denn ernsthaft, Robert? wiederholte sie sanft.

Kirkes wettergebräuntes Gesicht war nicht an Verstellungen gewöhnt, es antwortete statt seines Mundes, bevor er ein Wort sprach.

—— Sag es aber Deinem Manne nicht, bis ich fort bin, begann er mit einer Derbheit, die seiner Schwester ganz neu an ihm war. Ich weiß, ich verdiene nur ausgelacht zu werden, aber es reißt mich trotz alledem herum.

—— Es reißt Dich herum? wiederholte sie mit Staunen.

—— Du kannst mich nicht für halb so närrisch halten, als ich mich selber halte, fuhr Kirke bitter Fort. Ein Mann meines Alters sollte sich doch besser darauf verstehen. Ich richtete meine Augen nicht länger denn eine Minute auf sie, und doch bin ich bis zu einbrechender Nacht an der Stelle geblieben, auf die Aussicht hin, ihrer wieder ansichtig zu werden, habe dort herumgelungert, wie ich es genannt haben würde, wenn ich Einen meiner Leute dabei betroffen hätte, was ich selber gethan habe. Ich glaube, ich bin behext. Sie ist noch ein Mädchen, Lieschen, —— ich glaube nicht einmal, daß sie nahe an die Zwanzig ist; bin alt genug, um ihr Vater sein zu können. Aber das ist Alles einerlei: sie bleibt mir im Sinn trotz meines Widerstrebens. Ich habe ihr Gesicht vor mir gehabt, und es hat mich angesehen mitten durch die dickste Finsterniß hindurch, und es sieht mich sogar jetzt noch an so deutlich, als ich Deines sehe, und noch deutlicher.

Er stand unruhig aus und begann in der Stube auf und ab zu gehen. Seine Schwester sah ihn mit eben so viel Erstaunen als Mitgefühl an. Von seiner Knabenzeit an war er Herr seiner selbst gewesen. Jahre lang später war er bei den über die Familie hereingebrochenen Wechselfällen des Glücks ihr Muster und ihre Stütze gewesen. Sie hatte von ihm gehört, wie er in den verzweifeltsten Augenblicken eines Lebens zur See da gestanden, wo Hunderte von seinen Nebenmenschen von seiner Selbstbeherrschung ihre Rettung aus dem Rachen des Todes verhofft und nicht vergebens verhofft hatten. Niemals in ihrem ganzen Leben hatte seine Schwester ihn das Gleichgewicht seiner ruhigen und ebenmäßigen Natur dergestalt verlieren sehen, als sie jetzt es sah.

—— Wie kannst Du nur so unvernünftig über Dein Alter und Dich selbst reden? fragte sie. Es giebt kein Weib unter der Sonne, Robert, das für Dich zu gut wäre. Wie ist ihr Name?

—— Bygrave Kennst Du ihn?

—— Nein. Allein ich möchte bald mit ihr bekannt werden. Wenn wir nur ein wenig Zeit dazu hätten, wenn ich nur nach Aldborough gehen und sie sehen könnte . . . aber Du willst ja morgen fort; Dein Schiff segelt Ende der Woche ab.

—— Gott sei Dank! sagte Kirke mit Innbrunst.

—— Bist Du froh, fortzukommen? frug sie in immer größeres Erstaunen gerathend.

—— Sehr froh, Lieschen, um meinetwillen. Wenn ich je wieder vernünftig werden soll, so kann das nur geschehen, wenn ich erst wieder auf Deck meines Schiffes bin. Dies Mädchen ist bereits zwischen mich und meine Gedanken getreten: sie soll nicht noch weiter gehen und zwischen mich und meine Pflicht treten. Ich bin fest entschlossen. Ein so großer Narr ich auch bin, ich habe noch so viel Vernunft behalten, um mir nicht einmal zuzutrauen, bis morgen früh auf Sprachrohrentfernung von Aldborough zu bleiben. Ich kann noch ein zwanzig (englische) Meilen zu Fuße gehen, und ich will meinen Marsch noch heute Abend antreten.

Seine Schwester fuhr bei diesen Worten auf und faßte ihn hastig beim Arme.

—— Robert, rief sie aus, sprichst Du im Ernste? Du hast doch nicht vor, zu Fuße von uns fortzugehen, so ganz allein in der Finsternis?

—— Es ist ja bloß ein Abschied, meine Liebe, als letztes Wort beim Schlafengehen anstatt des ersten Worts beim Aufstehen, antwortete er lächelnd. Sieh zu, ob Du mir Das zugestehen kannst, Lieschen. Mein Leben brachte ich auf der See hin, und ich bin nicht gewohnt, mein Gemüth auf diese Weise in ewiger Aufregung zu wissen. Menschen die auf dem festen Lande leben, sind daran gewöhnt, solche Menschen können es leicht nehmen. Ich kanns nicht. Wenn ich hier anlegte, wäre es um meine Ruhe geschehen. Wenn ich bis morgen wartete, würde ich auch nur gehen, um sie noch einmal zu sehen. Ich brauche mich nicht noch mehr vor mir selber zu schämen, als ich es jetzt schon thue. Ich muß mich wieder hindurchringen zu meiner Pflicht und kämpfend mit meinen eigenen Gefühlen mich selber wieder finden, ohne mich damit aufzuhalten, zweimal darüber nachzudenken. Die Finsterniß verschlägt mir nichts —— ich bin an die Finsterniß gewöhnt. Ich habe nur die Landstraße fortzugehen und kann den Weg nicht verfehlen. Laß mich ziehen, Lieschen! Das einzige Liebchen, mit dem ich in meinem Alter noch Etwas zu schaffen habe, ist mein Schiff. Laß mich zu ihm zurückkehren!

Seine Schwester hielt noch immer seinen Arm fest und drang noch immer in ihn, doch bis morgen zu bleiben. Er hörte sie an mit vollkommener Ruhe und Milde, aber sie vermochte keinen Augenblick, ihn in seinem Entschlusse wankend zu machen.

—— Was soll ich denn zu Wilhelm sagen? bat sie. Was wird er denken, wenn er zurückkommt und Dich abgereist findet?

—— Sage ihm, daß ich den Rath befolgt habe, den er uns am Sonntage in seiner Predigt gegeben hat. Ich habe der Welt den Rücken gekehrt und dem Fleische und dem Teufel.

—— Wie kannst Du nur solche Reden führen, Robert! Und die Knaben sagten, Du versprachst nicht zu gehen, ohne den Knaben Lebewohl zu sagen.

—— Das ist auch wahr. Ich gab meinen kleinen Neffen ein Versprechen, und —— ich wills auch halten.

Er zog, als er dies sprach, seine Schuhe auf der Matte vor der Thüre aus.

—— Leuchte mir hinauf, Lieschen; ich will den beiden Jungen Lebewohl sagen, ohne sie aufzuwecken.

Sie sah, daß es nutzlos war, ihm länger zu widersprechen, und ging, indem sie das Licht nahm, ihm voran die Treppe hinauf.

Die Knaben —— Beides noch zarte Kinder —— schliefen bei einander in einem und demselben Bette. Der Jüngste war des Oheims Liebling und hatte auch den Namen von seinem Oheim. Er lag ruhig da und schlief, ein plumpes kleines Schiff zum Spielen fest im Arme haltend. Kirkes Augen wurden sanft, als er sich auf den Zehen an die Seite des Kindes schlich und den Knaben mit der Zärtlichkeit einer Frau küßte.

—— Armer Kleiner! sagte der Seemann mit weicher Stimme. Er liebt sein Schiffchen gerade so innig, als ich in seinem Alter. Ich will ihm ein besseres schnitzen, wenn ich zurückkomme. Willst Du mir eines Tages meinen Neffen geben, Lieschen, und einen Seemann aus ihm machen lassen?

—— Ach, Robert, wenn Du nur verheirathet und glücklich wärest, wie ich!

—— Die Zeit ist vorbei, meine Liebe. Ich muß die Sache so gut nehmen, wie sie ist, und mein kleiner Neffe da wird mir dazu verhelfen.

——Er verließ das Zimmer. Die Thränen kamen seiner Schwester aus den Augen gestürzt, als sie ihm in die Wohnstube folgte.

—— Es ist etwas so Verzweilfeltes und Entsetzliches in dieser Art, wie Du von uns Abschied nimmst, sagte sie. Soll ich morgen nach Aldborough gehen, Robert, und zusehen, ob ich um Deinetwillen mit ihr Bekanntschaft anknüpfen kann?

—— Nein, erwiderte er; laß sie gehen. Wenn es bestimmt ist, daß ich jenes Mädchen noch im Leben wiedersehen soll, so werde ich es sehen. Ueberlaß es der Zukunft, Du thust wohl daran.

Er zog seine Schuhe an und nahm seinen Hut und Stock.

—— Ich will mich nicht überlaufen, sagte er freundlich; wenn die Postkutsche mich auf der Straße nicht einholt, so kann ich sie an dem Orte, wo ich mein Frühstück abhalte, erwarten. Trockne Deine Tränen, meine Liebe, und gieb mir einen Kuß.

Sie sah ihrem Bruder in den Zügen und in der Farbe ihres Gesichts ähnlich; sie hatte aber auch Etwas von dem raschen Geiste ihres Bruders, sie wischte sich die Thränen ab und nahm tapfer und gefaßt Abschied von ihm.

—— In Jahresfrist werde ich zurückkommen, sagte Kirk, indem er unter der Hausthür wieder in seine alte Seemannsart verfiel; ich will Dir einen chinesischen Shawl mitbringen, Lieschen, dazu eine Kiste Thee für Deine Vorrathskammer. Mach, daß die Knaben mich nicht vergessen, und denke nicht, daß ich es böse meine, wenn ich Euch auf diese Weise verlasse. Ich weiß, daß ich wohl daran thue. Gott segne und behüte Dich, meine Liebe, und Deinen Mann und Deine Kinder! Leb wohl!

Er blieb stehen und küßte sie. Sie lief nach der Thür, um ihm nachzusehen. Ein Windstoß blies das Licht aus, und die schwarze Nacht nahm ihn augenblicklich in ihren Schooß auf.

Drei Tage später segelte daß Kauffahrteischiff erster Classe: »Befreiung«, Capitän: Kirke, von London nach den indischen Gewässern.



Kapiteltrenner

Drittes Capitel.

Der drohende Sturm und Witterungswechsel verzog sich mit dem Anbrechen des Tages. Als der Morgen über Aldborough heraufkam, thronte die Sonne herrlich am blauen Himmelszelte, und die Wogen kräuselten sich fröhlich unter der Sommerbrise.

Zu einer Stunde, wo noch keine anderen Badegäste auf den Beinen waren, erschien der unermüdliche Hauptmann Wragge in der Thür von Nordstein-Villa und richtete seine Schritte nach Norden, mit einem feingebundenen Exemplar von Joyces »Wissenschaftlichen Gesprächen« in der Hand. Als er auf dem leeren Platze über den Häusern draußen ankam, stieg er zum Ufer hinunter und schlug sein Buch auf. Die Unterredung in der vergangenen Nacht hatte ihm die Schwierigkeiten, welche sich ihm bei der bevorstehenden Unterredung in den Weg stellen würden, recht lebhaft vor die Seele geführt. Er war jetzt doppelt entschlossen, das eigenthümliche Kunststück zu versuchen, auf das er in seinem Briefe an Magdalene hingedeutet hatte, und demnach in dem Charakter eines äußerst gelehrten Mannes die ganze Aufmerksamkeit und Theilnahme der fürchterlichen Mrs. Lecount auf sich zu lenken.

Als der Hauptmann seinen vorgeschriebenen Satz an mundrecht gemachter Wissenschaft (um einen eigenen Ausdruck zu gebrauchen) verzehrt hatte, das erste Geschäft am frühen Morgen bei leerem Magen, kam er zur Frückstücksstunde wieder in seinen kleinen Familienkreis, angefüllt mit so viel Wissenschaft, als er für den Tag brauchte. Er bemerkte, daß Magdalenens Gesicht offene Zeichen einer schlaflosen Nacht an sich trug. Sie klagte nicht, ihr Benehmen war ruhig und gefaßt und sie ganz Herrin ihrer Stimmung. Mrs. Wragge —— erfrischt durch einen dreizehnstündigen ununterbrochenen Schlaf war vortrefflich bei Laune und hatte (wunderbar aber wahr) ihre Schuhe ganz richtig an. Sie brachte verschiedene große Bogen Musterpapier mit sich, welche ganz kraus in geheimnißvolle und vielgestaltige Formen zerschnitten waren und ihren Ehegatten sofort zu der kurzen und scharfen Frage veranlaßten:

—— Was hast Du da?

—— Musterschnitte, Hauptmann, sagte Mrs. Wragge in furchtsam beschwichtigendem Tone. Ich ging in London einkaufen und ließ mir ein orientalisches Kaschmirkleid zumessen. Es kostet schweres Geld, und ich will sehen, ob ich Etwas sparen kann, indem ich mir es selbst mache. Ich habe meine Musterschnitte und meine Anweisungen zum Schneidern, die wie gedruckt geschrieben sind. Ich werde sehr artig sein, Hauptmann; ich will mich in einer Ecke halten, wenn Du so gut sein willst, mir eine einzuräumen, und ob mein Kopf brummt oder nicht, ich will die ganze Zeit gerade über meiner Arbeit sitzen.

—— Du wirst Deine Arbeit machen, sagte der Hauptmann ernst und streng, wenn Du weißt, wer Du bist, wer ich bin und wer das junge Fräulein da ist, —— nicht eher. Zeig mir Deine Schuhe: Gut. Zeig mir Deine Haube: Gut. Mach das Frühstück zurecht.

Als das Frühstück vorüber war, erhielt Mrs. Wragge ihre gemessene Weisung, sich in ein anstoßendes Zimmer zurückzuziehen und dort zu warten, bis ihr Mann käme, um sie zu erlösen. Sobald sie den Rücken gewandt hatte, nahm Hauptmann Wragge sofort den Faden der Unterhaltung, welcher auf ausdrücklichen Wunsch Magdalenens die Nacht vorher abgerissen worden war, wieder auf. Die Fragen, die er jetzt an sie richtete, bezogen sich alle auf den Gegenstand ihres Besuchs in Verkleidung bei Noël Vanstone. Es waren die Fragen eines durchaus scharfsinnigen Mannes, kurz, forschend und ohne Umschweife auf die Hauptsache losgehend. In weniger denn einer halben Stunde Zeit hatte er sich denn auch mit jeder Einzelheit des Vorgangs auf der Vauxhallpromenade vertraut gemacht.

Die Schlüsse, welche der Hauptmann zog, nachdem er sich dergestalt unterrichtet hatte, waren klar und aus der Hand liegend.

Bezüglich der ungünstigen Seite der Frage drückte er seine Ueberzeugung aus, Mrs. Lecount habe gewiß entdeckt, daß ihr Gast verkleidet war, und selbige habe auch gar nicht das Zimmer wirklich verlassen, obgleich sie die Thür geöffnet und zugemacht hatte, und es habe daher bei beiden Gelegenheiten, wo Magdalene sich durch ihre eigene Stimme verrathen hatte, Mrs. Lecount sie gehört. Was die günstige Seite der Frage anlangte, so war er ganz wohl zufrieden damit, daß das gemalte Angesicht mit den Augenlidern, die Perrücke und der auswattirte Mantel so wirksam Magdalenens Identität verborgen hatten, dergestalt, daß sie nun in ihrer eigenen Person, was die äußere Erscheinung anlangte, der schärfsten Forscherblicke der Haushälterin spotten konnte. Die Schwierigkeit, Mrs. Lecounts Ohren eben so gut als ihre Augen zu täuschen, war —— das gab er gern zu —— allerdings nicht so leicht zu beseitigen. Allein in Erwägung der Thatsache, daß Magdalene bei beiden Gelegenheiten, wo sie sich selbst vergessen hatte, in der Aufwallung des Zorns gesprochen hatte, war er der Meinung, daß sie allen Grund hatte, vor der Entdeckung ihrer Stimme sicher zu sein, wenn sie nur fein sorgsam alle Gefühlsausbrüche in Zukunft unterließe und in jenen mehr ruhigen und gewöhnlichen Tönen spräche, welche Mrs. Lecount noch nicht gehört hätte. Alles zusammengenommen war der Hauptmann mithin geneigt, die Aussicht hoffnungsvoll zu bezeichnen, wenn nur ein ernstes Hinderniß im Anfange beseitigt würde —— und dies Hinderniß war nichts weniger und nichts mehr, als: die Anwesenheit von Mrs. Wragge auf dem Schauplatze der Handlung.

Zu Magdalenens Erstaunen hörte Hauptmann Wragge, als die Reihenfolge ihrer Erzählung sie zu der Geschichte mit dem Geiste brachte, mit der Miene eines Mannes zu, welcher durch das Gehörte eher unangenehm berührt, denn ergötzt wird. Als sie fertig war, sagte er ihr offen heraus, daß ihr unglückliches zusammentreffen an der Treppe des Hotel garni mit Mrs. Wragge seiner Meinung nach das ernsteste von all den Mißgeschicken sei, welche auf der Vauxhallpromenade sich zugetragen hätten.

—— Ich kann mit der Schwierigkeit, daß meine Frau so außerordentlich beschränkten Verstandes ist, recht wohl fertig werden, sagte er, wie ich denn auch schon oft damit fertig geworden bin. Ich kann ihr ihre neue Persönlichkeit in den Kopf hineintrommeln, aber jenen Geist heraustrommeln, das vermag ich nicht. Wir haben keine Bürgschaft dafür, daß ihr nicht die Frau in dem grauen Mantel und mit dem Schaufelhute gerade in der bedeutungsschwersten Zeit und unter den kitzlichsten Umständen wieder in den Sinn kommt. Deutsch heraus gesagt [In Plain Englisch.], liebes Mädchen: Mrs. Wragge ist eine Grube zu unserm Sturz bei jedem Schritte, den unsere Füße vorwärts thun.

—— Wenn wir uns vor der Grube fein in Acht nehmen, sagte Magdalene, so können wir unsere Maßregeln nehmen, zu vermeiden. Was schlagen Sie vor?

—— Ich schlage vor, versetzte der Hauptmann, Mrs. Wragge zeitweilig zu entfernen. Wenn ich nämlich die Sache nur vom Geldpunct aus ansehe, so kann ich eine gänzliche Trennung von ihr nicht gut wünschen. Sie haben doch gewiß oft von sehr armen Leuten, die durch von entfernter und unverhoffter Seite gekommene Vermächtnisse plötzlich reich geworden waren, gelesen? Mit Mrs. Wragge war dies ebenso der Fall, als ich sie heirathete. Eine ältere weibliche Verwandte theilte bei jener Gelegenheit die Spenden des Glücksfüllhorns mit meiner Frau, und wenn ich diese Familienbeziehungen nur im Gange erhalte, so weiß ich ziemlich zuverlässig, daß Mrs. Wragge sich mir ein zweites Mal nützlich erweisen wird, für den Fall nämlich des Todes jener älteren Verwandten. Wäre dieser Umstand nicht gewesen, so würde ich wahrscheinlich schon längst meine Frau der Sorge der Gesellschaft im Großen überlassen haben, in der angenehmen Ueberzeugung, daß, wenn ich sie nicht unterstütze, jemand Anderes es thun würde. Obgleich ich mich nicht dazu verstehen kann, so zu handeln, so sehe ich doch keinen Grund ein, warum ich sie nicht auf eine gegebene Zeit uns aus dem Wege schaffen, mit aller Bequemlichkeit verpflegen lassen und irgendwo unterbringen sollte, nämlich in einem entlegenen Pächterhause in der Rolle einer etwas geistesschwachen Dame. Sie würden die Kosten unbedeutend, ich würde die Erlösung von ihr unsäglich wohlthuend finden. Was meinen Sie dazu? Soll ich sie gleich aufpacken und mit der nächsten Post wegschaffen?

—— Nein, versetzte Magdalene mit Festigkeit. Das Leben des armen Wesens ist ohnehin hart genug; ich möchte nimmer dazu beitragen, es noch härter zu machen. Sie war liebevoll, aufrichtig und gut gegen mich, als ich krank lag, und ich möchte sie um Alles in der Welt nicht unter fremden Leuten in Verschluß halten lassen, so lange ich es hindern kann. Die Gefahr, sie hier sicher zu bewahren, ist eben nur eine Gefahr mehr. Ich will ihr trotzen, Hauptmann Wragge, wenn Sie vielleicht auch nicht wollen.

—— Bedenken Sie sich noch ein Mal, sagte der Hauptmann ernst, ehe Sie sich entschließen, Mrs. Wragge bei uns zu behalten.

—— Ein Mal ist schon genug, versetzte Magdalene. Ich will sie nicht fortgeschickt wissen.

—— Sehr gut, sagte der Hauptmann mit Entsagung im Tone. Ich mag mit Gefühlssachen Nichts zu schaffen haben. Allein ich habe über mein eigenes Interesse noch ein Wort zu sagen. Wenn meine Dienste Ihnen von Nutzen sein sollen, so kann ich mir nicht die Hände von vornherein binden lassen. Dies ist ein ernster Punkt. Ich traue nicht einem Zusammentreffen meiner Frau mit Mrs. Lecount. Ich wittere Unrath, wenn Sie ihn auch nicht fürchten: — und ich mache es zur Bedingung, daß wenn Mrs. Wragge hierbleibt, sie wenigstens ihr Zimmer hütet. Wenn Sie denken, daß ihre Gesundheit es erfordert, so können Sie sie früh Morgens oder spät Abends zu einem Spaziergang mit heraus nehmen, aber Sie dürfen sie nimmer mit dem Dienstmädchen ausgehen lassen oder gar allein. Ich stelle die Sache ganz offen hin: sie ist zu wichtig, als daß wir sie obenhin behandeln dürfen. Was sagen Sie dazu, Ja oder Nein?

—— Ich sage: Ja, erwiderte Magdalene nach einem augenblicklichen Nachdenken, unter der Bedingung, daß ich sie zum Gehen mit hinaus nehmen darf, wie Sie vorschlugen.

Hauptmann Wragge verbeugte sich und gewann seine gefällige Art wieder.

—— Was sind unsere Pläne? frug er. Soll ich Ihre Unternehmung heute Nachmittag beginnen? Sind Sie bereit; sich Mrs. Lecount und ihrem Herrn vorstellen zu lassen.

—— Ja wohl.

—— Gut noch ein Mal. Wir werden sie auf der Promenade treffen, zu ihrer gewöhnlichen Ausgehstunde, um zwei Uhr. Es ist noch nicht um Zwölf. Ich habe noch zwei Stunden vor mir, gerade Zeit genug, um meine Frau in ihre »neue Haut« einzupassen. Diese Vornahme ist schlechterdings nöthig, um zu verhindern, daß sie uns gegenüber dem Dienstmädchen bloß stellt. Fürchten Sie nicht den Ausfall meiner Bemühungen, Mrs. Wragge hat sich im Laufe ihres ehelichen Lebens bereits eine reiche Auswahl angenommener Namen in ihren Kopf hämmern lassen müssen. Es kommt lediglich darauf an, derb genug zu hämmern, auf weiter Nichts. Ich denke, wir haben nun Alles und Jedes erledigt. Ist noch etwas für mich zu thun vor zwei Uhr? Haben Sie eine Beschäftigung für den Morgen?

—— Nein, sagte Magdalene; ich werde wieder auf mein Zimmer gehen und zusehen, ob ich etwas ruhen kann.

—— Sie hatten wohl eine unruhige Nacht, wie ich fürchten muß? sagte der Hauptmann, indem er ihr höflich die Thür aufmachte.

—— Ich schlief ein oder zwei Mal ein, antwortete sie gleichgültig. Ich glaube, meine Nerven sind ein wenig angegriffen. Die kühnen Blicke jenes Mannes, der mich gestern so beleidigend ansah, schienen mir im Traume wieder auf mich gerichtet zu sein. Wenn wir ihn heute sehen und er mich noch ein Mal belästigt, so muß ich Sie ersuchen, mit ihm zu sprechen. Wir wollen uns um zwei Uhr wieder hier treffen. Seien Sie nicht hart gegen Mrs. Wragge; bringen Sie ihr bei, was sie lernen soll, aber so zart als Sie können.

Mit diesen Worten verließ sie ihn und ging ins Haus hinauf.

Sie legte sich mit einem tiefen Seufzer aufs Bett und versuchte zu schlafen. Es war vergebens. Die betäubende Müdigkeit, welche sich jetzt ihrer bemächtigt hatte, war nicht die Müdigkeit, die sich durch Ruhe und Schlaf heben läßt. Sie stand wieder auf und setzte sich ans Fenster, ihre Blicke zerstreut und gegenstandlos auf das Meer gerichtet.

Eine schwächere Natur als die ihrige würde den Schlag, Franks Treulosigkeit, nicht so gefühlt haben, als sie ihn gefühlt hatte und jetzt noch fühlte. Eine schwächere Natur würde zornig aufgewallt sein und durch Thränen sich erleichtert haben. Die leidenschaftliche Stärke von Magdalenens Liebe klammerte sich verzweifelt an das sinkende Wrack ihres eigenen süßen Wahnes, klammerte sich daran, bis sie sich durch die bloße Kraft des Willens blutenden Herzens davon losriß. Sie mußte allen ihren angeborenen Stolz, ihr scharfes Gefühl für alles Unrecht zusammennehmen, um gegen die Gedanken anzukämpfen, welche immer und immer wieder aus der unauslöschlichen Glut der Leidenschaft vergangener glücklicher Tage in ihr aufstiegen, Gedanken, welche in arger Selbstbethörung Franks herzlosen Abschied jeder andern Ursache, nur nicht der angeborenen Schlechtigkeit des Mannes, der jene Worte geschrieben, beimessen wollten.

Das Weib soll noch geboren werden, das eine treue Liebe aus seinem Herzen reißen kann, bloß weil der Gegenstand seiner Liebe seiner unwerth war. Alles, was es thun kann, ist: insgeheim dagegen ankämpfen und in dem Streite erliegen, wenn es schwach ist, zu überwinden aber, wenn es stark ist, durch einen Act der Selbstpeinigung welcher von allen sittlichen, aus die weibliche Natur angewandten Mitteln das allergefährlichste und verwegenste, von allen sittlichen Wandelungen diejenige ist, welche ihre Spuren fürs ganze Leben hinterläßt.

Magdalenens starke Natur hatte sie in dem Kampfe aufrecht erhalten, und der Ausgang desselben machte sie —— so, wie sie war.

Nachdem sie wohl beinahe eine Stunde am Fenster gesessen, ihre Augen zerstreut in die Landschaft hinausschauend, ihr Geist verloren in empfindungs- und gedankenloses Hinträumen, schüttelte sie den seltsamen wachenden Schlummer, der sie überfallen hatte, ab und stand auf, um sich zu dem ernsten Werke des Tages vorzubereiten.

Sie ging zu der Garderobe und nahm von den Nägeln zwei helle feine Musselinkleider, welche vor einem Jahre für den Sommer auf Combe-Raven gemacht worden und welche von zu geringem Werthe waren, um, als sie ihre übrigen Sachen veräußert mit verkauft zu werden.

Als sie die Kleider neben einander aufs Bett gelegt hatte, sah sie noch ein Mal in den Kleiderschrank. Er enthielt nur noch ein anderes Sommerkleid, die glatte Alpacarobe, welche sie während ihrer merkwürdigen Unterredung mit Noël Vanstone und Mrs. Lecount getragen. Diese ließ sie an ihrem Platze, indem sie sich entschloß, sie nicht zu tragen, weniger etwa aus Furcht, daß die Haushälterin ein so wenig auffallendes und gewöhnliches Muster wiedererkennen würde, als aus der Ueberzeugung, daß sie nicht heiter noch passend genug für den Zweck war. Nachdem sie noch einen glatten Musselinshawl, ein Paar hellgraue Glacés und einen florentinischen Gartenstrohhut aus der Garderobe genommen, schloß sie den Schrank zu und steckte den Schlüssel sorgsam in ihre Tasche.

Anstatt sofort daran zu gehen, sich anzukleiden, saß sie unthätig da und sah die beiden Musselinkleider an. Es war ihr gleichgültig, welches sie trüge, und doch zauderte sie fort und fort, ihre Wahl zu treffen.

—— Was kommt darauf an, sprach sie zu sich selbst mit einem kalten Lachen, ich gelte mir in meiner eigenen Achtung ganz gleich wenig, welches immer ich anziehe.

Sie schauderte zusammen, als ob der Klang ihres eigenen Lachens sie erschreckt habe, und griff hastig und jäh nach dem Kleide, das ihr am nächsten lag. Die Farben desselben waren blau und weiß, gerade das Blau, welches am Besten zu ihrer herrlichen Gesichtsfarbe paßte. Sie zog das Kleid eilig an, ohne vor ihren Spiegel zu treten. Zum ersten Male in ihren Leben mied sie ihr Spiegelbild, nur ein Mal nicht, wo! sie ihr Haar unter dem Gartenhut geordnet hatte; aber sie trat sofort wieder weg von dem Spiegel. Sie warf dann den Shawl um ihre Schultern, zog die Handschuhe an, den Rücken gegen den Toilettentisch hingewendet.

—— Soll ich mich schminken? fragte sie sich, indem sie ahnend fühlte, daß sie bleich geworden war. Das Roth ist noch in meinem Koffer. Ich kann mein Gesicht nicht falscher machen, als es schon ist.

Sie sah sich nach dem Spiegel um und wandte sich hinweg.

—— Nein! sagte sie. Ich habe Mrs. Lecount entgegenzutreten, so wie ihrem Herrn. Keine Schminke.

Nachdem sie nach der Uhr gesehen, verließ sie das Zimmer und ging wieder die Treppe hinunter. Es fehlten zehn Minuten nur an zwei Uhr.

Hauptmann Wragge wartete auf sie im Wohnzimmer, anständig anzuschauen im Frack, steifer Sommercravatte und hohem weißen Hut, recht ländlich und schmuck in einer Reitweste, grauen Beinkleidern und entsprechenden Gamaschen. Seine Vatermörder waren höher denn gewöhnlich, und er führte einen funkelneuen Feldstuhl in der Hand. Jeder Kaufmann in England, der ihn in diesem Augenblicke gesehen hätte, würde ihm auf der Stelle Credit geschenkt haben.

—— Reizend! sagte der Hauptmann, indem er Magdalenen, wie sie ins Zimmer trat, mit väterlichen Blicken musterte; so frisch und kühl! Ein wenig zu bleich, meine Theure, und viel zu ernst. Sonst vortrefflich. Sehen Sie zu, ob Sie lächeln können.

—— Wenn die Zeit zum Lächeln kommen wird, sagte Magdalene herb, so verlassen Sie sich nur auf meine dramatische Uebung in jeder Veränderung der Miene, welche sich nöthig machen wird. Wo ist Mrs. Wragge?

—— Mrs. Wragge hat ihre Aufgabe gelernt, versetzte der Hauptmann, und ist nun dadurch belohnt worden, daß sie mit meiner Erlaubniß über ihrer Arbeit auf ihrem Zimmer sitzen darf. Ich heiße ihre neue Liebhaberei fürs Schneidern gut, da dieselbe sicherlich ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt und sie zu Hause erhält. Es ist nicht zu fürchten, daß sie ihre »orientalische Robe« so schnell fertig bekommt, denn es gibt wohl kein Versehen bei der Anfertigung einer solchen, daß sie nicht gewiß und wahrhaftig begehen wird. Sie wird emsig über ihrem Kleide sitzen, verzeihen sie den Ausdruck, wie eine Henne über einem Windei. Ich gebe Ihnen mein Wort, ihre neue Phantasie macht mir Vergnügen. Nichts konnte unter den gegenwärtigen Umständen gelegener kommen.

Er stolzierte zum Fenster, sah hinaus und bat Magdalenen, zu ihm zu treten.

—— Dort sind sie! sagte er und zeigte auf die Promenade.

Mr. Noël Vanstone wandelte langsam vorbei, wie sie hinsahen, angethan, wie er war, mit einem vollständigen Anzug von altmodischem Nanking. Es war augenscheinlich einer von den Tagen, wo der Zustand seiner Gesundheit am schlechtesten war. Er stützte sich aus Mrs. Lecounts Arm und wurde vor der Sonne durch einen hellen Sonnenschirm geschützt, den sie über ihn hielt. Die Haushälterin, so schmuck wie gewöhnlich angezogen, trug ein lavendelfarbenes Kleid, eine schwarze Mantille, einen einfachen Strohhut und einen gerippten blauen Schleier. Sie bewachte ihren kranken Herrn mit der zärtlichsten Sorgsamkeit, machte ihn bald mit Bescheidenheit auf die verschiedenen Gegenstände der Aussicht übers Meer aufmerksam, bald Verbeugte sie sich in dankbarer Erwiderung der Artigkeit der vorübergehenden Badegäste auf der Promenade, welche schonend zurück traten, um den Kranken vorbeizulassen. Sie machte sichtbar Eindruck auf die Spaziergänger am Ufer. Sie sahen ihr Alle mit gleicher Theilnahme nach und wechselten vertrauliche Zeichen des Beifalls aus, welche so deutlich als Worte sagten:

—— Eine sehr häusliche Person, ein wahrhaft vortreffliches Frauenzimmer!

Hauptmann Wragges verschiedenfarbene Augen folgten Mrs. Lecount mit stetiger mißtrauischer Aufmerksamkeit.

—— Eine schwere Arbeit für uns Das —— flüsterte er Magdalenen zu, schwerer, als Sie vielleicht denken: das Weib von seinem Platze zu verdrängen.

—— Warten Sie es ab, sagte Magdalene ruhig. Warten Sie es ab, und Sie werden sehen.

Sie ging zur Thür, Der Hauptmann folgte ihr, ohne weiter eine Bemerkung zu machen.

—— Ich will warten, bis Du verheirathet bist, dachte er bei sich, aber nicht einen Augenblick länger, Du möchtest mir bieten, was Du wolltest. In der Hausthür redete ihn Magdalene wieder an.

—— Wir wollen den Weg dort gehen, sagte sie, indem sie nach Süden zeigte, dann uns drehen und ihnen begegnen, wenn sie zurückkommen.

Hauptmann Wragge drückte seine Zustimmung zu diesem Vorschlage aus und folgte Magdalenen zum Gartenthore. Als sie dasselbe öffnete, um durchzugehen, wurde ihre Aufmerksamkeit durch eine Dame auf sich gezogen, welche, begleitet von einer Amme und zwei kleinen Knaben, hinter ihr auf dem Wege draußen vor der Gartenmauer einherwandelte. Die Dame blieb stehen, sah aufmerksam vor sich hin und lächelte bei sich, als Magdalene heraustrat. Die Neugier hatte bei Kirkes Schwester die Oberhand gewonnen, und sie war nach Aldborough gekommen, ausdrücklich in der Absicht, um Miss Bygrave zu sehen.

Etwas in dem Gesichtsschnitte der Dame, Etwas in dem Ausdrucke ihrer dunklen Augen erinnerte Magdalene an den Schiffscapitän, dessen unbewußtes Anstaunen sie den Abend vorher so verdrossen hatte.

Sie erwiderte augenblicklich das scharfe Ansehen der Fremden durch ein Stirnrunzeln und einen finsteren Blick. Die Dame wechselte die Farbe, gab den Blick mit Zinsen zurück und ging weiter.

—— Ein schroffes, dreistes, schlechtes Mädchen, dachte Kirkes Schwester. Was hat nur Robert gedacht, als er sie so bewundernswürdig fand? Ich bin sehr froh, daß er fort ist. Ich hoffe und bin gewiß, daß er nie wieder seine Augen auf Miss Bygrave fallen lassen wird.

—— Was für Bauern sind die Leute hier! sagte Magdalene zu Hauptmann Wragge. Jenes Frauenzimmer war noch unverschämter als der Mann von gestern Abend. Sie sieht ihm im Gesichte ähnlich. Wer mag sie wohl sein?

—— Das will ich gleich herausbekommen, sagte der Hauptmann. Wir können Fremden gegenüber nicht vorsichtig genug sein.

Er wandte sich sofort an seine Freunde, die Bootsleute. Sie waren nahe zur Hand, und Magdalene hörte ganz deutlich Fragen und Antworten.

—— Wie gehts Euch Allen diesen Morgen? sagte Hauptmann Wragge in seiner leichten scherzhaften Weise; und wie stets mit dem Winde? Nordwest und Halbwest, nicht wahr? Sehr gut. Wer ist die Dame?

—— Das ist Mrs. Strickland, Sir.

—— So, so! Des Geistlichen Frau und die Schwester des Schiffscapitäns. Wo ist heute der Capitän?

—— Unterwegs nach London, denke ich, Sir. Sein Schiff fährt Ende der Woche nach China.

China! Als das Wort dem Manne über die Lippen kam, griff ein Wehgefühl des alten Kummers Magdalenen ans Herz. So fremd er ihr war, so begann sie doch schon den bloßen Namen des Kauffahrteicapitäns zu hassen. Er hatte ihre Träume vergangene Nacht gestört und jetzt, wo sie sehr verzweifelt und rücksichtslos dabei war, ihre alten Erinnerungen ans Vaterhaus zu vergessen, war er mittelbar die Ursache gewesen, daß sie wieder an Frank dachte.

—— Kommen Sie, sagte sie heftig zu ihrem Begleiter. Was gehen uns der Mann und sein Schiff an? Kommen Sie mit fort!

—— Richtig, sagte Hauptmann Wragge. Sofern wir nur nicht Freunde von den Bygraves finden, was gehen uns da andere Leute an?

Sie schritten vorwärts nach Süden zu, so ein zehn Minuten oder etwas länger, wandten sich dann und gingen wieder zurück, um mit Noël Vanstone und Mrs. Lecount zusammenzutreffen.



Kapiteltrenner

Viertes Capitel.

Hauptmann Wragge und Magdalene konnten ihre Schritte zurück lenken, bis sie wieder in Sicht der Nordstein-Villa waren, ehe irgend eine Spur von Mrs. Lecount und ihrem Herrn zu sehen war. Erst an jener Stelle wurden das lavendelfarbene Kleid der Haushälterin, der Schirm und die schwächliche kleine Gestalt in Nanking, welche darunter wandelte, in der Ferne sichtbar. Der Hauptmann hielt sofort seinen Schritt an und gab Magdalenen seinen Rath für ihr Verhalten bei der bevorstehenden Unterhaltung in folgenden Worten:

—— Vergessen Sie Ihr Lächeln nicht, sagte er. In allen anderen Hinsichten werden Sie genügen. Der Spaziergang hat Ihre Farbe erhöht, und der Hut steht Ihnen gut. Sehen Sie Mrs. Lecount fest ins Gesicht, zeigen Sie keine Verwirrung, wenn Sie sprechen, und wenn Mr. Noël Vanstone Ihnen etwas auffallend Aufmerksamkeit widmet, nehmen Sie nicht zu viel Notiz davon, so lange das Auge seiner Haushälterin auf Ihnen ruht. Vergessen Sie Eines nicht! Ich bin den ganzen Morgen über Joyces wissenschaftlichen Gesprächen gewesen und habe alles Ernstes vor, Mrs. Lecount das ganze Gewicht meiner Studien fühlen zu lassen. Wenn ich nicht bewirken kann, ihre Aufmerksamkeit von Ihnen und ihrem Herrn abzulenken, so gebe ich keinen Pfifferling für den Erfolg unserer Bemühungen. Ein bloßes Geplauder würde bei dieser Frau nicht verfangen, auch Artigkeiten würden nicht ziehen, Witze würden auch nicht anschlagen: aber populäres Wissen wird an den verstorbenen Professor erinneren, populäres Wissen wird schon verfangen. Wir müssen ein System von Zeichen verabreden, damit ich Sie wissen lassen kann, wie es mit mir steht. Merken Sie auf diesen Feldstuhl. Wenn ich ihn von meiner linken Hand in die rechte nehme, so spreche ich als Joyce. Wenn ich ihn von meiner Rechten in die Linke nehme, so spreche ich als Wragge. Im ersten Falle unterbrechen Sie mich nicht, ich steure an mein Ziel los. Im andern Falle aber sagen Sie, was Sie wollen, meine Bemerkungen sind nicht von der geringsten Bedeutung. Wollen Sie erst eine Probe durchmachen? Sind Sie dessen gewiß, daß Sie mich verstanden haben? —— Sehr wohl. Nehmen Sie meinen Arm und sehen Sie heiter ans. Achtung! Hier sind sie.

Die Begegnung erfolgte fast halbwegs zwischen dem Landhaus Amsee und Nordsteinvilla. Hauptmann Wragge nahm seinen hohen weißen Hut ab und eröffnete sofort die Unterhaltung in der freundlichsten Art und Weise.

—— Guten Morgen, Mrs. Lecount, sagte er mit der freien, fröhlichen Höflichkeit eines von Natur geselligen Mannes. Guten Morgen, Mr. Vanstone; ich bedaure, Sie heute leidend zu sehen. Mrs. Lecount, erlauben Sie, daß ich Ihnen meine Nichte vorstelle —— meine Nichte, Miss Bygrave. Liebes Kind, dies ist Mr. Noël Vanstone, unser Nachbar in der Villa Amsee. Wir müssen durchaus auf gute Nachbarschaft halten in Aldborough, Mrs. Lecount. Es ist nur eine Promenade in dem Orte (wie meine Nichte soeben gegen mich bemerkte, Mr. Vanstone), und auf dieser Promenade müssen wir uns Alle treffen, jedes Mal wenn wir ausgehen. Und warum nicht? Sind wir Beides Leute von Förmlichkeiten? Nichts der Art, wir sind gerade das Gegentheil Sie besitzen die Leichtigkeit des Umganges, die man nur auf dem Festlande erlernt, Mr. Vanstone; ich wetteifere mit Ihnen in der offenen Zuthulichkeit eines Engländers von altem Schrot und Korn, die Damen mischen sich zusammen in harmonischer Abwechselung, wie Blumen auf demselben Beet, und das Ergebniß ist, daß wir ein gemeinsames Interesse daran haben, unsern Aufenthalt an der Seeküste einander so angenehm als möglich zu machen. Verzeihen Sie meinen übersprudelnden Humor, verzeihen Sie mein fröhliches und jugendliches Empfinden. Das Jod in der Seeluft, Mrs. Lecount, die notorische Wirkung des Jods in der Seeluft!

—— Sie kamen gestern an, Miss Bygrave nicht wahr? sagte die Haushälterin, sobald die Wortsindflut des Hauptmanns zu einem Ende gekommen war.

Sie richtete diese Worte an Magdalene mit einem freundlichen mütterlichen Interesse an deren Jugend und Schönheit, gemildert durch die gefügige Liebenswürdigkeit, welche ihre Stellung im Haushalt von Mr. Noël Vanstone erforderte. Nicht das geringste Zeichen von Argwohn oder Ueberraschung verrieth sich in ihrem Gesichte, ihrer Stimme oder ihrem Wesen, während sie und Magdalene sich jetzt einander anblickten. Es war deutlich zu sehen, daß das wahre Gesicht und die wahre Gestalt, welche sie jetzt sah, sie in Nichts an das falsche Gesicht, die falsche Gestalt erinnerten, die sie auf der Vauxhallpromenade gesehen hatte. Die Verkleidung war offenbar vollständig genug gewesen, um sogar den Scharfblick von Mrs. Lecount zu täuschen.

—— Meine Tante und ich kamen gestern Abend hier an, sagte Magdalene. Wir fanden den letzten Theil der Reise sehr ermüdend. Darf ich sagen, daß es bei Ihnen ebenso der Fall war?

Sie gab geflissentlich eine längere Antwort als nöthig war, in der Absicht, um gleich bei der ersten Gelegenheit den Eindruck zu entdecken, den der Ton ihrer Stimme auf Mrs. Lecount hervor brächte.

Die dünnen Lippen der Haushälterin behielten ihr mütterliches Lächeln; die liebenswürdige Art und Weise der Haushälterin verlor Nichts von ihrer demüthigen Ergebenheit, aber der Ausdruck ihrer Augen veränderte sich plötzlich von einem bloß aufmerksamen Blick zu einem forschenden Blick. Magdalene sagte ruhig noch ein paar Worte und wartete dann auf den Erfolg. Die Verwandlung verbreitete sich gradweise über das ganze Gesicht von Mrs. Lecount: das mütterliche Lächeln erstarb, und die liebenswürdige Art verrieth einen kleinen Zug von Zwang. Noch aber kamen keine Zeichen wirklichen Erkennens zu Tage, der Ausdruck der Haushälterin blieb, was er von Anfang an gewesen war, ein Ausdruck des Forschens und nichts weiter.

—— Sie klagten über Ermüdung, Sir, wenige Minuten zuvor, sagte die Haushälterin, indem sie alle fernere Unterhaltung mit Magdalene fallen ließ und ihren Herrn anredete, wollen Sie hineingehen und ruhen?

Der Besitzer von Villa Amsee hatte sich bisher darauf beschränkt, sich zu verbeugen, verlegen zu lächeln und Magdalenen mit seinen halb geschlossenen Augen bewundernd anzuschauen. Unverkennbar sprach sich die plötzliche Unruhe und Erregung in seiner Haltung und in der erhöhten Farbe seines eingefallenen kleinen Gesichts aus. Sogar die Froschnatur Mr. Noël Vanstone erwärmte sich unter dem Einflusse des Geschlechts, er hatte unleugbar ein gutes Auge für ein hübsches Weib, und Magdalenens Reize und Schönheit entgingen ihm keineswegs.

—— Wollen Sie hineingehen, Sir, und ausruhen? frug die Haushälterin, indem sie ihre Frage wiederholte.

—— Noch nicht, Lecount, sagte ihr Herr. Ich glaube, ich fühle mich stärker; ich glaube, ich kann noch ein wenig gehen.

Er wandte sich nach seiner Art lächelnd an Magdalene und setzte leiser hinzu:

—— Ich habe ein neues Interesse an meinem Spaziergang gefunden, Miss Bygrave. Verlassen Sie uns nicht, sonst nehmen Sie jenes Interesse wieder weg.

Er lächelte und grinste im höchsten Wohlgefallen an seinem geistreichen Compliment, von welchem Hauptmann Wragge geschickt die Aufmerksamkeit der Haushälterin dadurch ablenkte, daß er sich an ihre Seite begab und in demselben Augenblicke sie anredete. Sie wanderten nun alle Vier langsam weiter. Mrs. Lecount sagte Nichts mehr. Sie hielt den Arm ihres Herrn fest und sah darüber hinweg nach Magdalenen hinüber mit dem gefährlichen Ausdruck des Forschens, der sich mehr als je in ihren hübschen schwarzen Augen zeigte. Jener Blick entging dem wachsamen Wragge nicht im Mindesten. Er nahm seinen bedeutungsvollen Feldstuhl aus der linken Hand in die rechte und eröffnete seine wissenschaftlichen Batterien auf der Stelle.

—— Ein lebendiges Schauspiel, Mrs. Lecount, sagte der Hauptmann, indem er artig mit seinem Feldstuhl über die See weg und auf die vorüberziehenden Schiffe zeigte. Die Größe Englands, Madame, die wahre Größe Englands! Ich bitte Sie, bemerken Sie, wie schwer einige von jenen Fahrzeugen befrachtet sind! Ich bin oft geneigt, zu fragen, ob der britische Seemann auch immer, wenn er seine Ladung an Bord nimmt, die hydrostatische Wichtigkeit dieser Handlung genau im Auge hat, welche er eben verrichtete. Wenn ich plötzlich auf das Deck eines dieser Fahrzeuge versetzt würde (wovor mich der Himmel bewahren möge, denn ich bekomme die Seekrankheit) und ich zu einem Mitglied der Bemannung sagte: »Jack, Du hast Wunder gethan, Du hast die Bedingungen des Gleichgewichts schwimmender Körper erfaßt!« Wie würde der brave Kerl da die Augen aufreißen! Und doch hängt von jener Theorie Jacks Leben ab. Wenn er sein Schiff ein Dreißigstel mehr beladet, als er sollte, was erfolgt? Er segelt über Aldborough sicher hinaus, das verbürge ich noch. Er fährt auch sicher in die Themse hinein, das verbürge ich auch noch. Er kommt im Süßwasser, wir wollen einmal sagen, bis in eine Entfernung wie Greenwich, und —— verloren ist er! Er geht unter, Madame, auf den Boden des Flusses, das ist eine wissenschaftliche Wahrheit!

Hier hielt er inne und ließ Mrs. Lecount bei ihrer Höflichkeit keine Wahl, als sich eine Erklärung auszubitten.

—— Mit unendlichem Vergnügen, Madame, sagte der Hauptmann und erstickte mit den tiefsten Registern einer Stimme das schwache Flüstern, in welchem Mr. Noël Vanstone Magdalenen seine Artigkeiten sagte. Wir wollen, wenn es Ihnen gefällig ist, mit einem ersten Princip anfangen. Alle Körper, welche nur immer auf der Oberfläche des Wassers schwimmen, entfernen (durch den eingetauchten Theil) gerade soviel Flüssigkeit, daß deren Gewicht gleich ist dem Gewichte dieser Körper. Gut! Wir haben nun unsern ersten Satz. Was folgern wir nun daraus? Offenbar dieses: daß, um ein Schiff auf dem Wasser zu erhalten, es nothwendig ist, dafür Sorge zu tragen, daß das Schiff und dessen Ladung von weniger Gewicht sei, als das Gewicht der entsprechenden Menge Wasser —— ich bitte, folgen Sie mir! —— der entsprechenden Menge Wasser, die gleich ist dem Theil des Schiffes, den man ohne Gefahr unterm Wasserspiegel gehen läßt. Nun aber, Madame, ist Salzwasser specifisch dreißig Mal schwerer denn süßes oder Flußwasser, und ein Fahrzeug auf der Nordsee wird nicht so tief sinken, als eins auf der Themse. Folglich, wenn wir unser Schiff beladen mit der Bestimmung für den Londoner Markt, so haben wir —— um mit dem Hydrostatiker zu sprechen —— drei Auswege Entweder wir laden ein Dreißigstel weniger, als wir zur See nehmen können, oder wir nehmen an der Mündung des Flusses ein Dreißigstel heraus, oder wir thun keines von Beiden und —— wie ich bereits die Ehre hatte zu bemerken —— gehen zu Grunde! Dies, sagte der Hauptmann und nahm den Feldstuhl zum Zeichen, daß Joyce für dies Mal fertig sei, aus der rechten in die linke Hand —— dies, liebe Madame, ist die Stabilitätstheorie der schwimmenden Körper. Gestatten Sie mir zum Schlusse hinzuzufügen —— ich heiße Sie herzlich willkommen!

—— Ich danke Ihnen, Sir, sprach Mrs. Lecount Sie haben ganz unabsichtlich eine wunde Stelle berührt; aber die Mittheilung, die ich empfing, ist in dem Betracht nicht weniger werthvoll Es ist lange, lange her, Mr. Bygrave, daß ich zu mir in der Sprache der Wissenschaft habe reden hören. Mein theurer Ehegatte machte mich zu seiner Mitarbeiterin, mein theurer Gatte klärte meinen Geist auf, wie Sie versucht haben, ihn aufzuklären. Niemand hat sich nochmals um meinen Verstand bekümmert. Besten Dank, Sir. Ihre freundliche Theilnahme für mich soll nicht an eine Unwürdige verschwendet sein.

Sie seufzte mit schmerzlicher Demuth und öffnete insgeheim ihre Ohren für die Unterhaltung auf der andern Seite von ihr.

Eine Minute früher würde sie gehört haben, wie sich ihr Herr in den schmeichelhaftesten Ausdrücken betreffs der äußern Erscheinung von Miss Bygrave in ihrem Seebadekleide erging. Aber Magdalene hatte Hauptmann Wragges Zeichen mit, dem Feldstuhl gesehen und darauf hin sofort Mr. Noël Vanstone auf ihn selbst und seine Besitzungen gebracht, indem sie sich ganz vortrefflich die Gelegenheit ersah, ihn über sein Hans zu Aldborongh zu fragen.

—— Ich möchte Sie nicht erschrecken, Miss Bygrave, waren die ersten Worte Mr. Noël Vanstones, welche Mrs. Lecounts aufmerksame Ohren auffingen, aber es giebt nur ein einziges sicheres Haus in Aldborough —— und dies Haus ist das meinige. Die See mag die anderen Häuser alle zerstören, meins kann sie nicht zerstören. Mein Vater hat dafür gesorgt, mein Vater war ein merkwürdiger Mann. Er hatte mein Haus auf Pfählen gebaut. Ich habe Grund zu glauben, es find die stärksten Pfähle in England. Nichts kann sie denkbarerweise zusammenbrechen, —— was das Meer thut, läßt mich unbesorgt —— Nichts kann denkbarerweise sie zusammenbrechen.

—— Dann müßten wir ja, wenn die See hereinstürzt, sagte Magdalene, Alle bei Ihnen Zuflucht suchen.

Mr. Noël Vanstone ersah hier die Gelegenheit günstig zu einem neuen Compliment, und zur selben Zeit sah jetzt der Hauptmann den Augenblick gekommen für einen neuen wissenschaftlichen Erguß.

—— Ich möchte beinahe wünschen, der Einbruch der See möchte erfolgen, murmelte der Eine der Herren, nur um mir das Glück zu verschaffen, Zuflucht bieten zu dürfen.

—— Ich möchte beinahe darauf schwören, daß der Wind schon wieder umgesetzt hätte! rief der Andere. Wo ist ein Mann, den ich fragen kann? Ach, da ist er. Bootsmann! Wie geht der Wind jetzt? Westnordwest —— he? Und Südsüdost gestern Abend —— he? Giebt es etwas Merkwürdigeres, Mrs. Lecount, als die Veränderlichkeit des Windes in diesem Klima? fuhr der Hauptmann fort, indem er den Feldstuhl auf seine wissenschaftliche Seite herübernahm. Giebt es eine staunenswerthere Naturerscheinung für den wissenschaftlichen Forscher? Sie werden mir sagen, daß das elektrische Fluidum, das in der Luft so reich vorhanden ist, die Hauptursache dieser Veränderlichkeit sei. Sie werden mich an das Experiment jenes berühmten Philosophen erinneren, der die Schnelligkeit eines großen Sturmes an dem Fluge kleiner Federn maß. Liebe Madame, ich gebe alle Ihre Behauptungen zu...

—— Entschuldigen Sie, bitte ich, Sir, sagte Mrs. Lecount; Sie schreiben mir da Kenntnisse zu, welche ich nicht besitze. Behauptungen, —— bedaure ich sagen zu müssen, sind ganz außer dem Bereiche meines Wissens.

—— Mißverstehen Sie mich nicht, Madame, fuhr der Hauptmann fort, indem er so höflich war, die Unterbrechung scheinbar ganz zu überhören. Meine Bemerkungen betreffen nur die gemäßigte Zone. Stellen Sie mich an die Küsten zwischen den Tropen, stellen Sie mich dorthin, wo der Wind bei Tage nach der Küste und bei Nachtzeit nach der See weht —— und ich schreite gleich zu schlagenden Experimenten. Zum Beispiel weiß ich, daß die Sonnenhitze während des Tages die Luft über dem Lande verdünnt und so den Wind hervorbringt. Sie fordern mich auf, dies zu beweisen. Ich begleite Sie die Küchentreppe hinab —— wenn Sie es gütigst erlauben ——; ich nehme meine größte Pastetenschüssel aus den Händen der Köchin, ich fülle sie mit kaltem Wasser. Gut! Besagte Schüssel mit kaltem Wasser stellt das Weltmeer dar. Ich versehe mich sodann mit einem unserer kostbarsten Hausgeräthe, einem Heißwasserteller, fülle ihn mit heißem Wasser und stelle ihn mitten in die Pastetenschüssel. Wieder gut! Der Heißwasserteller stellt das die Luft darüber verdünnende Land vor. Behalten Sie Das im Sinne und geben Sie mir ein angezündetes Licht. Ich halte mein angezündetes Licht über das kalte Wasser und blase es aus. Der Rauch bewegt sich sofort von der Schüssel nach dem Teller hin. Bevor Sie Zeit haben, sich dessen zu erfreuen, zünde ich das Licht wieder an und drehe das ganze Kunststück um. Ich fülle die Pastetenschüssel mit heißem Wasser und den Teller mit kaltem; ich blase das Licht wieder aus, und nun geht der Rauch dies Mal von dem Teller nach der Schüssel. Der Qualm ist unangenehm ——, aber das Experiment ist schlagend.

Er nahm den Feldstuhl wieder zurück in die Linie und sah Mrs. Lecount mit seinem süßen Lächeln an.

—— Sie finden mich doch nicht weitschweifig, Madame, nicht wahr? sagte er mit einer leichten, heitern Art und Weise, gerade als die Haushälterin wieder ein Mal heimlich die Ohren spitzte auf die Unterhaltung drüben neben ihr.

—— Ich bin überrascht, Sir, über die fortlaufende Kette Ihrer gelehrten Erklärungen, versetzte Mrs. Lecount, indem sie den Hauptmann mit einiger Verwirrung, aber; dies Mal ohne irgend welches Mißtrauen anschaute.

Sie hielt ihn sogar als Engländer für excentrisch und vielleicht etwas eitel auf seine Kenntnisse. Aber er hatte ihr doch mittelbar geschmeichelt, indem er seine Wissenschaft vor ihr auspackte, und sie fühlte dies um so tiefer, als sie hatte erleben müssen, ihre wissenschaftliche Wahlverwandtschaft mit ihrem verstorbenen Gatten von den Leuten, mit denen sie im Verkehr kam, gar nicht groß beachtet zu sehen.

—— Haben Sie, Sir, Ihre Forschungen, fuhr sie nach einem augenblicklichen Zögern fort, auf das wissenschaftliche Fach meines verstorbenen Gatten erstreckt? Ich frage nur, Mr. Bygrave, weil ich mich, obschon ich nur eine Frau bin gerade betreffs der Reptilien mit Ihnen aussprechen könnte.

Der Hauptmann war ein viel zu kluger Kopf, als daß er sich mit seinen populären Kenntnissen auf feindliches Gebiet hätte locken lassen. Der alte Milizsoldat schüttelte seinen vorsichtigen Kopf.

Ein zu umfangreicher Gegenstand, Madame, sagte er, für einen Halbgelehrten, wie ich bin. Das Leben und die Arbeiten eines solchen Philosophem wie Ihr Gatte, Mrs. Leeount, sind darnach angethan, um Männer von meinem Geistesschlage waidlich abzuschrecken, sich mit einem Riesen zu messen. Darf ich fragen, fuhr der Hauptmann fort, indem er leise den Weg zu künftigen Verkehr mit der Amsee anbahnte, ob Sie irgend welche wissenschaftliche Denkschriften von dem verstorbenen Professor besitzen?

—— Ich besitze seinen Wasserthierbehälter, Sir, sagte Mrs. Lecount, indem sie bescheiden die Augen zu Boden schlug, und eines von seinen Untersuchungsthieren, eine kleine ausländische Kröte.

Einen Wasserthierbehälter! rief der Hauptmann in Tönen schmerzlichen Interesses aus. Und seine Kröte! Verzeihen Sie meine plumpe Art, mich auszusprechen Madame. Sie besitzen einen Gegenstand von allgemeinen, Interesse, und als ein Mitglied dieser Allgemeinheit bekenne ich gern meine Neugier, es zu sehen.

Mrs. Lecounts glatte Wangen wurden roth vor Vergnügen. Die einzige schwache Seite in dieser kalten und verschlossenen Natur war das Andenken an den Professor. Wenn sie auf seine wissenschaftlichen Arbeiten stolz war, wenn sie schmerzlich berührt wurde, dieselben außerhalb seines Vaterlandes nur ganz wenig gekannt sehen zu müssen, so waren das ursprünglich, tiefgehende Gefühle. Niemals hatte Hauptmann Wragge seinen falschen Weihrauch auf dem leidigen Altar der menschlichen Eitelkeit mit besserem Erfolge angezündet, als jetzt.

—— Sie sind sehr freundlich, Sir, sagte Mrs. Lecount Indem Sie meines Gatten Andenken ehren, ehren Sie zugleich auch mich. Allein Sie behandeln mich zu freundlich, auf dem Fuße der Gleichstellung, ich darf nicht vergessen, was ich für eine Stelle im Hause einnehme. Ich werde es als ein schönes Vorrecht empfinden, Ihnen meine Andenken zu zeigen, wenn Sie mir erst gestatten wollen die Erlaubniß meines Herrn einzuholen.

Sie wandte sich an Mr. Noël Vanstone Ihre ganz aufrichtige Absicht, das vorgeschlagene Ersuchen zu stellen, mischte sich in Folge jener seltsamen Verschränkung der Motive, welche sich in einem Frauengemüthe weit öfterer denn bei einem Manne findet, mit dem eifersüchtigen Mißtrauen, das ihr der Eindruck verursacht hatte, den Magdalene auf ihren Herrn gemacht hatte.

—— Darf ich Sie um Etwas bitten, Sir? frug Mrs. Lecount, nachdem sie einen Augenblick gewartet hatte, um ein Stückchen von der zärtlichen Unterhaltung zu erfahren, aber von Magdalenen Dank dem Feldstuhle allerliebst hinters Licht geführt war. Mr. Bygrave ist eine von den wenigen Personen in England, welche meines Gatten wissenschaftliche Arbeiten zu schätzen wissen. Er giebt mir die Ehre, meine kleine Reptilienwelt sehen zu wollen. Darf ich sie ihm zeigen?

—— Ganz gewiß, Lecount, sagte Mr. Noël Vanstone mit großer Artigkeit. Sie sind eine vortreffliche Person, und ich verpflichte Sie gern. Lecounts Wasserbehälter, Mr. Bygrave, ist der einzige in England; Lecounts Kröte ist die älteste Kröte in der Welt. Wollen Sie kommen und heute um sieben Uhr Thee bei mir trinken? Und wollen Sie Miss Bygrave veranlassen, Sie zu begleiten? Ich möchte ihr gern mein Haus zeigen. Ich glaube nicht, daß sie eine Idee hat, wie fest das Haus ist. Kommen Sie und sehen Sie selber zu, ob ich nicht zu viel gesagt, Miss Bygrave Sie sollen einen Stock bekommen, um an die Wände klopfen zu können, Sie sollen in das erste Stock hinaufgehen und auf die Dielen stoßen, und dann sollen Sie auch hören, was es kostet.

Seine Augen zogen sich zu einem pfiffigen Zwinkern zusammen, und seine Lippen säuselten noch mehr zartes Gekose in Magdalenens Ohr unter dem Schutze der Alles übertönenden Stimme, mit der Hauptmann Wragge ihm für die Einladung dankte.

—— Kommen Sie pünktlich um Sieben, flüsterte er, und tragen sie, wenn ich bitten darf, diesen reizenden Hut!

Mrs. Lecounts Lippen schlossen sich unheilverkündend. Sie fing an die Nichte des Hauptmanns als eine sehr schlimme Schattenseite des geistigen Genusses zu betrachten, welchen ihr die Gesellschaft des Hauptmannes gewährte.

—— Sie ermüden sich, Sir, sprach sie zu ihrem Herrn. Dies ist einer von Ihren schlimmen Tagen. Erlauben Sie mir Ihnen Achtsamkeit anzuempfehlen, erlauben Sie, wir wollen lieber zurück gehen.

Nachdem einmal das Ziel erreicht, nämlich die neuen Bekannten zum Thee geladen waren, erwies sich Mr. Noël Vanstone ganz unverhofft fügsam. Er gab zu, daß er etwas müde war, und kehrte auch gleich nach dem Rathe der Haushälterin um.

—— Nehmen Sie meinen Arm, Sir, —— nehmen Sie meinen Arm auf der andern Seite, sagte Hauptmann Wragge, als sie sich wandten, um zurückzugehen.

Seine verschiedenfarbenen Augen sahen bedeutsam auf Magdalenen, als er sprach, und warnten sie, nicht gleich von Anfang an Mrs. Lecounts Geduld zu sehr anzuspannen. Sie verstand ihn augenblicklich und stellte sich trotz der wiederholten Versicherung Mrs. Noël Vanstones, daß er des Hauptmannes Arm nicht brauche, sogleich auf die Seite der Haushälterin. Mrs. Lecount wurde wieder guter Laune und begann eine neue Unterhaltung mit Magdalenen, indem sie von allen Fragen, die unter den obwaltenden Umständen am schwierigsten zu beantwortende, an sie richtete.

—— Mrs. Bygrave ist wohl zu erschöpft nach ihrer Reise, um heute ausgehen zu können, sagte Mrs. Lecount. Sollen wir das Vergnügen haben, sie morgen zu sehen?

—— Wahrscheinlich nicht, versetzte Magdalene. Meine Tante ist sehr schwach.

—— Ein verwickelter Fall, liebe Madame, setzte der Hauptmann hinzu, der sich wohl bewußt war, das Mrs. Wragge's persönliche Erscheinung, wenn sie zufällig gesehen werde sollte, der offenbarste Widerspruch, den man sich nur denken konnte, von dem war, was Magdalene eben gesagt hatte. Es ist ein tief liegendes Nervenleiden, das äußerlich nicht erkennbar ist. Sie würden meine Frau für ein Bild der Gesundheit halten, wenn Sie sie sähen —— und doch, so trügerisch ist der Schein, bin ich genöthigt, ihr alle Aufregung zu verbieten. Sie sieht keine Gesellschaft, unser ärztlicher Beistand, bedaure ich sagen zu müssen, untersagt es schlechterdings.

—— Sehr traurig, sagte Mrs. Lecount. Die arme Dame muß sich da wohl oft einsam fühlen, Sir, wenn Sie und Ihre Nichte weg von ihr sind?

—— Nein, antwortete der Hauptmann. Mrs. Bygrave ist eine von Natur häuslich gesinnte Frau. Wenn sie im Stande ist, sich selbst zu beschäftigen, so findet sie übrig und genug Erholung im Umgange mit Nadel und Zwirn.

Als der Hauptmann mit seiner Erklärung so weit vorwärts gekommen und geflissentlich nahe um die Grenzen der Wahrheit herumgegangen war, für den Fall, daß die Neugier der Haushälterin sie vielleicht antriebe, geheime Nachforschungen über Mrs. Wragge anzustellen, wahrte er weislich seine Zunge, in weitere Einzelheiten einzugehen.

—— Ich hege von der Luft dieses Ortes große Erwartungen, bemerkte er zum Schluß. Das Jod, wie ich schon bemerkt habe, thut Wunder.

Mrs. Lecount erkannte die trefflichen Eigenschaften des Jods in den kürzest möglichsten Worten an und zog sich in das innerste Geheimzimmer ihrer Gedanken zurück.

—— Ein Geheimniß steckt dahinter, sagte sie zu sich selber. Eine Dame, welche wie die Gesundheit selber aussieht, eine Dame, welche an einer sehr tiefliegenden Nervenkrankheit leidet, und eine Dame, deren Hand noch ruhig genug ist, um Nadel und Zwirn handhaben zu können: ist ein lebendiges Durcheinander von Widersprüchen, die ich nicht zu verstehen vermag. —— Werden Sie einen längeren Aufenthalt zu Aldborough nehmen, Sir? frug sie laut, und ihre Augen ruhten einen Augenblick forschend aus dem Gesichte des Hauptmannes.

—— Das hängt Alles von Mrs. Bygrave ab, liebe Madame. Ich glaube zuversichtlich, wir bleiben den Herbst durch hier. Sie sind wohl auf Villa Amsee für die ganze Zeit eingezogen?

Sie müssen meinen Herrn fragen, Sir. Er hat zu entscheiden, nicht ich. Die Antwort war eine unglückliche Mr. Noël Vanstone war insgeheim ärgerlich über die veränderte Ordnung beim Gehen, wodurch er von Magdalene getrennt worden war. Er schrieb diese Veränderung der Einmischung der Mrs. Lecount zu und nahm nun die erste Gelegenheit wahr, um es sie auf der Stelle fühlen zu lassen.

—— Ich habe nichts zu sagen über unsern Aufenthalt zu Aldborough, fuhr er mürrisch heraus. Sie wissen so gut als ich, Lecount, das Alles von Ihnen abhängt. Mrs. Lecount hat einen Bruder in der Schweiz, fuhr er fort, indem er sich an den Hauptmann wandte, —— einen Bruder, der ernstlich krank ist. Wenn es schlechter mit ihm wird, wird sie dorthin gehen und ihn besuchen müssen. Ich kann sie nicht begleiten, und ich kann nicht allein im Hause zurück bleiben. Ich muß meinen Aufenthalt zu Aldborough abbrechen und bei einigen Freunden bleiben. Es hängt lediglich von Ihnen ab, Lecount, oder von Ihrem Bruder, was auf Eins hinaus kommt. Wenn es von mir abhinge, fuhr Mrs. Noël Vanstone fort, indem er über die Haushälterin weg scharf auf Magdalenen hinüber sah, würde ich mit dem größten Vergnügen den ganzen Herbst in Aldborough bleiben. Mit dem größten Vergnügen, wiederholte er, indem er die Worte mit einem zärtlichen Blicke auf Magdalenen und einer hämischen Betonung für Mrs. Lecount noch einmal sprach.

Bis hierher war Hauptmann Wragge still geblieben und hatte sich in Gedanken die verheißene Möglichkeit einer Trennung zwischen Mrs. Lecount und ihrem Herrn, welche der kleine boshafte Ausfall Mr. Noël Vanstone's ihm eben offenbar gemacht hatte, sorgfältig eingeprägt. Ein unheilverkündendes Zittern der dünnen Lippen der Haushälterin, welches sich jetzt bei der Rücksichtslosigkeit, mit der ihr Herr ihre Familienangelegenheiten ausplauderte und offen ihrer Eifersucht Trotz bot, bemerken ließ, Veranlaßte ihn. sich einzumischen. Wenn der Zwiespalt bis aufs Aeußerste getrieben wurde, so war zu fürchten, daß die Einladung für jenen Abend auf Villa Amsee zu Nichte wurde. Jetzt führte Hauptmann, wie immer bei solcher Gelegenheit, seine nutzbaren Kenntnisse noch einmal ins Treffen zum Entsatz. Unter den gelehrten Auspicien Joyces tauchte er zum dritten Male in das Meer der Wissenschaft hinunter und brachte eine neue Perle daraus zum Vorscheine. Er sprach noch immer —— über die Luftpumpe diesmal ——, belehrte noch immer Mrs. Lecount mit der höflichsten Ausdauer und seinem Redeflusse, als die kleine Gesellschaft vor Mr. Noël Vanstones Thür stand.

—— Nun Gott weiß, hier sind wir bei Ihrem Hause, Sir! sagte der Hauptmann, indem er sich inmitten einer der schwungvollsten Sätze unterbrach. Ich mag Sie nicht einen Augenblick stehen lassen. Kein Wort zur Entschuldigung, Mrs. Lecount, ich bitte und beschwöre Sie! Ich will jenen merkwürdigen Punkt betreffs der Luftpumpe bei künftiger Gelegenheit Ihnen deutlicher machen. Zu gleicher Zeit muß ich nur wiederholen, daß Sie das eben erwähnte Experiment zu Ihrem eigenen Vergnügen mit einer Blase, einer leeren Glocke und einem viereckigen Kasten machen. Um sieben Uhr heute Abend, Sir —— um sieben Uhr, Mrs. Lecount. Wir haben da einen sehr angenehmen Spaziergang gemacht und einen sehr belehrenden Gedankenaustausch gehabt. Nun, liebes Kind! unsere Tante wartet auf uns.

Während Mrs. Lecount bei Seite ging, um die Gartenthür zu öffnen, ersah sich Mr. Noël Vanstoue seine Gelegenheit und warf einen letzten zärtlichen Blick auf Magdalenen unter dem Schutze des Schirmes, den er eigens zu dem Ende selbst in die Hand genommen hatte.

—— Vergessen Sie nicht, sagte er mit seinem süßesten Lächeln, vergessen Sie nicht, wenn Sie heute Abend kommen, diesen reizenden Hut zu tragen.

Ehe er noch einige letzte Worte hinzufügen konnte, stand Mrs. Lecount wieder auf ihrem Platze, und der schützende Schirm ging wieder in andere Hände über.

—— Eine vortreffliche Morgenarbeit! sagte Hauptmann Wragge, als er und Magdalene zusammen nach den Nordsteinen gingen. Sie und ich und Joyce, wir haben alle Drei Wunder gethan. Wir haben uns beim Fischzug des ersten Tages eine freundschaftliche Einladung verschafft.

Er schwieg, um eine Antwort zu bekommen; da er keine erhielt, sah er Magdalenen aufmerksamer an, als bisher. Ihre Augen schauten geradeaus in unverhohlener, heller Verzweiflung.

—— Was gibt es denn? frug er in der größten Bestürzung Sind Sie krank?

Sie gab keine Antwort, sie schien ihn kaum zu hören.

—— Fangen Sie an über Mrs. Lecount besorgt zu werden? frug er sie dann. Es ist nicht der geringste Grund dazu vorhanden, besorgt zu sein. Sie mag sich einbilden, schon eine Stimme gehört zu haben, ähnlich wie die Ihrige; aber Ihr Gesicht macht sie offenbar irre. Behalten Sie Ihre Ruhe, und Sie werden sie immer im Dunkeln lassen. Lassen Sie sie im Dunkeln, und Sie werden die zwei hundert Pfund in meine Hände legen, ehe der Herbst vorüber ist.

Er wartete abermals auf eine Antwort, und wieder blieb sie stumm. Der Hauptmann versuchte es zum dritten Male in einer andern Richtung.

—— Haben Sie diesen Morgen irgend welche Briefe erhalten? fuhr er fort. Gibt es schlechte Nachrichten von zu Hause? Irgend welche neue Schwierigkeiten gegenüber Ihrer Schwester?

—— Sagen Sie Nichts über meine Schwester! brach Sie leidenschaftlich heraus. Weder Sie noch ich sind Werth, von ihr sprechen zu dürfen.

Sie sprach diese Worte an der Gartenthür und eilte allein ins Haus. Er folgte ihr und hörte sie noch die Thür ihres Zimmers zuschlagen, heftig den Schlüssel herumdrehen und noch einmal herumdrehen. Indem Hauptmann Wragge seinem Unwillen durch einen Fluch Luft machte, ging er ärgerlich in eines von den Wohnzimmern im Erdgeschoß, um nach seiner Frau zu sehen. Das Zimmer stand mittels einer kleinen zierlichen Thür, die in ihrem oberen Theile ein Fensterchen hatte, mit einem kleineren und dunkeln Zimmer hinten im Hause im Verbindung. Indem er sich leise dieser Thür näherte, hob er den weißen Musselinvorhang in die Höhe, welcher über dem Fenster hing, und sah ins innere Zimmer.

Da saß denn Abs. Wragge mit der Haube auf der einen Seite und mit niedergetretenen Schuhen, eine Reihe Stecknadeln im Munde, das orientalische Kaschmirkleid vor sich über den Tisch weg, ungewiß, in der einen Hand ihre Scheere, in der andern Hand ihre geschriebene Anweisung zum Schneidern haltend, so vertieft in die unüberwindlichen Schwierigkeiten ihrer Beschäftigung, daß sie gar nicht merkte, wie sie in dem Augenblicke der Gegenstand der Beobachtung ihres Mannes war. Unter anderen Umständen würde sie gar bald durch den Ton seiner Stimme zum Bewußtsein ihrer Lage gebracht worden sein. Aber Hauptmann Wragge lag Magdalene zu sehr am Herzen, als daß er bei seiner Frau Zeit verschwendet hätte, nachdem er sich einmal vergewissert hatte, daß sie noch ganz sicher in Ihrem Verschlusse war und daß er sie noch dort lassen könnte.

Er verließ das Wohnzimmer und schlich sich nach einem kurzen Verweilen auf dem Gange die Treppe hinaus und horchte eifrig vor Magdalenens Thür. Ein dumpfes Geräusch von Schluchzen, erstickt in ihrem Taschentuch, oder durch die Bettkissen, war Alles, was sein Ohr erfaßte. Er kehrte wieder in das Parterre zurück, indem nun eine schwache Ahnung der Wahrheit endlich bei ihm auftauchte.

—— Der Teufel hole ihren Liebsten! dachte der Hauptmann. Muß denn aber auch Mr. Noël Vanstone dessen Geist gleich zu Anfang wieder auferwecken!



Kapiteltrenner

Fünftes Capitel.

Als Magdalene kurz vor sieben Uhr im Wohnzimmer erschien, war keine Spur mehr von Aufregung in ihrem Wesen zu bemerken. Sie sah aus und sprach ruhig und theilnahmlos wie gewöhnlich.

Das finstere Mißtrauen auf dem Gesichte des Hauptmann Wragge schwand bei ihrem Anblicke hinweg. Es hatte während des Nachmittags Augenblicke gegeben, wo er ernstlich mit sich uneins gewesen war, ob das Vergnügen, dem Rachegelüsten gegen Noël Vanstone nachzugeben und die Aussicht auf den Gewinn der Summe von zwei Hundert Pfunden nicht zu theuer erkauft wären durch die Gefahr der Entdeckung, welcher er sich durch Magdalenens unzuverlässige Gemüthsart jede Stunde des Tages ausgesetzt sehen mußte. Der jetzt offen vor ihm liegende Beweis von ihrer starken Selbstbeherrschung machte seinen Geist von ernstlicher Besorgniß frei. Was sie in dem inneren ihres Kämmerleins gelitten ——, verschlug dem Hauptmann wenig, wenn sie nur dann heraus kam mit einem Gesicht, das der Beobachtung Stand hielt, und einer Stimme, welche Nichts verrieth.

Auf dem Wege nach Villa Amsee sprach Hauptmann Wragge seine Absicht aus, der Haushälterin einige theilnehmende Fragen betreffs ihres kranken Bruders in der Schweiz vorlegen zu wollen. Er war der Meinung, daß der kritische Zustand dieses Herrn auf den künftigen Fortgang der angesponnenen Unternehmung einen wichtigen Einfluß nehmen werde. Jede Aussicht auf eine Trennung, bemerkte er, zwischen der Haushälterin und ihrem Herrn sei unter den obwaltenden Umständen der sorgfältigsten Beachtung werth.

—— Wenn wir nur Mrs. Lecount zur rechten Zeit uns aus dem Wege schaffen können; flüsterte der Hauptmann, als er die Gartenthür seines Gastfreundes aufmachte, so haben wir unsern Mann in der Tasche!

Eine Minute später, und Magdalene war abermals unter Noël Vanstones Dach, diesmal in der Rolle eines von ihm selber eingeladenen Gastes.

Die Vorgänge des Abends waren meistens eine Wiederholung derer beim Morgenspaziergange Mr. Noël Vanstone schwankte wie ein Rohr zwischen seiner Bewunderung von Magdalenens Schönheit und der Selbstverherrlichung seiner Schätze hin und her. Hauptmann Wragge's unerschöpfliche Ergüsse und gelehrte Zungenfertigkeit, unterbrochen durch zarte, indirecte Fragen betreffs Mrs. Lecounts Bruder, lenkten beständig die eifersüchtige Wachsamkeit der Haushälterin von den Blicken und Reden ihres Herrn ab. So ging der Abend hin, bis es Zehn schlug. Nun war auch der Born des populären Wissens beim Hauptmann erschöpft, und der Drang der Haushälterin machte sich gewaltsam Bahn. Abermals gab Hauptmann Wragge Magdalenen durch einen Blick ein Zeichen und erhob sich, wohlweislich seine Zeit ersehend, trotz des gastfreundlichen Widerspruchs von Seiten Mr. Noël Vanstones, um gute Nacht zu sagen.

—— Ich habe meinen Zweck erreicht, bemerkte der Hauptmann auf dem Nachhausewege. Mrs Lecounts Bruder lebt in Zürich. Er Junggeselle, er besitzt ein kleines Vermögen, und seine Schwester ist seine nächste Verwandte. Wenn er nur die Gefälligkeit haben wollte, endlich seinen Abmarsch (zur großen Armee) anzutreten, so würde er uns eine Welt voll Schwierigkeiten mit Mrs. Lecount ersparen.

Es war eine schöne Mondscheinnacht. Er sah sich nach Magdalenen um, als, er diese Worte sprach, um zu sehen, ob ihre hartnäckige Verstimmung sie wieder ergriffen hätte.

Nein! Ihre leicht wechselnde Laune hatte sich abermals verändert. Sie blickte um sich mit einer fieberhaften, unnatürlichen Fröhlichkeit; sie spottete über die bloße Idee von ernster Schwierigkeit mit Mrs. Lecount, sie machte Noël Vanstones hohe Stimme nach und wiederholte Noël Vanstones hochfliegende Complimente und hatte ihre schnöde Freude dran, ihn lächerlich zu machen. Anstatt wie vorher ins Hans zu eilen, schlenderte sie sorglos an der Seite ihres Begleiters, indem sie kleine Bruchstücke von Liedern vor sich her summte und die lockeren Kieselsteine rechts und links aus dem Gartenwege fortstieß. Hauptmann Wragge segnete im Stillen den Umschlag in ihr als das beste der guten Omen. Er dachte, er sähe offene Zeichen, daß der Familiengeist endlich wieder über sie käme.

—— Gut, sagte er, als er ihr das Licht zum Schlafengehen anzündete, wenn wir uns Alle morgen auf der Promenade treffen, so werden wir, wie unsere seemännischen Freunde sagen, ja »sehen, wie das Land liegt«. Eins kann ich ihnen sagen, liebes Mädchen: ich will meine Augen nicht offen gehabt haben, wenn diese Nacht nicht in Mr. Noël Vanstones häuslicher Atmosphäre ein Sturm im Anzuge ist.

Der Scharfblick des Hauptmanns hatte ihn auch diesmal nicht betrogen. Sobald die Thür von Villa Amsee sich hinter den scheidenden Gästen geschlossen hatte, machte Mrs. Lecount eine Anstrengung, um sich der Macht ihres eignen Einflusses zu vergewissern, den Magdalenens Einwirkung bereits zu untergraben drohte.

Sie brauchte jeden Kunstgriff, dessen sie Meisterin war, um zu sehen, wie eigentlich Magdalene in der Meinung ihres Herrn stünde. Sie versuchte es wieder und immer wieder, ihm ein unwillkürliches Bekenntniß des Vergnügens abzulocken, das er bereits an der Gesellschaft der Gesellschaft der schönen Miss Bygrave empfand; sie rang und wandte sich durch alle die Ecken und Enden seines schwachen Charakters hindurch, just wie die Frösche und Eidechsen durch den porösen Felsen ihres Aquariums schlüpften. Aber sie beging den einen großen Mißgriff, welchen sehr gescheidte Leute in ihrem Verkehr mit geistig untergeordneten Personen fast durchgängig zu begehen geneigt sind: sie vertraute unbedingt der Narrheit eines Narren. Sie vergaß dabei, daß eine der geringsten menschlichen Fähigkeiten, die Schlauheit, oft gerade am Meisten in dem geistig am tiefsten stehenden Wesen entwickelt ist. Wenn sie ganz einfach und geradeheraus mit ihrem Herrn gezankt hätte, so würde sie ihn wahrscheinlich eingeschüchtert haben. Wenn sie ihre Herzensmeinung offen vor ihm ausgesprochen hätte, so würde sie ihn durch Darlegung einer Kette von zusammenhängenden Ideen, unfaßbar für sein beschränktes Verständniß, verblüfft haben. Seine Neugier würde ihn getrieben haben, sich eine Erklärung auszubitten, und wenn sie ihn von der Seite gefaßt hätte, so würde sie ihn nach ihrem Sinne gelenkt haben. So aber setzte sie nur einfach ihre Schlauheit gegen die seinige, und der Narr trug den Sieg über sie davon. Mr. Noël Vanstone, welchem alle großherzigen Motive unter Gottes Sonne undurchdringliche Geheimnisse waren, sah das engherzige Motiv im Hintergrunde des Benehmens der Haushälterin, mit einem schlagfertigen Scharfblicke, als wenn er ein Mensch von der höchsten Begabung gewesen wäre. Mrs. Lecount verließ ihn für diesen Abend, besiegt und mit dem Bewußtsein, daß sie besiegt sei, verließ ihn, grimmig wie eine Tigerin, und das gemeine Verlangen in ihren eleganten Fingernägeln, sich in ihres Herrn Gesicht einzugraben!

Sie war nicht das Weib, daß sich durch eine Niederlage, durch hundert Niederlagen aus dem Felde schlagen läßt. Sie war fest entschlossen darauf zu denken und zu sinnen, ein Mittel ausfindig zu machen, um die wachsende Vertraulichkeit mit den Bygraves ein für alle Mal aufzuheben. In der Einsamkeit ihres Zimmers erlangte sie ihre Fassung wieder und machte sich zum ersten Male daran, die Schlüsse, welche sie aus den Ereignissen des Tages sich gebildet hatte, übersichtlich aneinander zu reihen.

Es war etwas Bekanntes in der Stimme dieser Miss Bygrave und zugleich in unbestimmbarem Widersprüche damit doch auch wieder etwas Fremdes. Das Gesicht und die Gestalt der jungen Dame waren ihr ganz fremd. Es war ein auffallendes Gesicht und eine auffallende Gestalt, und wenn sie eins von Beiden einmal in früherer Zeit gesehen hätte, so würde sie sich gewiß dessen erinnert haben. Miss Bygrave war ohne Frage eine Fremde und doch...

Sie war schon während des Tages nicht weiter als bis hierher gekommen, sie konnte auch jetzt nicht weiter kommen. Die Kette der Gedanken brach ab.... Ihr Geist nahm die Stücke der Kette auf und bildete eine andere Kette, welche sich an die Dame, die verborgen und eingeschlossen gehalten wurde, knüpfte, an die Tante, welche wohl aussah und doch nervenleidend war, welche an den Nerven litt und doch mit Nadel und Zwirn umgehen konnte. Eine unbegreifliche Aehnlichkeit mit einer Stimme in ihrer Erinnerung —— bei der Nichte; eine räthselhafte Krankheit, welche die Tante von der Oeffentlichkeit ausschloß, ein außergwöhnlicher Grad von wissenschaftlicher Bildung —— bei dem Oheim, eng verbunden mit einer gewissen Derbheit und Keckheit des Auftretens, welche sich keineswegs mit dem Wesen eines in gelehrte Untersuchungen eingeweihten Mannes vertragen wollte: waren die Glieder dieser kleinen Familie von drei Personen wirklich das, was sie äußerlich schienen?

Mit dieser Frage im Herzen ging sie zu Bett.

Sobald das Licht ausgelöscht war, schien die Dunkelheit ihre Gedanken in einen seltsam verschlungenen Tanz zu ziehen. Sie wanderten wider ihren Willen von der Gegenwart weg, rückwärts in die Vergangenheit.... Sie brachten ihren alten Herrn wieder ins Leben... sie beschworen vergessene Worte und Handlungen in dem englischen Cirkel zu Zürich herauf... sie schwärmten hinweg an das Todtenbett des alten Herrn in Brighton... sie gingen von Brighton nach London, traten in das nackte, unwohnliche Zimmer auf der Vauxhallpromenade... sie setzten das Aquarium wieder zurück an seinen alten Platz, auf den Küchentisch... und die falsche Miss Garth in den Stuhl daneben, wie sie ihre entzündeten Augen vor dem Lichte schützte... sie legten ihr wieder den namenlosen Brief, den Brief, welcher dunkel auf einen Anschlag gegen sie aufspielte, in die Hand... Und sie stand mit demselben wieder vor ihrem Herrn, und es wiederholten sich das Gespräch über die Ausfüllung der leergelassenen Stelle in der Anzeige und der Streit, als sie damals Mr. Noël Vanstone sagte, daß die Summe, welche er geboten hatte, lächerlich gering sei. Ein alter Zweifel stieg wieder auf in ihr, welcher sie seit Wochen nicht mehr beunruhigt hatte, ein Zweifel, ob dieser angedrohte Anschlag nicht in bloßen Worten verpufft wäre, oder ob sie und ihr Herr wohl vielleicht doch nochmals davon hören würden. Bei diesem Puncte brachen ihre Gedanken abermals ab, und es entstand eine augenblickliche Lücke... Den nächsten Augenblick aber fuhr sie jählings auf; ihr Herz schlug heftig, ihr Haupt wirbelte, als ob sie ihren Verstand verloren hätte! Mit elektrischer Schnelligkeit stellte ihr Geist seine zerstückelte Mannigfaltigkeit von Gedanken zusammen und legte sie deutlich in einer verständigen Form vor sie hin. In der sie alles Andere vergessen machenden Aufregung des Augenblicks schlug sie ihre Hände zusammen und schrie plötzlich in der Dunkelheit auf:

—— Wieder Miss Vanstone!!!

Sie stieg wieder aus dem Bette und zündete sich sogleich Licht an. Stark wie ihre Nerven waren, hatte doch der Stoß sie erschüttert, als jener Verdacht sie blitzähnlich durchzuckte. Ihre feste Hand zitterte, als sie ihre Commode aufzog und ein kleines Fläschchen mit fliegendem Salz herausnahm. Trotz ihrer glatten Wangen und ihres wohlerhaltenen Haares sah man ihr jetzt doch ihr Alter bis aufs Jahr an, wie sie dastand und den Spiritus mit Wasser vermischte, ihn gierig hinunter trank und sich ihren Schlafrock um sich nehmend an das Bett setzte, um wieder ruhig zu werden.

Sie war ganz unfähig dem geistigen Vorgang noch einmal zu folgen, welcher sie zur Entdeckung geführt hatte. Sie konnte nicht soweit gegenständlich aus sich heraustreten, um zu sehen, daß ihre halbfertigen Schlüsse betreffs der Bygraves damit geendigt hatten, jene Familie zu Gegenständen des Argwohns für sie zu machen; und daß die beiden Ideen von jenen verschiedenen Gegenständen ihres Mißtrauens plötzlich mit einander in Berührung kommend, ihr das Licht aufgesteckt hatten. Sie war nicht im Stande, die Reihe der Schlüsse rückwärts zu verfolgen von der Wirkung zur Ursache. Sie konnte nur fühlen, daß der Verdacht schon mehr war, als ein bloßer Verdacht: die Ueberzeugung selbst hätte sich nicht tiefer in ihrer Seele festsetzen können.

Indem, sie nun Magdalene in dem neuen Lichte, das auf sie fiel, betrachtete, wollte Mrs. Lecount sich gern einreden, als ob sie einige Züge aus dem Gesicht der falschen Miss Garth und deren Gestalt in dem anmuthigen und schönen Mädchen wieder erkannt, welches kaum vor einer Stunde an ihres Herrn Tische gesessen hatte, —— und Aehnlichkeiten gefunden habe, an die sie bisher nimmer gedacht, zwischen der zornigen Stimme, die sie auf der Vauxhallpromenade gehört hatte, und der sanften wohlgeschulten Sprechweise, welche ihr diesen Abend eine Treppe tiefer noch in den Ohren klang. Sie redete sich ein, daß sie diese Ergebnisse ohne Verwaltigung der Wahrheit, die sie schon besaß, erreicht habe; aber diese Anstrengung war vergebens.

Mrs. Lecount war nicht das Weib, das über dem Versuch sich selbst zu täuschen, Zeit und Geist verschwenden mochte. Sie gab sich mit dem unbestreitbaren Schlusse zufrieden, daß die Muthmaßung eines Augenblicks sie zur Entdeckung geführt habe. Und noch mehr, sie erkannte die volle Wahrheit an, so unwillkommen sie auch war, daß die nun einmal bei ihr selbst innerlich feststehende Ueberzeugung bis jetzt durch kein einziges Stückchen von einem handhaften Beweise unterstützt werde, welcher letztere in den Augen Anderer zu rechtfertigen wäre.

Was war unter diesen Umständen für ein Verhalten ihrem Herrn gegenüber rathsam einzuschlagen?

Wenn sie ihm den nächsten Morgen, wo sie zusammenkamen, offen heraus mittheilte, was ihr die Nacht über in den Sinn gekommen sei, so konnte nach ihrer Kenntniß von Mr. Noël Vanstone nur eins von zwei Dingen eintreten. Entweder war er vielleicht unwillig und widersprechend, verlangte auch noch Beweise und klagte, wenn er fand, daß keiner zum Vorschein kam, wohl gar noch sie an, daß sie ihn unnöthigerweis in Angst und Schrecken setzen wolle, und das Alles, bloß um ihren eifersüchtigen Endzweck, Magdalenen vom Hause fernzuhalten, zu fördern. Oder aber er war vielleicht ernstlich betroffen, rief nach dem Schutze des Gesetzes und lehrte dadurch nur den Bygraves von Anfang an auf ihrer Hut zu sein. Wenn Magdalene allein in die Verschwörung verwickelt gewesen wäre, so würde die letztere Consequenz in den Augen der Haushälterin keine große Wichtigkeit gehabt haben. Aber da sie die Täuschung in ihrem vollen Lichte sah, so war sie ein zu gescheidtes Weib, als daß sie die unerschöpfliche Fruchtbarkeit von Hauptmann Wragge's erfinderischem Geiste nicht ihrem ganzen Werthe nach geschätzt hätte.

—— Wenn ich dieser Unverschämten Spottgeburt nicht mit klaren Beweisen, die für mich sprechen, entgegentreten kann, — dachte Mrs. Lecount, so werde ich meines Herren Augen morgen früh öffnen, aber Mr. Bygraoe wird sie, ehe es Nacht wird, wieder schließen; Der Schurke spielt mit allen seinen Karten unter dem Tische, und er wird das Spiel gewißlich gewinnen, wenn er meine Hand sich rühren sieht.

Diese Politik des Zuwartens war so offenbar klug berechnet, der vorsichtige Mr. Bygrave war seiner Sache so sicher, indem er sich für den Nothfall mit Beweismitteln für die Identität versehen, die er und seine Nichte zu ihrem Endzweck angenommen hatten, daß Mrs. Lecount bei sich beschloß, nächsten Morgen mit sich selbst zu Rathe zu gehen und mit dem Angriff der Verschwörung so lange zu warten, bis sie zu ihrer Unterstützung unleugbare Thatsachen vorbringen könnte. Ihres Herrn Bekanntschaft mit den Bygraves war nur eine Bekanntschaft von der Dauer eines Tages. Es war keine Gefahr da, daß sie sich zu einer beunruhigenden Vertraulichkeit entwickeln konnte, wenn sie dieselbe auch noch einige wenige Tage länger zuließ und spätestens nach Ablauf einer Woche sie zu Nichte machte.

Welche Maßregeln konnte sie zu dieser Zeit ergreifen, um die Hindernisse zu entfernen, welche ihr jetzt im Wege standen, und sich mit den Waffen zu versehen, die sie jetzt brauchte?

Reiferes Nachdenken zeigte ihr drei verschiedene Aussichten zu ihren Gunsten, drei verschiedene Wege, um zu, der nothwendiger Entdeckung zu gelangen.

Die erste Aussicht war, sich mit Magdalenen in ein freundliches Verhältniß einzulassen und sie unversehends zu fassen und dann sie so zu verstricken, daß sie sich in Noël Vanstone's Gegenwart verriethe.

Die zweite Möglichkeit war, an die ältere Miß Vanstone zu schreiben und unter Vorgeben irgend einer beunruhigenden Veranlassung dieser Frage sich Auskunft zu erbittert über ihrer jüngern Schwester nähere Umstände und diejenigen Eigenthümlichkeiten ihrer persönlichen Erscheinung, welche einen Fremden in den Stand setzen könnten, sie wieder zu erkennen.

Die dritte Aussicht endlich war, das Geheimniß, warum Mrs. Bygrave eingeschlossen gehalten wurde, zu ergründen —— und durch eine persönliche Unterredung herauszubekommen, ob nicht das Leiden der kranken Dame möglicherweise nur hinausliefe auf eine mangelnde Fähigkeit, das Geheimniß ihres Gatten zu bewahren.

Indem Mrs. Lecount sich entschloß, es mit allen drei Verfahrungsweisen in der Reihenfolge, wie sie hier aufgezählt wurden, zu versuchen und Magdalenen gleich an dem Tage, der in wenigen Stunden anbrechen mußte, die Daumschrauben anzusetzen, warf sie endlich ihren Schlafrock ab und ließ ihrem schwächeren irdischen Theile sein Recht auf einen kurzen Schlummer widerfahren.

Das Morgengrauen brach bereits über der kalten grauen See an, als sie sich wieder zu Bett legte. Der letzte Gedanke in ihrer Seele, ehe sie einschlief, war bezeichnend für das Weib, es war ein Gedanke, welcher den Hauptmann bedrohte.

—— Er hat freventlich mit dem heiligen Andenken meines Gatten gespielt, dachte die Professorswittwe. Bei meinem Leben und meiner Ehre, er soll mir dafür büßen!

Am nächsten Morgen früh fing Magdalene ihr Tagewerk nach der mit dem Hauptmann genommenen Abrede damit an, daß sie Mrs. Wragge zu einer kleinen Bewegung im Freien zu einer Stunde, wo nicht zu fürchten stand, daß sie die öffentliche Aufmerksamkeit erregen würde, ausführte. Diese bat inständig, sie doch zu Hause zu lassen. Sie habe ja die orientalische Kaschmirrobe beständig im Sinne und halte es für nothwendig, ihre Anweisungen zum Schneidern zum hundertsten Male wenigstens durchzulesen ehe sie —— um ihren eigenen Ausdruck zu gebrauchen —— »ihren Muth soweit hinaufschrauben könnte, um die Scheere an das Zeug zu bringen«.

Allein ihre Begleiterin ließ keine Entschuldigung gelten, und somit wurde sie gezwungen, mit auszugehen. Der einzige aufrichtige Lebenszweck, den Magdalene jetzt verfolgte, war ja der Entschluß, daß die arme Mrs. Wragge um ihretwillen nicht zu einer Gefangenen gemacht werden sollte; und an diesem Entschlusse klammerte sie sich halb unbewußt fest als an dem einzig ihr gebliebenen letzten Zeichen, woran sie ihr besseres Selbst wieder erkannte.

Sie kamen später als gewöhnlich zum Frühstück heim. Während Mrs. Wragge in das Haus hinauf ging, um sich von Kopf bis zu Fuß zu der Frühmusterung von Seiten der ordnungsliebenden Augen ihres Eheherrn zu bereiten, und während Magdalene und der Hauptmann im Wohnzimmer auf sie warteten, kam das Dienstmädchen herein und brachte einen Brief von Villa Amsee. Der Bote wartete auf Antwort, und das Billet war an Hauptmann Wragge gerichtet.

Der Hauptmann öffnete den Brief und las folgende Zeilen:

Werther Herr!

Mr. Noël Vanstone ersucht mich an Sie zu schreiben und Ihnen mitzutheilen, daß er diesen Tag zu einer längeren Spazierfahrt nach einem Orte an der Küste, welcher Dunwich heißt, benutzen will. Er wünscht nun zu wissen, ob Sie mit ihm einen Wagen zusammen nehmen und ihm das Vergnügen Ihrer und Miß Bygraves Gesellschaft auf diesem Ausfluge gönnen wollen. Es ist mir freundlich Verstattet worden, mit von der Partie zu sein, und, wenn ich ohne unbescheiden zu sein, mich so ausdrücken darf, so möchte ich hinzufügen, daß ich eben soviel Vergnügen als mein Herr empfinden würde, wenn Sie und ihre junge Dame so gefällig sein wollten, sich uns anzuschließen. Wir beabsichtigen Albborough pünktlich elf Uhr zu verlassen..

Gestatten Sie mir, werther Herr, mich zu nennen

Ihre
gehorsame Dienerin,
Virginie Lecount.

—— Von wem ist der Brief? frug Magdalene, als sie auf des Hauptmanns Gesicht eine Verwandlung bemerkte, während er fort las. Was wünscht man von uns auf Villa Amsee?

—— Erlauben Sie, versetzte der Hauptmann mit gewichtiger Miene, dies verlangt Erwägung. Lassen Sie mir ein paar Minuten Zeit, mich zu bedenken.

Er machte einige Gänge im Zimmer auf und ab, trat dann plötzlich an einen Seitentisch in einer Ecke, auf welchem Schreibmaterialien lagen.

—— Oho, ich bin nicht von gestern, Madame, sagte der Hauptmann in scherzhaftem Selbstgespräche.

Er kniff sein braunes Auge zu, ergriff die Feder und schrieb die Antwort.

—— Können Sie nun reden? forschte Magdalene als die Dienerin das Zimmer verlassen hatte. Was besagt jener, Brief, und wie haben Sie ihn beantwortet?

Der Hauptmann legte ihr den Brief in die Hand.

—— Ich habe die Einladung angenommen, versetzte er ruhig.

Magdalene las das Billet.

—— Geheime Feindseligkeit gestern —— sagte sie —— und offene Freundschaft heute? Was soll das heißen?

—— Das soll heißen, sagte Hauptmann Wragge, —— Mrs. Lecount ist doch noch schlauer als ich glaubte. Sie hat Sie entdeckt.

—— Unmöglich, rief Magdalene. Vollständig unmöglich in der kurzen Zeit!

—— Ich kann nicht sagen, wie sie Sie entdeckt hat, fuhr der Hauptmann mit voller Seelenruhe fort; —— sie kennt vielleicht Ihre Stimme noch genauer, als wir Beide voraussetzten. Oder sie hat bei näherem Zusehen herausgefunden, daß wir eine verdächtige Familie seien, und irgend etwas Verdächtiges, das mit einem Frauenzimmer in Zusammenhang stand, hat vielleicht ihren Geist zurückgeführt zu jenem Ihrem Morgenbesuche auf der Vauxhallpromenade. Wie es auch immer zugegangen sein mag, der Grund dieser jähen Umwandlung ist deutlich genug. Sie hat Sie entdeckt: und sie will nun Beweise für die Richtigkeit ihrer Entdeckung haben, dadurch, daß sie unter dem Deckmantel eines kleinen freundschaftlichen Gesprächs eine oder ein paar verfängliche Fragen einfließen läßt. Meine Menschenkenntniß ist eine sehr vielartige, und Mrs. Lecount ist nicht der erste abgefeimte Kopf im Unterrocke, mit welchem ich es zu thun gehabt habe. Die ganze Welt ist eine Bühne, liebes Kind —— und auf unserer kleinen Bühne ist eben von diesem Augenblick an eine Scene abgeschlossen.

Mit diesen Worten nahm er sein Exemplar von Joyces Wissenschaftlichen Gesprächen aus seiner Tasche.

—— Mit Dir bin ich nun bereits fertig, mein Freund! sagte der Hauptmann und gab seinem nutzbaren Leitfaden einen Schlag zum Lebewohl und schloß ihn in den Wandschrank ein.

—— So ist es mit der menschlichen Popularität, fuhr der unverbesserliche Vagabund fort, indem er den Schlüssel fröhlich in seine Tasche steckte. Gestern noch war Joyce mein Einziges und Alles! Heute mache ich mir nicht mehr soviel aus ihm!

Er schnippte mit den Fingern und setzte sich zum Frühstück.

—— Ich verstehe Sie nicht, sagte Magdalene und sah ihn unwillig an. Wollen Sie mich für die Zukunft mir selbst überlassen?

—— Liebes Kind! rief der Hauptmann Wragge, können Sie sich noch immer nicht an den Flug meines Humors gewöhnen? Ich bin zu Ende mit meiner gemeinfaßlichen Wissenschaft, einfach deswegen, weil ich vollkommen überzeugt bin, daß Mrs. Lecount auch damit zu Ende ist, mir Glauben zu schenken. Habe ich nicht die Einladung nach Dunwich angenommen? Seien Sie unbesorgt. Die Hilfe, die ich Ihnen bereits geleistet habe, will Nichts besagen im Vergleich mit der Hilfe, die ich Ihnen jetzt leisten werde. Meine Ehre steht auf dem Spiele, Mrs. Lecount das Paroli zu biegen. Dieser ihr letzter Schachzug hat es zu einer persönlichen Angelegenheit zwischen mir und ihr gemacht.

—— Das Weib denkt jetzt wirklich, es kann mich in die Tasche stecken! schrie der Hauptmann indem er mit seinem Messerstiel auf den Tisch klopfte in einer Anwandlung von sittlicher Entrüstung. Beim Himmel, ich war noch nie in meinem Leben so beleidigt! Rücken Sie Ihren Stuhl an den Tisch, meine Liebe, und schenken Sie mir eine halbe Minute lang Ihre Aufmerksamkeit mit Bezug auf Das, was ich Ihnen zu sagen habe.

Magdalene willfahrte ihm. Hauptmann Wragge senkte vorsichtig seine Stimme, ehe er fortfuhr.

—— Ich habe Ihnen immer gesagt, sprach er, daß das Einzige, was nöthig ist, darin besteht, daß Mrs. Lecount Sie niemals in Aufwallung und Aufregung belauschen darf. Ich sage Dasselbe, nach dem, was diesen Morgen vorgefallen ist. Lassen Sie sie nur mißtrauisch gegen Sie sein! Ich wette, sie findet nun und nimmer einen Anhaltspunct für ihren Verdacht, wenn wir ihr nicht etwa selbst in die Hände arbeiten. Wir werden heute sehen, ob sie thöricht genug gewesen ist, sich ihrem Herrn zu verrathen, ehe sie Thatsachen in den Händen hat, um ihre Behauptungen zu erhärten. Ich bezweifle es. Wenn sie es ihm gesagt hat, so wollen wir Beweise unserer Identität mit den Bygraves in Strömen auf sein schwaches Köpfchen herabregnen lassen, daß er schließlich unter der Last seiner Ueberzeugung erseufzen soll. Sie haben auf diesem Ausflug nur zweierlei zu thun. Erstlich mißtrauen Sie einem jeden Worte, das aus Mrs. Lecounts Munde kommt. Zweitens setzen Sie Ihren ganzen Zauber in Thätigkeit, um die Sache mit Mr. Noël Vanstone von diesem Tage an richtig zu machen. Ich will Ihnen die Gelegenheit geben, sobald wir den Wagen verlassen und unsern Spaziergang nach Dunwich antreten. Tragen Sie Ihren Hut, tragen Sie Ihr Lächeln auf den Lippen, lassen Sie Ihre Gestalt zur vollen Geltung kommen, schnüren Sie sich knapp, legen Sie Ihre hübschesten Schuhe und hellsten Glacés an, binden Sie die elende kleine Spottgeburt an ihr Schürzenband, binden Sie ihn fest und überlassen Sie die ganze Anordnung der Sache nachher nur mir. Achtung! Hier ist Mrs. Wragge, wir müssen jetzt doppelt vorsichtig sein und sie wohl im Auge behalten. —— Zeige mir Deine Haube, Mrs. Wragge! zeige mir auch Deine Schuhe! Was muß ich auf Deiner Schürze erblicken? Einen Flecken? Ich will keine Flecken haben! Nimm sie nach dem Frühstück ab und leg eine andere an. Rücke Deinen Stuhl nach der Mitte des Tisches, —— mehr links, noch mehr. Mach das Frühstück.

Ein Viertel vor Elf wurde Mrs. Wragge mit ihrer eigenen vollen Zustimmung in das Hinterzimmer entlassen, um sich für den Rest des Tages in die Wissenschaft des Kleidermachens zu vertiefen. Pünctlich mit dem Glockenschlage fuhren Mrs. Lecount und ihr Herr vor dem Thor der Nordstein-Villa vor und fanden Magdalene und Hauptmann Wragge ihrer im Garten wartend.

Aus dem Wege nach Dunwich fiel Nichts vor, um den Genuß der Spazierfahrt zu trüben. Mr. Noël Vanstone war bei vortrefflicher Gesundheit und äußerst gewecktem Humor. Die Lecount hatte wegen des kleinen Mißverständnisses vom Abend vorher um Verzeihung gebeten, sie hatte sich den Ausflug als eine Prüfung für sie selbst ausgebeten. Er dachte an diese Zugeständnisse und blickte auf Magdalene und grinste und lächelte in Einem fort. Mrs. Lecount spielte ihre Rolle vortrefflich. Sie war gegenüber Magdalenen mütterlich zärtlich und gegen Noël Vanstone liebevoll aufmerksam. Sie nahm den regsten Antheil an Hauptmann Wragge's Unterhaltung und war einigermaßen betreten darüber, daß selbige sich auf allgemeine Gegenstände mit Ausschluß der Wissenschaft erstreckte. Nicht ein Wort oder ein Blick entschlüpfte ihr, welcher im entferntesten Grade auf ihr wirkliches Endziel hindeutete. Sie hatte sich mit gewohnter Eleganz und Sauberkeit gekleidet und war an dem schwülen Sommertage die einzige Person, welche in der heißesten Zeit des Tages vollkommen kühl war und blieb.

Als sie bei ihrer Ankunft zu Dunwich den Wagen verließen, ergriff der Hauptmann einen Augenblick, wo Mrs. Lecounts Auge von ihm abgewandt war, und prägte Magdalenen durch ein einzig Wort noch einmal seine Warnungen und Verhaltungsregeln ein.

—— Nehmen Sie, sich vor der Katze in Acht! flüsterte er. Sie wird ihre Krallen auf dem Rückwege zeigen.

Sie verließen das Dorf und wandelten zu den Ruinen eines nahegelegenen Klosters, dem letzten Ueberbleibsel von der einst volkreichen Stadt Dunwich, das die Zerstörung des Orts durch die Alles verschlingende See um Jahrhunderte überlebt hatte. Nachdem sie die Ruinen besehen hatten suchten sie den Schatten eines kleinen Gehölzes zwischen dem Dorfe und den niedrigen Sandhügeln, welche über, die Nordsee hinwegschauen, auf. Hier wußte es Hauptmann Wragge einzurichten, daß er Magdalenen und Noël Vanstone einige Schritt vor sich und Mrs. Lecount voraus ließ, schlug den falschen Weg ein und verlor sofort mit der größten Geschicklichkeit den Weg. Nachdem sie einige Minuten in der falschen Richtung fortgegangen waren, erreichten sie eine offene Stelle am Meere, und nun schlug er vor —— indem er seinen Feldstuhl der Haushälterin zur Verfügung stellte —— so lange hier zu verweilen, bis die vermißten Glieder der Gesellschaft dieses Weges einher kämen und sie entdeckten.

Mrs. Lecount nahm den Vorschlag an. Sie war sich vortrefflich bewußt, daß ihr Begleiter sich mit Willen verirrt hatte, aber diese Entdeckung übte keinen störenden Einfluß auf die sanfte Liebenswürdigkeit ihres Benehmens. Der Tag der Abrechnung mit Hauptmann Wragge war noch nicht gekommen; sie fügte nur diesen neuen Zug seinem Sündenregister hinzu und setzte sich auf seinen Feldstuhl zurecht. Hauptmann Wragge lagerte sich in einer romantischen Stellung zu ihren Füßen hin, und die beiden erbitterten Feinde, gruppiert wie ein Liebespaar auf einem Bilde, kamen in eine so leichte und anmuthige Unterhaltung, als wenn sie schon seit zwanzig Jahren Freunde gewesen wären.

—— Ich kenne Sie, Dame, dachte der Hauptmann, während Mrs. Lecount mit ihm sprach. Sie möchten mich wohl gern wieder bei meiner populären Wissenschaft ertappen, und Sie hätten Nichts dawider, wenn ich in dem Wasserthierbehälter des Professors ersöffe!

—— Du Schurke mit dem braunen und dem grünen Auge! dachte Mrs. Lecount, als der Hauptmann den Ball der Unterredung seinerseits auffing und weiter gab, —— so dick Deine Haut ist, ich will sie doch noch durchstechen!

In dieser Gemüthsstimmung gegen einander sprachen sie fließend über allgemeine Gegenstände, über öffentliche Angelegenheiten, über die Oertlichkeit und ihren Anblick, über die Gesellschaft in England und in der Schweiz, über Gesundheit, Klima, Bücher, Heirathen und Geld, sprachen ohne einen Augenblick aufzuhören, ohne sich gegenseitig einen Augenblick mißzuverstehen, wohl eine Stunde lang, ehe Magdalene und Noël Vanstone des Weges daher kamen und die Partie von vier wieder vollzählig machten.

Als sie den Gasthof, in welchem das Geschirr auf sie wartete, erreichten, ließ sie Hauptmann Wragge im ungestörten Besitz ihres Herrn und gab Magdalenen einen Wink einen Augenblick hinten zurückzubleiben und mit ihm zu sprechen.

—— Ging es gut? fragte der Hauptmann in flüsterndem Tone, ist er fest an Ihrem Schürtzenbande?

Sie schauderte von Kopf bis zu Fuße zusammen, als sie antwortete.

—— Er hat mir die Hand geküßt, sagte sie. Sagt Ihnen Das genug? Lassen Sie ihn nicht neben mir sitzen auf dem Nachhausewege. Ich habe ertragen, so viel ich ertragen konnte.... für den Rest des Tages schonen Sie mich.

—— Ich will Sie auf dem Vordersitz des Wagens unterbringen, versetzte der Hauptmann, neben mir.

Auf dem Heimwege bewahrheitete Mrs. Lecount Hauptmann Wragges Voraussage Sie zeigte ihre Krallen.

Die Zeit hätte nicht besser gewählt werden können, die Umstände konnten sie kaum mehr begünstigen. Magdalenens Geist war niedergedrückt, sie war müde an Leib und Seele, und sie saß gerade der Haushälterin gegenüber, welche durch die neue Anordnung genöthigt war, den Ehrensitz neben ihrem Herrn einzunehmen. In der besten Lage und Gelegenheit, die geringsten Veränderungen wahrzunehmen, welche auf Magdalenens Angesicht vor sich gingen, versuchte Mrs. Lecount ihren ersten Fühler, indem sie die Unterhaltung auf London und die beziehentlichen Vortheile, welche die verschiedenen Viertel der Hauptstadt auf beiden Seiten des Flusses für Niederlassungen hüten. Der immer schlagfertige Wragge durchschaute ihre Absicht eher, als sie geglaubt hatte, und legte sich sofort ins Mittel.

—— Sie kommen jetzt zur Vauxhallpromenade, Madame, dachte der Hauptmann, ich will dort sein noch vor Ihnen.

Er ging nun auf eine ganz und gar aus der Luft gegriffene Beschreibung der verschiedenen Stadtviertel von London ein, in denen er gewohnt haben wollte, und rettete, indem er geschickt Vauxhallpromenade als eins derselben anführte, Magdalenen vor der plötzlichen Frage bezüglich dieser Gegend, mit welcher Mrs. Lecount sich vorgenommen hatte, sie zu verblüffen. Von seinen Wohnungen ging er leicht auf sich selber über und ergoß nun seine ganze Familiengeschichte in der Rolle als Mr. Bygrave in die Ohren der Haushälterin, indem er dabei keineswegs das Grab seines Bruders in Honduras mit dem Denkmal von der Hand des schwarzen Naturkünstlers und seines Bruders ungeheuerlich beleibtes Eheweib auf der Hausflur des Hotel garni zu Cheltenham vergaß. Als Mittel, Magdalenen Zeit zu lassen, sich zu fassen, erreichte dieser Ausbruch von selbstbiographischen Mittheilungen seinen Zweck, aber er diente auch zu weiter nichts Anderem. Mrs. Lecount hörte zu, ohne daß sie einem einzigen Worte des Hauptmanns Glauben schenkte. Er bestärkte sie nur in ihrer Ueberzeugung, daß es unnütz sein würde, Mr. Noël Vanstone in ihr Vertrauen zu ziehen, bevor sie thatsächliche Unterlagen gegen Hauptmann Wragges sonst unangreifbare Stellung in der von ihm angenommenen Identität in den Händen habe. Sie wartete ruhig, bis er fertig war und erneuerte dann ihren Angriff.

—— Es ist ein eignes Zusammentreffen von Umständen, daß Ihr Oheim einmal auf der Vauxhallpromenade gewohnt haben soll, sagte sie, zu Magdalenen gewandt. Mein Herr hat in derselben Stadtgegend ein Haus, und wir wohnten dort, ehe wir nach Aldborough kamen. Darf ich mir die Frage erlauben, Miss Bygrave, ob Sie Etwas von einer Dame Namens Miss Garth wissen?

Dies Mal stellte sie die Frage, ehe sich der Hauptmann dazwischen legen konnte. Magdalene hätte durch das Vorhergegangene darauf vorbereitet sein sollen; allein ihre Nerven waren durch die früheren Ereignisse des Tages erschüttert worden, und sie konnte die Frage nur nach einer augenblicklichen Pause, um sich zu fassen, beantworten. Ihr Zögern war nur von der Dauer eines Augenblicks und konnte daher keiner Person, die nicht von vornherein argwöhnisch war, auffallen. Allein es dauerte lange genug, um Mrs. Lecounts geheime Ueberzeugung zu bestärken und sie zu ermuntern, ein wenig weiter vorzugehen.

—— Ich fragte nur, fuhr sie, die Augen immer fest auf Magdalenen gerichtet, immer die Anstrengungen, welche Hauptmann Wragge machte, um mit ins Gespräch zu kommen, vereitelnd, fort: —— weil Miss Garth eine fremde Person für mich ist, und ich bin neugierig, soviel als möglich Näheres von ihr zu erfahren. Den Tag, bevor wir London verließen, Miss Bygrave, machte mir eine Person, welche sich unter dem obengenannten Namen vorstellte, unter sehr außerordentlichen Umständen einen Besuch. Mit einer sanften, einschmeichelnden Art und Weise, mit einem so fein zugespitzten Hohne, der in seiner schlauen Annahme der Sprechweise des Mitleids schier teuflisch zu nennen war, beschrieb sie nun dreist Magdalenens Erscheinung in der Verkleidung in Magdalenens eigener Gegenwart. Sie berührte flüchtig den Herrn und die Frau auf Combe-Raven als Personen, welche allezeit dem älteren und achtbareren Zweige der Familie ein Aergerniß gewesen wären; sie beklagte die Kinder, welche in die Fußtapfen ihrer Eltern träten und von Mr. Noël Vanstone Gelder zu ziehen suchten unter dem Schutze des Charakters einer achtbaren Person und deren Namen. Geschickt ihren Herrn in die Unterhaltung hereinziehend, um zu verhüten, daß, der Hauptmann nach dieser Seite eine Abschwenkung machte, keinerlei kleine Uebertreibungen sparend, jede zarte Stelle verwundend, die die Zunge eines bösen Weibes treffen kann: würde sie ohne allen Zweifel ihren Zweck erreicht und Magdalenen so lange gemartert haben, bis sie sich selbst verrieth, hätte sie nicht Hauptmann Wragge in vollem Laufe angehalten durch einen lauten Schreckensruf und einen plötzlichen Griff nach Magdalenens Hand.

—— Zehntausend Mal Verzeihung, meine theure Madame! schrie der Hauptmann. Ich sehe an meiner Nichte Gesicht, ich fühle an meiner Nichte Puls, daß einer ihrer heftigen Nervenanfälle wiedergekommen ist. Liebes Kind, warum zögern Sie unter Freunden zu gestehen, daß Sie leidend sind? Welche übel angebrachte Höflichkeit! Ihr Gesicht zeigt, daß sie Schmerzen hat, nicht wahr, Mrs. Leeount? Durchbohrende Schmerzen, Mr. Vanstone, bohrende Schmerzen auf der linken Seite des Kopfes. Schlagen Sie Ihren Schleier herunter, meine Liebe, und lehnen Sie sich an mich. Unsere Freunde werden Sie entschuldigen; unsere trefflichen Freunde werden Sie entschuldigen für den Rest des Tages.

Bevor Mrs. Lecount einen Augenblick Zweifel hegen konnte an der Wirklichkeit des Nervenanfalls, äußerte sich ihres Herren unruhige Sympathie genau, wie der Hauptmann vorhergesehen hatte, in den thätigsten Kundgebungen. Er ließ halten und bestand auf einen sofortigen Wechsel der Plätze, der bequeme Rücksitz für Miss Bygrave und ihren Oheim, der Vordersitz für ihn selbst und Mrs. Lecount. Hatte Lecount ihr Riechfläschchen bei sich? Vortreffliches Geschöpf! Sie mag es gleich an Miss Bygrave abgeben, und per Kutscher fahre vorsichtig weiter. Wenn der Kutscher Miss Bygrave erschüttert, so soll er keinen Heller Trinkeld erhalten. Magnetismus [Mesmerismus.] war sehr oft in derlei Fällen nützlich. Mr. Noël Vanstone's Vater war der kräftigste Magnetiseur in ganz Europa; und Mr. Noël Vanstone war seines Vaters Sohn. Sollte er sie magnetisiren? Sollte er den Verwünschten Kutscher anweisen an einen schattigen dazu passenden Ort zu fahren? Oder wäre ärztliche Hilfe hier vorzusehen? Konnte man ärztlichen Beistand irgendwo eher als in Aldborough haben? Jener Esel von einem Kutscher wußte es nicht. Halten Sie jeden anständigen Mann, der in einem Gig vorüberfährt, an, und fragen Sie ihn, ob er ein Arzt ist!

So ging es bei Mr. Noël Vanstone in Einem fort, mit kurzen Pausen, wo er Athem schöpfte, und mit immer mehr steigender Sympathie und Wichtigthuerei auf der ganzen Fahrt nach Hause.

Mrs. Lecount nahm ihre Niederlage, ohne ein Wort zu sagen, hin. Von dem Augenblicke an, wo Hauptmann Wragge sie unterbrach, schlossen sich ihre dünnen Lippen und öffneten sich auf dem ganzen übrigen Wege nicht wieder. Die wärmsten Ausbrüche der Besorgniß ihres Herrn für die leidende junge Dame riefen bei ihr kein äußeres Zeichen von Aerger hervor. Sie nahm von ihm so wenig als möglich Notiz. Sie schenkte dem Hauptmann keine Aufmerksamkeit, der in seiner ausgesuchten Zuvorkommenheit gegen seinen aus dem Felde geschlagenen Feind höflicher wurde, als je zuvor. Je näher sie Aldborough kamen, desto schärfer sahen Mrs. Lecounts harte schwarze Augen auf Magdalenen, welche auf dem Sitze gegenüber lehnte, die Augen geschlossen und den Schleier herunter gelassen.

Erst als der Wagen vor Nordstein-Villa hielt und als Hauptmann Wragge Magdalenen heraushob, ließ sich die Haushälterin herab, ihm einige Beachtung zu schenken. Als er lächelte und den Hut abnahm am Wagenschlage, löste sich plötzlich der strenge Zwang, den sie sich auferlegt hatte, und sie schoß ihm einen Blick zu, welcher die Höflichkeit des Hauptmanns auf der Stelle erstickte. Er drehte sich sofort mit einem eiligen Dank für Noël Vanstones letzte theilnehmende Fragen um und führte Magdalenen in das Haus.

—— Ich sagte Ihnen wohl, sie würde noch ihre Krallen zeigen, sagte er. Es ist meine Schuld nicht, daß sie Sie gekratzt hat, ehe ich ihr Einhalt thun konnte. Sie hat Sie doch nicht verletzt, nicht wahr?

—— Sie hat mich verletzt, und das hat sein Gutes, sagte Magdalene, —— sie hat mir den Muth gegeben, vorwärts zu gehen. Sagen Sie, was morgen geschehen muß, und verlassen Sie sich darauf, daß ich es thun werde.

Sie seufzte schwer, als sie jene Worte sagte und ging in ihr Zimmer hinauf.

Der Hauptmann ging gedankenvoll in das Wohnzimmer und setzte sich, um nachzudenken. Er fühlte sich keineswegs seiner Sache so gewiß, als er hätte wohl wünschen mögen, betreffs des nächsten Schachzugs von Seiten des Feindes nach dem Abschlagen des heutigen Angriffs. Der Abschiedsblick der Haushälterin hatte ihm klar gesagt, daß sie mit ihren Angriffsmitteln noch nicht zu Ende sei, und der alte Milizsoldat fühlte die ganze Wichtigkeit, bei guter Zeit ihr zuvorzukommen, wenn sie wieder einen Schritt vorwärts thäte. Er zündete sich eine Cigarre an und beschäftigte seinen vorsichtigen Geist mit den Gefahren der Zukunft.

Während Hauptmann Wragge in dem Wohnzimmer zu Nordstein-Villa nachsann, dachte Mrs. Lecount in ihrer Kammer auf Villa Amsee nach. Ihr leidenschaftlicher Grimm, ihren ersten Angriff, um den Anschlag ans Licht zu ziehen, Vereitelt zu sehen, hatte sie gegen die augenblickliche Nothwendigkeit, eine zweite Anstrengung zu machen, ehe Noël Vanstones wachsende Verzauberung ihn ihrem Einflusse entrückte, keineswegs blind gemacht. Da die Magdalenen gelegte Schlinge nicht Verfangen hatte, so mußte das nächste Auskunftmittel, Magdalenens Schwester zu verstricken, versucht werden. Mrs. Lecount ließ sich eine Tasse Thee bringen, öffnete ihr Schreibzeug und begann das Concept eines Briefes, der an Miss Vanstone die ältere mit der morgenden Post abgehen sollte.

So endigte das Scharmützel des Tages. Das eigentliche hitzige Gefecht sollte erst noch kommen. ——



Kapiteltrenner

Sechstes Capitel.

Jeder menschliche Scharfsinn hat seine Grenzen. So deutlich Hauptmann Wragge bisher auch seinen Weg vor sich gesehen hatte, jetzt hörte doch sein scharfes Gesicht auf. Er rauchte seine Cigarre mit der demüthigenden Ueberzeugung auf, daß er auf Mrs. Lecounts nächste Schritte ganz unvorbereitet war.

In dieser Lage zeigte ihm seine Erfahrung, daß hier nur ein Verfahren geboten und daß überhaupt nur ein einziges für ihn möglich sei. Er beschloß, es mit dem verwirrenden Eindruck einer ganz veränderten Verfahrungsweise gegen die Haushälterin zu versuchen, bevor sie Zeit hätte, ihren Vortheil zu verfolgen und ihn im Dunkeln anzugreifen. Mit diesem Gedanken schickte er das Dienstmädchen in das Haus hinauf und ließ Miss Bygrave ersuchen herunterzukommen, er habe mit ihr zu sprechen.

—— Ich habe Sie doch hoffentlich nicht gestört, sagte der Hauptmann, als Magdalene ins Zimmer trat? Empfangen Sie meine Entschuldigung wegen des Tabakgeruches und erlauben Sie mir ein paar Worte betreffs unserer nächsten Schritte. Um es gleich von vornherein mit meiner gewohnten Offenheit auszusprechen, Mrs. Lecount setzt mich in Verlegenheit, und ich beabsichtige, ihr das zu vergelten, indem ich sie auch in Verlegenheit setze. Die Handlungsweise, welche ich in Vorschlag zu bringen habe, ist eine sehr einfache. Ich habe bereits die Ehre gehabt, Ihnen einen ernsten Nervenanfall zu verschaffen und bitte Sie nun um die Erlaubniß, so frei sein zu dürfen, Sie —— morgen früh Mr. Noël Vanstone schickt, um sich nach Ihnen zu erkundigen vollends bettlägerig zu machen.

—— Anfrage von der Villa Amsee:

—— Wie befindet sich Miss Bygrave diesen Morgen?

—— Antwort von der Nordsteinvilla:

—— Viel schlimmer: Miss Bygrave ist an ihr Zimmer gefesselt.

—— Die Frage jeden Tag, so ein vierzehn Tage lang wiederholt:

—— Wie befindet sich Miss Bygrave?

—— Antwort immer wiederholt, wenn nöthig:

—— Nicht besser.

—— Können Sie die Gefangenschaft ertragen? Ich sehe darum noch kein Hinderniß, warum Sie nicht am frühen Morgen, oder am späten Abend ein wenig Luft schöpfen könnten. Aber für den ganzen Tag müssen Sie sich —— das läßt sich nicht umgehen —— in dasselbe Verhalten wie Mrs. Wragge finden, Sie müssen Ihr Zimmer hüten.

—— Warum wünschen Sie, daß ich dies thun soll? frug Magdalene.

—— Ich habe zweierlei Gründe, versetzte der Hauptmann. Ich muß mich meiner Kurzsichtigkeit schämen, aber es nun einmal gewiß, ich kann schlechterdings nicht sehen, was Mrs. Lecount zunächst im Schilde führt. Ich weiß nur soviel gewiß, daß sie abermals einen Versuch machen wird, ihrem Herrn über die Wahrheit die Augen zu öffnen. Welche Mittel sie auch immer anwenden mag, um Ihre Identität auszuspionieren, —— persönlicher Umgang, ist unumgänglich nothwendig, wenn sie zu ihrem Ziele gelangen will. Sehr gut. Wenn ich diesen Umgang unterbreche, so lege ich ihr von vornherein ein Hinderniß in den Weg, oder wie wir beim Kartenspiel sagen, binde ihr die Hände. Verstehen Sie, wie ich es meine?

Magdalene sah es deutlich ein. Der Hauptmann fuhr fort.

—— Mein zweiter Grund, Sie einzuschließen, sagte er, betrifft ausschließlich Mrs. Lecounts Herrn. Das Wachsthum der Liebe, liebes Kind, ist in einem Betracht unähnlich jedem andern Wachsthum: es gedeiht am Besten unter widrigen Umständen. Unsere erste Handlung ist Mr. Noël Vanstone den Zauber Ihres Umganges fühlen lassen. Unsere nächste ist ihn durch den Verlust Ihrer zu Gesellschaft sehnsüchtig zu machen. Ich würde noch einige Begegnungen mehr vorgeschlagen haben, um zu diesem Ziele zu gelangen, befänden wir uns augenblicklich nicht in einer so kitzlichen Stellung zu Mrs. Lecount. Wie die Sachen stehen, müssen wir uns auf den Eindruck verlassen, den Sie gestern hervorgebracht haben, und das Experiment einer jähen Trennung eher in Angriff nehmen, als ich es sonst gewünscht hätte. Ich werde Mr. Noël Vanstone sehen, wenn Sie ihn auch nicht sehen dürfen —— und wenn irgendwo in der Gegend, wo das Herz dieses Herrn, eine schwache Stelle aufzuspüren ist, so verlassen Sie sich darauf, ich werde ihn da packen! Sie haben nun meine Meinung vollständig gehört. Nehmen Sie sich Zeit zur Ueberlegung und sagen Sie mir Ihre Antwort: Ja oder Nein.

—— Jede Veränderung ist mir willkommen, sagte Magdalene, die mich von der Gesellschaft der Mrs. Lecount und ihres Herrn befreit! Es sei so, wie Sie es wünschen.

Sie hatte bis hierher schwachen und müden Tones geantwortet, die letzten Worte aber sprach sie mit erhobener Stimme und geröthetem Gesicht, Beides warnte Hauptmann Wragge, nicht weiter in sie zu dringen.

—— Sehr gut, sagte der Hauptmann. Wir verstehen uns wieder einmal wie gewöhnlich. Ich sehe, Sie sind erschöpft, und ich will Sie nicht länger abhalten.

Er stand auf, um ihr die Thür zu öffnen, blieb aber halbwegs stehen und kam wieder zurück.

—— Erlauben Sie die Sache mit dem Dienstmädchen unten in Ordnung zu bringen, fuhr er fort. Sie können doch nicht geradezu das Bett hüten, und wir müssen die Verschwiegenheit des Mädchens, wenn es pünktlich die Thür besorgen soll, erkaufen, ohne es natürlich ins Geheimniß zu ziehen. Ich werde ihr einreden, daß sie sagen soll, Sie wären unwohl, gerade so, wie sie sagen müßte, Sie wären nicht zu Hause, als ein Mittel, um unbequeme Bekannte vom Hause fern zu halten. —— Erlauben Sie mir Ihnen die Thür aufzumachen. —— Ich bitte, entschuldigen Sie, Sie gehen ja eben in Mrs. Wragges Arbeitszimmer anstatt auf Ihr Zimmer?

—— Ich weiß es recht gut, sagte Magdalene. Ich wünsche Mrs. Wragge aus dem schlechtesten Zimmer im Hause zu entfernen und sie zu mir hinauf zunehmen.

—— Für den Abend?

—— Für die ganzen vierzehn Tage.

Hauptmann Wragge folgte ihr in das Speisezimmer und schloß vorsichtig die Thür, bevor er wieder sprach.

—— Wollen Sie sich im Ernste meiner Frau Gesellschaft auf vierzehn Tage auferlegen, frug er in großem Erstaunen.

—— Ihre Frau ist das einzige unschuldige Geschöpf in diesem schuldbeladenen Hause, brach sie heftig aus, ich muß und will sie bei mir haben!

—— Bitte, regen Sie sich nur nicht auf, sagte der Hauptmann. Nehmen Sie Mrs. Wragge in Gottes Namen hin. Ich brauche sie nicht.

Indem er sich so von seiner Ehehälfte losgesprochen hatte, kehrte er bescheidenen Wesens in das Wohnzimmer zurück.

—— O das schwache Geschlecht! dachte der Hauptmann und schüttelte sein weises Haupt. Man gebe dem Geiste des Weibes einen harten Stoff zum Nachdenken, und sofort ist es aus dem Häuschen!

Der Stoff, auf welchen der Hauptmann anspielte, war an jenem Abende nicht auf den weiblichen Geist in Nordsteinvilla beschränkt: er erstreckte sich auch auf den weiblichen Geist in Villa Amsee. Zwei Stunden beinahe saß Ms. Lecount an ihrem Schreibtische, schrieb, änderte und schrieb wieder, ehe sie einen Brief an Miss Vanstone die ältere zu Stande bringen konnte, der genau dem Zwecke, den sie damit zu erreichen hoffte, entsprach. Endlich war der Entwurf zu ihrer Zufriedenheit vollendet, und sie machte sogleich eine schöne Abschrift davon, welche den nächsten Tag zur Post gegeben werden sollte.

Der so zu Stande gebrachte Brief war ein Meisterstück von Schlauheit. Nach den ersten einleitenden Wendungen setzte die Haushälterin Nora offen in Kenntniß von dem verkleideten Besuche in der Vauxhallpromenade, von der dabei gehabten Unterredung und von ihrem Verdacht, daß die sich für Miss Garth ausgebende Person aller Wahrscheinlichkeit Miss Vanstone selber war. Nachdem Mrs. Lecount bis hierher nur gesagt hatte, was die Wahrheit war, fuhr sie damit fort, anzugeben, ihr Herr sei im Besitze von Beweismitteln, auf Grund deren er den Schutz der Gesetze iu Anspruch nehmen könne; er wisse ferner, daß die ihn bedrohende Verschwörung zu Aldborough ausgeführt werden solle; und nur in Rücksicht auf die Familie und in der Hoffnung, daß die ältere Miss Vanstone ihre Schwester so beraten werde, daß es nicht nöthig sein werde, zu äußersten Mitteln zu greifen, zögere er in der Anwendung seiner Schutzmittel.

Unter diesen Umständen, fuhr der Brief fort, war es offenbar nöthig, den verkleideten Gast in der Vauxhallpromenade sicher zu ermitteln; denn wenn Mrs. Lecounts Vermuthung sich als falsch ergäbe und wenn die Person sich als eine fremde erwiese, so sei Mr. Noël Vanstone fest entschlossen, den gesetzlichen Schutz doch anzurufen. Umstände, bei denen es nicht nöthig sei, ausführlich zu verweilen, würden es Mrs. Lecount in wenig Tagen möglich machen, der verdächtigen Person in ihrer wahren Gestalt zu Aldborough ansichtig zu werden. Da aber die Haushälterin die jüngere Miss Vanstone ganz und gar nicht kenne, so sei es selbstverständlich sehr wünschenswerth, daß irgend eine in diesem Puncte besser unterrichtete Person die Sache in die Hand nehme. Wenn die ältere Miss Vanstone Zeit hätte, um selbst nach Aldborough kommen zu können, wolle sie so gut sein und Dies schriftlich mittheilen. Mrs. Lecount würde dann zurückschreiben und den Tag bestimmen. Wenn andernfalls Miss Vanstone abgehalten sei, die Reise zu machen, so schlug Mrs. Lecount vor, daß sie in ihrer Antwort eine möglichst vollständige Personalbeschreibung ihrer Schwester geben, etwaige kleine Eigenthümlichkeiten, welche als Male auf ihrem Gesichte oder ihren Händen sich befänden, genau angeben und falls selbige letzthin geschrieben habe, anmerken, welches die Adresse in ihrem letzten Briefe war, und in Ermangelung derselben, welchen Poststempel der Umschlag trug. Mit diesen Mittheilungen in der Hand würde Mrs. Lecount im Interesse der mißleiteten jungen Dame selbst die Verantwortung auf sich nehmen, insgeheim ihre Persönlichkeit festzustellen, und sofort zurückschreiben, um die ältere Miss Vanstone mit dem Ergebnis; bekannt zu machen.

Die Schwierigkeit, diesen Brief an die rechte Adresse zu bringen, machte Mrs. Lecount wenig Sorge. Da sie sich auf den Namen des Advocaten besann, welcher bei Lebzeiten Michael Vanstones die Sache der beiden Schwestern vertreten hatte, so richtete sie ihren Brief an:

MISS VANSTONE
abzugeben bei N.N. PENDRIL, ESQre,
LONDON.

Dies schloß sie in einen zweiten Umschlag, adressiert an Mr. Noël Vanstones Sachwalter mit einer Zeile inwendig, worin jener Herr ersucht wurde, die Inlage sofort auf die Expedition des Mr. Pendril zu schicken.

—— Nun, dachte Mrs. Lecount, als sie den Brief in ihr Pult schloß, um ihn morgen mit eigener Hand zur Post zu geben, —— nun habe ich sie!

Am nächsten Morgen kam das Dienstmädchen aus Villa Amsee, brachte Complimente von seinem Herrn, und erkundigte sich nach Miss Bygraves Gesundheit. Hauptmann Wragges Bulletin wurde pünctlich ausgerichtet, wonach Miss Bygrave so unwohl sei, daß sie ans Zimmer gefesselt sei.

Bei Empfang dieser Nachricht fühlte sich Mr. Noël Vanstone in seiner Angst gedrungen, selbst in der Nordsteinvilla vorzufragen, als er seinen Nachmittagsspaziergang machte. Miß Bygrave war immer noch nicht besser. Er frag, ob er Mr. Bygrave sehen könnte. Der vorsichtige Hauptmann war aber auch auf diesen Fall vorbereitet. Er dachte, ein wenig beunruhigende Spannung könne Mr. Noël Vanstone nicht schaden, und er hatte darum das Mädchen für den Nothfall angewiesen zu sagen:

—— Mr. Bygrave läßt sich entschuldigen, er ist für Niemanden sichtbar.

Am zweiten Tage geschahen die Nachfragen wie vorher, durch einen Boten früh und durch Mr. Noël Vanstone in Person Nachmittags. Die Morgenantwort betreffs Magdalenens war:

—— Ein klein wenig besser.

Die Nachmittagsantwort betreffs des Hauptmann Wragge war:

—— Mr. Bygrave ist eben ausgegangen.

An dem Abend war Mr. Noël Vanstones Laune sehr schwankend, Mrs. Lecounts Geduld und Takt wurden auf die Probe gestellt, bei dem Bemühen, ihn ja nicht zu reizen.

Am dritten Tage war der Bericht über das leidende Fräulein weniger günstig:

—— Miss Bygrave sei noch immer sehr angegriffen und nicht im Stande, das Bett zu verlassen.

Das Dienstmädchen, welches mit dieser Botschaft nach Villa Amsee zurückkehrte, begegnete dem Briefträger und nahm zwei Briefe an Mrs. Lecount mit ins Frühstückzimmer.

Der erste Brief war von einer Mrs. Lecount bekannten Hand. Er war von dem Arzt ihres kranken Bruders in Zürich und zeigte an, daß die Krankheit des Leidenden sich in so auffallender Weise zum Bessern gewendet habe, daß alle Hoffnung vorhanden wäre, ihn am Leben zu erhalten.

Die Adresse des zweiten Briefes war von fremder Hand. Mrs. Lecount versparte, da sie ahnte, daß es die Antwort von Miss Vanstone wäre, sich die Lectüre bis nach Beendigung des Frühstücks, wo sie sich auf ihr Zimmer begeben konnte.

Sie öffnete den Brief, sah sofort nach dem Namen am Schlusse desselben und erstaunte etwas, als sie ihn las. Die Unterschrift war nicht: Nora Vanstone, sondern:

HARRIET GARTH.

Miss Garths Brief meldete, daß die ältere Miss Vanstone vor einer Woche eine Stelle als Erzieherin angenommen habe, wobei die Bedingung war, sich der Familie ihrer Herrschaft an ihrem zeitweiligen Aufenthaltsorte im Süden Frankreichs anzuschließen und mit ihnen Allen, wenn sie nach England zurückgingen, zurückzukehren, muthmaßlich binnen hier und einem Monate oder sechs Wochen. Während der Zwischenzeit dieser unfreiwilligen Abwesenheit, hatte Miss Vanstone Miss Garth ersucht, alle ihre Briefe zu öffnen; es sei dabei ihr Hauptaugenmerk gewesen, dadurch die rasche Beantwortung von Mittheilungen zu ermöglichen, welche etwa für sie von Seiten ihrer Schwester ankämen. Miss Magdalene Vanstone habe seit Mitte Juli nicht geschrieben, bei welcher Gelegenheit der Poststempel auf dem Briefe ausweise, daß selbiger in London in dem Bezirke Lambeth aufgegeben sein müsse, und ihre ältere Schwester habe England in einem Zustande der größten Besorgniß um sie verlassen.

Nachdem diese Erklärung gegeben war, erwähnte dann Miß Garth, daß Familienverhältnisse sie verhinderten, persönlich nach Aldborough zu reisen, um Mrs. Lecount in ihrer Absicht zu unterstützen, daß sie aber in der Person des Mr. Pendril einen in jeder Weise geeigneten Stellvertreter habe. Jener Herr sei genau bekannt mit Miss Magdalene Vanstone, und seine Berufserfahrung und Verschwiegenheit würden seinen Beistand doppelt werthvoll machen. Er habe sich freundlich bereit erklärt nach Aldborough zu reisen, sobald es für nöthig befunden werde. Da aber seine Zeit sehr kostbar sei, so stellte Miss Garth das besondere Ersuchen, daß nicht eher nach ihm geschickt werden möchte, bevor Mrs. Lecount des Tages, wo seine Dienste erforderlich sein möchten, ganz sicher sei.

Während Miss Garth diese Anordnungen traf, fügte sie zugleich hinzu, daß sie es auch für angemessen finde, die Empfängerin des Briefes mit einer schriftlichen Beschreibung der jüngern Miss Vanstone zu versehen. Es könnte der Fall eintreten, daß Mrs. Lecount, keine Zeit mehr habe, sich der Dienste Mr. Pendrils zu versichern, und daß die Ausführung von Mr. Noël Vanstones Absichten in Bezug auf das unglückliche Mädchen, das der Gegenstand seiner Furcht sei, bedauerlicherweise durch eine unvorhergesehene Schwierigkeit, dessen Identität festzustellen, hingehalten werden könnte. Die Personalbeschreibung, welche unter diesen Umständen mitgetheilt wurde, folgte dann. Sie überging keine persönliche Eigenthümlichkeit, an welcher Magdalene erkannt werden konnte, und enthielt sogar »die zwei kleinen Male dicht neben einander auf der linken Seite des Nackens«, welche früher in den gedruckten Handplacaten, die nach York gesendet wurden, zu lesen standen.

Schließlich drückte Miss Garth ihre Besorgniß aus, daß Mrs. Lecounts Verdacht sich wohl als nur zu sehr gegründet herausstellen werde. So lange indessen noch die leiseste Hoffnung sei, daß der Anschlag sich als von einer fremden Person ausgehend erweisen möchte, so fühle sie, Miss Garth, sich Mr. Noël Vanstone schon aus Dankbarkeit verpflichtet, bei den gesetzlichen Schritten, welche in diesem Falle angeordnet würden, mitzuwirken. Sie fügte demgemäß ihre eigene formelle Ablehnung jeder Gemeinschaft zwischen ihr und der verkleideten Person, die sich ihres Namens zum Deckmantel bedient habe, hinzu, welche sie nöthigenfalls mündlich wiederholen werde. Sie sei die Miss Garth, welche bei dem verstorbenen Mr. Andreas Vanstone die Stelle einer Erzieherin seiner Kinder ausgefüllt habe, und sie sei nie in ihrem Leben in, bei oder in der Nähe der Vauxhallpromenade gewesen.

Mit dieser bündigen Erklärung und mit den lebhaftesten Versicherungen der Schreiberin, daß sie zum Vortheile Magdalenens Alles thun werde, was ihre Schwester für sie gethan haben würde, wenn sie in England gewesen wäre, schloß der Brief. Er war mit voller Namensunterschrift versehen und mit der geschäftsmäßigen Genauigkeit in solchen Dingen, welche allezeit Miss Garths Charakter auszeichneten mit Ort und Datum unterfertigt.

Dieser Brief gab der Haushälterin eine furchtbare Waffe in die Hand.

Derselbe verschaffte ihr die Möglichkeit, Miss Bygraves Persönlichkeit mit Hilfe eines Anwaltes von Beruf festzustellen. Er enthielt auch eine Personalbeschreibung, die ausführlich genug war, um, wo nöthig, noch vor Mr. Pendrils Auftreten erfolgreich benutzt zu werden. Er stellte sich auch als eine mit Unterschrift versehene Entlarvung der falschen Miss Garth von der Hand der echten Miss Garth dar und erhärtete die Thatsache, daß der von der älteren Miss Vanstone von Seiten der jüngeren empfangene letzte Brief in der Nähe von Vauxhallpromenade auf die Post gegeben und daher auch wohl dort geschrieben war. Wenn ein späterer Brief mit dem Stempel Aldborough eingelaufen wäre, so wäre die Beweisaufnahme, soweit sie die Oertlichkeit betraf, ohne Zweifel vollständiger gewesen. Allein auch wie sie war, gab sie Zeugnis; genug, —— namentlich wenn man das Stückchen von dem braunen Alpacakleide hinzunahm, das sich noch in Mrs. Lecounts Besitze befand, —— um den über der Verschwörung schwebenden Schleier zu lüften und Mr. Noël Vanstone Angesicht zu Angesicht der vollen und überraschenden Wahrheit gegenüber zu stellen.

Das einzige Hinderniß, das auf Seiten der Haushälterin einem unmittelbaren Eingreifen in die Handlung entgegenstand, war Miss Bygraves gegenwärtige Abgeschlossenheit in die Grenzen ihres Zimmers. Die Frage, wie es anzudrehen sei, persönlichen Zutritt zu ihr zu« bekommen, mußte vor allen Dingen gelöst sein, ehe Mr. Pendril eine Eröffnung gemacht werden konnte. Mrs. Lecount setzte sofort ihren Hut auf und begab sich nach der Nordsteinvilla, um zu sehen, was für Entdeckungen sie bis zum Postschluß auf ihre eigene Hand zu machen im Stande wäre.

Diesmal war Mr. Bygrave zu Hause, und sie wurde ohne die geringste Schwierigkeit vorgelassen.

Nach reiflicher Ueberlegung hatte Hauptmann Wragge sich diesen Morgen entschlossen, die Dinge ein wenig ihrer Entscheidung näher zu rücken. Die Mittel, durch die er diesen Zweck erreichen wollte, machten es für ihn zu einer Nothwendigkeit, die Haushälterin und ihren Herrn, Jedes für sich, zusprechen und Beide auseinander zu bringen durch die durchaus verschiedenen Eindrücke auf ihr Gemüth, welche er betreffs seiner bei ihnen hervorbringen wollte. Mrs. Lecounts Besuch war, anstatt ihm die geringste Unbequemlichkeit zu bereiten, gerade der willkommenste Umstand, den er sich wünschen mochte. Er empfing sie im Wohnzimmer mit einer auffallenden Zurückhaltung in seinem Benehmen, auf welche sie gar nicht vorbereitet war. Sein einschmeichelndes Lächeln war weg, und anstatt dessen trat eine undurchdringliche Gemessenheit des Benehmens hervor.

—— Ich habe mir erlaubt Sie zu belästigen, Sir, sagte Mrs. Lecount, nur um Ihnen das Bedauern auszusprechen, das sowohl mein Herr, als ich empfanden, als wir von Miss Bygraves Unwohlsein hörten. Ist noch keine Besserung da?

—— Nein, Madame, versetzte der Hauptmann so kurz als möglich. Meine Nichte befindet sich noch nicht besser.

—— Ich habe einige Erfahrungen in der Krankenpflege gehabt, Mr. Bygrave. Wenn ich irgendwie durch Rath und That nützen könnte....

—— Ich danke Ihnen, Mrs. Lecount. Es liegt keine Nothwendigkeit vor, daß wir von Ihrem freundlichen Erbieten Gebrauch zu machen hätten.

Auf diese deutliche Antwort folgte ein augenblickliches Schweigen. Die Haushälterin sah sich einigermaßen in Verlegenheit. Was war aus Mr. Bygraves ausgesuchter Höflichkeit und seinem Redefluß geworden? Wollte er sie geflissentlich beleidigen? Wenn dies der Fall war, so war Mrs. Lecount um jeden Preis entschlossen, ihn nicht sein Ziel erreichen zu lassen.

—— Darf ich nach der Art ihrer Leiden fragen? fuhr sie sich nicht irre machen lassend fort. Es hängt doch, ich will nicht hoffen, nicht mit unserm Ausflug nach Dunwich zusammen?

—— Ich muß leider sagen, versetzte der Hauptmann, daß es allerdings mit dem Nervenanfall im Wagen begann.

—— So, so! dachte Mrs. Lecount. Er gibt sich nicht einmal die Mühe, mich glauben zu machen, daß die Krankheit ernster Natur sei, wirft also gleich anfangs die Maske ab! —— Ist es ein Nervenleiden, Sir, setzte sie laut hinzu.

Der Hauptmann antwortete durch ein feierliches Nicken mit dem Kopfe.

—— Dann haben Sie ja zwei Nervenkranke in Ihrem Hause, Mr. Bygrave?

—— Ja, Madame, —— zwei: meine Frau und meine Nichte.

—— Das ist in der That ein seltsames Zusammentreffen von Mißgeschick.

—— Allerdings, Madame, seltsam genug.

Trotz Mrs. Lecounts festem Vorsatz, sich durchaus nicht beleidigen zu lassen, begann doch Hauptmann Wragges verzweifelte Fühllosigkeit gegen jeden Streich, den sie gegen ihn führte, sie zu reizen. Sie fühlte selbst, daß es ihr schwer wurde, ihre Selbstbeherrschung wieder zu gewinnen, ehe sie weiter sprechen konnte.

—— Ist keine sichere Hoffnung vorhanden, begann sie wieder, daß Miss Bhgrave bald ist Zimmer verlassen kann?

—— Durchaus nicht, Madame.

—— Sie sind doch hoffentlich mit Ihrem ärztlichen Beistande zufrieden?

—— Ich habe keinen ärztlichen Beistand, sagte der Hauptmann ruhig. Ich behalte die Sache allein und selbst im Auge.

Das angesammelte Gift in Mrs. Lecount schäumte jetzt übers, als diese Antwort fiel, und strömte ihr über die Lippen.

—— Ihr halbgelehrtes Wissen, Sir, sagte sie mit einem boshaften Lächeln, erstreckt sich, wie ich annehmen muß, wohl auch auf ein Halbwissen in der Arzneikunst?

— In der That, Madame, antwortete der Hauptmann ohne die geringste Verwirrung in Angesicht und Haltung. Ich weiß von dem Einen gerade so viel (oder wenig) als von dem Andern.

Der Ton, in welchem er diese letzten Worte sprach, ließ Mrs. Lecounts Anstandsgefühl nur eine Wahl. Sie stand auf, um die Unterredung abzubrechen. Sie konnte der Versuchung des Augenblicks nicht widerstehen und sich es nicht versagen, beim Weggehen Hauptmann Wragge eine leise Drohung zuzurufen.

—— Ich behalte mir vor, Ihnen, Sir, für die Art und Weise Ihrer Aufnahme zu danken —— sagte sie —— sobald ich meine Dankesschuld abzutragen Gelegenheit finden werde. Zu gleicher Zeit schließe ich aber zu meiner Freude aus dem Mangel eines Arztes in Ihrem Hause, daß Miss Bygraves Unwohlsein von weit geringerer Bedeutung ist, als ich beim Herkommen wähnte.

—— Ich widerspreche einer Dame nie, Madame, versetzte der allezeit sattelfeste Hauptmann. Wenn es Ihnen irgend wie Vergnügen macht, das nächste Mal, wo wir uns treffen, zu denken, daß meine Nichte sich vollkommen wohl befinde, so werde ich mich bescheiden, Dero Meinung mich ganz gehorsamst zu unterwerfen.

Mit diesen Worten folgte er der Haushälterin in den Gang und machte ihr höflich die Thür auf.

—— Ich kenne Ihren Stich, Madame! sagte er zu sich selbst, als er wieder zumachte: der Trumpf in Ihren Händen ist eine gewisse Anschauung, die Sie von meiner Nichte haben mögen, aber lassen Sie mich nur sorgen, Sie sollen mir diese Karte mitnichten ausspielen!

Er kehrte in das Wohnzimmer zurück und wartete das nächste Ereigniß, welches nun vielleicht folgen würde, ein Besuch von Mrs. Lecounts Herrn, ruhig ab. In weniger denn einer Stunde rechtfertigte denn auch der Erfolg die Annahme des Hauptmann Wragge: Mr. Noël Vanstone erschien.

—— Mein lieber Herr! rief der Hauptmann, indem er seines Gastes widerstrebende Hand ergriff, ich weiß, weshalb Sie gekommen sind. Mrs. Lecount hat Ihnen von ihrem Besuche hier im Hause erzählt und ohne Zweifel erklärt, daß das Unwohlsein meiner Nichte lediglich Spiegelfechterei sei. Sie fühlen sich überrascht, Sie fühlen sich verletzt —— Sie haben mich wohl gar im Verdacht, als treibe ich ein frevelhaftes Spiel mit Ihren freundschaftlichen Gesinnungen, kurz, Sie wünschen eine Erklärung. Diese Erklärung sollen Sie haben. Nehmen Sie Platz, Mr. Vanstone, ich will mich in Ihre Denk- und Handlungsweise als Mann von Welt versetzen. Ich gebe zu, daß wir uns in einer falschen Stellung befinden, Sir, und sage Ihnen von vornherein offen heraus: Ihre Haushälterin ist die Ursache davon.

Zum ersten Male in seinem Leben machte Mr. Noël Vanstone weit die Augen auf.

—— Die Lecount! rief er aus mit dem Ausdruck der größten Ueberraschung.

—— Dieselbe, Sir, versetzte Hauptmann Wragge. Ich fürchte, Mrs. Lecount beleidigt zu haben, als sie diesen Morgen hierher kam; denn ich war durchaus kalt gegen sie. Ich bin ein aufrichtiger Mann und kann nicht vorgeben, was ich nicht innerlich fühle. Fern sei es von mir, ein Wort über den Charakter Ihrer Haushälterin fallen zu lassen. Sie ist außer allem Zweifel ein sehr vortreffliches und zuverlässiges Weib; aber sie hat einen ernsten Fehler, einen Fehler, der allen Personen in ihrem Lebensalter und in ihrer Stellung eigen zu sein pflegt: sie ist eifersüchtig auf ihren Einfluß über ihren Herrn, obschon Sie es vielleicht noch nicht bemerkt haben.

—— Ich bitte sehr um Verzeihung, unterbrach ihn Mr. Noël Vanstone, meine Aufmerksamkeit ist äußerst lebhaft. Nichts entgeht ihr.

—— In dem Falle, Sir, begann der Hauptmann wieder, können Sie unmöglich übersehen haben, daß sich Mrs. Lecount in ihrem Benehmen gegen meine Nichte von ihrer heimlichen Eifersucht hat leiten lassen?

Mr. Noël Vanstone dachte an den häuslichen Waffengang zwischen Mrs. Lecount und ihm, als seine Gäste von dem Abend Villa Amsee verlassen hatten, und wußte sich nicht zu rathen und zu helfen. Er drückte das äußerste Erstaunen und Bedauern aus, er dachte, die Lecount habe auf der Fahrt nach Dunwich ihr Möglichstes gethan, um sich angenehm zu machen, er hoffe und glaube sicherlich, daß hier ein unseliges Mißverständniß obwalte.

—— Wollen Sie damit sagen, Sir, fuhr der Hauptmann in ernstem Tone fort, —— daß Sie selbst den Umstand nicht bemerkt haben? Als Mann von Ehre und Mann von Scharfblick können Sie mir das nicht sagen! Die äußerliche Höflichkeit Ihrer Haushälterin hat die wahre Herzensmeinung Ihrer Haushälterin nicht bemänteln können. Meine Nichte hat sie erkannt, und ebenso Sie und gleicherweise ich selber. Meine Nichte, Mr. Vanstone, ist ein zartfühlendes, charakterfestes Mädchen und hat auf das Bestimmteste erklärt, Mrs. Lecounts Gesellschaft für die Zukunft meiden zu wollen. Mißverstehen Sie mich nicht! Für meine Nichte so gut wie für mich selbst bleibt der Reiz Ihrer eigenen Gesellschaft, Mr. Vanstone, derselbe. Miss Bygrave verschmäht es, ein Apfel der Zwietracht, ein Erisapfel zu sein —— wenn Sie diesen classischen Ausdruck erlauben ——, welcher in Ihr Haus hineingeworfen wird. Ich denke, sie thut auch recht daran, und so gestehe ich offen und frei, daß ich aus einer kleinen Nervenanwandlung, an welcher sie in der That leidet, mit geflissentlicher Uebertreibung eine ernste Krankheit gemacht habe, lediglich und durchaus zu dem Zwecke, um diese beiden Damen für den Augenblick zu hindern, sich täglich aus der großen Promenade zu treffen und unliebsame Eindrücke von einander in Ihr und mein Haus mit heimzubringen.

—— In meinem Hause dulde ich keine unliebsamen Eindrücke, bemerkte Mr. Noël Vanstone. Ich bin Herr, Sie müssen das doch schon bemerkt haben, Mr. Bygrave? Ich bin Herr in meinem Hause.

—— Kein Mensch zweifelt auch daran, lieber Herr. Allein immer und ewig, früh, Mittags und Abends in der steten Ausübung Ihrer Gewalt zu leben, das gleicht mehr den! Leben eines Gefängnißwärters als dem eines Hausherrn. Allzuscharf macht schartig, bedenken Sie den Spruch.

—— Kommt es Ihnen wirklich so vor? sagte Mr. Noël Vanstone, der durch Hauptmann Wragges schnelles Anerkenntniß seines Herrenthums wieder besänftigt war. Ich weiß nicht, ob Sie so Unrecht haben. Aber ich muß einige entschiedene Schritte thun. Ich möchte mich nicht lächerlich machen, ich will lieber die Lecount fortschicken, als mich lächerlich machen!

Seine Farbe hob sich, und er schlug tapfer seine Arme über einander. Hauptmann Wragges abgefeimtes Hetzen hatte jenen gewöhnlich in ihm schlummernden Verdacht geweckt, daß seine Haushälterin denn doch wohl Einfluß über ihn hätte, und Mrs. Lecount war nicht zur Stelle, um denselben, wie gewöhnlich zu beschwichtigen und einzulullen.

—— Was muß Miss Bygrave von mir denken! rief er in einem plötzlichen Ausbruch innerer Qual. Ich will die Lecount fortschicken —— hole mich Dieser und Jener, ich will die Lecount auf der Stelle fortschicken!

—— Nein, nein, nein! sagte der Hauptmann, in dessen Interesse es lag, Mrs. Lecount nicht zum Aeußersten zu treiben. Warum gleich die stärksten Maßregeln ergreifen, wenn schon gelinde genügen? Mrs. Lecount ist eine alte Dienerin; Mrs. Lecount ist anhänglich und nützlich. Sie hat ihre kleine Schattenseite, die Eifersucht auf ihre Stellung im Hause bei ihrem unverheiratheten Herrn. Sie sieht, wie Sie einer jungen hübschen Dame besondere Aufmerksamkeit erweisen, sie sieht, daß diese junge Dame nicht unempfindlich gegen Ihre Höflichkeit ist, und nun verliert sie, die arme Person, ihre Fassung! Was ist dagegen für ein Mittel anzuwenden? Man willfahre ihr, mache dem schwächeren Geschlechte ein Männliches Zugeständniß. Wenn Mrs. Lecount das nächste Mal, daß wir uns auf der Promenade begegnen, bei Ihnen ist, gehen Sie den andern Weg. Wenn Mrs. Lecount nicht bei Ihnen ist, so gewähren Sie uns das Vergnügen Ihrer Gesellschaft jedenfalls. Kurz und gut, lieber Herr, versuchen Sie es mit der Regel: Suaviter in modo (wie wir Lateiner sagen), ehe Sie zu dem Fortiter in re greifen! [Suaviter in modo, fortiter in re; mild in der Form, in der That aber (wo es daraus ankommt) ernst und nachdrücklich. (Zur Zeit des Krimkrieges machte der Londoner »Punch« einen guten Witz, indem er mit Anspielun auf die afrikanischen Regimenter bemerkte. die Franzosen setzten Alles durch mit ihrem Zouaviter et. fortiter! W.] Es war vornehmlich ein triftiger Grund, warum Mr. Noël Vanstone Hauptmann Wragges versöhnlichen Rathschlag annehmen mochte. Ein offener Bruch mit Mrs. Lecount, selbst wenn er gewußt hätte, wo den Muth dazu hernehmen ——, würde selbstverständlich die Anerkennung ihrer Ansprüche auf eine Entschädigung in Erwägung der seinem Vater und ihm selbst geleisteten Dienste zur Sprache gebracht haben. Sein schmutziger Charakter ließ ihn schon bei dem bloßen Gedanken, das Gefühl des Dankes in Geld auszudrücken, Qualen empfinden, und so willigte er denn, nachdem er sich durch ein kleines Zögern einen Schein zu geben versucht hatte, ein, den Rath des Hauptmanns anzunehmen und Mrs. Lecount nachzugehen.

—— Aber ich muß dabei berücksichtigt werden, fuhr Mr. Noël Vanstone fort. Meine Nachgiebigkeit gegen Mrs. Lecounts Schwäche darf nicht mißverstanden werden. Miss Bygrave darf nicht etwa annehmen, daß ich mich vor meiner Hausmeierin fürchte.

Der Hauptmann erklärte, daß nie ein solcher Gedanke Miss Bygrave in den Sinn gekommen wäre, noch ihr jemals kommen würde. Mr. Noël Vanstone kam nichts desto weniger immer und immer wieder mit seiner gewöhnlichen Zähigkeit auf den Gegenstand zurück.

Würde es unbescheiden sein, wenn er um die Erlaubniß bäte, sich persönlich mit Miss Bygrave zu verständigen? War Hoffnung vorhanden, daß er das Glück haben könnte, sie heute zu sehen, oder wenn nicht, den nächsten Tag? Oder, wenn nicht, den übernächsten Tag? ——

Hauptmann Wragge antwortete vorsichtig; denn er fühlte die Wichtigkeit, bei Leibe nicht Noël Vanstone's Mißtrauen zu erwecken durch einen zu großen Eifer, in seine Wünsche zu willigen.

—— Eine Unterredung am heutigen Tage, lieber Herr, muß ganz außer Frage bleiben, sagte er. Sie ist doch nicht wohl genug; sie bedarf der Ruhe. Morgen habe ich vor, sie, bevor die Tageshitze beginnt, an die Luft zu führen, nicht etwa bloß, um nach Dem, was mit Mrs. Lecount vorgefallen ist, Berührung zu vermeiden, sondern weil die Morgenluft und die Morgenstille bei diesen Nervenfällen von wesentlichem Nutzen sind. Wir stehen hier frühzeitig auf, wir werden um sieben Uhr ausgehen. Wenn Sie ebenfalls zeitig aufstehen und sich uns anschließen wollen, so brauche ich Ihnen kaum zu sagen, daß wir gegen Ihre Gesellschaft bei unseren Morgenspaziergang Nichts einzuwenden haben können. Die Stunde, bemerke ich, ist eine ungewöhnliche; aber später am Tage, wird wohl meine Nichte auf dem Sopha ruhen und nicht im Stande sein, Besuche anzunehmen.

Hauptmann Wragge hatte diesen Vorschlag rein deswegen gethan, um Mr. Noël Vanstone es möglich zu machen, der Nordsteinvilla zu einer Frühstunde zu entschlüpfen, wo seine Haushälterin wahrscheinlich noch im Bette lag, und überließ es ihm, den Wink, so versteckt er ihn gegeben hatte, ebenso versteckt zu benagen. Er erwies sich denn auch gescheit genug —— war es doch ein Fall, der seine eigenen Interessen betraf —— auf den Vorschlag sofort einzugehen. Indem er höflich erklärte, er stehe stets früh auf, wenn der Morgen besonders lohnend für ihn zu werden verspreche, nahm er die Verabredung auf sieben Uhr an und stand alsbald auf, um sich zu verabschieden.

— Noch ein Wort, bevor wir scheiden! sagte Hauptmann Wragge. Diese Unterredung bleibt aber ganz unter uns. Mrs. Lecount darf Nichts von dem Eindruck wissen, den sie auf meine Nichte gemacht hat. Ich habe es Ihnen nur mitgetheilt, um mich wegen meines anscheinend unhöflichen Benehmens zu rechtfertigen und um Sie zu beruhigen. Im Vertrauen, Mr. Vanstone, wohl bemerkt ganz im Vertrauen gesprochen! —— Guten Morgen!

Mit diesen Worten zum Abschiede complimentirte der Hauptmann seinen Gast hinaus. Wenn nicht irgend welches unvorhergesehene Mißgeschick eintrat, sah er nun den Weg wieder deutlich vor sich bis zum Ende des Unternehmens. Er hatte diesen Morgen zwei wichtige Schritte nach vorwärts genommen. Er hatte. den Samen der Zwietracht gesät zwischen die Haushälterin und ihren Herrn und es so eingefädelt, daß nunmehr Mr. Noël Vanstone eine gemeinsames Interesse mit Magdalene und ihm selbst hatte, ein Geheimniß vor Mr. Lecount zu bewahren.

—— Wir haben unsern Mann in der Tasche, dachte Hauptmann Wragge und rieb sich fröhlich die Hände, wir haben doch endlich unsern Mann in der Tasche!

Als Mr. Noël Vanstone die Nordsteine verlassen hatte, ging er geradewegs nach Hause, in seiner Achtung vor sich selber vollkommen gereinigt dastehend und fest entschlossen, die Sachen mit Nachdruck anzugreifen, falls er mit Mrs. Lecount in Zerwürfniß gerathen sollte.

Die Haushälterin empfing ihren Herrn an der Thür mit ihrer sanftesten Art und ihrem angenehmsten Lächeln. Sie sprach ihn mit niedergeschlagenen Augen an und setzte seiner vorher überlegten Bemühung, den Herrn zu spielen, eine Schranke von undurchdringlicher Achtung entgegen.

—— Darf ich wohl fragen, Sir, begann sie, ob Ihr Besuch auf Nordsteinvilla Sie zu derselben Ueberzeugung gebracht hat, als mich der meinige, nämlich in Betreff der Krankheit von Miß Bygrave?

—— Ganz und gar nicht, Lecount. Ich denke, Ihr Schluß war ebenso voreilig, als vorurtheilsvoll.

—— Ich bedaure, das hören zu müssen, Sir. Ich fühlte mich durch Mr. Bygraves unhöflichen Empfang verletzt, aber ich merkte nicht, daß mein Blick dadurch vorurtheilig wurde. Vielleicht empfing er Sie: Sir, mit einem wärmeren Willkommen?

—— Er empfing mich wie ein anständiger Mann, das ist Alles, was ich zu sagen für nöthig finde. Lecount, er empfing mich wie ein anständiger Mann.

Diese Antwort befriedigte Mrs. Lecount betreffs des einzigen zweifelhaften Punktes, der sie noch beunruhigt hatte. Was auch immer Mir. Bygraves plötzlicher Kälte gegen sie selbst zu Grunde lag, sein höflicher Empfang ihres Herrn ließ ihr merken, daß die Gefahr der Entdeckung ihn keineswegs erschreckt hatte und daß die Verschwörung noch im vollen Gange war. Die Augen der Haushälterin glänzten: sie hatte gerade auf diesen Erfolg gerechnet. Nachdem sie einen Augenblick nachgedacht hatte, redete sie ihren Herrn mit einer zweiten Frage an:

—— Sie werden wahrscheinlich Mr. Bygrave wieder besuchen, Sir...?

—— Natürlich werde ich ihn besuchen, wenn es mir so gefällt.

—— Und vielleicht auch Miss Bygrave sehen, wenn sie besser wird?

—— Warum nicht? —— Ich wäre doch begierig zu wissen, warum nicht? Ist es vielleicht nöthig, erst Ihre Erlaubniß dazu zu erbitten, Lecount?

—— Durchaus nicht, Sir. Wie Sie oft gesagt haben —— und wie ich Ihnen oft zugestimmt habe —— Sie sind Herr. Es mag Sie vielleicht überraschen zu hören, Mr. Noël —— aber ich habe noch einen geheimen Grund, warum Sie Miß Bygrave wiedersehen sollen.

Mr. Noël stutzte ein wenig und sah seine Haushälterin mit einiger Neugier an.

—— Ich habe so meine eigenen Gedanken für mich, Sir, über jene junge Dame, fuhr Mrs. Lecount fort. Wenn Sie mir diese meine Gedanken nachsehen und gestatten wollen, so erzeigen Sie mir doch eine Gunst, für die ich Ihnen sehr dankbar sein werde.

—— Ihre Gedanken? wiederholte ihr Herr in wachsendem Erstaunen. Was für Gedanken?

—— Nur diese, Sir, sagte Mrs. Lecount.

Sie nahm aus einem der allerliebsten kleinen Täschchen ihrer, Schürze ein Stückchen Briefpapier, sorgfältig in den kleinst möglichsten Raum zusammengebrochen und legte es achtungsvoll in Noël Vanstone's Hand.

—— Wenn Sie wirklich gern einer alten, treuen Dienerin einen Gefallen thun wollen, Mr. Noël, sagte sie in sehr ruhigem und eindringlichem Tone, so wollen Sie gefälligst jenes Stückchen Papier in Ihre Westentasche stecken und es, sobald Sie das nächste Mal in Miß Bygrave's Gesellschaft sind, zum ersten Male öffnen und lesen und von jetzt bis jener Zeit keinem lebenden Wesen Etwas von Dem, was zwischen uns Vorgefallen ist, verrathen. Ich verspreche, mein wunderliches Begehren, Sir, sofort zu erklären, sobald Sie gethan haben, was ich verlange, und sobald Ihre nächste Unterredung mit Miss Bygrave zu Ende gekommen ist?

Sie machte mit ihrer besten Anmuth einen Knix und verließ still das Zimmer.

Mr. Noël Vanstone sah von dem zusammengebrochenen Papier nach der Thür und von der Thür wieder zurück auf das Papier in unsäglichem Erstaunen. Ein Geheimniß in seinem eigenen Hause vor seiner eignen Nase? Was sollte das heißen?

Es sollte heißen, daß Mrs. Lecount ihre Zeit an dem Morgen nicht verschwendet hatte. Während der Hauptmann in Nordsteinvilla seinem Gast das Seil über die Hörner warf, untergrub die Haushälterin ruhig den Grund unter seinen Füßen. Das zusammengebrochene Papier enthielt nichts Geringeres, denn einen sorgfältig geschriebenen Auszug aus der Personalbeschreibung Magdalenens in Miss Garth's Briefe. Mit einer kühnen Berechnung, um welche sie sogar Hauptmann Wragge beneidet haben würde, hatte Mrs. Lecount das Werkzeug zur Entdeckung der Verschwörung in der Nichts ahnenden Person des Opfers selbst gefunden!



Kapiteltrenner

Siebentes Capitel.

Den Abend, wo Magdalene und Mrs. Wragge von ihrem Spaziergang in der Dunkelheit zurückkamen, hielt der Hauptmann noch ganz spät Magdalenem als sie eben nach oben gehen wollte, an und setzte sie von den Vorkommnissen des Tages in Kenntniß. Er sprach sich ferner dahin aus, daß seiner Meinung nach die Zeit gekommen sei, Mr. Noël Vanstone mit dem geringst denkbaren Verzug zu einer Erklärung zu bringen. Sie antwortete ihm einfach, sie verstände ihn wohl und würde thun, was er von ihr verlangte. Hauptmann Wragge ersuchte sie für diesen Fall, ihm den Gefallen zu thun, in seiner und Mr. Noël Vanstone's Gesellschaft den andern Morgen sieben Uhr früh einen Spaziergang zu machen.

—— Ich will mich fertig machen, versetzte sie. Gibt es noch etwas Anderes?

Es gab nichts weiter. Magdalene wünschte ihm eine gute Nacht und zog sich auf ihr Zimmer zurück.

Sie hatte dieselbe Abneigung, in des Hauptmanns Gesellschaft länger als gerade unumgänglich nöthig war, die drei Tage ihrer Einschließung im Hause über gezeigt.

Während dieser ganzen Zeit hatte sie, ohne Mrs. Wragges Gesellschaft im Mindesten überdrüssig zu bekommen, ruhig, sogar eifrig an der einzigen alles Andere bei Seite lassenden Beschäftigung Theil genommen. Sie, die sie in früheren Zeiten unter der Einförmigkeit des Lebens auf Combe-Raven geseufzt und gelitten hatte, nahm nun ohne Murren die Einförmigkeit ihres Lebens an Mrs. Wragge's Arbeitstisch hin. Sie, die sie in vergangenen Tagen schon den bloßen Anblick von Nadel und Zwirn verabscheut hatte, die sie noch nie bis jetzt ein selbstgefertigtes Kleidungsstück getragen hatte, mühte sich jetzt bei der Anfertigung von Mrs. Wragge's Kleid so eifrig ab, trug so geduldig Mrs. Wragge's Faseleien, als ob der einzige Gegenstand und Zweck ihres Daseins die glückliche Vollendung des einen Anzugs gewesen wäre. Es war ihr eben Alles und Jedes willkommen, auch die alltäglichen Schwierigkeiten, ein Kleid passend herzustellen, das kleine, unablässige Geschwätz des armen halbnärrischen Wesens, das auf ihren Beistand so stolz war und sich in ihrer Gesellschaft so glücklich fühlte: Alles war ihr willkommen, das ihr den Blick in die nächste Zukunft versperrte, in die Bestimmung, zu welcher sie sich selbst verurtheilt hatte. Dieses schwerverwundete Herz ward durch eine solche Kleinigkeit, als der Druck der rauhen freundschaftlichen Hand ihrer Gesellschafterin, besänftigt, dies Verzweifelte Gemüth wurde, wenn die Nacht sie von einander trennte, durch Mrs. Wragge's Kuß erfreut.

Die einsame Stellung des Hauptmanns im Hause wirkte keineswegs niederschlagend auf den allezeit leichtgemuthen und ruhigen Geist desselben. Anstatt böse zu sein über Magdalenens geflissentliches Meiden seiner Gesellschaft hatte er nur die Erfolge im Auge und freute sich höchlich derselben. Je mehr sie ihn um seines Weibes willen vernachlässigte, desto nützlicher machte sie sich als Mrs. Wragges selbst bestellte Wächterin. Er hatte mehr als einmal ernstlich im Willen gehabt, das Zugeständnis zurückzunehmen, das ihm abgezwungen worden war, und seine Frau auf seine eigene Verantwortung hin sich aus dem Wege zu schaffen, und hatte den Gedanken lediglich deßwegen aufgegeben, weil er entdeckte, daß Magdalenens Entschluß, Mrs. Wragge in ihrer Gesellschaft bei sich zu behalten, wirklich ein ernster war. So lange die Beiden beisammen waren, konnte er seine Hauptbesorgniß schlummern lassen. Sie blieben auf seinen eigenen Wunsch eingeschlossen, so lange er außer dem Hause war und was auch Mrs. Wragge immer anfangen möchte, Magdalene sollte nicht eher wieder öffnen, als bis er nach Hause käme. Diesen Abend genoß denn Hauptmann Wragge seine Cigarre mit Ruhe im Gemüthe und schlürfte seinen mit Wasser gemischten Brandy, in glücklicher Unkenntniß der Falle, welche ihm Mrs. Lecount für den Morgen in Bereitschaft hielt.

Pünktlich um sieben Uhr erschien Mr. Noël Vanstone. In dem Augenblicke, als er ins Zimmer trat, bemerkte Hauptmann Wragge eine Veränderung in Gesicht und Wesen seines Gastes.

— Aha, Etwas nicht in Ordnung! dachte der Hauptmann. Wir sind noch nicht fertig mit Mrs. Lecount.

—— Wie geht es Miss Bygrave diesen Morgen, frug Mr. Noël Vanstone. Doch hoffentlich wohl genug für unsern Morgenspaziergang.

Seine halb geschlossenen Augen, matt und wässerig in Folge des Morgenlichts und der Morgenluft, schauten heimlich suchend im Zimmer, und er änderte, als er diese höflichen Fragen stellte, fortwährend unruhig seinen Platz von einem Stuhle zum andern.

—— Meine Nichte befindet sich wohler, sie zieht sich eben für den Spaziergang an, erwiderte der Hauptmann, indem er seinen unruhigen kleinen Freund unausgesetzt beobachtete, während er sprach. —— Mr. Vanstone, setzte er plötzlich hinzu, ich bin ein gerader Engländer, entschuldigen Sie meine schlichte, derbe Art und Weise, mich auszusprechen. Sie kommen mir heute Morgen nicht so gemüthlich entgegen als gewöhnlich. Es ist etwas Zwang in Ihren Zügen! Ich traue Ihrer Haushälterin nicht über den Weg! Sir! —— Hat sie unsere Befürchtungen wahr gemacht? Hat sie versucht Ihr Gemüth gegen mich oder meine Nichte aufzuhetzen?

Wenn Mr. Noël Vanstone Mrs. Lecount's Weisung Folge geleistet und ihr kleines Stückchen Briefpapier zusammengefaltet in seiner Tasche behalten hätte, bis die Zeit kam, wo er es benutzen sollte, so würde Hauptmann Wragges absichtlich derbes Eindringen ihn vielleicht nicht unvorbereitet auf eine Antwort gefunden haben. Allein die Neugier hatte die Oberhand über ihn gewonnen, er hatte das Papierchen noch den Abend geöffnet und den Morgen wieder, und dies hatte sein Gemüth viel zu unruhig gemacht, als daß er im Besitz seiner gewöhnlichen Geistesgegenwart gewesen wäre. Er zögerte, und seine Antwort, als er endlich eine solche vorbringen konnte, begann mit einer Ausflucht.

Hauptmann Wragge gebot ihm Einhalt, ehe er noch seinen ersten Satz fertig hatte.

—— Verzeihen Sie, Sir, sagte der Hauptmann in seinem stolzesten Tone. Wenn Sie Geheimnisse zu bewahren haben, so haben Sie das nur einfach zu sagen, und ich bin fertig mit Ihnen. Ich dränge mich in Niemandes Geheimnisse. Zugleich, Mr. Vanstone, müssen Sie mir jedoch erlauben, Sie daran erinneren zu dürfen, daß ich mich gestern ohne allen Rückhalt Ihnen gegenüber eröffnet habe. Ich schenkte Ihnen mein vollstes und offenstes Vertrauen, Sir, und so hoch ich auch den Genuß Ihrer Gesellschaft schätze, so kann ich mich doch nicht dazu verstehen, Ihre Freundschaft anders als auf dem Fuße der Gleichheit zu genießen.

Er schlug seinen ungemein anständigen Frack auseinander und schaute seinen Gast mit männlichem, ordentlich tugendsamem Ernst an.

—— Ich will ja nicht beleidigen! rief Mr. Noël Vanstone kläglich. Warum unterbrechen Sie mich denn, Mr. Bygrave? Warum lassen Sie mich nicht ausreden? Ich will ja Niemand beleidigen!

—— Es liegt auch noch keine Beleidigung vor, Sir, sagte der Hauptmann, Sie haben ein treffliches Anrecht auf die Ausübung Ihrer Verschwiegenheit. Ich bin nicht beleidigt, ich beanspruche für mich nur denselben Vortheil, den ich Ihnen eingeräumt habe.

Er stand mit großer Würde auf und zog die Klingel.

—— Sagen Sie Miss Bygrave, sprach er zu dem eintretenden Mädchen, daß unser Spaziergang von heute früh bis zu einer andern Gelegenheit verschoben ist, und daß sie sich nicht die Treppe herunter bemühen möchte.

Dies strenge Verfahren hatte den gewünschten Erfolg. Mr. Noël Vanstone bat dringend erst noch um ein paar Worte unter vier Augen, ehe die Botschaft ausgerichtet würde. Hauptmann Wragge strenges Gesicht gab ein wenig nach. Er schickte das Dienstmädchen wieder hinunter und wartete, indem er wieder Platz nahm, mit ruhiger Zuversicht das Weitere ab. Indem er die Thunlichkeit, seines Gastes Schwäche zu behandeln, berechnete, hatte er einen großen Vortheil vor Mrs. Lecount voraus. Sein Urtheil war nicht durch geheime weibliche Eifersüchteleien irre geleitet, und er vermied den Fehler, in welchen die Haushälterin in ihrer Selbsttäuschung verfallen war, den Fehler, den Eindruck zu unterschätzen, den Magdalene an Noël Vanstone hervorgebracht hatte. Eine der irdischen Mächte, die keine ältere Frau im Stande ist zu ihrem richtigen Werthe abzuschätzen, wenn sie gegen sie in Bewegung gesetzt werden, ist der Zauber der Schönheit an einem Weibe, das jünger ist als Ersteres.

—— Sie sind so hastig, Mr. Bygrave, Sie wollen mir nicht Zeit lassen, Sie wollen nicht warten und hören, was ich zu sagen habe! schrie Mr. Noël Vanstone kläglich, als das Dienstmädchen die Thür der Wohnstube hinter sich zugemacht hatte.

—— Mein Familienfehler, Sir, das Blut der Bygraves. Entschuldigen Sie. Doch wir sind allein, wie Sie wünschten, ich bitte, erklären Sie sich weiter.

Da die Wahl vor ihn gestellt war, entweder Magdalenens Gesellschaft zu verlieren oder Mrs. Lecounts Vertrauen zu täuschen, und er auch nicht die leiseste Ahnung hatte von dem geheimen Hintergedanken der Haushälterin, dabei aber noch durch die unverwandt forschenden Augen des Hauptmann Wragge in die Enge getrieben wurde, so war Mt. Noël Vanstone bald mit seinem Entschluß fertig. Er schilderte verwirrt seine sonderbare Unterredung am Abend vorher mit Mrs. Lecount, holte das zusammengebrochene Papier aus der Tasche und legte es in die Hände des Hauptmannes.

In demselben Augenblicke, wo der Hauptmann das geheimnißvolle Billet sah, dämmerte sofort eine Ahnung der Wahrheit in seiner Seele auf. Er trat bei Seite ans Fenster, ehe er es öffnete. Die ersten Zeilen, welche seine Aufmerksamkeit fesselten, waren folgende:

Haben Sie die Güte, Mr. Noël, das Aeußere der jungen Dame, welche sich jetzt in Ihrer Gesellschaft befindet, mit der Personalbeschreibnng, welche weiter unten folgt und die mir von einem Freunde mitgetheilt worden ist, zu vergleichen. Sie sollen den Namen der geschilderten Person, den ich jetzt noch offen gelassen habe, wissen, sobald der Augenbeweis Sie gelehrt hat, was zu glauben Sie wohl bleiben lassen würden, wenn man Ihnen weiter Nichts böte, als das alleinige Zeugnis; von

Virginie Lecount

Das war für den Hauptmann genug. Ehe er ein Wort von der Schilderung selbst gelesen hatte, wußte er, was Mrs. Lecount gethan hatte, und fühlte sich tief beschämt durch den Gedanken, daß sein weiblicher Gegner ihn doch überlistet hatte.

Es war keine Zeit zum Ueberlegen, die ganze Verschwörung war mit unvermeidlichen! Schiffbruch bedroht. Der einzige Ausweg in der gegenwärtigen Lage Hauptmann Wragge's war, sofort auf die erste Eingebung seiner eigenen Kühnheit hin zu handeln. Zeile für Zeile las er weiter, und immer noch ließ ihn die allezeit schlagfertige Erfindungsgabe, welche ihn bis jetzt noch nie verlassen hatte, im Stiche. Er kam zu dem letzten Satze, den letzten Worten, welche die beiden kleinen Male auf dem Nacken Magdalenens erwähnten. Bei diesem Cardinalpunkte der Schilderung schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf, seine verschiedenfarbenen Augen blinzelten, seine gekräuselten Lippen zogen sich in den Mundwinkeln in die Höhe: Wragge war wieder er selber!

Er drehte sich plötzlich auf dem Absatze vom Fenster um und sah Mr. Noël Vanstone voll und gerade ins Gesicht mit der ruhig düsteren Ankündigung, als ob etwas Ernstes kommen sollte.

—— Bitte, Sir, wissen Sie vielleicht Etwas von Mrs. Lecounts Familie? frug er.

—— Eine achtbare Familie, sagte Mr. Noël Vanstone, das ist Alles, was ich weiß. Warum fragen Sie?

—— Ich wette für gewöhnlich nicht gern, fuhr der Hauptmann fort, aber bei dieser Gelegenheit will ich mit Ihnen wetten, um was Sie wollen, daß in der Familie der Haushälterin Wahnsinn erblich ist.

—— Wahnsinn!? wiederholte Mr. Noël Vanstone erstaunt.

—— Wahnsinn! wiederholte der Hauptmann, indem er ernst den Zeigefinger auf das Billet hielt. Ich sehe die Schlauheit des Irrsinns, den Argwohn des Irrsinns, die katzenartige Tücke des Irrsinns in jeder Zeile dieses traurigen Papieres. Das ist ein weit beunruhigenderer Grund, Sir, als ich je geahnt hätte, für das Betragen von Mrs. Lecount gegen meine Nichte. Es ist mir klar, daß Miss Bygrave irgend einer andern Dame, welche Ihre Haushälterin sehr beleidigt hat, und welche früher vielleicht zu einem Ausbruch von Wahnsinn bei Ihrer Haushälterin in Beziehung stand, ähnlich sieht, und nun in dem gestörten Sinn Ihrer Haushälterin mit jener verwechselt wird. Das ist meine Ueberzeugung, Mr. Vanstone. Ich kann Recht, ich kann aber auch Unrecht haben. Alles, was ich sage, ist dieses: weder Sie, noch irgend Jemand kann der Abfassung dieser unbegreiflichen Urkunde einen vernünftigen Grund unterlegen, eben sowenig dem Gebrauche, welchen Sie davon machen sollen.

—— Ich halte die Lecount nicht für verrückt, sagte Mr. Noël Vanstone mit einem sehr verwirrten Blicke und sehr verlegenem Wesen. Es hätte mir nicht entgehen können, bei meiner Beobachtungsgabe zumal, es konnte mir unmöglich entgehen, wenn die Lecount verrückt gewesen wäre.

—— Sehr gut, lieber Herr, meiner Meinung nach ist sie die Beute einer wahnsinnigen Täuschung. Ihrer Meinung nach ist sie im Besitze ihres Verstandes und hat irgend einen räthselhaften Beweggrund, welchen weder Sie noch ich zu ergründen vermögen. Auf jeden Fall kann es nicht schaden, Mrs. Lecount's Beschreibung auf die Probe zustellen, nicht nur zur Befriedigung der Neugier, sondern zu unserer eigenen beiderseitigen Beruhigung. Es ist selbst verständlich unmöglich, meiner Nichte zu sagen, daß sie einer solchen albernen Probe unterworfen werden soll, wie jenes ihr Billet uns zumuthet. Aber Sie können Ihre eigenen Augen brauchen, Mr. Vanstone; Sie können selber urtheilen und, ob nun verrückt oder nicht verrückt: Sie können wenigstens Ihrer Haushälterin auf das Zeugnis; Ihrer eigenen Sinne hin sagen, daß sie falsch berichtet ist. Lassen Sie mich noch einmal die Beschreibung ansehen. Der größte Theil derselben ist behufs der Feststellung einer Persönlichkeit nicht einen Schuß Pulver Werth. Hunderte von jungen Damen haben hohen Wuchs, schöne Gesichtsfarbe, hellbraunes Haar und hellgraue Augen. Sie werden andererseits sagen, hundert junge Damen haben nicht zwei kleine Male dicht nebeneinander aus der linken Seite des Nackens Vollkommen richtig. Die Male verschaffen uns, was wir Männer der Wissenschaft einen Beweis ad oculos nennen. Wenn meine Nichte die Treppe herunterkommt, so haben Sie meine volle Erlaubniß, sich die Freiheit zu nehmen und deren Nacken zu beschauen.

Mr Noël Vanstone drückte seinen allerhöchsten Beifall über den Beweis ad oculos durch das erste Lächeln und Schmunzeln aus, das er diesen Morgen sehen ließ.

—— Deren Nacken zu beschauen, wiederholte der Hauptmann, indem er das Billet seinem Gast wieder einhändigte und dann zur Thür ging.

—— Ich will selbst hinausgehen, Mr. Vanstone, fuhr er fort, und einmal nachsehen, wie es mit dem Promenadenanzuge von Miß Bygrave steht. Wenn sie unbewußt Ihnen einige Hindernisse in den Weg gelegt hat, wenn ihr Haar etwas zu weit herunter geht, oder ihre Krause ein wenig zu hoch ist, so will ich unter dem ersten besten unverdächtigen Vorwande, den ich ersinnen kann, mein Ansehen anwenden, um diese Hindernisse zu beseitigen. Alles, was ich bitte, ist, daß Sie sich Ihre Gelegenheit mit Takt und Zartheit ersehen und daß Sie meine Nichte nicht auf den Gedanken bringen, daß ihr Nacken für einen Herrn Gegenstand der Betrachtung geworden ist.

Im Augenblick, wo er aus dem Zimmer war, flog er in höchster Eile die Treppe hinan und pochte an Magdlenens Thüre. Sie öffnete in ihrem Ausgeheanzuge, fix und fertig auf das zwischen ihnen verabredete Zeichen, welches sie herunter rufen sollte.

—— Was haben Sie mit Ihren Schminken und Pulvern angefangen? frug der Hauptmann, ohne ein Wort zur Einleitung und Aufklärung zu verlieren. Sie waren nicht in dem Koffer mit Costümen, den ich für Sie zu Birmingham verkaufte. Wo sind sie?

—— Ich habe sie hier, erwiderte Magdalene. Was haben Sie denn vor, daß Sie jetzt darnach begehren?

—— Bringen Sie selbige sogleich in mein Ankleidezimmer, die ganze Sammlung, die Pinsel, Palette und Alles. Verlieren Sie keine Zeit mit Fragen. Ich will Ihnen erzählen, was vorgefallen ist, während wir uns zurecht machen. Jeder Augenblick ist kostbar für uns. Folgen Sie mir augenblicklich!

Sein Gesicht zeigte offen, daß ein ernster Grund zu einem so seltsamen Begehren vorlag. Magdalene nahm ihre Sammlung von Schönheitsmitteln und ging ihm in das Ankleidezimmer nach. Er schloß die Thür zu, ließ sie sich auf einen Stuhl dicht am Fenster setzen und erzählte ihr dann, was vorgefallen sei.

—— Wir stehen am Rande der Gefahr, entdeckt zu werden, fuhr der Hauptmann fort, indem er sorgfältig seine Farben mit flüssigem Leim und einem starken Trockenleim, den er aus einer Flasche, die ihm selbst gehörte, hinzuthat, mischte. Es ist nur ein Ausweg für uns, (binden Sie Ihr Haar auf der linken Seite Ihres Nackens in die Höhe!) —— ich habe Mr. Noël Vanstone gesagt, er solle sich insgeheim die Gelegenheit ersehen, Sie zu betrachten, und ich bin eben dabei, Mrs. Lecount geradezu Lügen zu strafen, indem ich Ihre Male übermale, durch Farbe verdecke.

—— Sie können nicht übermalt werden, bemerkte Magdalene, keine Farbe wird darauf haften.

—— Meine Farbe wird es, bemerkte Hauptmann Wragge Ich habe nachgerade in meinem Leben verschiedene Berufsarten durchgemacht, darunter den Beruf des Schminkens. Haben Sie nie von dergleichen wie ein »blaues Auge« gehört? Ich lebte einmal mehrere Monate in der Nähe von Drury-Lane ganz und gar von blauen Augen [Black-eyes, wörtlich Schwwarz-Augen, heißen im Englischen die Boxer, welche oft ihrer Gladiatorenkünste durch braun und blaue Flecke auf Gesicht und Gliedmaßen an sich tragen. Wir sprechen in diesem Falle von blauen Augen, wo der Engländer die Bezeichnung schwarze Augen hat. W.] Meine Fleischfarbe stand auf Beulen von aller Art, allen Schattierungen und Größen, und sie wird, das verspreche ich Ihnen, auch auf Ihren Malen stehen.

Mit dieser Versicherung tauchte der Hauptmann seinen Pinsel in eine kleine Masse Deckfarbe, welche er in einem Näpfchen gemischt und, so genau es der Stoff gestattete, bis zu der Färbung von Magdalenes Haut erhöht hatte. Nachdem er erst mit einem Battisttuch und etwas weißem Pulver über den Theil des Nackens, auf den er es abgesehen hatte, gefahren war, brachte er auf die Male mit der Spitze des Pinsels zwei Farbenklexe. Das Ganze war in wenigen Minuten vollbracht, und die Male waren wie durch Hexerei verschwunden. Nur eine Untersuchung aus der größten Nähe hätte den Kunstgriff entdecken können, durch den sie verdeckt waren; in einer Entfernung von zwei bis drei Fuß war derselbe nicht herauszubekommen.

—— Warten Sie hier fünf Minuten, sagte der Hauptmann, um die Farbe trocken werden zu lassen, und kommen Sie dann zu uns in das Wohnzimmer. Mr. Lecount selbst wäre in Verlegenheit, wenn sie Sie jetzt sähe.

—— Bleiben Sie noch! sagte Magdalene. Es ist noch Etwas, was Sie mir bis jetzt noch nicht gesagt haben. Wie kam Mrs. Lecount zu der Beschreibung, die Sie unten gelesen haben? Was sie auch sonst von mir gesehen hat, das Kennzeichen auf meinem Nacken sah sie nicht, es ist zu weit hinten und oben, mein Haar verbirgt es.

—— Wer weiß von diesem Kennzeichen? frug Hauptmann Wragge.

Sie wurde todtenbleich unter dem Schmerz einer plötzlichen Erinnerung an Frank. ——

—— Meine Schwester kennt es, sprach sie schwach.

—— Mrs. Lecount hat vielleicht an Ihre Schwester geschrieben, vermuthete der Hauptmann.

—— Glauben Sie, meine Schwester würde einer Fremden sagen, was eine fremde Person nicht berechtigt ist zu erfahren? Nimmermehr, nimmermehr!

—— Gibt es niemand Anderes, der es Mrs. Lecount sagen konnte? Das Kennzeichen war in den Handplacaten zu York erwähnt. Wer brachte es dahinein?

—— Nicht Nora! Vielleicht Mr. Pendril. Vielleicht Miss Garth.

—— Dann hat Mrs. Lecount an Mr. Pendril oder Miss Garth, noch wahrscheinlicher an Miss Garth geschrieben. Die Gouvernante war vielleicht noch zugänglicher, als der Rechtsanwalt.

—— Was kann sie Miss Garth gesagt haben?

Hauptmann Wragge dachte ein wenig nach.

—— Ich kann nicht sagen, was Mrs. Lecount geschrieben haben wird, sprach er, aber ich kann Ihnen sagen, was ich an Stelle der Mrs. Lecount geschrieben haben würde. Ich würde fürs Erste Miss Garth durch falsche Berichte über Sie erschreckt haben, dann hätte ich nach Einzelheiten über Ihr Aeußeres gefragt, damit eine wohlmeinende fremde Person Sie wieder zu Ihren Freunden zurückführen könnte.

Zornesblitze flammten augenblicklich in Magdalenens Augen auf.

—— Was Sie gethan haben würden, ist Das, was Mrs. Lecount wirklich gethan hat, sagte sie unwillig. Kein Mensch in der Welt, sei es ein Anwalt oder eine Gouvernante, soll mir das Recht streitig machen, meinen eignen Willen zu haben und meinen eigenen Weg zu gehen! Wenn Miss Garth denkt, sie kann meine Handlungen durch einen Briefwechsel mit Mrs. Lecount beherrschen und lenken, so will ich Miss Garth zeigen, daß sie in einem argen Irrthum ist! Wahrlich, es ist hohe Zeit, Haupmann Wragge, daß diese leidigen Gefahren der Entdeckung mit einem Male beseitigt werden. Wir wollen eher, als es Mrs. Lecount oder Miss Garth ahnen, den kürzesten Weg einschlagen, der zum Ziele führt. Wie lange Zeit können Sie mir geben, um einen Heirathsantrag aus dem Geschöpf da eine Treppe tiefer herauszubringen?

—— Ich wage nicht Ihnen lange Zeit zu lassen, versetzte Hauptmann Wragge. Jetzt da Ihre Freunde wissen, wo Sie sind, können sie uns über Nacht auf den Hals kommen. Können Sie es in einer Woche fertig bringen?

—— Ich will es in der Hälfte dieser Frist, sagte sie mit einem harten, verächtlichen Lachen. Lassen Sie uns diesen Morgen beisammen, wie Sie uns zu Dunwich allein ließen, und nehmen Sie Mrs. Wragge mit als Mittel und Vorwand, die Gesellschaft in zwei Partien zu theilen. Ist die Farbe jetzt trocken? Gehen Sie hinunter und sagen Sie ihm, daß ich unverzüglich erscheinen werde.

So Verfehlten zum zweiten Male Miss Garths wohlgemeinte Anstrengungen ihren Zweck. So verwandelte die Macht der Umstände die Hand, welche Magdalenen zurück halten wollte, in das Werkzeug, das sie vorwärts trieb!

Der Hauptmann kehrte zu seinem Gaste in das Wohnzimmer zurück, nachdem er erst unterwegs angehalten hatte, um Mrs. Wragge seine Weisungen für den Spaziergang zu geben.

—— Ich bedaure sehr, daß ich Sie habe warten lassen, sagte er, indem er sich zutraulich an Mr. Noël Vanstones Seite niederließ. Meine einzige Entschuldigung ist die, daß meine Nichte zufällig ihre Haare gerade so gemacht hatte, daß unser Zweck vereitelt wurde. Ich habe sie beredet, die Haartour zu ändern, und junge Damen sind ein wenig eigensinnig in allen Fragen, die ihre Toilette angehen. Geben Sie ihr einen Stuhl an jener Seite von Ihnen, sobald sie hereintritt, und richten Sie Ihren Blick in aller Bequemlichkeit auf ihren Nacken, bevor wir unsern Spaziergang antreten.

Magdalene trat in das Zimmer, als er diese Worte sprach und nahm, als die ersten Grüße gewechselt worden, den ihr gebotenen Stuhl mit der unbefangensten Bereitwiligkeit an. Mr. Noël Vanstone stellte die Kreuzprobe [The Crucian (Crucial) Test, von cross, das Kreuz, —— entscheidende Probe, das lateinische experimentum cruises, Ausdruck aus der Zeit der Gottesurtheile, der Feuerprobe. Die Angeklagten mußten baarfuß über rothglühecde Kreuze von Eisen schreiten, um ihre Unschuld zu beweisen. W.] auf der Stelle an, höchlichst erfreut über die schöne Materie, die der Gegenstand seiner Untersuchung war. Nicht die Spur eines Males war auf irgend einer Stelle der weichen, weißen Fläche von Miss Byhgrave's Nacken zu sehen. Derselbe antwortete ohne Worte, aber beredt auf die blinzelnden Forscherblicke der halbgeschlossenen Augen Mr. Noël Vanstone's mit dem grellsten Widerspruche zu Mrs. Lecounts Unterstellungen. Dieser eine Kernpunkt in den Vorkommnissen des Morgens war von allen Dingen, die bisher vorgefallen, das dem Erfolge nach Wichtigste. Jene eine Entdeckung erschütterte die feste Stellung der Haushälterin bei ihrem Herrn mehr, als irgend Etwas je zuvor.

In wenigen Minuten ließ sich auch Mrs. Wragge blicken und erregte in Mr. Noël Vanstones Seele so großes Erstaunen, als er eben außer dem alles Andere verdrängenden Vergnügen an Magdalenens Gesellschaft überhaupt noch empfinden konnte. Die Gesellschaft verließ alsbald das Haus und lenkte ihre Schritte nach Norden, um nicht vor den Fenstern der Villa Amsee vorüber zu müssen. Zu Mrs. Wragges unsäglichem Erstaunen bot ihr ihr Gatte zum ersten Male im Laufe ihres ehelichen Zusammenlebens höflich den Arm und führte sie den jungen Leuten voran, als wenn das Vorrecht, mit ihr allein zu gehen, ihm einen besonderen Genuß gewährte!

—— Schreite aus! flüsterte der Hauptmann heftig. Laß Deine Nichte und Mr. Vanstone allein! Wenn ich Dich auf einem Blick, den Du nach ihnen zurückwirfst, ertappe, so werde ich die orientalische Kaschmirrobe in der Küche ins Feuer werfen! Wende die Zehen auswärts und halte Schritt; wechsle, halte Schritt!

Mrs. Wragge hielt Schritt, so gut als sie es nur immer vermochte. Ihre mächtigen Kniee schlotterten unter ihr. Sie glaubte steif und fest, Hauptmann Wragge wäre betrunken.

Der Spaziergang dauerte etwas über eine Stunde. Vor neun Uhr waren sie Alle wieder in Nordsteinvilla zurück. Die Damen gingen gleich ins Haus. Wir. Noël Vanstone blieb mit Hauptmann Wragge im Garten.

—— Gut, sagte der Hauptmann, was denken Sie nun von Mrs. Lecount?

—— Zum Henker mit Mrs. Lecount! versetzte Mr. Noël Vanstone in großer Aufregung. Ich bin halb mit Ihnen einverstanden! Ich bin halb einverstanden, meine verteufelte Haushälterin für verrückt zu erklären.

Er sprach zornig und erbittert, als wäre ihm die bloße Anspielung auf Mrs. Lecount ein Gräuel. Seine Farbe kam und ging. Sein Benehmen war zerstreut und unsicher, er schlenderte unruhig im Gartenwege auf und ab. Es würde auch einem weit weniger klarsehenden Blicke als dem des Hauptmann Wragge offenbar gewesen sein, daß Magdalene seine Annäherungen mit unerwarteter Huld, Ermunterung und Entgegenkommen mußte aufgenommen haben, was seine Selbstbeherrschung über den Haufen geworfen hatte.

—— Ich habe nie in meinem Leben von einem Spaziergang soviel Genuß gehabt! rief er in plötzlicher Begeisterung aus. Ich hoffe, Miss Bygrave fühlt sich auch besser darnach. Gehen Sie morgen früh um dieselbe Zeit aus? Darf ich mich wieder anschließen?

—— Jedenfalls, Mr. Vanstone, sagte der Hauptmann mit Herzlichkeit. Entschuldigen Sie, wenn ich auf den Gegenstand noch einmal zurückkomme, aber was werden Sie zu Mrs. Lecount sagen?

—— Ich weiß es nicht. Die Lecount ist ein wahres Hauskreuz! Was würden Sie thun, Mr. Bygrave, wenn ie an meiner Stelle wären?

—— Erlauben Sie mir eine Frage zu stellen, lieber Herr, bevor ich es Ihnen sage. Welches ist Ihre Frühstücksstunde?

—— Halb zehn Uhr.

—— Steht Mrs. Lecount früh auf?

—— Die Lecount ist morgens etwas faul, ich hasse faule Weiber. Wenn Sie an meinem Platze wären, was würden Sie zu ihr sagen?

—— Ich würde Nichts zu ihr sagen, versetzte Hauptmann Wragge. Ich würde sofort auf dem Hinterweg zurückkehren, würde mich Mrs. Lecount in dem vorderen Gärtchen zeigen, als wenn ich vor dem Frühstück einen Gang gemacht hätte, und ließe sie nur denken, daß ich eben aus meinem Zimmer gekommen wäre. Wenn sie Sie fragt, ob Sie heute hierher gehen wollen, so sagen Sie: Nein. Machen Sie sich keine Unruhe, so lange nicht die Umstände Sie nöthigen, eine Antwort zu geben. Dann sagen Sie ihr die volle Wahrheit, sagen Sie, daß Mr. Bygraves Nichte und Mrs. Lecounts Beschreibung gerade in dem wichtigsten Punkte mit einander im Widersprüche sind, und bitten Sie sich aus, daß von dem Gegenstande nie wieder die Rede ist. Das ist mein Rath. Was halten Sie davon?

Wenn Mr. Noël Vanstone in seines Berathers Seele hätte sehen können, so würde er den Rath des Hauptmanns für trefflich geeignet gehalten haben, die Absichten des Hauptmanns zu fördern. So lange Mrs. Lecount im Dunkel gelassen werden konnte über die Besuche ihres Herrn auf Nordsteinvilla, so lange wartete sie wohl, bis sich Gelegenheit fand, mit ihrem Versuch herauszutreten, und so lange konnte man gewiß darauf rechnen, den Anschlag durch keine weiteren Maßregeln von ihrer Seite gefährdet zu sehen. Da Mr. Noël Vanstone aber natürlicherweise außer Stande war, den guten Rath des Hauptmann Wragge von diesem Gesichtspunkte aus zu beurtheilen, so betrachtete er denselben ganz einfach nur als ein ihm unter den Fuß gegebenes Mittel, um für den Augenblick einer Erklärung mit der Haushälterin aus dem Wege zu gehen. Er sagte eifrig, das ihm vorgeschlagene Verfahren wolle er buchstäblich verfolgen, un«d kehrte unverzüglich nach Vlla Amsee zurück.

Bei dieser Gelegenheit wurden die Vermuthungen des Hauptmann Wragge durch Mrs. Lecounts Verhalten in keinerlei art Lügen gestraft. Sie hatte keine Ahnung von dem Besuche ihres Herrn auf Nordsteinvilla, sie hatte sich nothgedrungen zufrieden gegeben, ruhig auf ein Zusammentreffen desselben mit Miss Bygrave bis Ende der Woche zu warten, und behelligte ihn daher nicht mit irgend welchen unverhofften Fragen, als er seine Absicht ankündigte, für heute Nichts mit den Bygraves zu thun haben zu wollen. Alles, was sie sagte, war:

—— Fühlen Sie sich nicht wohl genug, Mr. Noël? oder haben Sie keine Luft?

Er antwortete kurz:

—— Ich fühle mich nicht wohl genug.

Und damit war die Unterhaltung schon zu Ende.

Den nächsten Tag wurden die Handlungen des vorhergehenden Morgens genau ebenso wiederholt. Dies Mal ging Mr. Noël Vanstone ganz entzückt nach Hause, ein Andenken in seiner Brusttasche, er hatte sich zärtlich eines Handschuhes von Miss Bygrave bemächtigt. Den ganzen Tag über nahm er alle Augenblicke, wenn er allein war, den Handschuh heraus und küßte ihn mit einer Innbrunst, welche in ihrer Gluth fast leidenschaftlich zu nennen war. Der elende kleine Mensch schwelgte in diesen seinen verstohlenen glücklichen Augenblicken in einer sprachlosen und heimlichen Seligkeit, die ein ganz neues Gefühl für ihn war. Die wenigen jungen Mädchen, mit denen er in seines Vaters kleinem Kreise z Zürich zusammengekommen war, hatten ein liebloses Vergnügen darin gefunden, ihn als ein niedlich kleines Spielzeug zu behandeln. Den stärksten Eindruck, den er auf ihre Herzen machen konnte, war ein solcher, welchen er mit ihrem Schooßhunde zu theilen hatte. Das tiefste Interesse, das er in ihnen erwecken konnte, war nur eben so groß, als das, was ihnen ein neuer Putz oder ein neues Kleid erregte.

Die einzigen Frauen, die bis jetzt seine Bewunderung herausgefordert und seine Schmeicheleien ernstlich aufgenommen hatten, waren solche gewesen, deren Reize im Verblühen und deren Heirathsaussichten stark in der Abnahme waren. Zum ersten Male in seinem Leben hatte er jetzt glückselige Stunden in der Gesellschaft eines schönen Mädchens verlebt, an welches er ohne eine einzige demüthigende Erinnerung, die ihn in seiner Selbstachtung herabsetzte, zurückdenken konnte.

So sorgfältig er sich auch zusammennahm, die Veränderung in seinem Blick und Wesen, welche durch das neu in ihm erweckte Gefühl hervorgebracht war, konnte Mrs. Lecount nimmer entgehen. Am zweiten Tage fragte sie ihn ausdrücklich, ob er nicht Anstalt getroffen habe, die Bygraves zu besuchen. Er verneinte es, wie früher.

—— Vielleicht gehen Sie morgen hin, Mr. Noël? frug die Haushälterin weiter und ließ sich nicht irre machen.

Er war nun mit seinen Ausflüchten zu Ende, er war ungeduldig, ihre Fragen endlich los zu werden, verließ sich aus seinen Freund in der Nordsteinvilla und dessen Beistand und antwortete Ja.

—— Wenn Sie die junge Dame sehen, ging Mrs. Lecount weiter, so vergessen Sie mein Papier nicht, Sir, welches Sie in Ihrer Westentasche haben.

Weiter wurde auf beiden Seiten Nichts gesprochen, aber mit derselben Abendpost schrieb die Haushälterin an Miss Garth. Der Brief bekannte sich lediglich zum dankbaren Empfang der Mittheilung von Miss Garth und benachrichtigte sie, daß sie, Mrs. Lecount, in wenig Tagen schon in der Lage zu sein hoffe, wieder zu schreiben und Mr. Pendril nach Aldborough zu rufen.

Spät am Abend, als es im Wohnzimmer auf Nordsteinvilla bereits ganz finster geworden war, und Hauptmann Wragge wie gewöhnlich nach Licht klingelte, war er überrascht, Magdalenens Stimme auf dem Gange zu hören, wie sie dem Dienstmädchen sagte, die Lichter wieder mit hinunter zu nehmen. Sie pochte einen Augenblick später an die Thür und schwebte in der Dunkelheit wie ein Geist ins Zimmer.

—— Ich habe eine Frage an Sie zu richten, wegen Ihrer Pläne für morgen, sagte sie. Meine Augen sind sehr schwach heute Abend, und ich hoffe, Sie werden Nichts dagegen haben, daß die Lichter noch ein paar Minuten wegbleiben.

Sie sprach in leisem, gedämpftem Tone und tastete sich geräuschlos nach einem Stuhle hin, der weitab vom Hauptmann in dem dunkelsten Theile des Zimmers stand. Da er selbst am Fenster saß, so konnte er nur eben noch die dunklen Umrisse ihres Kleides sehen und den schwachen Klang ihrer Stimme hören. In den letzten beiden Tagen hatte er Nichts von ihr gesehen, außer aus ihrem gemeinsamen Morgenspaziergange. Am Nachmittage hatte er seine Frau in der kleinen Hinterstube unten weinend gefunden. Sie konnte ihm nur sagen, daß Magdalene sie erschreckt habe, daß Magdalene wieder so werde, wie damals, als der Brief aus China kam, in der schrecklichen vergangenen Zeit auf der Vauxhallpromenade.

—— Ich habe bedauert von Mrs. Wragge hören zu müssen, daß Sie heute unwohl waren, sagte der Hauptmann, indem er unwillkürlich beim Sprechen seine Stimme beinahe bis zum Flüstern senkte.

—— Es hat Nichts zu sagen, antwortete sie ruhig aus dem Dunkel. Ich bin stark genug zu leiden und zu leben. Andere Mädchen an meiner Stelle wären glücklicher gewesen, sie würden gelitten haben und —— gestorben sein. Es hat nichts zu sagen, es wird ebenso sein nach hundert Jahren. —— Kommt er morgen früh wieder um sieben Uhr?

—— Er kommt wieder, wenn Sie Nichts dagegen haben?

—— Ich habe Nichts dagegen, ich habe mich drein ergeben. Aber ich würde es gern sehen, wenn es eine andere Stunde wäre. Ich sehe so früh am Tage nicht zu meinem Besten aus, ich habe schlimme Nächte und bin müde und wüst, wenn ich aufstehe. Schreiben Sie ihm ein paar Zeilen diesen Abend und sagen Sie ihm, er solle um zwölf Uhr kommen.

—— Zwölf ist doch etwas spät unter den obwaltenden Verhältnissen: Sie werden auf der Promenade gesehen werden.

—— Ich habe nicht die Absicht auszugehen. Lassen Sie ihn in das Wohnzimmer weisen....

Ihre Stimme erstarb, bevor sie den Satz vollenden konnte und verstummte.

—— Und...? sagte Hauptmann Wragge

—— Und lassen Sie mich in dem Zimmer allein, ihn zu empfangen.

—— Ach so! sagte der Hauptmann, ich verstehe. Ich will aus dem Wege gehen in das Speise-Zimmer, so lange er hier ist, und Sie können dann kommen und mit mir sprechen, wenn er fort ist.

Es trat wieder ein augenblickliches Schweigen ein.

—— Muß ich denn durchaus mit Ihnen sprechen? frug sie plötzlich. Ich bin ganz Herr meiner selbst, während er bei mir ist, aber ich kann nicht dafür stehen, was ich vielleicht nachher sage oder thue.

—— O nein, es geht noch auf andere Art, sagte der Hauptmann. Das ist z. B. gleich die erste, die mir einfällt. Lassen Sie den Vorhang über das Fenster Ihres Zimmers oben herunter, ehe er kommt. Ich will hinaus ans Meeresufer gehen und dort in Sicht des Hauses warten. Wenn ich ihn wieder herauskommen sehe, will ich nach dem Fenster sehen. Wenn er Nichts gesagt hat, lassen Sie den Vorhang unten. Wenn er Ihnen einen Antrag gemacht hat, dann ziehen Sie den Vorhang auf. Das Signal ist die Einfachheit selber, wir können einander nicht mißverstehen. Sehen Sie morgen so gut als möglich aus! Machen Sie es fest mit ihm, liebes Mädchen, machen Sie es fest, wenn es Ihnen möglich ist!

Er hatte laut genug gesprochen, um gewiß zu sein, daß sie ihn gehört hatte, aber kein Wort der Antwort kam von ihr. Das tiefe Schweigen wurde nur unterbrochen von dem Rauschen ihres Kleides, welches ihm sagte, daß sie von ihrem Stuhle ausgestanden sei. Ihr Schattenriß schwebte wieder durch das Zimmer, die Thür schloß sich leise, sie war fort. Er klingelte eilig nach Licht. Das Dienstmädchen fand ihn dicht beim Fenster stehend und weniger selbstbewußt aussehend als sonst. Er sagte ihm, daß er sich ein wenig unwohl im Magen fühle und ließ sich von ihm Brandy aus dem Schranke holen.

Wenige Minuten vor Zwölf den Tag daraus begab sich der Hauptmann auf seinen Beobachtungsposten hinweg, indem er sich hinter ein Fischerboot, das auf den Strand gezogen war, versteckte. Pünktlich mit dem Glockenschlag sah er Mr. Noël Vanstone auf Nordsteinvilla zuschreiten und das Gartenthor öffnen. Als die Hausthür sich hinter dem Besuche geschlossen hatte, setzte sich Hauptmann Wragge bequem zurecht neben das Boot und brannte sich seine Cigarre an.

Er rauchte eine halbe Stunde, dann noch zehn Minuten auf seiner Wacht. Er rauchte seine Cigarre bis auf den letzten Stummel aus, den er in seinen Lippen halten konnte. Gerade als er das Ende weggeworfen hatte, öffnete sich die Thür wieder, und Noël Vanstone trat heraus.

Der Hauptmann sah sofort nach Magdalenens Fenster hinauf. In der spannenden Aufregung des Augenblicks zählte er die Secunden. Sie konnte von dem Wohnzimmer bis zu ihrem eigenen Zimmer weniger als eine Minute brauchen. Er zählte bis dreißig, und Nichts zeigte sich. Er zählte bis fünfzig —— und Nichts zeigte sich. Er gab das Zählen auf und verließ ungeduldig das Boot, um nach Hause zurückzukehren.

Als er den ersten Schritt vorwärts that, sah er das Zeichen!

Der Vorhang war aufgezogen.——

Vorsichtig die Höhe des Ufers hinaufsteigend, sah Hauptmann Wragge nach Villa Amsee, ehe er sich auf der großen Promenade zeigte. Mr. Noël Vanstone hatte wieder sein Haus erreicht, er trat eben in die Hausthür.

—— Wenn man mir all Dein Geld böte, um in Deinen Schuhen zu stecken, sagte der Hauptmann und sah ihm nach: so reich Du bist, ich würde doch nicht tauschen.



Kapiteltrenner

Achtes Capitel.

Bei der Rückkunft nach Hause erhielt Hauptmann Wragge eine bedeutsame Meldung durch das Dienstmädchen.

—— Mr. Noël Vanstone würde um zwei Uhr Nachmitttags wiederkommen, wenn er auf das Vergnügen hoffen dürfte, Mr. Bygrave zu Hause zu treffen.

Die erste Frage des Hauptmanns, als er diese Meldung erhielt, bezog sich auf Magdalenen.

—— Wo ist Miss Bygrave?

—— Auf ihrem Zimmer.

—— Wo ist Mrs. Bygrave?

—— In dem Hinterstübchen.

Hauptmann Wragge richtete sofort seine Schritte nach der letzteren Seite hin und fand seine Frau zum zweiten Male in Thränen. Sie war den ganzen Tag aus Magdalenens Zimmer fortgeschickt worden, und sie konnte sich nicht enträthseln, womit sie das verdient haben sollte. Indem er ohne Weiteres ihre Klagen unterbrach, schickte sie ihr Gatte sofort nach oben, mit der Weisung, an die Thür zu klopfen und zu fragen, ob Magdalene für eine wichtige Frage, welche vor zwei Uhr erledigt werden müsse, fünf Minuten Gehör geben wolle.

Die zurückgebrachte Antwort war abfällig. Magdalene ersuchte ihn, ihr den Gegenstand, worüber sie wegen der Entscheidung gefragt werden solle, schriftlich mitzutheilen.

Sie versprach ebenso zu antworten, wohl verstanden, wenn Mrs. Wragge, nicht das Dienstmädchen, das Billet überbrächte und die Antwort zurücknähme.

Hauptmann Wragge öffnete sofort sein Schreibzeug und setzte folgende Zeilen auf:

Empfangen Sie meine wärmsten Glückwünsche betreffs des Erfolges Ihrer Unterredung mit Mr. N. V. Er wird um zwei Uhr wiederkommen: ohne Zweifel um seinen Antrag in der schicklichen Form zu stellen. Die Frage, die jetzt entschieden werden muß, ist nun die: ob ich ihn wegen des Leibgedinges drängen soll oder nicht. Die Erwägungen für Ihr eigenes Ermessen sind zwei an der Zahl. Einmal, ob der besagte Druck —— ohne dabei Ihren Einfluß über ihn im Mindesten zu gering anschlagen zu wollen, —— nicht eine lange Zeit ausgeführt werden müsse, ehe er aus Mr. N. V. Geld herauspreßt. Dann zum Zweiten, ob wir in Anbetracht Ihrer gegenwärtigen Stellung zu einem gewissen schlauen Mitbewerber in der Haube überhaupt die Gefahr des Verzugs laufen wollen Ueberlegen Sie diese Punkte und lassen Sie mich Ihren Entschluß wissen, sobald es Ihnen genehm ist.

Die Antwort auf diese Zeilen war in zitternden verwischten Zügen geschrieben, welche von Magdalenens gewöhnlicher fester und klarer Handschrift auffallend abwichen. Sie enthielt nur folgende Worte:

Bemühen Sie sich gar nicht wegen des Leibgedinges Ueberlassen Sie die Art und Weise, wie er sein Geld in Zukunft anwenden soll, lediglich meiner Leitung.

—— Sahest Du sie? frug der Hauptmann, als ihm seine Frau die Antwort behändigt hatte.

—— Ich versuchte, ihrer ansichtig zu werden, sagte Mrs. Wragge mit einer neuen Thränenfluth, aber sie öffnete die Thür nur soweit, um ihre Hand herauszustrecken. Ich ergriff sie und drückte sie leise, aber, ach! ich Aermste, sie fühlte sich so kalt an!

Als Mrs. Lecounts Herr um zwei Uhr erschien, fühlte er sich in beängstigender Weise des schmerzstillenden Wedelns von Mrs. Lecounts grünem Fächer benöthigt. Die Aufregung; in welche ihn das Magdalenen gemachte Geständniß seiner Liebe versetzt hatte, der Schreck, daß er von seiner Haushälterin ertappt wurde, der quälende Argwohn, daß ihm Magdalenens Verwandter und Beschützer harte Geldopfer auferlegen werde: alle diese Gemüthsbewegungen, welche in ihm um die Oberhand kämpften, hatten die Kraft seines schwächlichen Herzens höchst bedenklich auf die Probe gestellt und angestrengt. Er schnappte nach Luft, als er im Besuchszimmer auf Nordsteinvilla saß, und jenes unheimliche bläuliche Weiß, welches in Augenblicken der Aufregung stets sein Gesicht überzog, kam aufs Neue unheilverkündend zum Vorschein. Hauptmann Wragge ergriff in seiner Herzensangst die Brandyflasche und nöthigte seinem Gaste ein volles Weinglas dieses Getränkes auf, ehe noch von einer Seite ein Wort gesprochen wurde.

Gestärkt durch dieses Reizmittel und ermuntert durch die Schnelligkeit, mit welcher der Hauptmann jedes Wort, das er zu sagen hätte, ihm aus dem Munde nahm, war Mr. Noël Vanstone im Stande, den ernsten Gegenstand seines Besuches in erträglich deutlichen Ausdrücken vorzubringen. Alle von der Sitte hierbei vorgeschriebenen Einleitungen wurden nun ohne Weiteres erledigt. Die Familie des Antragstellers war achtbar, seine Lebensstellung war unleugbar zufriedenstellend, seine Neigung, obgleich etwas überstürzt, war ersichtlich uneigennützig und aufrichtig. Alles was der Hauptmann thun konnte, war, daß er mit einer vor Bewegung zitternden Stimme und schön gewählten Worten und Wendungen diese verschiedenen Erwägungen aussprach. Und Das gelang ihm denn vortrefflich. In der ersten halben Stunde der Unterredung wurde keinerlei Anspielung gemacht auf die zarte und verfängliche Seite der Frage. Der Hauptmann wartete, bis er seinen Besucher beruhigt hatte, und als dieser Erfolg erreicht war, berührte er leise diesen Punkt mit folgenden Worten:

—— Nun ist nur noch eine kleine Schwierigkeit, Mr. Vanstone, welche, denke ich, wir beide bisher übersehen haben. Das neueste Verhalten Ihrer Haushälterin läßt mich fürchten, daß sie die bevorstehende Veränderung in Ihrem Leben durchaus nicht mit freundlichen Augen ansehen werde. Wahrscheinlich haben Sie es nicht für nöthig befunden, sie von dem neuen Band, welches sie zu schließen beabsichtigen, in Kenntniß zu setzen?

Mr. Noël Vanstone wurde blaß bei dem bloßen Gedanken einer persönlichen Erklärung gegen Mrs. Lecount.

—— Ich kann nicht sagen, was ich thun werde, sagte er mit einem verstohlenen Blicke nach dem Fenster, als ob er erwartete das Gesicht der Haushälterin durch die Scheiben hereinschauen zu sehen. Wir sind alle unerquicklichen Verhältnisse verhaßt; dies aber ist das aller unerquicklichste Verhältniß, indem ich mich je befunden habe. Sie wissen nicht, was für ein schreckliches Weib die Lecount ist. Ich fürchte mich nicht vor ihr, denken Sie ja nicht, ich fürchte mich vor ihr....

Bei diesen Worten faßte ihn die lautere Furcht bei der Kehle und strafte ihn direct Lügen, indem sie ihm den Mund verschloß.

—— Ich bitte Sie, geben Sie sich keine Mühe mit Erklärungen, sagte Hauptmann Wragge, indem er ihm zu Hilfe kam. Dies ist ja die gewöhnliche Geschichte, Mr. Vanstone. Hier ist eine Frau, welche in Ihren Diensten und vor Ihnen in Ihres Vaters Diensten alt geworden ist, eine Frau, welche seit langen, langen Jahren nach einem festen Plane durch allerhand kleine Kunstgriffe und heimliche Schachzüge sich ihre Stellung zu verschaffen gewußt hat, kurz eine Frau, der Sie in Ihrer unüberlegten, aber ganz natürlichen Herzensgüte ein gewisses Eigenthnmsrecht auf sich eingeräumt haben....

—— Eigenthumsrecht! schrie Mr. Noël Vanstone, indem er den Hauptmann mißverstand und, schlechterdings unfähig seine Furcht länger zu verbergen, sich die Wahrheit entlocken ließ, —— ich weiß nicht, bis zu welchem Grade sie wohl ein Eigenthumsrecht beanspruchen mag. Sie will, ich soll für meinen Vater so gut als für mich selbst zahlen Tausende, Mr. Bygrave, Tausende von Pfund Sterlingen aus meiner Tasche!!!

Er schlug seine Hände zusammen in heller Verzweiflung über das Schreckbild solcher Gelderpressung das seine Einbildungskraft heraufbeschworen hatte, das Bild, wie sein goldenes Lebensblut in großen Strahlen von ihm sprang unter dem Aderlaßschnepper von Mrs. Lecount!

—— Gemach, Mr. Vanstone, gemach! Die Frau weiß noch Nichts, und das Geld ist noch nicht fort.

—— Nein, nein, das Geld ist noch nicht fort, wie Sie sagen. Ich bin nur aufgeregt darob, ich kann mir nicht helfen, ich komme allemal in Aufregung. —— Sie wollten eben Etwas sagen, Sie wollten mir einen Rath geben. Ich weiß Ihren Rath zu schätzen, Sie glauben gar nicht, wie sehr ich Ihren Rath zu schätzen weiß.

Er sagte diese Worte mit einem einschmeichelnden Lächeln, welches mehr als kläglich aussah, es war geradezu kriechend und stellte ihn ganz in Abhängigkeit von seinem gewitzigten Freund.

—— Ich versicherte Ihnen nur, lieber Herr, daß ich Ihre Lage wohl begreife, sagte der Hauptmann. Ich sehe Ihre Schwierigkeit so deutlich wie Sie selber. Sagen Sie einem Weibe, wie Mrs. Lecount, daß es von seinem häuslichen Throne herabsteigen, daß es einer jungen schönen Nachfolgerin Platz, machen solle, welche mit der Macht der Hausfrau ausgerüstet ist —— und eine unliebsame Scene muß unvermeidlich folgen. Eine unliebsame Scene, Mr. Vanstone, wenn Ihre Meinung von der Vernünftigkeit Ihre Haushälterin begründet ist. Etwas weit Schlimmeres, wenn meine Meinung, daß ihr Verstand erschüttert ist, sich als richtig erweist.

—— Ich sage nicht, daß ich das nicht auch glaube, versetzte Mr. Noël Vanstone. Namentlich nach Dem, was heute vorgefallen ist.

Hauptmann Wragge bat sofort, ihm mitzutheilen, was das für ein Vorfall sei, auf den er anspiele.

Mr. Noël Vanstone erklärte darauf hin unter unendlich vielen Einschaltungen in Bezug auf sich selbst, daß Mrs. Lecount die gefürchtete Frage bezüglich des kleinen Billets in ihres Herrn Tasche kaum eine Stunde zuvor gestellt habe. Er hatte ihr gerade so geantwortet, wie Mr. Bygrave ihm gerathen hatte. Als Mrs. Lecount hörte, daß die Genauigkeit der Personalbeschreibung richtig auf die Probe gestellt worden sei und in dem einen wichtigen Punkte der Male auf dem Nacken nicht zugetroffen hätte, habe sie ein wenig nachgedacht und ihn dann gefragt, ob er ihr Billet Mr. Bygrave gezeigt habe, ehe der Versuch gemacht wurde. Er hatte verneinend geantwortet, weil dies die einzig sichere Art der Erwiderung, die er im Drange des Augenblicks hatte finden können, gewesen sei. Die Haushälterin hatte dann folgende wunderbare und auffallende Worte an ihn gerichtet.

—— Sie verhehlen mir die Wahrheit, Mr. Noël. Sie vertrauen sich fremden Leuten an und zweifeln an Ihrer alten Dienerin und Ihrer alten Freundin. Jedes Mal, wenn Sie in Mr. Bygraves Wohnung gehen, jedes Mal, wenn Sie Miss Bygrave sehen, gehen Sie Ihrem Untergange näher und näher entgegen. Sie haben Ihnen trotz meiner Bemühungen eine Binde über die Augen gelegt, aber sagen Sie ihnen nur, daß ich sie, bevor einige Tage vergangen sein werden, abreißen werde!

Auf diesen außerordentlichen Ausbruch, begleitet wie er war, von einem nie vordem gesehenen Ausdruck in Mrs. Lecounts Zügen, hatte Mr. Noël Vanstone keine Antwort gefunden. Mr. Bygraves Ueberzeugung, daß der Haushälterin ein schlummernder Keim von Wahnsinn im Blute stecke, war ihm wieder eingefallen, und er hatte bei erster Gelegenheit das Zimmer verlassen.

Der Hauptmann hörte mit der gespanntesten Aufmerksamkeit auf die Erzählung, die ihm hier mitgetheilt wurde. Er konnte nur einen Schluß daraus ziehen: es war eine deutliche Mahnung für ihn, das Ende zu beschleunigen.

—— Ich bin nicht überrascht, sagte er mit ernster Salbung, zu hören, daß Sie sich mehr und mehr meiner Meinung zuneigen. Nach dem, was Sie mir eben erzählt haben, Mr. Vanstone, hätte kein Mann von Gefühl anders handeln können. Dies wird nunmehr ernsthaft. Ich weiß kaum, welche Folgen die Mittheilung Ihrer nahen Lebensveränderung an Mrs. Lecount nach sich ziehen kann. Meine Nichte darf nicht in diese Folgen verwickelt werden. Sie ist nervenreizbar, sie ist feinfühlend im höchsten Grade; sie ist der unschuldige Gegenstand von dieses Weibes unvernünftigem Haß und Mißtrauen. Sie beunruhigen mich, Sir! Ich verliere nicht leicht meine Seelenruhe, aber ich gestehe, Sie beunruhigen mich wegen der Zukunft.

Er runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und sah seinen Gast wie ganz außer Fassung an.

Mr. Noël Vanstone fing nun an, ebenfalls unruhig zu werden. Die Veränderung in Mrs. Bygraves Benehmen schien ihm unheilverkündend für seinen Antrag von einem neuen ungünstigen Gesichtspunkte aus. Er zog seine angeborene Feigheit und seine angeborene Schlauheit zu Rathe und schlug nun eine Lösung der Schwierigkeit, die ganz seine Erfindung war, vor.

—— Warum sollen wir es der Lecount überhaupt sagen? frug er. Was hat die Lecount für ein Recht es zu wissen? Können wir uns nicht verheirathen, ohne sie ins Geheimniß zu ziehen. Und kann es ihr nicht nachher, wenn wir aus ihrem Bereiche sind, jemand Anders mittheilen?

Hauptmann Wragge nahm diesen Vorschlag mit einem Ausdruck der Ueberraschung auf, welche seiner Verstellungskunst alle mögliche Ehre machte. Sein hauptsächlichstes Augenmerk während der ganzen Unterredung war gewesen, sie unvermerkt bis zu diesem Punkt zu lenken, oder mit anderen Worten den ersten Gedanken, die Verheirathung von Mrs. Lecount geheim zu halten, nicht von sich, sondern von Noël Vanstone ausgehen und aussprechen zu lassen. Niemand wußte besser als der Hauptmann, daß die einzige Verantwortung, welche ein schwacher Mann immer auf sich nimmt, eine solche ist, welche beständig ihm als ausschließlich ihm zugehörend zugeschoben werden kann.

—— Ich bin gewohnt, mich stets von allem heimlichen Wesen abzuwenden, sagte Hauptmann Wragge. Aber es giebt auch für die strengsten Regeln Ausnahmen, und ich muß zugestehen, Mr. Vanstone, daß Ihre Lage in dieser Sache eine so außerordentliche ist, wie es nur je eine gegeben hat. Das Verfahren, das Sie eben vorgeschlagen, würde, so ungeziemend es mir auch erscheinen mag, so unangenehm es mir selber ist, Ihnen nicht allein eine ernstliche Schwierigkeit —— um mich gelind auszudrücken —— ersparen, sondern Sie auch vor der persönlichen Geltendmachung der Geldansprüche seitens Ihrer Haushälterin schützen, auf welche Sie bereits angespielt haben. Dies sind Beides ganz wünschenswerthe Erfolge, ganz zu schweigen der dadurch bei mir selbst beseitigten Besorgniß, meine Nichte belästigt zu sehen. Auf der andern Seite muß freilich eine mit solcher Heimlichkeit, wie Sie vorhaben, betriebene Heirath rasch geschlossen werden; denn wie wir einmal stehen, muß, je größer der Verzug ist, desto größer auch die Gefahr sein, daß das Geheimniß uns entschlüpft. Ich bin nicht gegen rasche Heirathen, wo eine gegenseitige Gluth durch ein entsprechendes Vermögen genährt wird. Meine eigene Heirath war eine Herzensehe, eingegangen in großer Eile. Es gibt tausend Beispiele von kurzem Brautstande und schneller Heirath, welche sich als Trumpfe erwiesen, —— verzeihen Sie, welche trotz alledem zum Segen anschlagen. Aber wenn Sie und meine Nichte, Mr. Vanstone, die Zahl dieser Fälle vermehren sollen, so müssen die gewöhnlichen Einleitungen zur Ehe unter den höheren Ständen auf irgend eine Art beschleunigt werden. Sie verstehen ohne Zweifel, daß ich jetzt auf den Gegenstand des Ehevertrags komme?

—— Ich will noch einen Theelöffel voll Brandy nehmen, sprach Mr. Noël Vanstone, indem er sein Glas mit zitternder Hand hinhielt als das Wort »Ehevertrag« über die Lippen des Hauptmanns kam.

—— Ich will einen Theelöffel mit Ihnen trinken, sagte der Hauptmann, indem er rasch von dem erhabenen Standpuncte seiner Ehrbarkeit herabstieg und seinen Brandy mit dem größten Genuß hinunter schlürfte.

Mr. Noël Vanstone suchte, nachdem er in nervöser Aufregung das Beispiel des Hauptmanns befolgt hatte, sich soweit zu fassen, um die bevorstehende Feuerprobe durchzumachen, das Haupt zurückgesunken, die Hände krampfhaft geballt, ganz in der Haltung, welche in der gesamten gesitteten Welt ein Mensch einnimmt, dem ein Zahn herausgenommen werden soll.

Der Hauptmann setzte sein leeres Glas nieder und stellte sich wieder auf seinen erhabenen Standpunkt.

—— Wir sprachen eben vom Ehecontract, begann er aufs Neue. Ich habe bereits bei einer früheren Stelle unserer Unterredung bemerkt, Mr. Vanstone, daß meine Nichte dem Manne ihrer Wahl keine andere Mitgift bringt, als die kostbarste aller Gaben, nämlich: sich selber. Dieser Umstand nimmt mir indessen, wie Sie ohne Zweifel wohl selber wissen werden, keineswegs das Recht, die gewöhnlichen Verträge mit ihrem künftigen Ehegatten zu vereinbaren. Nach dem üblichen Laufe der Dinge in dieser Angelegenheit würde mein Advocat den Ihrigen besuchen, Verhandlungen würden stattfinden, Verzögerungen würden eintreten, Fremde würden in unsere Absichten eindringen, und —— Mrs. Lecount würde früher oder später der Wahrheit auf die Spur kommen, die Sie ihr doch verborgen halten wollen. Sind Sie soweit mit mir einverstanden?

Unaussprechliche Angst verschloß Mr. Noël Vanstone die Lippen. Er konnte nur durch Nicken antworten.

—— Sehr gut, sagte der Hauptmann. Nun, Sir, werden Sie wohl bemerkt haben, daß ich ein Mann von ganz eigenthümlicher Lebensanschauung bin. Wenn es Ihnen bis jetzt noch nicht so vorgekommen ist, so mag es dann nothwendig werden, zu erwähnen, daß es Gegenstände gibt, in Bezug auf die ich beharrlich meine eigenes Meinung habe. Die Eheverträge sind ein solcher Gegenstand. Was pflegt, will ich Sie fragen, ein Vater oder Vormund in meiner gegenwärtigen Lage zu thun? Nachdem er dem Manne, welchen er zu seinem Schwiegersohne erkoren hat, das Glück einer Frau als heiliges Vermächtniß anvertraut hat, wendet er sich jählings wieder ab von dem Manne und weigert sich, die weit geringere Verantwortung, die Sorge für deren künftiges Auskommen, ihm zu überlassen. Er macht seinen Schwiegersohn mit der bündigsten Urkunde, die der Advocat aufsetzen kann, fest und bedient sich gegenüber dem Gatten seines eigenen Kindes derselben Vorsichtsmaßregeln, als wenn er es mit einem fremden Menschen oder mit einem Schelm zu thun hätte. Ich nenne ein solches Benehmen wie dieses ungeziemend und unfolgerichtig im höchsten Grade. Sie werden nicht finden, daß ich andere Lehren predige, als ich befolge. Wenn ich Ihnen meine Nichte anvertraue, vertraue ich Ihnen jede andere Verantwortung gegen sie und mich an. Geben Sie mir Ihre Hand, Sir, erklären Sie mir aus Ihr Ehrenwort, daß Sie für Ihre Gattin sorgen wollen, wie es Ihrer Stellung und Ihrem Vermögen entspricht: und die Frage des Ehecontractes ist zwischen uns von diesem Augenblick ein für allemal erledigt!

Nachdem er Magdalenens Weisungen in dieser stolzen Sprache ausgeführt hatte, schlug er seinen feierlichen Frack auseinander und saß da mit erhobenem Haupte und ausgestreckter Hand, das Muster väterlicher Empfindung und das Bild edelmenschlicher Uneigennützigkeit.

Für einen Augenblick blieb Mir. Noël Vanstone buchstäblich vor Erstaunen versteinert. Den nächsten Augenblick sprang er von seinem Stuhle auf und drückte in wahrer begeisterter Bewunderung die Hand seines großmüthigen Freundes. Noch nie in seiner langen, wechselvollen Laufbahn hatte Hauptmann Wragge solche Schwierigkeit empfunden, seine Fassung zu behaupten, als eben jetzt. Verachtung über den Ausbruch der elenden Dankbarkeit, deren Gegenstand er war, Siegesfreude wegen des Gelingens der Verschwörung gegen einen Mann, welcher das Erbieten seines Schutzes auf fünf Pfund zu schätzen sich unterfangen, Bedauern über die entgangene Gelegenheit, eine schöne Ernte »als moralischer Landwirth«, vulgo Industrieritter, zu halten, eine Gelegenheit, die er sich aus Furcht, in die kommenden Ereignisse verwickelt zu werden, nothgedrungen hatte entschlüpfen lassen müssen: alle diese verschiedenen Gefühle regten das Gemüth des Hauptmanns auf, alle strebten in ihm sich Luft zu machen durch Blick oder Wort. Er ließ Mr. Noël Vanstone sich so lange seiner Hand bemächtigen und eine Reihe von kreischenden Betheuerungen und Versprechungen herausstoßen, bis er seine gewöhnliche Selbstbeherrschung wiedererlangt hatte. Als Dies geschehen war, brachte er den kleinen Mann wieder an seinen Stuhl zurück und kehrte sofort zu der Frage betreffs Mrs. Lecount zurück.

—— Wir wenden uns nun wieder zu der einen Schwierigkeit zurück, die wir noch nicht überwunden haben, sagte der Hauptmann. Wir wollen einmal sagen, daß ich meinen eigenen Gewohnheiten und Gefühlen Gewalt anthue, daß ich die Erwägung, die ich bereits erwähnt habe, bei mir zur Geltung kommen lasse, und daß ich Ihren Wunsch, mit meiner Nichte vereinigt zu werden ohne Benachrichtigung der Mrs. Lecount, gut heiße. Erlauben Sie mir für diesen Fall zu fragen, welche Maßregeln Sie zur Erreichung Ihres Zweckes vorschlagen können?

—— Ich habe gar Nichts vorzuschlagen, versetzte Mr. Noël Vanstone in Verlegenheit. Wollen Sie mir nicht lieber Etwas vorschlagen?

—— Sie stellen ein kühneres Ersuchen an mich, als Sie denken, Mr. Vanstone. Ich thue niemals die Dinge nur halb. Wenn ich mit meiner gewöhnlichen Offenheit zu Werke gehe, so bin ich, wie Sie schon wissen, aufrichtig bis zu dem äußersten Grade der Unklugheit. Wenn außerordentliche Umstände mich zwingen, ein entgegengesetztes Verfahren einzuhalten, so gibt es keinen schlaueren Fuchs, als ich bin. Wenn ich auch Ihr ausdrückliches Ersuchen mein ehrbares englisches Kleid hier ausziehe und eine Jesuitenrobe anlege, wenn rein aus Mitgefühl für Ihre mißliche Stellung ich einwillige, Ihr Geheimniß vor Mrs. Lecount bewahrt zu sehen, so muß ich aber auch mit keinen uuvernünftigen Bedenklichkeiten von Ihrer Seite zu kämpfen haben. Wenn es bei mir heißt: entweder, oder ——, so muß es bei Ihnen auch heißen: entweder, oder ——!

—— Jedenfalls entweder, oder! sagte Mr. Noël Vanstone tapfer, —— wohlverstanden, wenn Sie vorangehen. Ich habe kein Bedenken dagegen, die Lecount im Dunkeln zu lassen, aber sie ist verteufelt schlau, Mr. Bygrave. Wie wollen wir es nur anfangen?

—— Sie sollen es gleich vernehmen, antwortete der Hauptmann, bevor ich meine Ansicht entwickle, möchte ich gern erst Ihre Meinung über eine rein moralische Frage kennen. Was halten Sie, lieber Herr von frommem Betrug im Allgemeinen?

Mr. Noël Vanstone sah etwas verlegen über diese Frage aus.

—— Soll ich mich deutlicher ausdrücken? fuhr Hauptmann Wragge fort. Was sagen Sie zu dem allgemein angenommenen Grundsatz, daß »in der Liebe und im Kriege alle Kniffe gelten«? Ja oder Nein?

— Ja! antwortete Mr. Noël Vanstone mit der größten Bereitwilligkeit «

—— Noch eine Frage, und ich bin fertig, sagte der Hauptmann. Haben Sie Etwas einzuwenden, gegen Mrs. Lecount einen frommen Betrug auszuführen?

Mr. Noël Vanstones Entschlossenheit begann ein wenig zu Wanken.

—— Wird es auch Mrs. Lecount nicht etwa herausbekommen? frug er vorsichtig.

—— Sie kann es unmöglich eher herausbekommen, als bis Sie verheirathet und aus ihrem Bereiche sind.

—— Sie sind dessen gewiß?

—— Vollkommen gewiß.

—— Spielen Sie der Lecount jeden Streich, den Sie wollen, sagte Mr. Noël Vanstone mit der Miene unaussprechlicher Freude. Ich habe neuerdings den Verdacht geschöpft, daß sie mich zu beherrschen sucht: ich beginne zu fühlen, daß ich es mit der Lecount just lange genug ausgehalten habe Ich wünsche sie nun los zu sein.

—— Sie sollen haben, was Sie wünschen, sagte Hauptmann Wragge. Sie sollen sie binnen einer Woche oder zehn Tagen los sein.

Mr. Noël Vanstone stand eifrig auf und kam auf den Stuhl des Hauptmanns zu.

—— Was Sie da sagen! rief er. Wie denken Sie dieselbe fortzubringen?

—— Ich denke sie auf eine Reise wegzuschicken, versetzte der Hauptmann Wragge.

—— Wohin?

—— Von Ihrem Hause zu Aldborough an das Bett ihres Bruders in Zürich.

Mr. Noël Vanstone fuhr bei der Antwort zurück und kehrte sofort auf seinen Stuhl zurück.

—— Wie können Sie Das bewirken? frug er in der größten Verwirrung. Ihr Bruder —— hol ihn der Henker! —— befindet sich viel besser. Sie hat erst diesen Morgen einen zweiten Brief von Zürich erhalten, welcher Dies besagt.

—— Sahen Sie den Brief?

— Ja. Sie ist immer besorgt um ihren Bruder, sie wollte ihn mir zeigen.

—— Von wem war er? und was besagt er?

— Er war von dem Arzte, er schreibt immer an sie. Ich kümmere mich keinen Pfifferling um ihren Bruder und entsinne mich nicht mehr genau des Briefes, außer daß er kurz war. Der Mensch befand sich weit besser, und wenn der Doctor nicht wieder schreiben würde, so möchte sie es für ausgemacht halten, daß es gut ginge. —— Das war das Wesentlichste daraus.

—— Bemerkten Sie, wohin sie den Brief that, als Sie ihn ihr wieder gaben?

—— Ja, sie that ihn in die Commode, wo sie ihre Rechnungsbücher aufhebt.

—— Können Sie zu dieser Commode gelangen?

—— Natürlich kann ich das! Ich habe einen Hauptschlüssel. ich muß stets einen Hauptschlüssel zu dem Orte haben, wo sie ihre Rechnungsbücher hat. Ich lasse niemals die Rechnungsbücher vor mir wegschließen, das ist eine Hausregel.

—— Seien Sie so gut und nehmen Sie den Brief heute an sich, Mr. Vanstone, ohne daß es die Haushälterin merkt, und haben Sie dann noch die Güte, mir ihn hier insgeheim auf ein bis zwei Stunden zu überlassen.

—— Wozu brauchen Sie ihn?

—— Ich habe noch einige Fragen mehr an Sie zu richten, ehe ich es Ihnen sagen kann. Haben Sie einen vertrauten Freund in Zürich, von dem Sie Beistand erwarten können, wenn es gilt, Mrs. Lecount eine Streich zu spielen?

—— Welcherlei Beistand meinen Sie? frug Mr. Noël Vanstone.

—— Denken Sie ich einmal, sagte der Hauptmann, Sie sollten einen an Mrs. Lecount in Aldborough gerichteten Brief, welcher in einem andern Briefe an einen auswärtigen Freund eingeschlossen wäre, abschicken. Und dann denken Sie sich, Sie wiesen jenen Freund an, damit er Ihnen dabei helfe, einen derben Schabernack auszuführen, indem er den Brief an Mrs. Lecount zu Zürich auf die Post gäbe? Kennen Sie Jemand, der das zuversichtlich thun würde?

—— Ich kenne zwei Personen, denen man Das zutrauen könnte! rief Mr. Noël Vanstone. Beides Damen, Beides alte Jungfern, Beides bittere Feindinnen der Lecount. Aber was haben Sie denn eigentlich vor, Mr. Bygrave? Obgleich ich für gewöhnlich nicht auf den Kopf gefallen bin, so sehe ich doch diesmal wirklich nicht ein, wohin Sie zielen.

—— Sie sollen es gleich sehen, Mr. Vanstone.

Mit diesen Worten erhob er sich, begab sich an sein Pult im Winkel des Zimmers und schrieb ein paar Zeilen auf ein Blatt Briefpapier. Nachdem er sie erst genau selbst gelesen, bat er Mr. Noël Vanstone zu kommen und sie auch zu lesen.

—— Vor wenigen Minuten, sagte der Hauptmann, indem er verbindlich lächelnd mit der Feder auf seinen Entwurf hinzeigte, hatte ich die Ehre einen frommen Betrug gegen Mrs. Lecount in Vorschlag zu bringen. Da ist er!

Er überließ seinen Stuhl am Schreibtisch seinem Gast. Mr. Noël Vanstone setzte sich und las folgende Zeilen:

Meine liebe Madame!

Seitdem ich Ihnen zuletzt geschrieben, hat Ihr Bruder, wie ich zu meinem Leidwesen melden muß, einen Rückfall bekommen. Die Krankheitserscheinungen sind so ernster Art, daß es meine persönliche Pflicht ist, Sie augenblicklich an sein Krankenlager zu rufen. Ich mache jede Anstrengung, um dem erneuten Fortschreiten der Krankheit Einhalt zu thun, und habe noch nicht alle Hoffnung auf Erfolg aufgegeben. Aber ich kann es vor meinem Gewissen nicht verantworten, Sie in Unbekanntschaft zu lassen mit der gefährlichen Verschlimmerung, welche in dem Befinden meines Patienten eingetreten ist, und die Von traurigen Folgen begleitet sein kann. Mit herzlicher Theilnahme verbleibe ich

Ihr u. s. w. u. s. w.

Hauptmann Wragge wartete mit einiger Spannung den Eindruck ab, den dieser Brief hervorbringen möchte. So niedrig denkend, selbstsüchtig und feig Mr. Noël Vanstone auch war, so konnte doch sogar er noch einiges Bedenken fühlen, solch eine Täuschung auszuführen, wie sie hier vorgeschlagen wurde, und zwar gegenüber einem Weibe, das zu ihm in dem Verhältniß stand, wie Mrs. Lecount. Sie hatte ihm treu gedient, so eigennützig ihre geheimen Zwecke dabei auch sein mochten, sie hatte seit seinen Knabenjahren schon das vollste Vertrauen seines Vaters besessen, sie stand jetzt unter dem Schutze seines Daches. Konnte er Das vergessen, und wenn er es nicht vergaß, konnte er so ohne Weiteres seine Hilfe bieten zu dem Plane, der ihm jetzt unter den Fuß gegeben ward? Hauptmann Wragge hatte unbewußt noch Glauben genug an die Menschheit bewahrt, um Dies zu bezweifeln. Zu seiner größten Verwunderung und —— wie hinzugefügt werden muß —— zu seiner Freude erwiesen sich seine Besorgnisse als durchaus unbegründet. Die einzigen Gefühle, welche in Mr. Noël Vanstones Brust beim Lesen des Briefes rege wurden, waren eine aufrichtige Bewunderung des Gedankens seines Freundes und ein eitles Verlangen, das ehrenvolle Zutrauen zu verdienen, daß er die Person sei, welche ihn ausführte. Es können alle Tage Beispiele von Narren gefunden werden, die keine Schurken sind, gelegentlich kann man wohl auch Narren auftreiben, die keine Schlauheit besitzen; aber mit Fug und Recht kann man Zweifel hegen, ob es irgendwo ein Beispiel von einem Narren giebt, der nicht grausam ist.

— Vortrefflich! rief Mr. Noël Vanstone und schlug in seine Hände. Mr. Bygrave, Sie sind so prächtig wie Figaro in der französischen Komödie. Da ich einmal vom Französischen spreche, es ist ein starker Fehler in diesem Ihren pfiffigen Briefe, er ist in der unrechten Sprache geschrieben. Wenn der Doktor an die Lecount schreibt, so schreibt er allemal französisch. Wollen Sie vielleicht, daß ich ihn übersetze? Sie können ohne meine Hilfe damit nicht zu Rande kommen, nicht wahr? Ich schreibe französisch so fließend als englisch. Jetzt sehen Sie mich 'mal an! Ich will ihn übersetzen, während ich hier sitze, mit zwei Federstrichen.

Er vollendete die Uebersetzung beinahe so rasch, als der Hauptmann die Vorlage ausgesetzt hatte.

—— Warten Sie eine Minute! rief er in dem kritischen Hochgefühl, daß er noch einen Mangel an dem Entwurfe seines gescheidten Freundes entdeckte. Der Doctor datiert immer seine Briefe, hier steht kein Datum in dem Ihrigen.

—— Ich überlasse das Datum Ihnen, sagte der Hauptmann mit sardonischem Lächeln. Sie haben den Fehler entdeckt, lieber Herr, bitte, verbessern Sie ihn auch!

Mr. Noël Vanstone sah im Geiste in die große Kluft, welche die Fähigkeit, etwas Falsches zu entdecken, von der Fähigkeit, auch ein Mittel zur Abhilfe zu erfinden, trennt, und lehnte nach dem Beispiele manches gescheidten Mannes ab, sich darüber hinaus zu wagen.

—— Ich kann mir unmöglich diese Freiheit erlauben, sagte er höflich, vielleicht hatten Sie einen Grund, das Datum auszulassen.

—— Vielleicht ja, versetzte Hauptmann Wragge in seinem leichtesten, launigsten Tone. Das Datum muß von der Zeit abhängen, die ein Brief braucht, bis er in Zürich ankommt. Ich habe darin keine Erfahrung, Sie aber müssen das von Ihres Vaters Zeit her noch recht gut wissen. Lassen Sie mich Ihrer Belehrung theilhaftig werden, und wir wollen das Datum hinzusetzen, bevor Sie den Schreibtisch verlassen.

Mr. Noël Vanstones Erfahrung war, wie Hauptmann Wragge richtig vorausgesetzt hatte, ganz maßgebend, um die Zeitfrage zu erledigen. Die Eisenbahnverbindungen des Festlandes waren (im Jahre achtzehnhundertsiebenundvierzig) noch dürftig, und ein zu jener Zeit von England nach Zürich abgeschickten Brief und von Zürich zurück nach England brauchte volle zehn Tage, um die doppelte Reise auf der Post zu machen.

— Datiren Sie den Brief auf Französisch fünf Tage voraus von morgen an, sagte der Hauptmann, als er belehrt worden war. Sehr gut. Das Nächste ist, mir des Doktors Brief zu verschaffen, sobald es Ihnen möglich ist. Ich werde genöthigt sein, einige Stunden zu arbeiten, ehe ich Ihre Uebersetzung in einer genauen Nachahmung der Handschrift des Doctors ausführen kann. Besitzen Sie etwas ausländisches Briefpapier? Lassen Sie mir einige Bogen zukommen und schicken Sie zugleich ein Couvert mit Adresse an eine jener Ihnen befreundeten Damen in Zürich, begleitet von der dringenden Bitte, den Einschluß zur Post zu geben. Das ist Alles, womit ich Ihnen beschwerlich fallen muß, Mr. Vanstone. Ich möchte um Alles nicht ungastlich erscheinen, aber je eher Sie mich mit meinen Unterlagen versehen können, einen desto größeren Gefallen werden Sie mir thun. —— Wir verstehen doch einander vollkommen? Nachdem ich Ihre Bewerbung um die Hand meiner Nichte angenommen habe, gestatte ich eine heimliche Verheirathung in Erwägung der auf Ihrer Seite obwaltenden Umstände. Eine kleine harmlose Kriegslist ist nothwendig, um Ihre Absichten zu fördern. Ich erfinde die List auf Ihr Ersuchen, und Sie machen ohne das geringste Zaudern Gebrauch davon. Der Erfolg ist, daß Mrs. Lecount in zehn Tagen von morgen an gerechnet auf dem Wege nach der Schweiz sein, in fünfzehn Tageu von morgen ab in Zürich ankommen und den ihr gespielten Streich entdecken, darauf in zwanzig Tagen von morgen ab wieder zurück in Aldborough sein und auf ihrem Tische die Vermählungscarte ihres Herrn und ihren Herrn selbst auf der Hochzeitsreise abwesend finden wird. Ich habe es mit Zahlen ausgedrückt, um es klar auszudrücken. Gott befohlen. Guten Morgen!

—— Ich habe doch morgen das Glück, Miss Bygrave zu sehen? sagte Noël Vanstone, indem er sich in der Thür umdrehte.

—— Wir müssen vorsichtig sein, antwortete Hauptmann Wragge. Ich will das Morgen nicht abschlagen, aber ich mache keine weiteren Versprechungen darüber hinaus. Erlauben Sie mir, Sie zu erinneren, daß wir es noch zehn Tage mit Mrs. Lecount zu thun haben.

—— Ich wollte, die Lecount läge aus dem Grunde der Nordsee! rief Mr. Noël Vanstone hitzig aus. Es ist für Sie leicht, es mit ihr zu thun zu haben, Sie wohnen nicht bei ihr. Was soll ich aber thun?

—— Ich sage es Ihnen morgen, sprach der Hauptmann. Gehen Sie, um Ihren Morgenspaziergang allein zu machen, und sprechen Sie hier um zwei Uhr ein, wie Sie heute einsprachen Zugleich vergessen Sie nicht die Dinge, welche ich von Ihnen brauche. Siegeln Sie dieselbe in ein großes Couvert ein. Wenn Sie Das gethan haben, bitten Sie Mrs. Lecount mit Ihnen wie gewöhnlich auszugehen, und während sie oben ist, um ihren Hut aufzusetzen, schicken Sie das Mädchen zu mir herüber. Verstehen Sie? —— guten Morgen!

Eine Stunde später kam das versiegelte Couvert mit den Inlagen richtig in Hauptmann Wragges Hände. Die doppelte Aufgabe, eine fremde Handschrift genau nachzumachen und Worte in einer fremden ihm wenig geläufigen Sprache richtig abzuschreiben, machte ihm mehr Schwierigkeiten, als er anfänglich gedacht hatte. Es war sieben Uhr, ehe die Arbeit, welche er unternommen hatte, glücklich vollendet, und der Brief nach Zürich zum Abschicken fertig war.

Ehe er zu Bett ging, machte er noch einen Spaziergang auf der einsamen großen Promenade, um die kühle Nachtlust zu genießen. Alle Lichter waren ausgelöscht in Villa Amsee, als er dorthin sah, außer dem Licht im Fenster der Haushälterin. Hauptmann Wragge schüttelte sein Haupt argwöhnisch. Er hatte gerade jetzt Erfahrungen genug gemacht, um Mrs. Lecounts Wachsamkeit das Schlimmste zuzutrauen.



Kapiteltrenner

Neuntes Capitel.

Wenn Hauptmann Wragge hätte in Mrs. Lecounts Zimmer sehen können, während er auf der Promenade stand und das Licht in ihrem Fenster beobachtete, so würde er die Haushälterin in Gedanken gesunden haben, wie sie dasaß und ein werthloses kleines Stück braunes Zeug ansah, das aus ihrem Toilettentische lag.

Wie verzweifelt der Schluß auch sein mußte, Mrs. Lecount konnte sich nicht verhehlen, daß sie bis jetzt aus jedem Punkte ertappt und hinters Lichts geführt worden war. Was sollte sie zunächst thun? Wenn sie nach Pendril schickte, wenn er nach Aldborough kam —— noch obendrein nur aus ein paar Stunden, die er sich abgemüßigt hatte, zu ihrer Verfügung —— welchen bestimmten Weg sollte er einschlagen?.... Wenn sie Mr. Noël Vanstone den eigentlichen Brief selbst zeigte, aus welchem ihr eigenes Briefchen abgeschrieben war, würde er sofort von der Schreiberin eine Erklärung fordern, würde die erdichtete Geschichte, durch welche Mrs. Lecount glücklich Miss Garth getäuscht hatte, ans Licht bringen und würde dann jedenfalls noch dazu auf das Zeugniß seiner eignen Augen hin erklären, daß die Probe mit den Kennzeichen auf dem Nacken platterdings fehlgeschlagen sei. Miss Vanstone die ältere, deren unerwartete Gegenwart in Aldborough Wunder gethan haben würde, deren Stimme in der Hausflur von Nordsteinvilla, selbst wenn sie nicht weiter vorgelassen würde, zu den Ohren ihrer Schwester gedrungen wäre und zu augenblicklichen Erfolgen geführt hätte —— Miss Vanstone die ältere war außer Landes und kehrte aller Wahrscheinlichkeit wenigstens vor vier Wochen nicht zurück. Mrs. Lecount mochte den Weg, den sie bisher verfolgt hatte, noch so eifrig ins Auge fassen, sie vermochte nicht sich herauszufinden aus den angehäuften Schwierigkeiten, die sich ihrem Vorgehen entgegenstellten.

Andere Frauen würden in dieser Lage gewartet haben, bis die Umstände sich änderten und ihnen zu Gunsten ausschlügen. Mrs. Lecount ging kühn ihren Weg wieder zurück und beschloß, in einer neuen Richtung vorzudringen.

Indem sie für den Augenblick alle ferneren Versuche, die falsche Miss Bygrave als die wahre Magdalene Vanstone zu entlarven, aufgab, entschloß sie sich, den Kreis ihrer nächsten Bemühungen einzuschränken, die augenblickliche Frage von Magdalenens Persönlichkeit ganz aus dem Spiele zu lassen und sich schon zufrieden zu geben, wenn sie ihren Herrn von der einfachen Thatsache überzeugt haben werde, daß die junge Dame, welche ihn auf Nordsteinvilla so sehr bezaubern, und die verkleidete Frau, welche ihn auf der Vauxhallpromenade in Schrecken gesetzt habe, ein und dieselbe Person seien.

Die Mittel, um dies neue Ziel zu erreichen, waren allem Anscheine nach weit weniger leicht zu erhalten, als die zur Erreichung, des von Mrs. Lecount vorläufig jetzt ausgegebenen Zieles. Hier konnte von Anderen keine Beihilfe erwartet werden, keine anscheinend wohlwollenden Beweggründe konnten als Blendwerk vorgespiegelt, kein Aufgebot konnte an Mr. Pendril oder Miss Garth erlassen werden. Hier hing die einzige Aussicht der Haushälterin auf Erfolg lediglich zunächst davon ab, ob sie im Stande sein würde, einmal sich heimlich Eingang in das Haus zu verschaffen, und in zweiter Linie irgendwie herauszubekommen, ob jenes merkwürdige Alpacakleid, Von welchem sie heimlich ein Stückchen Zeug abgeschnitten hatte, zu Miss Bygraves Garderobe gehöre.

Indem Mrs. Lecount die Schwierigkeiten, die sie vor sich hatte, in der Reihenfolge, wie sie ihr entgegentraten, vornahm, beschloß sie zuvörderst die nächsten Tage dazu zu verwenden, um die Gewohnheiten der Bewohner von Nordsteinvilla von früh morgens bis spät in der Nacht zu beobachten und die Widerstandsfähigkeit des einzigen Dienstmädchens im Hause gegenüber der Versuchung einer Bestechung auf die Probe zu stellen. Indem sie nun annahm, daß der Erfolg ihre Bemühungen krönte und daß sie, sei es mit Geld oder durch eine List Eingang erlangte auf Nordsteinvilla —— natürlich ohne Vorwissen Mr. Bygraves oder seiner Nichte, kam sie zunächst zu der zweiten Schwierigkeit, der nämlich, wie sie zu Miss Bygraves Kleiderschrein gelangen sollte.

Wenn das Dienstmädchen sich als bestechlich erwies, so konnten alle Hindernisse in dieser Richtung als von vorn herein beseitigt angesehen werden. Wenn sich aber das Mädchen als ehrlich und treu erwies, so war die neue Aufgabe nicht leicht zu erfüllen.

Lange und sorgfältige Erwägung der Frage brachte schließlich die Haushälterin zu dem kühnen Entschluß, sich, wenn sich mit dem Dienstmädchen Nichts anfangen ließe, eine Unterredung mit Mrs. Bygrave selbst zu verschaffen. Was war der eigentliche Grund, daß die Dame so geheimnißvoll eingeschlossen blieb? War sie eine Person von der unbedingtesten und unbequemsten Unbescholtenheit? oder eine Person, auf die man sich betreffs der Bewährung eines Geheimnisses nicht verlassen konnte? oder eine Person, die so abgefeimt als Mr. Bygrave selber war und die nur in Bereitschaft gehalten werde, um als Werkzeug einer neuen Täuschung zu dienen, welche erst noch kommen sollte? In den ersten beiden Fällen konnte sich Mrs. Lecount auf ihre eigene Kunst der Verstellung und die Erfolge, welche sie damit erzielen konnte, verlassen. Im letzten Falle konnte —— wenn wirklich Nichts weiter erreicht wurde —— es von äußerster Wichtigkeit für sie sein, einen neuen im dunkeln schleichenden Feind zu entdecken. Mochte es werden, wie es wollte, sie beschloß das Wagestück zu unternehmen. Von den drei Aussichten zu ihren Gunsten, auf welche sie zu Anfang des Kampfes gerechnet hatte, der Aussicht, Magdalene durch mündliche Rede zu verstricken, sie mit Beihilfe ihrer eigenen Freunde zu überlisten und endlich der Aussicht, sie mittelst Mrs. Bygrave ins Netz zu ziehen, waren bereits zwei versucht worden und waren beide fehlgeschlagen. Doch blieb die dritte, um sie zu versuchen, und die dritte konnte glücklich ausschlagen.

So schmiedete die Feindin des Hauptmanns in der Stille ihrer Kammer neue Pläne gegen ihn, während der Hauptmann draußen auf dem Strande stand und das Licht in ihrem Fenster beobachtete.

Den andern Morgen noch vor der Frühstücksstunde gab Hauptmann Wragge den gefälschten Brief mit eigener Hand nach Zürich auf. Er ging nach den Nordsteinen zurück, innerlich gar noch nicht recht einig mit sich über das gegenüber Mrs. Lecount in dem hochwichtigen Zeiträume der nächsten zehn Tage einzuhaltende Verfahren.

Zu seinem größten Erstaunen wurde seiner Ungewißheit über diesen Punkt plötzlich bei seiner Rückkehr nach Hause durch Magdalenen selbst ein Ende gemacht. Er fand sie, wie sie seiner wartete, in dem Zimmer, wo das Frühstück angerichtet war. Sie ging unruhig auf und ab, das Haupt auf ihren Busen gesenkt und das Haar unordentlich um die Schultern hangend. In dem Augenblick, als sie bei seinem Eintreten in die Höhe sah, fühlte der Hauptmann die Besorgniß, die Mrs. Wragge vor ihm gefühlt hatte, daß nämlich ihr Geist so gestört sein möchte, wie er schon einmal gestört war, als auf der Vauxhallpromenade Franks Brief an sie ankam.

—— Kommt er heute wieder? frug sie, indem sie den Stuhl, den ihr der Hauptmann bot, mit solcher Heftigkeit fortstieß, daß sie ihn auf den Boden warf.

—— Ja, sagte der Hauptmann, indem er ihr wohlweislich so kurz als möglich antwortete. Er wird um zwei Uhr kommen.

—— Bringen Sie mich fort! rief sie aus und schüttelte ihr Haar wild aus dem Gesichte, bringen Sie mich fort, ehe er kommt. Ich kann das Entsetzen nicht verwinden, ihn heirathen zu müssen, so lange ich an diesem verhaßten Orte bin, bringen Sie mich wohin, wo ich es vergessen kann, sonst werde ich wahnsinnig! Lassen Sie mir zwei Tage Ruhe, zwei Tage fort von diesem schrecklichen Meere, zwei Tage aus dem Gefängniß dieses schrecklichen Hauses, zwei Tage irgendwo in der weiten Welt fort von Aldborough. Ich will mit Ihnen zurückkehren! Ich will es zu Ende führen! Geben Sie mir nur zwei Tage Ruhe vor diesem Manne und Allem, was mit ihm zusammenhängt!

—— Hören Sie mich, Sie Schurke? rief sie, ergriff seinen Arm und schüttelte ihn in halb wahnsinniger Leidenschaft, ich bin nun gemartert genug, ich kann es nicht länger ertragen!

Hier gab es nur ein Mittel, sie zu beruhigen, und der Hauptmann ergriff es im Augenblicke.

—— Wenn Sie versuchen wollen, sich zu fassen, sagte er, sollen Sie Aldborough binnen hier und einer Stunde verlassen.

Sie ließ seinen Arm los und lehnte sich schwer an die Wand hinter ihr.

—— Ich will es versuchen, antwortete sie und rang nach Athem, sah ihn aber schon weniger wild an. Sie sollen nicht über mich zu klagen haben, wenn ich es vermeiden kann.

Sie machte noch immer verwirrt eine Bewegung, um ihr Taschentuch aus ihrer Schürzentasche zu nehmen und fand es nicht. Der Hauptmann nahm es statt ihrer heraus. Ihre Augen wurden sanft, und sie schöpfte freier Athem, als sie das Taschentuch von ihm empfing.

—— Sie sind ein freundlicherer Mann, als ich dachte, sagte sie, ich bedanke, daß ich eben in der Leidenschaft zu Ihnen gesprochen habe, ich bedaure es sehr, recht sehr.

Die Thränen traten ihr ins Auge, und sie reichte ihm mit der angeborenen Anmuth und Huld aus der glücklicheren Zeit die Hand.

—— Wir wollen wieder gute Freunde sein, sagte sie bittend. Ich bin ja nur ein Mädchen, Hauptmann Wragge, —— ich bin ja nur ein Mädchen!

Er nahm schweigend ihre Hand, drückte sie einen Augenblick und machte dann die Thür auf, um sie wieder auf ihr Zimmer gehen zu lassen. Es war aufrichtiges Bedauern in seinem Angesicht, als er ihr diese kleine Aufmerksamkeit erzeigte. Er war ein Vagabund und ein Betrüger, sein Leben war ein niedriges, entwürdigtes und ränkevolles gewesen, —— aber er hatte noch Gefühl und sie hatte den Weg gefunden zu den im ihm schlummernden Regungen, welche sogar die Selbstentheiligung eines Schwindlerlebens nicht ganz auszulöschen im Stande war.

—— Hol der Henker das Frühstück! sagte er, als das Dienstmädchen hereinkam und nachfragte Gehen Sie sogleich nach dem Gasthause und bestellen Sie einen Wagen mit zwei Pferden in einer Stunde hierher vor die Thür.

—— Er ging hinaus in den Gang, sein Gemüth noch immer in einem Grade und einer Weise aufgeregt, wie es an ihm ganz neu war, und rief heftiger denn je nach seiner Frau.

—— Packe ein, was wir für eine Reise von einer Woche brauchen, und mach Dich in einer halben Stunde fertig!

Nachdem er diese Weisungen gegeben, kehrte er in das Frühstückszimmer zurück und sah auf den halb hergerichteten Tisch mit einem unbehaglichen Erstaunen über seine Abneigung, seine Mahlzeit abzuhalten.

—— Sie hat mir die Schärfe meines Appetits genommen, sagte er zu sich mit einem gewaltsamen Lachen. Ich will eine Cigarre versuchen und einen Gang ins Freie machen.

Wenn er zwanzig Jahre jünger gewesen wäre, so würden diese Mittel bei ihm nicht angeschlagen haben. Aber wo ist ein Mann zu finden, dessen innere Politik der Revolution seines Herzens erliegen sollte, wenn er nämlich über die Fünfzig ist? Etwas Bewegung und Ortswechsel machten, daß der Hauptmann wieder zu sich selber kam. Er erhielt den verlorenen Geruch seiner Cigarre wieder und lenkte seine abschweifende Aufmerksamkeit wieder zurück auf die Frage seiner nahen Abreise von Aldborough. Nach einer Ueberlegung von wenigen Minuten fühlte sich sein Geist beruhigt, daß Magdalenens Ausbruch ihn dasjenige Verfahren einzuschlagen genöthigt habe, welches in säglicher Erwägung der bestehenden Verhältnisse einzuschlagen das Räthlichste war.

Hauptmann Wragges Erkundigungen an dem Abend, wo er und Magdalene auf Amsee Thee tranken, hatten ganz festgestellt, daß der Bruder der Haushälterin ein bescheidenes Auskommen hatte, daß seine Schwester seine nächste lebende Anverwandte war, daß es aber einige gewissenlose Vettern am Orte gab, welche die Stelle, welche mit Fug und Recht Mrs. Lecount zukam, sich anzumaßen strebten. Das waren starke Motive, welche die Haushälterin nach Zürich führen mußten, wenn der falsche Bericht von ihres Bruders Rückfall nach England gelangte. Wenn aber ein Gedanke von Noël Vanstones wahrem Verhältniß in derselben Zeit in ihr aufdämmerte, wer konnte sagen, ob sie nicht in der elften Stunde lieber ihren großen Geldanspruch an ihren Herrn im Auge behielt, als daß sie ihr kleines Geldinteresse an der Lagerstatt ihres Bruders wahren sollte? Während auf der einen Seite diese Frage unentschieden gelassen werden mußte, lag auf der andern die offenbare Notwendigkeit, das Wachsthum der Vertraulichkeit Noël Vanstones mit der Familie auf Nordsteinvilla möglichst zu hemmen, aus der platten Hand, und unter allen Mitteln, um diesen Zweck zu erreichen, konnte keines unverdächtiger sein, als die zeitweilige Entfernung des ganzen Haushaltes von seiner Wohnung zu Aldborough. Vollständig befriedigt von der Bündigkeit dieser Schlußfolgerung machte sich nun Hauptmann Wragge geradewegs nach Villa Amsee auf, um sich zu entschuldigen und Erklärung zu geben, ehe der Wagen kam, und die Abreise stattfand.

Mr. Noël Vanstone war just für Besuche sehr zugänglich: er ging im Garten umher Vor dem Frühstück. Seine Enttäuschung und Beunruhigung sprachen sich unumwunden aus, als er die Nachricht hörte, die ihm sein Freund mittheilte. Des Hauptmanns geläufige Zunge redete ihm jedoch die Nothwendigkeit ein, daß er den gegenwärtigen Umständen nachgeben müsse. Der bloße Wink, daß der »fromme Betrug« nach alledem fehlschlagen möchte, wenn in dem Zwischenraum von zehn Tagen Etwas vorfiele, um Mrs. Lecount ein Licht aufzustecken, that Augenblicks seine Wirkung auf Mr. Noël Vanstone und machte ihn so ruhig und zahm, als man nur wünschen konnte.

—— Ich möchte Ihnen nicht gern sagen, wohin wir uns wenden, aus zwei guten Gründen, sagte Hauptmann Wragge, als er mit seinen einleitenden Erklärungen fertig war. Einmal habe ich mich noch gar nicht gewiß entschlossen, dann aber kann Mrs. Lecount, wenn Sie selber den Ort unserer Bestimmung nicht kennen, ihn nicht aus Ihnen herausbringen. Ich hege nicht den geringsten Zweifel, daß sie uns in diesem Augenblicke hinter dem Fenstervorhange hervor beobachtet. Wenn sie fragt, was ich früh von Ihnen gewollt habe, so sagen Sie ihr, daß ich kam, um mich bei Ihnen auf ein paar Tage zu Verabschieden, da ich gefunden hätte, daß meine Nichte wieder nicht recht wohl sei, und durch einen Besuch bei einigen Freunden eine Luftveränderung zu versuchen wünschte. Wenn Sie Mrs. Lecount den Glauben beibringen könnten, —— doch dürfen Sie dabei nicht zu weit gehen, —— daß Sie ein wenig ärgerlich auf mich und daß Sie sogar geneigt seien, meine Aufrichtigkeit in der Pflege unserer Bekanntschaft in Zweifel zu ziehen, so werden Sie unsern gegenseitigen Zweck wesentlich fördern. Sie können auf unsere Rückkehr nach Nordsteinvilla in spätestens vier bis fünf Tagen rechnen. Wenn mir mittlerweile Etwas einfällt, so steht uns ja immer die Post zu Diensten, und ich werde nicht versäumen, Ihnen zu schreiben.

—— Wird nicht vielleicht Miss Bygrave an mich schreiben? fragte Mr. Noël Vanstone kleinlaut. Wußte sie, daß Sie hierher gingen? Läßt sie mir Nichts sagen?

—— Unverzeihlich von mir, daß ich es vergessen konnte! rief der Hauptmann. Sie sendet Ihnen ihren Liebesgruß.

Mr. Noël Vanstone schloß in stiller Verklärung die Augen.

—— Als er sie wieder öffnete, war Hauptmann Wragge durch das Gartenthor gegangen und unterwegs nach Nordsteinvilla zurück. Sobald sich seine Thür hinter ihm geschlossen hatte, kam Mrs. Lecount von dem Beobachtungsposten herab, den sie, wie der Hauptmann richtig vermuthet, eingenommen hatte, und richtete die Frage an ihren Herrn, welche, wie der Hauptmann abermals richtig vorausgesehen hatte, gleich nach seinem Weggange erfolgen mußte. Die Antwort, welche sie erhielt, brachte nur einen Eindruck bei ihr hervor. Sie hielt es bei sich für ausgemacht, daß dies eine Vorspiegelung war, und kehrte an ihr Fenster zurück, um wachsamer denn je die Nordsteine im Auge zu behalten.

Zu ihrem größten Erstaunen sah sie nach Verlauf von weniger denn einer halben Stunde einen leeren Wagen an Mr. Bygraves Thür Vorfahren. Gepäck wurde herausgebracht und auf den Wagen geladen. Miss Bygrave erschien und nahm ihren Sitz darauf ein. Ihr folgte eine Dame groß von Umfang und Gestalt, welche, wie die Haushälterin vermuthete, Mrs. Bygrave war. Dann kam das Dienstmädchen und blieb wartend aus dem Wege stehen. Die letzte Person, welche erschien, war Mr. Bygrave. Er schloß die Hausthür und nahm den Schlüssel mit sich nach einem Häuschen in der Nähe, welches die Wohnung des Besitzers von Nordsteinvilla war. Bei seiner Rückkehr nickte er dem Dienstmädchen zu, welches nun allein nach dem weniger seinen Theile des Städtchens seines Weges ging, und gesellte sich zu den Damen in dem Wagen. Der Kutscher stieg auf den Bock, und der Wagen rollte fort.

Mrs. Lecount legte den Operngucker, durch welchen sie diese Vorgänge eifrig mit angesehen hatte, mit einem Gefühle von Verlegenheit und Verwirrung nieder, das sie sich beinahe schämte, sich selber zu gestehen. Das Geheimniß Von Mr. Bygraves Zweck bei dieser plötzlichen Abreise von Aldborough, dergestalt, daß keine Seele im Hause zurückblieb, war für sie ein unauslösliches Räthsel.

Indem Mrs. Lecount sich nun mit allezeit bereiter Selbstentäußerung in die Umstände schickte, wie sie der Hauptmann seinerseits in einer ähnlichen Lage nicht an den Tag gelegt hatte, verschwendete sie weder ihre Zeit, noch ihre gute Laune an unfruchtbaren Vermuthungen. Sie ließ das Geheimniß sich selbst enthüllen, oder sich in stärkeres Dunkel hüllen, wie es die Zukunft mit sich bringen würde, und richtete ihr Augenmerk ausschließlich auf den Nutzen, den sie aus dem Ereignisse dieses Morgens in ihrem eigenen Interesse ziehen könnte. Was auch immer aus der Familie aus Nordsteinvilla geworden sein mochte: das Dienstmädchen war zurück gelassen worden, und das Dienstmädchen war gerade die Person, deren Beistand jetzt für die Pläne der Haushälterin von der äußersten Wichtigkeit sein konnte. Mrs. Lecount setzte ihren Hut auf, sah nach ihrem Vorrath von einzelnem Silbergelde in ihrer Börse und brach sofort auf, um die Bekanntschaft des Mädchens zu machen.

Sie ging erst zu dem Häuschen, wo Mr. Bygrave die Schlüssel von Nordsteinvilla gelassen hatte, um von denn Hausbesitzer die augenblickliche Wohnung des Dienstmädchens zu erfahren. Soweit erwies sich ihr Ausgang erfolgreich. Der Hausbesitzer wußte, daß das Mädchen Erlaubniß erhalten hatte, auf einige Tage nach Hause zu den Ihrigen zu gehen, und wußte, in welchem Theile von Aldborough ihre Angehörigen wohnten. Aber hier versiegten plötzlich seine Nachweisquellen. Er wußte Nichts über den Bestimmungsort, nach welchem sich Mr. Bygrave und seine Familie begeben hatten, auch konnte er die Anzahl Tage, aus welche sich deren Abwesenheit wohl erstrecken würde, nicht im Entferntesten angeben. Alles, was er sagen konnte, war, daß er von seinem Abmiether keine Aufkündigung erhalten hatte und vielmehr ersucht worden war, den Hausschlüssel solange an sich zu behalten, bis Mr. Bygrave wiederkam, um ihn in eigener Person zurückzufordern.

In ihren Erwartungen getäuscht, doch nichts weniger denn entmuthigt, wandte Mrs. Lecount nun zunächst ihre Schritte nach der hinteren Straße von Aldborough und setzte die Anverwandten des Dienstmädchens in Erstaunen, indem sie ihnen die Ehre eines Frühbesuchs erwies.

Von vornherein leicht getäuscht durch Mrs. Lecounts angeblichen Wunsch, sie in Dienste zu nehmen, wobei diese sich den Anschein gab, als glaubte sie, dieselbe habe Mr. Bygraves Dienste verlassen, gab sie, das Dienstmädchen, sich alle Mühe, die an sie gerichteten Fragen zu beantworten, aber sie wußte so wenig als der Hausbesitzer von den Plänen ihres Herrn. Alles, was sie über sie sagen konnte, war, daß sie nicht entlassen worden war, und daß sie den Empfang einer schriftlichen Bestellung abzuwarten hatte, welche sie, sobald sie gebraucht würde, wieder nach Nordsteinvilla zurück bescheiden sollte. Mrs. Lecount hatte erwartet, daß sie über diesen Punkt der Frage auch nicht besser unterrichtet sein werde, und wechselte daher sachte ihr Operationsfeld, indem sie das Mädchen auf die Licht- und Schattenseiten seiner Stellung in Mr. Bygraves Familie zu sprechen brachte.

Indem Mrs. Lecount durch die Erkundigung, die sie auf diesem Umwege einzog, in den Besitz der kleinen Geheimnisse des Haushalts gelangte, machte sie zwei Entdeckungen. Einmal brachte sie heraus, daß das Dienstmädchen, weil es mit der schweren Hausarbeit genug zu schaffen hatte, nicht in der Lage war, die Geheimnisse von Miss Bygraves Kleiderschrein zu enthüllen, die eben nur der jungen Dame selbst und deren Tante bekannt waren. Zum Andern vergewisserte sich die Haushälterin, daß der wahre Grund von Mrs. Bygraves strenger Abschließung in der einfachen Thatsache zu suchen war, daß selbige nicht viel besser als eine Blödsinnige war und sich ihr Ehegemahl vermuthlich schämte, sich mit ihr öffentlich sehen zu lassen. Diese anscheinend geringfügigen Entdeckungen klärten Mrs. Lecount über einen sehr wichtigen Punkt auf, der bisher in Zweifel gehüllt gewesen war. Sie kam zu der befriedigenden Ueberzeugung, daß der anscheinend sicherste Weg, um zu einer geheimen Untersuchung von Magdalenens Kleiderbehälter zu gelangen, der war, die schwachsinnige Dame zu berücken, nicht aber das Unwissende Dienstmädchen zu bestechen.

Als die Haushälterin bis zu diesem Schlusse gelangt war, welcher gar manche künftige Angriffe auf die schwach vertheidigte Verschwiegenheit der armen Mrs. Wragge im Gefolge haben sollte, vermied sie vorsichtig und klüglich, sich noch länger als Ausfragerin zu Gebärden. Sie lenkte die Unterhaltung auf Ortsneuigkeiten, wartete, bis sie sicher war, einen trefflichen Eindruck hinterlassen zu haben, und nahm dann Abschied.

Drei Tage vergingen, und noch immer lauerten Mrs. Lecount und ihr Herr, ein Jedes natürlich mit weit verschiedenem Interesse, mit gleichem Eifer auf das erste Zeichen wiederkehrenden Lebens in der Richtung von Nordsteinvilla. In dieser Zwischenzeit kam weder vou dem Oheim, noch von der Nichte für Mr. Noël Vanstone Etwas an. Das aufrichtige Gefühl der Unruhe über diese Vernachlässigung unterstützte wesentlich die Wirkung jener vorgeblichen Zweifel an seinen abwesenden Freunden, welche ihm der Hauptmann vor der Haushälterin auszusprechen eingeschärft hatte. Er gab seiner Befürchtung Ausdruck, daß er sich doch wohl getäuscht habe, nicht allein ein in Mr. Bygrave, sondern sogar auch in seiner Nichte, und that dies mit einer so aufrichtigen, ärgerlichen Miene, daß er die bereits bestehende Unsicherheit der Mrs. Lecount noch durch ein neues Element der Verwirrung vermehrte.

Am Morgen des vierten Tages begegnete Mr. Noël Vanstone dem Briefträger im Garten und entdeckte zu seiner großen Freude unter den ihm überbrachten Briefen auch eine Zuschrift von Mr. Bygrave.

Das Datum des Briefes war Woodbridge, und Letzterer enthielt nur wenige Zeilen. Mr. Bygrave erwähnte, daß sich seine Nichte besser befinde und ihm wie immer ihren Minnegruß sende. Er hatte vor, den Tag darauf nach Aldborough zurückzukehren, wo er dann einige neue Erwägungen von rein persönlicher Art. Mr. Noël Vanstone vorlegen werde. In selbiger Zeit bat er Mr. Vanstone nicht eher auf Nordsteinvilla einen Besuch zu machen, bis er eine ausdrückliche Einladung dazu erhalten werde, welche Einladung aber bestimmt noch an demselben Tage, wo die Familie zurückkehre, erfolgen solle. Die Gründe zu dieser anscheinend seltsamen Bitte sollten zu Mr. Vanstones vollkommener Befriedigung erfüllt werden, wenn er wieder mit seinen Freunden vereinigt sein werde. Bis dies geschähe, wurde ihm in seinen Beziehungen zu Mrs. Lecount erst die äußerste Vorsicht empfohlen, und die augenblickliche Vernichtung von Mr. Bygraves Brief nach reiflicher Durchsicht desselben sei, wenn er ihm den classischen Ausdruck gestatten wolle, eine oonditio sine qua non.

Der fünfte Tag kam.

Mr. Noël Vanstone wartete, nachdem er sich dem sine qua non gefügt und den Brief vernichtet hatte, mit Spannung auf das, was nun folgen würde, während Mrs. Lecount ihrerseits mit Ruhe den Ereignissen entgegensah. Gegen drei Uhr Nachmittags erschien der Wagen wieder vor dem Thore der Nordsteinvilla. Mr. Bygrave sprang heraus und eilte rasch nach dem Häuschen, wo der Wirth wohnte, um den Schlüssel zu holen. Er kehrte mit dem Dienstmädchen hinter sich drein zurück. Miss Byhgrave verließ den Wagen, ihre riesige Verwandte folgte ihrem Beispiele, die Hausthür wurde geöffnet, die Kisten und Kasten wurden heruntergenommen, der Wagen verschwand und —— die Bygraves waren wieder zu Hause!

Vier Uhr schlugs, fünf Uhr, sechs Uhr, und Nichts begab sich. Eine halbe Stunde später erschien Mr. Bygrave geschniegelt, sauber und feinanständig, wie immer, auf der Promenade und schlenderte ruhig in der Richtung von Amsee einher.

Anstatt sofort in das Haus zu treten, ging er daran vorbei, blieb dann stehen, als ob ihm plötzlich Etwas einfiele, und fragte nun umkehrend an der Thür nach Mr. Vanstone. Mr. Vanstone kam, ihn bewillkommnend, in den Hausgang. Indem Mr. Bygrave seine Stimme so laut klingen ließ, daß er von jedem durch eine offne Thür von den Schlafzimmern her lauschenden Wesen mit leichter Mühe verstanden werden konnte, zeigte er den Zweck seines Besuches auf dem Teppich vor der Thür stehend in den kürzest möglichsten Worten an. Er war bei einem entfernt wohnenden Verwandten aus Besuch gewesen. Der entfernte Verwandte besaß zwei Gemälde, Prachtstücke von alten Meistern, welche er veräußern wolle und zu dem Ende Mr. Bygrave anvertraut habe. Wenn Mr. Noël Vanstone als ein Liebhaber von solchen Sachen die Prachtstücke zu sehen wünsche, so würden sie in der nächsten halben Stunde, wo Mr. Bygrave auf Nordsteinvilla zurück sein werde, zu sehen sein.

Nachdem der Erzverschwörer sich dieser Unbegreiflichkeit Meldung entledigt hatte, legte er seinen Zeigefinger an seine kurze römische Nase und sagte:

—— Schönes Wetter, nicht wahr? Guten Abend!

Und damit schlenderte er, ohne daß Eins wußte, was das zu bedeuten hatte, weiter, um seinen Spaziergang aus der Promenade fortzusetzen.

Nach Verlauf der halben Stunde stellte sich Mr. Noël Vanstone aus Nordsteinvilla ein mit der Gluth eines feurigen Liebhabers, welche unter dem darüber lagernden geistigen Nebel eines ganz, verlegenen Mannes brannte. Zu seiner unaussprechlichen Freude fand er Magdalenen allein im Zimmer. Niemals zuvor hatte sie in seinen Augen so schön ausgesehen Die Ruhe und Erholung einer Abwesenheit von vier Tagen von Aldborough hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Sie hatte ihre Fassung vollkommen wieder erlangt. Indem sie von einem heftigen Extrem zum andern herüber und hinüber fieberte, war sie nun von der leidenschaftlichen Verzweiflung von fünf Tagen früher zu einer fieberhaften Aufregung übergangen, welche alle Reue erstickte und vor keinerlei Folgen zurück bebte. Ihre Augen flammten ihre Wangen glühten in schöner Farbe, sie sprach ohne Unterlaß mit einem schwachen Anklang an die Mädchenlaune in vergangener Zeit, sie lachte mit einer beklagenswerthen Hartnäckigkeit im Lachen, sie ahmte Mrs. Lecounts weiche Stimme und Mrs. Lecounts anmuthiges Benehmen mit einer Uebertreibung des Urbildes nach, welche nur der matte Abglanz der sorgfältig auffassenden und wiedergebenden Nachahmungen der früheren Zeit war. Mr. Noël Vanstone, welcher sie nie zuvor gesehen hatte, wie er sie jetzt sah, war entzückt, sein schwacher Kopf wirbelte in trunkener Lust, seine weißen Wangen wurden, von Roth umflossen, als ob die Farbe der Geliebten sich auf sein Antlitz übertragen hätte. Die halbe Stunde, welche er mit ihr allein war, verging ihm, wie wenn es nur fünf Minuten gewesen wären. Als diese Zeit um war, und sie ihn plötzlich verließ, um einer vorher verabredeten Ladung zu ihrer Tante zu gehorchen, würde er, so niedrig geizig er auch war, fünf goldene Sovereigns aus seiner Tasche erlegt haben, wenn er fünf goldene Minuten länger in ihrer Gesellschaft hätte zubringen können.

Die Thür hatte sich kaum hinter Magdalenen geschlossen, als sie sich wieder aufthat, und der Hauptmann hereintrat. Er eröffnete die Erklärungen, welche sein Gast natürlich von ihm erwartete, mit der von Förmlichkeiten freien raschen Art eines Mannes, der mit seiner Zeit sehr geizen und jeden ihm zur Verfügung stehenden Augenblick möglichst ausnutzen muß.

—— Seitdem wir uns zuletzt gesehen, begann er, habe ich die Aussichten für und gegen uns, wie sie gegenwärtig vor uns stehen, im Geiste abgewogen Das Ergebniß bei mir selbst ist folgendes. Wenn Sie noch zu Aldborongh sind, zur Zeit, wo der Brief aus Zürich für Mrs. Lecount ankommt, werden alle Bemühungen, welchen wir uns bis jetzt unterzogen haben, weggeworfen sein. Wenn die Haushälterin fünfzig Brüder hätte, die alle zusammen im Sterben lägen, so würde sie eher alle fünfzig Verlassen, als daß dieselbe Sie auf Amsee allein ließe, solange wir Ihre Nachbarn auf Nordsteinvilla sind.

Mr. Noël Vanstones glühende Wangen wurden vor Aerger wieder blaß. Seine eigne Kenntniß von Mrs. Lecount mußte ihm sagen, daß diese Ansicht Von der Sache die richtige war.

—— Wenn wir wieder weggehen, fuhr der Hauptmann fort, so wird damit Nichts gewonnen; denn Ihre Haushälterin ließe sich von keinem Menschen einreden, daß wir Ihnen nicht die Mittel an die Hand gegeben hätten, Ihnen nachzufolgen. Diesmal müssen Sie Aldborongh verlassen, und, was mehr ist, Sie müssen gehen, ohne nur eine einzige sichtbare Spur zu hinterlassen, daß wir Ihnen etwa folgen könnten. Wenn wir im Laufe der nächsten fünf Tage diesen Plan durchführen können, wird Mrs Lecount die Reise nach Zürich unternehmen. Wenn wir nicht so glücklich sind, so wird sie wie »festgemauert in der Erden« zu Amsee verharren bis in alle Ewigkeit. Thun Sie keine Fragen! Ich habe Ihre Verhaltungsmaßregeln bereits für Sie fertig, und Sie müssen mir dazu schlechterdings Ihre ganze Aufmerksamkeit schenken. Ihre Verheirathung mit meiner Nichte hängt davon ab, daß Sie nicht ein Wort vergessen von dem, was ich Ihnen jetzt mittheilen will. —— Zunächst erst noch eine Frage. Haben Sie meinen Rath befolgt? Haben Sie Mrs. Lecount gesagt, Sie fingen an einzusehen, daß Sie sich in mir getäuscht hätten?

—— Ich that noch Schlimmeres als das, versetzte Mr. Noël Vanstone de- und reumühig. Ich beging eine Verwaltigung meine eigenen Gefühle. Ich vergaß mich soweit zu sagen, daß ich an Miss Bygrave zweifele!

—— Vergessen Sie sich nur immer zu, lieber Herr! Zweifeln Sie, so sehr Sie können, an uns Beiden, und dann will ich Sie auch unterstützen. Noch eine Frage. Sprach ich diesen Nachmittag laut genug? Hörte mich Mrs. Lecount?

—— Ja wohl. Die Lecount machte ihre Thür auf, die Lecount hörte Sie. Warum machten Sie mir jene Mittheilung? Ich sehe keine Bilder hier. Ist dies ein neuer »frommer Betrug«, Mr. Bygrave?

—— Vortrefflich errathen, Mr. Vanstone? Sie werden den Gegenstand meines angeblichen Gemäldeverkaufs in den nächsten Worten hören, welche ich jetzt an Sie richten werde. Wenn Sie nach Amsee zurück sind, so ist das, was Sie zu Mrs. Lecount sagen müssen, Folgendes. Sagen Sie ihr, daß die Kunstwerke meines Verwandten zwei werthlose Bilder seien, Copieen von alten Meistern, welche ich Ihnen zu einem unerhörten Preise als Originale habe aufbinden wollen. Sagen Sie ihr, Sie hätten mich in Verdacht, daß ich nur wenig besser als ein scheinbarer Betrüger sei, und beklagen Sie meine arme Nichte, daß Sie an einen solchen Schurken, wie ich gekettet sei. Dies ist die Grundtonart, aus der Sie Ihr Lied singen müssen. Sagen Sie ihr in Vielen Worten, was ich Ihnen eben in wenigen gesagt habe. Nicht wahr, das können Sie?

—— Natürlich kann ich das, sprach Mr. Noël Vanstone. Aber ich kann Ihnen nur Eines sagen: die Lecount wird kein Wort von mir glauben.

— Haben Sie nur ein wenig Geduld, Mr. Vanstone; ich bin mit meinen Verhaltungsregeln noch nicht zu Ende. Sie haben Ihre Verhaltungsregeln für heute, und Sie haben die für morgen. Jetzt kommt übermorgen dran!

Dieses Uebermorgen ist der siebente Tag, seit wir den Brief nach Zürich geschickt haben. Am siebenten Tag lehnen Sie, wie bisher, ab, auszugehen, aus Besorgniß einer unliebsamen Begegnung mit mir. Murren Sie über die Kleinheit des Orts, klagen Sie über Ihre Gesundheit, wünschen Sie nie nach Aldborongh gekommen zu sein und nie die Bekanntschaft der Bygraves gemacht zu haben, und wenn Sie Mrs. Lecount mit Ihrer Unzufriedenheit recht warm gemacht haben, fragen Sie sie plötzlich, ob sie nicht einen - Wechsel des Orts für besser hielte. Wenn sie diese Frage in recht unbefangenem Tone an sie richteten, glauben Sie da, daß sie bestimmt daraus antworten wird?

—— Sie braucht gar nicht viel gefragt zu werden, versetzte Mr. Noël Vanstone in gereiztem Tone. Ich habe nur zu sagen, daß ich Aldborongh herzlich müde bin, und wenn sie mir glaubt, —— was sie nicht wird, ich bin fest überzeugt, Mr. Bygrave, sie wird es nicht glauben! —— so wird sie ihren Vorschlag bei der Hand haben, ehe ich sie darum ersuchen werde.

—— Ei, ei, sagte der Hauptmann eifrig, es ist also ein Ort, wohin Mrs. Lecount diesen Herbst gehen muß?

—— Sie muß jeden Herbst dorthin gehen —— der Henker hole sie!

—— Wohin gehen?

—— Zu Admiral Bartram, Sie kennen ihn nicht, nicht wahr? —— in St. Crux in der Marsch.

—— Verlieren Sie die Geduld nicht, Mr. Vanftone!

Was Sie mir da erzählen, ist von der äußersten Wichtigkeit für den Zweck, den wir im Auge haben. Wer ist Admiral Bartram?

—— Ein alter Freund von meinem Vater. Er hatte Verpflichtungen gegen meinen Vater, mein Vater lieh ihm nämlich Geld, als sie beide noch junge Leute waren. Ich bin wie Einer von der Familie zu St. Crux; mein Zimmer wird immer für mich bereit gehalten. Nicht daß der Admiral irgend welche Familie bei sich hätte außer seinem Neffen, Georg Bartram. Georg ist mein Neffe; ich bin mit Georg so vertraut, wie mein Vater mit dem Admiral war. Aber ich bin gescheidter gewesen, als mein Vater; denn ich habe meinem Freunde keinen Pfennig geliehen. Die Lecount gibt sich immer den Anschein, als könne sie Georg gut leiden, ich glaube, bloß um mich zu ärgern. Sie hat den Admiral auch gern, er schmeichelt ihrer Eitelkeit. Er ladet sie immer mit ein, wenn ich nach St. Crux kommen soll. Er läßt ihr eins der schönsten Schlafzimmer anweisen und behandelt sie wie eine große Dame. Sie ist so stolz als der Gottseibeiuns; sie hat es gern, wenn man sie wie eine Dame behandelt, und quält mich jeden Herbst nach St. Crux zu gehen. —— Was soll Das? Warum nehmen Sie Ihr Notizbuch aus der Tasche?

—— Ich brauche die Adresse des Admirals, Mr. Vanstone, zu seinem Zwecke, den ich Ihnen sogleich klar machen werde.

Mit diesen Worten öffnete Hauptmann Wragge sein Taschenbuch und schrieb die Adresse auf, wie sie ihm Mr. Noël Vanstone Vorsagte, nämlich:

ADMIRAL BARTRAM
ST. CRUX IN DER MARSCH
bei
OSSORY, ESSEX.

—— Gut, rief der Hauptmann sein Taschenbuch wieder zumachend aus, die einzige uns im Wege stehende Schwierigkeit ist nun hinweg geräumt Geduld, Mr. Vanstone. Geduld! Wir wollen meine Verhaltungsregeln an dem Punkte wieder aufnehmen, wo wir den Faden fallen ließen. Leihen Sie mir nur noch fünf Minuten ein aufmerksames Ohr, und Sie werden den Weg zu Ihrer Hochzeit so deutlich sehen als ich. Uebermorgen erklären Sie, Sie seien Aldborough satt, und Mrs. Leeount schlägt St. Crux vor. Sie sagen nicht gleich Ja noch Nein, Sie nehmen den nächsten Tag zur Ueberlegung und entschließen sich erst den Abend Vorher, den nächsten Morgen früh nach St. Crux zu gehen. Sind Sie gewohnt, das Einpacken selbst mit zu besorgen? Oder legen Sie gewöhnlich die ganze Mühe auf? Mrs. Lecounts Schultern?

—— Die Lecount hat natürlich das Alles zu besorgen, die Lecount wird dafür bezahlt! Aber ich gehe doch nicht wirklich fort, nicht wahr?

—— Sie gehen so rasch, als die Pferde Sie zur Eisenbahn bringen können, ohne weder persönlich noch schriftlich vorher eine Mittheilung in dies Haus gelangen zu lassen. Sie lassen Mrs. Lecount hinter sich, um Ihre Raritäten einzupacken, mit den Kaufleuten abzurechnen und Ihnen den andern Morgen nach St. Crux zu folgen. Der nächste Morgen ist der zehnte Tag. Am zehnten Morgen empfängt sie den Brief aus Zürich, und wenn Sie nur meine Verhaltungsregeln ausführen, Mr. Vanstone, so geht sie, so gewiß Sie hier sitzen, nach Zürich!

Mr. Noël Vanstones Farbe begann sich zu heben, als ihm die List des Hauptmannes endlich in ihrem wahren Lichte aufging.

—— Und was soll ich in St. Crux thun? frug er.

—— Warten Sie dort, bis ich Sie hierher rufe, versetzte der Hauptmann. Sobald Mrs. Lecount den Rücken gewendet hat, will ich hier in die Kirche gehen und die nöthige Anzeige wegen der Trauung machen. Denselben Tag oder den nächsten Tag will ich zu der in mein Taschenbuch eingetragenen Adresse reisen, Sie bei dem Admiral auspacken und mit mir nach London nehmen, um den Erlaubnißschein einzuholen. Mit diesem Papier in der Tasche werden wir wieder nach Aldborough unterwegs sein, während Mrs. Lecount nach Zürich unterwegs ist, und bevor sie die Rückreise antritt, werden Sie und meine Nichte Mann und Frau sein! Das sind Ihre Zukunftsaussichten. Was halten Sie davon?

—— Was für einen Kopf haben Sie! rief Mr. Noël Vanstone mit einem plötzlichen Ausbruch von Begeisterung. Sie sind der außerordentlichste Mann, mit dem ich in meinem Leben zusammengekommen bin. Man könnte denken, Sie hätten Ihr Leben lang nur die Leute hinters Licht geführt!

Hauptmann Wragge nahm diesen in aller Unschuld gezollten Tribut für sein angeborenes Genie mit der schmunzelnden Miene eines Mannes auf, welcher fühlte, daß er denselben in vollem Maße verdiente.

—— Ich habe Ihnen schon gesagt, mein lieber Herr, sprach er bescheiden, daß ich niemals Etwas halb thue. Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie daran erinnere,daß wir keine Zeit haben, gegenseitig Complimente zu wechseln. Sind Sie über Ihre Verhaltungsregeln ganz im Klaren? Ich wage nicht sie aufzuschreiben aus Furcht vor widrigen Zufällen Versuchen Sie es einmal mit der Gedächtnißkunst, zählen Sie Ihre Verhaltungsregeln mir nach an den Daumen und vier Fingern. Heute sagen Sie Mrs. Lecount, ich habe Sie mit meines Vetters Bildern beschwindeln wollen. —— Morgen weichen Sie mir auf der Promenade aus. —— Uebermorgen weigern Sie sich auszugehen, sind Sie Aldborough müde und erlauben Mrs. Lecount, Ihnen ihren Vorschlag zu machen. —— Den Tag darauf nehmen Sie den Vorschlag an. —— Und wieder einen Tag später gehen Sie nach St. Crux. Noch einmal, mein lieber Herr! Daumen —— die Kunstsachen Zeigefinger —— mir auf der Promenade ausweichen. Mittelfinger —— Aldborough müde sein. Goldfinger —— der Lecount Rath annehmen. Kleiner Finger —— fort nach St. Crux. Nichts kann verständlicher sein, Nichts leichter auszuführen. Ist noch Etwas, was Sie nicht verstanden haben? Etwas, was ich, ehe Sie gehen, noch einmal erklären kann?

—— Nur noch Eines, sagte Wir. Noël Vanstone. Ist es bestimmt, daß ich nicht wieder hierher komme, ehe ich nach St. Crux gehe?

—— Ei, unabänderlich bestimmt! antwortete der Hauptmann; der ganze Erfolg des Unternehmens hängt davon ab, daß Sie sich fern halten. Mrs. Lecount wird die Glaubwürdigkeit von Allem, was Sie ihr sagen, nach der einen Probe beurtheilen, nach der Probe, ob Sie mit diesem Manne noch Verbindung unterhalten oder nicht. Sie wird Sie Tag und Nacht beobachten! Besuchen Sie uns nicht, lassen Sie uns keine Botschaft zugehen, schreiben Sie keine Briefe, gehen Sie sogar nicht einmal allein aus. Lassen Sie sie sehen, wie Sie nach St. Crux gehen nach ihrem eigenen Vorschlage, mit der festen Ueberzeugung in ihrem Herzen, daß Sie nur ihren Rath befolgt haben, ohne dies mir oder meiner Nichte in irgend einer Art mitgetheilt zu haben. Thun Sie Das, dann muß sie Ihnen glauben auf Grund des besten Beweises für unsere Interessen und des schlechtesten für ihre eigenen, des Beweises ihrer eigenen Sinne.

Mit diesen Lehren der Vorsicht drückte er Mr. Noël Vanstone warm die Hand und schickte ihn sofort nach Hause zurück.

Hauptmann Wragge legte sich diese Nacht in guter Laune nieder. Er redete scherzhaft das Löschhorn an seinem Leuchter an, als er es hob, um das Licht auszuthun.

—— Wenn ich Dich nur über Mrs. Lecount stülpen könnte, sprach der Hauptmann, so könnte, ich der letzten noch übrigen Sorge diesseits des Hochzeitstages Lebewohl sagen!.



Kapiteltrenner

Zehntes Capitel.

Nach seiner Rückkehr nach Amsee führte Mr. Noël Vanstone die Weisungen über sein Verhalten für den ersten der fünf Tage mit unverbrüchlicher Genauigkeit aus. Ein schwaches Lächeln der Verachtung zeigte ich auf Mrs. Lecounts Lippen, während die Geschichte von Mr. Bygraves Versuch, falsche Bilder als Originale zu verkaufen, aufgetischt wurde; allein sie gab sich nicht die Mühe, ein einziges Wort darüber zu verlieren, als sie zu Ende war.

—— Gerade wie ich es vorausgesagt habe! dachte Mr. Noël Vanstone, indem er listig ihr Gesicht bewachte, —— sie glaubt kein Wort davon!

Den Tag darauf fand die Begegnung auf der Promenade statt. Mr. Bygrave nahm seinen Hut ab, Mr. Noël Vanstone aber sah weg. Die Gebärde der Ueberraschung und der Zornesblick gelangen dem Hauptmann vortrefflich, aber sie verfehlten schlechterdings ihren Zweck, Mrs. Lecount zu täuschen.

—— Ich fürchte, Sir, Sie haben heute Mr. Bygrave beleidigt, bemerkte sie mit feinem Spott. Zum Glück für Sie ist er ein trefflicher Christ, und ich kann Ihnen recht gut prophezeien, daß er Ihnen schon morgen vergeben wird.

Mr. Noël Vanstone war gescheidt genug, sich auf keine Antwort einzulassen; abermals freute er sich innerlich über seinen Scharfblick; noch einmal triumphierte er über seinen verschmitzten Freund.

Bis hierher waren die Weisungen des Hauptmanns zu klar und einfach gewesen, um von irgend Jemand mißverstanden zu werden. Aber nunmehr wurden sie um so verwickelter, je weiter die Zeit vorrückte, und so beging denn Mr. Noël Vanstone am dritten Tage in seiner Verlegenheit einen kleinen Fehler. Als er nämlich das nothwendige Ueberdrüssig sein Aldboroughs und das daraus folgende Verlangen nach Ortsveränderung ausgesprochen hatte, begegnete er, wie er erwartet hatte, dem eilends vorgebrachten Vorschlage der Haushälterin, welcher einen Besuch auf St. Crux empfahl. Dadurch nun, daß er den so gegebenen Rath sogleich beantworten, machte er seinen ersten Fehler. Anstatt seinen Entschluß bis zum nächsten Tage aufzuschieben, nahm er Mrs. Lecounts Rath an dem Tage an, wo er ihm ertheilt wurde.

Die Folgen dieses Irrthums waren nicht von großem Belang. Die Haushälterin nahm, sich nur einen Tag früher, als berechnet worden war, vor, ihren Herrn zu überwachen, eine Folge, welcher bereits durch jene kluge Vorsichtsmaßregel entgegengearbeitet wurde, das Verbot an Mr. Noël Vanstone, daß er keinerlei Beziehungen zu Nordsteinvilla unterhalten solle. Da, Mrs. Lecount wie Hauptmann Wragge vorhergesehen an der Willensaufrichtigkeit ihres Herrn, nämlich daran, daß er durch die Wegreise nach St. Crux alle Verbindung mit den Bygraves abrechnen wollte, zweifelte, so stellte sie die Richtigkeit oder Falschheit des Eindruckes, den sie von der ganzen Sache erhalten hatte, dadurch aus die Probe, daß sie wachsam etwaigen Anzeichen einer geheimen Verbindung von der einen oder der andern Seite her nachspürte.

Die gespannte Aufmerksamkeit, mit der sie bisher beobachtet hatte, wer auf Nordsteinvilla aus- und einginge, wurde nun ganz und gar auf ihren Herrn übertragen. Für den Rest jenes dritten Tages ließ sie ihn nicht einen Augenblick aus den Augen, sie ließ keiner dritten Person, welche in das Haus kam, unter keinerlei Vorwand auch nur auf eine Minute die Möglichkeit, mit ihm allein zu sein. Von Zeit zu Zeit schlich sie sich in der Nacht an die Thür seines Zimmers, um zu horchen und sich zu vergewissern, ob er zu Bette wäre, und vor Sonnenaufgang den Morgen darauf war der Küstenwächter der seine Runde machte, überrascht, an einem der oberen Fenster von Amsee beschäftigt mit ihrer Arbeit eine Dame zu sehen, welche so früh ausgestanden war, als er selbst.

Am vierten Morgen kam Mr. Noël Vanstone zum Frühstück herunter, indem er sich des Fehlers bewußt war, den er den Tag vorher begangen hatte. Das naheliegende Verhalten, um Zeit zu gewinnen, war, daß er erklärte, sein Entschluß sei noch nicht entschieden. Er gab diese Erklärung kühnlich ab, sowie die Haushälterin ihn frag, ob er heute abreisen wolle. Abermals machte Mrs. Lecount keine Bemerkung, und wieder zeigten sieh die Zeichen und Spuren ihres Unglaubens auf ihrem Gesichte. Schwanken in seinen Plänen und Vorhaben war ihr bei ihrem Herrn durchaus nichts Seltenes. Aber bei dieser Gelegenheit glaubte sie, daß sein launenhaftes Benehmen bloß angenommen sei, um zur Anknüpfung von Verbindungen mit Nordsteinvilla Zeit zu gewinnen, und sie beobachtete ihn daher von Neuem mit verdoppelter und verdreifachter Wachsamkeit.

Den Morgen kamen keine Briefe an. Gegen Mittag änderte sich das Wetter und wurde schlecht, und der Gedanke, wie gewöhnlich auszugehen, mußte aufgegeben werden. Stunde auf Stunde hielt Mrs.Lecount, während ihr Herr in einem der Wohnzimmer saß, in dem andern Wache, die Thür in der Flur geöffnet und mit der ganzen Aussicht auf Nordsteinvilla durch das entsprechende Seitenfenster, an welchem sie Posto gefaßt hatte. Kein verdächtiges Zeichen ließ sich bemerken, kein verdächtiger Klang berührte ihr Ohr. Als der Abend herankam, war das Zögern ihres Herrn zu Ende. Er war ärgerlich über das Wetter, er haßte den Ort, er sah noch mehr verhaßte Begegnungen mit Mr. Bygrave vorher und war darum entschlossen, morgen in der ersten Frühe nach St. Crux zu reisen. Die Lecount sollte zurückbleiben, um die Seltenheiten einzupacken, mit den Kaufleuten abrechnen und den Tag darauf zum Admiral nachfolgen. Die Haushälterin ward durch den Ton und die Art und Weise, wie er diese Befehle gab, ein wenig verdutzt Er hatte, wie sie sehr gut selber wußte, keine Verbindung irgendwelcher Art mit Nordsteinvilla gepflogen, und doch schien er entschlossen, Aldborough bei der ersten Gelegenheit zu verlassen. Zum ersten Mal war sie ungewiß, ob sie ihren Schlußfolgerungen länger glauben sollte. Sie erinnerte sich, daß ihr Herr über die Bygraves geklagt hatte, ehe dieselben nach Aldborough zurückkehrten, und Sie wußte noch recht gut, daß ihre Ungläubigkeit sie schon einmal auf falsche Fährte gebracht hatte, als das Erscheinen des Reisewagens an der Thür bewiesen hatte, daß sogar Mr. Bygrave einmal die Wahrheit gesprochen hatte.

Doch aber beschloß Mrs. Lecount mit unablässiger Vorsicht bis Zuletzt zu handeln. In jener Nacht entfernte sie, als die Thüren geschlossen waren, insgeheim die Schlüssel von der Vorderthür und von der Hinterthür Sie öffnete dann leise ihr Kammerfenster und setzte sich daran, angethan mit Hut und Mantel, um sich nicht zu erkalten. Mr. Noël Vanstones Fenster war auf derselben Seite des Hauses, wie das ihrige. Wenn Jemand in der Dunkelheit kam, um von dem Garten unten herauf mit ihm zu sprechen, so war es so gut, als spräche er mit der Haushälterin. In allen Puncten bereit, jede Form geheimen Einverständnisses, welche die List erfinden konnte, zu vereiteln, machte Mrs. Lecount die ruhige Nacht hindurch. Als der Morgen kam, schlich sie sich die Treppe hinab, ehe das Mädchen aufgestanden war, brachte die Schlüssel wieder an ihre Plätze und nahm wieder ihre Stellung im Wohnzimmer ein, bis Mr. Noël Vanstone am Frühstückstische erschien. Hatte er seinen Entschluß geändert? Nein. Er wollte nicht mit der Post zur Eisenbahn fahren, wegen der Kosten, allein er war so fest als je in seinem Entschluß nach St. Crux zu gehen. Er wünschte, daß ein Platz, im inneren des Wagens für ihn in der Morgens abgehenden Kutsche belegt werde. Argwöhnisch bis auf die Letzt, schickte Mrs. Lecount den Bäckerburschen, um den Platz zu bestellen. Er war ein öffentlicher Bote, und Mr. Bygrave konnte daher nicht vermuthen, daß er einen Privatauftrag ausführte, —— dachte sie.

Die Kutsche fuhr bei Amsee vor. Mrs. Lecount sah ihren Herrn seinen Sitz einnehmen und überzeugte sich, daß die drei anderen inneren Plätze von Fremden besetzt waren. Sie frug den Kutscher, ob die inneren Platze, die noch nicht alle besetzt waren, auch bereits ihre volle Passagierzahl hätten. Der Mann antwortete bejahend. Er hatte zwei Herren in der Stadt zu holen, und die Anderen würden ihre Plätze am Gasthofe einnehmen. Mrs. Lecount wandte sofort ihre Schritte nach dem Gasthofe und zog auf der Promenade gerade gegenüber auf einer Stelle, wo sie bis zuletzt die Kutsche beim Abfahren sehen konnte, auf Posten. Zehn Minuten später rasselte diese vorbei, außen und innen voll, und die Haushälterin überzeugte sich mit eigenen Augen, daß weder Mr. Bygrave selber, noch Jemand von Nordsteinvilla unter den Reisenden war.

Es war nur noch eine Vorsichtsmaßregel zu beobachten, und Mrs. Lecount versäumte dieselbe nicht. Mr. Bygrave hatte ohne Zweifel die Kutsche bei Villa Amsee verfahren sehen. Er konnte einen Wagen miethen und ihr auf gut Glück bis zur Eisenbahn folgen. Mrs. Lecount blieb in Sicht des Gasthofes, des einzigen Ortes, wo Wagen zu bekommen waren, wohl noch eine halbe Stunde und wartete die Dinge ab, die da kommen sollten. Es fiel jedoch Nichts vor, es erschien kein Wagen; und so war denn eine Verfolgung Mr. Noël Vanstones nicht mehr menschenmöglich. Der lange Druck auf Mrs. Lecounts Geist ließ endlich nach. Sie verließ ihren Sitz auf der Promenade und kehrte in besserer Stimmung als gewöhnlich nach Hause zurück, um auf Amsee die Anstalten des Aus- und Wegzugs vorzunehmen.

Sie setzte sich allein in das Wohnzimmer und schöpfte tief und vergnüglich Athem. Die Berechnungen des Hauptmann Wragge hatten ihn nicht betrogen. Der Beweis mittels ihrer eigenen fünf Sinne hatte schließlich den Sieg davon getragen über die Ungläubigkeit der Haushälterin und sie mit ihren Vermuthungen buchstäblich gerade in das entgegengesetzte Extrem getrieben.

Indem Mrs. Lecount die Vorkommnisse der letzten drei Tage nach ihrer eigenen Wahrnehmung erwog und indem sie sich vergegenwärtigte, wie der erste Gedanke, nach St. Crux zu gehen, von ihr selbst vorgebracht worden und ihr Herr einerseits keine Gelegenheit gehabt, andererseits gar nicht die Neigung gezeigt hatte, die Familie auf Nordsteinvilla in Kenntniß zu setzen, daß er ihren Vorschlag angenommen habe, konnte sie sich füglich nicht verhehlen, daß auch nicht ein einziges Stückchen guten Grundes übrig blieb, um den Argwohn von Verrätherei auch jetzt noch festzuhalten. Und wenn sie nun ferner die Reihenfolge der Ereignisse in dem gewonnenen neuen Lichte betrachtete, so konnte sie nirgends einen Widerspruch, nirgends eine Lücke bemerken. Der Versuch, die unechten Bilder für echte auszugeben, stimmte ganz zu dem Charakter eines Mannes, wie Mr. Bygrave. Der Unwille ihres Herren über den Versuch ihn zu täuschen, sein offen ausgesprochener Argwohn, daß Miss Bygrave daher Mitwisserin war, seine Enttäuschung betreffs der Nichte, seine verächtliche Behandlung des Oheims auf der Promenade, sein Ueberdrüssig sein des Ortes, welches der Schauplatz seiner allzu raschen Vertraulichkeit mit Fremden gewesen war, und diesen Morgen seine Bereitheit, ihn zu verlassen: alles Dies drängte sich dem Geiste der Haushälterin aus einem triftigen Grunde als wirkliche unverfängliche Thatsachen auf. Ihre Augen hatten Mr. Noël Vanstone Aldborough verlassen sehen, ohne für die Bygraves eine einzige Spur zu hinterlassen, oder auch nur zu versuchen eine zu hinterlassen, die sie verfolgen könnten.

Bis hierher führten ihre Schlußfolgerungen die Haushälterin, —— aber nicht weiter. Sie war aber ein zu gescheidtes Weib, als daß sie dem Zufall und dem blinden Glücke ihre Zukunft vertraut hätte. Ihres Herrn veränderlicher Sinn konnte wieder umschlagen. Ein zufälliges Zusammentreffen von Umständen konnte Mr.. Bhgrave Gelegenheit geben, den begangenen Mißgriff wieder gut zu machen und auf geschickte Weise die verlorene Stelle in der Achtung Mr. Noël Vanstones wieder zu gewinnen. Mußte Mrs. Lecount sich gestehen, daß die Umstände sich doch schließlich unleugbar zu ihren Gunsten gestaltet hatten, so war sie nichtsdestoweniger überzeugt, daß die Sicherheit ihres Herrn in Zukunft durch kein anderes Mittel auf die Dauer außer Frage gestellt werden konnte, als durch die rücksichtslose Entlarvung der Ränkeschmiede, die sie von Anfang an angestrebt hatte und die sie entschlossen war, noch immerzu erstreben.

—— Ich erheitere mich immer zu St. Crux, dachte Mrs. Lecount, indem sie ihre Rechnungsbücher aufschlug und die Rechnungen der Kaufleute ordnete. Der Admiral ist ein Gentleman, das Haus ist fein, der Tisch ausgezeichnet Keine Frage! Hier in diesem Hause bleibe ich allein, bis ich das Innere von Miss Bygraves Kleiderschrein gesehen habe.

Sie packte ihres Herrn Sammlung von Seltenheiten in ihre verschiedenen Kisten ein, befriedigte die Kaufleute und ließ unter ihrer Leitung im Laufe des Tages die Ueberzüge über die Möbel legen. Als der Abend hereinbrach, ging sie aus, um Kundschaft einzuziehen über das Feindeslager, und schlich sich unter dem Schutze der Dunkelheit in den Garten von Nordsteinvilla. Sie sah das Licht in dem Fenster des Wohnzimmers und die Lichter in den Fenstern des zweiten Stocks ganz wie gewöhnlich. Nach einem augenblicklichen Zögern stahl sie sich an die Hausthür und probierte geräuschlos den Thürklopfer von außen. Derselbe drehte das Schloß auf, wie sie nach ihrer Erfahrung von der Beschaffenheit der Häuser in Aldborough und anderen Badeorten erwartet hatte; aber die Thür ging darum noch nicht auf. Die Thür war mißlich genug von innen verriegelt. Nachdem sie diese Entdeckung gemacht, ging sie um das Hans herum nach der Hinterthüre und überzeugte sich, daß die Thür auf jener Seite ebenso verwahrt war.

—— Verriegeln Sie nur, Mr. Bygrave, Ihre Thür so fest als Sie wollen, sagte die Haushälterin, indem sie sich wieder auf die Promenade zurück schlich, Sie können doch den Eingang zur Tasche Ihres Dienstmädchens nicht verriegeln. Das beste Schloß, das Sie haben, wird allemal durch einen goldenen Schlüssel geöffnet.

Sie ging heim zu Bett. Das unansgesetzte Wachen und Beobachten, die unablässige Aufregung der letzten zwei Tage hatten sie sehr erschöpft.

Den nächsten Morgen stand sie um sieben Uhr auf. Eine halbe Stunde später sah sie den pünktlichen Mr. Bygrave, wie sie ihn bereits an so vielen Morgen vorher zur selben Zeit gesehen hatte —— seine Handtücher unterm Arm aus dem Gartenthore von Nordsteinvilla treten und seine Schritte nach einem Kahne lenken, der am Ufer auf ihn wartete. Schwimmen war eine von den vielen Leibesübungen, in denen der Hauptmann Meister war. Er wurde jeden Morgen in die See hinaus gerudert und nahm mit Wonne sein Bad inmitten der tiefblauen Fluth. Mrs. Lecount hatte bereits die gewöhnlich für diese Erfrischung aufgewendete Zeit auf ihrer Wacht abgemessen und so herausgebracht, daß von dem Augenblicke an, wo er am Ufer einstieg, bis zu dem Augenblicke, wo er wiederkam, gewöhnlich eine volle Glockenstunde verging.

Während dieser Zeit hatte sie nie einen andern Bewohner von Nordsteinvilla das Haus verlassen sehen. Das Mädchen war ohne Zweifel in der Küche beschäftigt, Mrs. Bygrave lag wahrscheinlich noch im Bette, und Mr. Bygrave —— wenn sie ja zu einer so frühen Stunde schon auf war —— hatte vielleicht Weisung, in der Abwesenheit ihres Oheims das Haus nicht zu verlassen. Die Schwierigkeit, dem Uebelstande von Magdalenens Anwesenheit im Hause zu begegnen, war schon seit einigen Tagen die einzige Klippe, an welcher alle Schlauheit der Mrs. Lecount bis jetzt gescheitert war.

Sie saß am Fenster noch eine Viertelstunde, nachdem das Boot des Hauptmanns das Ufer verlassen hatte, sich abmühend im Geiste, die Augen aus Gewohnheit immer fest auf die Thür von Nordsteinvilla geheftet. Sie saß da und dachte nach, was für eine Entschuldigung sie an ihren Herrn von Aldborough aus schreiben könnte, um den Aufschub ihrer Abreise zu für einige Tage rechtfertigen: da that sich die Thür des Hauses, das sie bewachte, plötzlich auf, und Magdalene selbst erschien im Garten. Es war keine Verwechselung möglich, es waren ihre Gestalt und ihr Anzug. Sie that ein paar hastige Schritte nach dem Gartenthor, hielt dann an und ließ den Schleier ihres Gartenhutes nieder, als ob schon das helle Morgenlicht zu stark für sie wäre, eilte auf die Promenade und stürzte dann in der Richtung nach Norden vorwärts in solcher Hast oder in einer solchen geistigen Spannung, daß sie durch die Gartenthür ging, ohne sie wieder hinter sich zu schließen.

Mrs. Lecount fuhr von ihrem Stuhle auf und glaubte einen Augenblick ihren Augen nicht trauen zu dürfen. Hatte die Gelegenheit, welche sie herbeizuführen vergebens bemüht gewesen war, sich jetzt wie von selbst ihr geboten? Hatte sich das Blatt zuletzt zu ihrem Gunsten gewendet, nachdem das Glück ihr so hartnäckig und so lange zuwider gewesen war? Es war kein Zweifel, der Wind hatte sich gedreht, wie das Volk spricht [»her luck had turned.«]. Sie griff eilends nach Hut und Mantille und ging nach Nordsteinvilla, ohne sich einen Augenblick zu bedenken. Mr. Bygrave draußen auf dem Meere, Miss Bygrave ausgegangen, Mrs. Bygrave und das Dienstmädchen, Beide zu Hause und Beide leicht zu behandeln: diese Gelegenheit durfte nicht unbenutzt vorübergehen, das Wagniß verlohnte sich sehr der Mühe ins Werk gesetzt zu werden!

Diesmal war die Hausthür leicht zu öffnen, Niemand hatte sie nach Magdalenens Weggange wieder verriegelt. Mrs. Lecount schloß die Thür leise, horchte einen Augenblick im Gange und hörte nur an dem Geräusch, wie das Mädchen in der Küche mit seinen Töpfen und Tiegeln handthierte.

—— Wenn mein Glückstern mich geradewegs in Miss Bygraves Zimmer führt, dachte die Haushälterin, wie sie sich geräuschlos die Treppe hinaufschlich, so finde ich wohl den Weg zu ihrem Kleiderschranke, ohne Jemand aufzustören.

Sie versuchte die Thür zunächst nach vorn im Hause auf der rechten Seite des Treppenaufganges. Der launenhafte Zufall hatte sie schon wieder im Stich gelassen. Das Schloß war gesperrt. Sie versuchte die Thür gegenüber zu ihrer linken Hand. Die nach ihrer Größe wohlgeordnet in einer Reihe stehenden Stiefel und die Rasiermesser auf dem Waschtisch zeigten ihr sofort an, daß sie noch nicht das rechte Zimmer gefunden hatte. Sie kehrte um nach der rechten Seite des Treppenaufgangs, ging einen kleinen Gang entlang, der nach dem Hinterhause führte, und versuchte eine dritte Thür. Die Thür ging auf, und in einem Augenblicke standen sich die beiden schnurstracks zuwiderlaufenden Gegensätze irdischer Weiblichkeit von Angesicht zu Angesicht gegenüber, Mrs. Wragge und Mrs. Lecount!

—— Ich bitte zehntausendmal um Verzeihung! sprach Mrs. Lecount mit der vollendetsten Selbstbeherrschung.

—— Gott schütze uns und behüte uns! schrie Mrs. Wragge in der kläglichsten Verwirrung.

Die beiden Ausrufe wurden in demselben Augenblicke ausgestoßen, und in derselben Frist nahm Mrs. Lecount bereits das Maß von ihrem Opfer. Nichts von der geringsten Wichtigkeit entging ihr. Sie bemerkte das orientalische Kaschmirkleid, welches halbfertig und halbaufgetrennt auf dem Tische dalag, sie bemerkte den ungeschickten Fuß von Mrs. Wragge, wie er blindlings um ihren Stuhl herumfuhr, um den verlorenen Schuh zu finden; sie bemerkte auch, daß es noch eine zweite Thür außer der Thür, durch die sie hereingekommen, in dem Zimmer gab und einen zweiten Stuhl nahe zur Hand, auf den sie sich vielleicht am Besten in einer freundschaftlichen und vertraulichen Art und Weise niederlassen könnte.

—— Ich bitte Sie, werden Sie nicht böse über meine Zudringlichkeit, ersuchte Mrs. Lecount, indem sie den Stuhl nahm, Mrs. Wragge. Erlauben Sie, mich auszusprechen!

—— Zudem nun die Haushälterin mit ihrer, sanftesten Stimme sprach, indem sie Mrs. Wragge mit einem süßen Lächeln auf ihren schmeichlerischen Lippen und mit zärtlicher Theilnahme in ihren hübschen schwarzen Augen anschaute, brachte sie ihr kleines Lügengewebe zur Einleitung mit einer so natürlichen Wahrheit des Ausdrucks vor, um welche sie der »Vater der Lügen« vielleicht selbst beneidet haben würde. Sie habe von Mr. Bygrave gehört, daß Mrs. Bygrave sehr schwächlich sei, und habe sich daher in ihren mäßigen Stunden auf Amsee, wo sie die Stelle als Haushälterin Mr. Noël Vanstones ausfülle, immer Vorwürfe gemacht, daß sie Mrs. Bygrave nicht ihre Freundschaftsdienste angeboten habe. Sie habe nun von ihrem Herrn, der ohne Zweifel Mrs. Bygrave als einer von den Freunden ihres Gatten und natürlich auch einer Von den Bewunderern ihrer Nichte genugsam bekannt sein werde, Befehl bekommen, heute ihm nachzureisen an den Ort, wohin er sich von Aldborough begeben habe. Sie sei genöthigt, bei guter Zeit aufzubrechen; aber sie könne es vor ihrem Gewissen nimmermehr verantworten, wenn sie fortginge, ohne bei einem Besuche ihren anscheinenden Mangel an freundnachbarlicher Gesinnung entschuldigt zu haben. Sie habe Niemand im Hause gefunden, sei nicht im Stande gewesen, sich dem Dienstmädchen hörbar zu machen und, habe nun angenommen, da sie jenes Zimmer nicht unten gefunden habe, daß Mrs. Bygraves Putzzimmer vielleicht im obern Stock sein möchte. Sie hätte unbedachter Weise eine Zudringlichkeit begangen, über die sie sich aufrichtig schäme, und sie könne sich jetzt nur an Mrs. Bygraves Nachsicht wenden, um bei ihr Entschuldigung und Verzeihung zu erhalten.

Eine weniger umständliche Entschuldigung würde schon Mrs. Lecounts Vorhaben gefördert haben. Sobald Mrs. Wragges sich abmühendes Auffassungsvermögen die Thatsache begriffen hatte, daß ihr unverhoffter Gast eine Nachbarin war, die ihr von Ruf wohlbekannt war, ging ihr ganzes Wesen in Bewunderung auf über Mrs. Lecounts Auftreten als Dame und Mrs. Lecounts trefflich sitzendes Kleid!

—— Welch vornehme Art zu sprechen hat sie! dachte die arme Mrs. Wragge, als die Haushälterin ihren letzten Satz heraus hatte, und ach, so was lebt nicht! wie nett ist sie gekleidet!

—— Ich sehe, ich störe Sie, fuhr Mrs. Lecount fort, indem sie sich geschickt der orientalischen Kaschmirrobe bemächtigte als ein naheliegendes Winkel, um den Zweck, den sie im Auge hatte, zu erreichen. Ich sehe, ich störe Sie, Madame, bei einer Beschäftigung, welche, wie ich aus Erfahrung weiß, die angespannteste Aufmerksamkeit erfordert. Ach, Sie Aermste, Sie trennen das Kleid wieder auf, wie ich sehe, nachdem Sie es gemacht haben! Das ist wieder mein eigener Fall, Mrs. Bygrave. Einige Kleider sind so querköpfig! Manche Kleider scheinen Einem in ebenso vielen Worten zu sagen: »— Nein, Du magst mit mir anfangen, was Du willst, ich werde nicht passen!«

Mrs. Wragge ward durch diese glückliche Bemerkung höchlich überrascht. Sie brach in ein Gelächter aus und schlug ihre großen Hände zusammen in der höchsten Aufregung.

—— Das ists ja eben, was dieses Kleid da immer zu mir gesagt hat, von dem Augenblicke an, wo ich die Scheere daran brachte, rief sie fröhlich aus. Ich weiß wohl, ich habe einen erschrecklich dicken Rücken, aber das macht es nicht. Warum sollte ein Kleid wochenlang in unseren Händen bleiben und dann doch nicht hinten zusammengehen? Es hängt über meine Brust herunter wie ein Sack, wahrhaftig. Sehen Sie, Madame, auf den Saum. Er will nicht sitzen. Es schleppt vorn, und hinten geht es in die Höhe. Es läßt meine Fersen sehen, und —— Gott mags wissen —— ich habe Noth genug mit meinen Fersen, ohne daß es mir zum Vortheil ist, sie zu zeigen!

—— Wollen Sie mir einen Gefallen thun? frug Mrs. Lecount zutraulich. Darf ich es versuchen, Mrs. Bygrave, ob ich vielleicht meine Erfahrung für Sie nutzbar machen kann? Ich denke, unsere Busen, Madame, sind unsere große Schwierigkeit. —— Nun, ist dieses Ihr Busen? Soll ich mit offenen Worten sagen? Dieser Ihr Busen ist ein einziges ungeheures Versehen!

—— Ach, sagen Sie Das ja nicht! schrie Mrs. Wragge flehentlich. Thun Sie's nicht, es ist schade darum! Er ist ein Stück dicker, ich weiß es wohl; aber er ist trotzdem nach einem von Magdalenens Kleidern zugeschnitten.

Sie war viel zu sehr in den Gegenstand des Anzugs vertieft, um zu bemerken, daß sie sich bereits verrathen und Magdalenen bei ihrem wahren Namen genannt hatte. Mrs. Lecounts scharfe Ohren entdeckten das Versehen sofort, als es begangen wurde.

—— So, so! dachte sie. Schon eine Entdeckung. Wenn ich jemals meinem eignen Argwohn nicht mehr getraut hätte, hier ist nun eine achtbare Dame, welche mich jetzt wieder meiner Sache gewiß gemacht hätte.

—— Ich bitte um Entschuldigung, fuhr sie laut fort, sagten Sie, Dies sei zugeschnitten nach einem von den Kleidern Ihrer Nichte?

—— Ja, sagte Mrs. Wragge. Es gleicht ihm, wie ein Ei dem andern.

—— Dann, antwortete Mrs. Lecount mit geschickter Wendung, dann muß etwas sehr falsch sein in dem Schnitt des Anzugs Ihrer Nichte. Können Sie mir ihn zeigen?

—— Der Herr stärke Sie, —— ja wohl! schrie Mrs. Wragge. Gehen Sie hierher, Madamchen, und bringen Sie das Kleid mit, wenn Sie so gut sein wollen. Es wird aus bloßer Schwere herunterrutschen, wenn Sie es auf dem Tische ausbreiten. Es ist Platz genug auf dem Bette hier drin.

Sie öffnete die Verbindungsthür und ging eifrig in das Zimmer Magdalenens voran. Mrs. Lecount warf, indem sie ihr folgte, einen verstohlenen Blick auf ihre Uhr. Niemals vorher war die Zeit so schnell verstrichen, als gerade heute früh! In zwanzig Minuten mußte Mr. Bygrave aus dem Bade zurück sein.

—— Da! sagte Mrs. Bygrave, indem sie den Kleiderschrein aufmachte und ein Kleid von einem der hölzernen Haken herunter nahm, sehen Sie 'mal her! Da sind Falten an ihrem Busen und Falten an meinem gelegt. Sechs auf dem einen und sein halbes Dutzend auf dem andern, und meine sind die Dicksten das ist Alles!

Mrs. Lecount schüttelte bedächtig ihr Haupt und ging dann in solche Einzelheiten und Feinheiten der Kunst des Schneiderns ein, daß sie in weniger denn drei Minuten die gewünschte Wirkung auf die Eigenthümer in der orientalischen Kaschmirrobe hervorbrachte, nämlich dieselbe in die äußerste Verwirrung setzte.

—— Ach, gehen Sie doch! schrie Mrs. Wragge flehentlich, gehen Sie doch nicht weiter! Ich bin meilenweit hinter Ihnen zurück, und mein Kopf hat schon das Summen wieder! Sagen Sie, seien Sie doch so gut, was nun eigentlich gemacht werden soll? Sie sagten eben 'was von dem Schnitt. Vielleicht bin ich zu dick für den Schnitt? Ich kann nicht dafür, wenn ich es bin. Ach, was habe ich darüber geweint, als ich noch ein Mädchen und im Wachsen war, über meine Größe! Sie ist um die Hälfte zu reichlich gemessen, Madamchen, —— messen Sie mich m der Länge oder messen Sie mich in der Breite, ich leugne es nicht —— überal bin ich ein halbmal zu groß.

—— Meine liebe Madame, widersprach Mrs. Lecount, thun Sie sich nicht selber Unrecht! Erlauben Sie mir, Ihnen zu versichern, daß Sie eine achtunggebietende Gestalt haben, eine Minervafigur. Eine majestätische Einfachheit in der Form einer Frau erheischt auch gebieterisch eine majestätische Einfachheit in der Form der Kleidung dieser Frau. Die Gesetze der Kleidung sind classisch, die Gesetze der Kleidung dürfen nicht übers Knie gebrochen werden! Hohe Falten für Venus, Puffen für Juno, glatte Laen für Minerva. Ich möchte Ihnen einen gänzlichen Wechsel des Schnittes vorschlagen. Ihre Nichte hat noch andere Kleider in ihrem Vorrathe. Warum sollen wir nicht auch einen Minervaschnitt darunter finden?

Als sie jene Worte gesprochen hatte, ging sie wieder zum Kleiderschrank zurück.

Mrs. Wragge folgte ihr und nahm die Kleider heraus, eins nach dem andern, indem sie dabei muthlos das Haupt schüttelte. Seidene Kleider kamen zum Vorschein, Musselinkleider traten ans Licht. Das einzige Kleid, welches unsichtbar war und blieb, war das Kleid, nach welchem Mrs. Lecount eben suchte.

—— Das ist der ganze Haufe, sagte Mrs. Wragge. Sie sind wohl gut für Venus und die beiden Andern —— ich hab' sie in Bildern gesehen, es hatte aber meiner Seel' keine von den Dreien ein Stückchen anständige Leinwand auf dem Leibe —— aber sie passen nicht für mich.

—— Gewiß ist doch wohl noch ein Kleid da? sagte Mrs.Lecount, indem sie in den Kleiderschrank zeigte, aber Nichts darin berührte. Sehe ich da nicht hinter dem dunklen Shawl Etwas in der Ecke hängen?

Mrs. Wragge nahm den Shawl weg, und Mrs. Lecount machte die Thür des Kleiderschrankes noch ein wenig weiter auf. Da, nachlässig aufgehängt auf dem innersten Haken, da sah richtig das braune Alpacakleid mit seinen weißen Tupfen und seiner doppelten Frisur hervor!

Die Plötzlichkeit und Vollständigkeit der Entdeckung ließ die Haushälterin, so erfahren sie, auch in der Verstellungskunst war, ihre Vorsicht ganz und gar vergessen. Sie fuhr zusammen —— als sie das Kleid erblickte. Einen Augenblick später wandten sich ihre Augen unruhig nach Mrs. Wragge hin. War ihr Erschrecken bemerkt worden? Es war ganz unbemerkt vorübergegangen. Mrs. Wragges ganze Aufmerksamkeit war auf das Alpacakleid gerichtet: sie starrte es unbegreiflicherweise mit dem Ausdruck des äußersten Entsetzens an.

—— Sie scheinen beunruhigt, Madamchem sagte Mrs. Lecount. Was in dem Kleiderschrank erschreckt Sie denn so sehr?

—— Ich hätte eine ganze Krone aus meinem Beutel drum gegeben, sagte Mrs. Wragge, hätte ich dieses Kleid nicht zu sehen brauchen. Es war mir ganz gut aus dem Sinn geschwunden —— und nun ists wiederkommen!

—— Ich decke es wieder zu! schrie Mrs. Wragge, indem sie den Shawl über das Kleid warf, wie in einem plötzlichen Anfall von Verzweiflung. Wenn ich es länger ansehe so werde ich denken, ich sei wieder aus der Vauxhallpromenade!

Vauxhallpromenade! Jenes Wort verriet Mrs. Lecount, daß sie an der Schwelle einer neuen Entdeckung stehe. Sie warf abermals einen verstohlenen Blick auf ihre Uhr. Es fehlten nur noch knappe zehn Minuten an der Zeit, wo Mr. Bygrave eintreffen mußte; es war nicht eine einzige Minute von den zehn mehr, wo nicht seine Nichte nach Hause zurückkommen konnte. Die Vorsicht rieth Mrs. Lecount zu gehen, um nicht weiter Gefahr zu laufen. Die Neugier fesselte sie aber an die Stelle und gab ihr den Muth, allen Zufällen zu trotzen, bis die Zeit um war. Ihr liebenswürdiges Lächeln begann ein wenig hart zu werden, als sie schmeichlerisch in Mrs. Wragges schwaches Herz sich einschleichen wollte.

—— Sie haben einige unliebsame Erinnerungen an Vauxhallpromenade? sagte sie mit dem mildest denkbaren Tone der Fragestellung in ihrer Stimme. Oder sollte ich vielleicht sagen, unliebsame Erinnerungen an das Kleid, das Ihrer Nichte gehört?

—— Das letzte Mal, daß ich sie in diesem Kleide sah, sagte Mrs. Wragge und sank zitternd auf einen Stuhl, war damals, wo ich vom Einkaufen in der Stadt zurückkam und den Geist erblickte.

—— Den Geist? wiederholte Mrs. Lecount, indem sie in reizendem Erstaunen die Hände zusammenschlug Liebe Madame, verzeihen Sie mir! Gibt es denn dergleichen in der Welt? Wo sahen Sie ihn? Auf Vanxhallpromenade? Erzählen Sie es mir: Sie sind ja die erste Dame, die ich finde, welche einen Geist gesehen hat. Bitte, erzählen Sie es mir!

Sich geschmeichelt fühlend durch die bevorzugte Stellung, welche sie plötzlich in den Augen der Haushälterin gewonnen hatte, gab nun Mrs. Wragge die Geschichte ihres übernatürlichen Erlebnisses ausführlich zum Besten. Die athemlose Spannung, mit welcher Mrs. Lecount ihrer Schilderung von der Kleidung des Gespenstes, Von dem Huschen des Geistes die Treppe hinauf und seinem Verschwinden in der Kammer lauschte, das außerordentliche Interesse, das Mrs. Lecount bezeigte, als sie hörte, daß das Kleid in dem Kleiderschrein dasselbe war, welches Magdalene in jenem schrecklichen Augenblicke, wo der Geist verschwand, trug, ermunterten Mrs. Wragge tiefer und immer tiefer in Einzelheiten einzugehen und ich in ein Wirrsal von gleichzeitigen Nebenumständen zu veriren, welche auf ganze Stunden hinaus keine Aussicht bot, daß sie sich werde wieder herauswickeln können.

Schneller und immer schneller enteilten die unerbittlichen Minuten, näher und näher rückte der verhängnißvolle Augenblick von Mr. Bygraves Rückkehr.

Mrs. Lecount sah zum dritten Male nach der Uhr, dies Mal aber ohne den geringsten Versuch zu machen, selbige Bewegung ihrer Gesellschafterin zu verbergen. Es waren buchstäblich nur noch zwei Minuten übrig, um sich von Nordsteinvilla fort zumachen. Es waren buchstäblich nur noch zwei Minuten übrig, um sich von der Nordsteinvilla fortzumachen. Zwei Minuten reichten hin, wenn kein widriger Zufall eintrat. Sie hatte ja nunmehr das Alpacakleid entdeckt, hatte die ganze Geschichte von dem Erlebniß aus Vauxhallpromenade angehört und, noch mehr als das, sie hatte sich sogar der Hausnummer der Wohnung versichert, deren sich Mrs. Wragge ganz zufällig erinnerte, da sie der Zahl ihrer Lebensjahre entsprach. Alles, was nöthig war zur vollständigen Aufklärung ihres Herrn, hatte sie jetzt ausgeführt. Sogar, wenn Zeit gewesen wäre, noch länger zu verweilen, lag Nichts vor, um das es sich verlohnen sollte, länger zu bleiben.

—— Ich will diese würdige Blödsinnige mit einem Coup d'etat zur Ruhe bringen, dachte die Haushälterin, und dann verschwinden, ehe sie sich erholt hat.

—— Entsetzlich! schrie Mrs. Lecount auf, indem sie die Geistergeschichte durch einen grellen kleinen Schrei unterbrach und zu Mrs. Wragges unsäglichem Erstaunen ohne Weiteres nach der Thür stürzte. ... Sie machen das innerste Mark meines Gebeines erstarren!.... Guten Morgen!

Sie warf gleichgültig die orientalische Kaschmirrobe in Mrs. Wragges umfangreichen Schooß und verließ augenblicklich das Zimmer.

Als sie geschwind die Treppe heruntereilte, hörte sie oben die Thür des Schlafzimmers aufgehen.

—— Was ist das für ein Benehmen? rief eine Stimme ihr aus der Ferne über das Treppengeländer nach. Was wollen Sie damit sagen, daß Sie mir meinen Rock auf diese Art und Weise zuwerfen?

Sie sollten sich 'was schämen! fuhr Mrs. Wragge fort, indem sie aus einem Lamm zur Tigerin wurde, als sie, nach und nach den Umfangs der ihrer Kaschmirrobe angethanenen Beschimpfung ermaß. Sie garstige, fremde Person, Sie sollten sich 'was schämen!

Verfolgt von diesen Abschiedsworten erreichte Mrs. Lescount die Hausthür und öffnete sie unverzüglich. Sie eilte pfeilschnell durch den Garten, ging durch das Thor und befand sich auf der Promenade. Dann aber hielt sie an und sah nach dem Meere hin.

Der erste Gegenstand, den ihre Augen erblickten, war die Gestalt Mr. Bygraves, welche regungslos am Ufer stand, ein steinerner Gast, seine Handtücher auf dem Arme! Ein Blick auf ihn genügte, um sich zu überzeugen, daß er die Haushälterin gesehen hatte, wie sie durch sein Gartenthor gekommen war.

——Indem Mrs. Lecount nun richtig vermuthete, daß Mr. Bygrave erstes Geschäft sein werde, sofort Nachforschungen in seinem Hause anzustellen, setzte sie so ruhig, als ob Nichts vorgefallen wäre, ihren Weg nach Amsee zurück fort. Als sie in das Zimmer trat, wo ihr einsames Frühstück ihrer wartete, war sie überrascht, einen Brief auf dem Tische liegen zu sehen. Sie trat mit einem Ausdruck von Ungeduld heran, um ihn an sich zu nehmen, indem sie bei sich dachte, es möchte eine Kaufmannsrechnung sein, die sie vergessen hätte.

—— Es war der gefälschte Brief aus Zürich. ——



Kapiteltrenner

Elftes Capitel.

Das Postzeichen und die Handschrift auf der Adresse, die vortrefflich nach der Vorlage der Urschrift nachgemacht war, setzten Mrs. Lecount noch bevor sie den Brief öffnete, von dem Inhalte desselben in Kenntniß.

Nachdem sie einen Augenblick gewartet, um sich zu fassen, las sie die Mittheilung von ihres Bruders Rückfall.

Es war Nichts in der Handschrift, kein Ausdruck in irgend einem Theile des Briefes, der in ihrem Geiste den leisesten Verdacht einer Täuschung aufkommen ließ. Nicht der Schatten eines Zweifels kam ihr in den Sinn, daß die Ladung an das Sterbebett ihres Bruders nicht echt sei. Die Hand, welche den Brief hielt, sank schwer auf ihren Schooß, sie wurde bleich und alt und häßlich in einem Augenblicke! Gedanken, weit entfernt von ihren gegenwärtigen Zwecken und Zielen, Erinnerungen, welche sie in andere Länder als England, in andere Zeiten als ihre Dienstzeit zurückversetzten, waren von innen heraus ihre Schatten um sie und ließen die Spuren ihres geheimnißvollen Weges dunkel und düster auf ihrem Gesichte erkennen. Minuten auf Minuten verrannen, und noch immer harrte das Dienstmädchen unten vergeblich auf die Klingel aus dem Wohnzimmer. Minuten auf Minuten vergingen, und noch immer saß sie thränenlos und still da, abgestorben für die Außenwelt, Gegenwart und Zukunft; nur in der Vergangenheit lebend.——

Der unberufene Eintritt des Mädchens weckte sie auf. Mit einem schweren Seufzer brach das kalte verschlossene Weib den Brief wieder zusammen und wandte sich den Anforderungen und Angelegenheiten der rasch enteilenden Gegenwart zu.

Sie entschied bei sich die Frage, ob, sie nach Zürich gehen sollte oder nicht, nach einer sehr kurzen Erwägung derselben. Ehe sie ihren Stuhl an die Frühstückstafel gezogen hatte, war sie entschlossen zu gehen.

So vortrefflich auch Hauptmann Wragges List angeschlagen war, so würde sie doch, wäre nicht der Vorfall von diesem Morgen zur Unterstützung hinzugekommen, mißlungen sein. Dasselbe Ereigniß, gegen welches sich zu wahren des Hauptmanns erstes Bemühen gewesen war, das Ereigniß, welches jetzt ihm zum Trotz nun dennoch stattgefunden hatte, war unter allen, welche überhaupt vorkommen konnten, das einzige, welches alle früheren Berechnung zu Nichte machte, indem es das Hauptziel der Verschwörung rückhaltlos bloßlegte! Hätte Mrs. Lecount nicht die Kunde erlangt, nach der sie strebte, bevor sie den Brief aus Zürich erhielt, so würde der Brief vergebens an sie gerichtet worden sein. Sie würde gezögert haben, bevor sie sich entschlossen hätte, England zu verlassen, und diese Zögerung würde sich für den Plan des Hauptmanns unheilvoll erwiesen haben.

Wie die Sachen aber jetzt standen mit den deutlichen Beweisen in ihren Händen, mit dem in Magdalenens Kleiderschrank entdeckten Kleide, mit dem aus demselben geschnittenen Stückchen in ihrem Taschenbuche und mit der von Mrs. Wragge erhaltenen Kenntniß sogar des Hauses, in welchem der Betrug angesponnen war, hatte nunmehr Mrs. Lecount die Mittel in der Hand, Mr. Noël Vanstone eine so nachdrückliche Warnung ertheilen zu können, wie sie es nie vermocht hatte, oder mit anderen Worten die Mittel, jegliche gefährliche Neigung nach Versöhnung mit den Bygraves, welche ihm sonst während ihrer Abwesenheit in Zürich vielleicht in den Sinn gekommen wäre, zu verhüten. Die einzige Schwierigkeit, welche sie noch in Verlegenheit setzte, war die, daß sie sich entschließen mußte, ob sie persönlich oder schriftlich von ihrer Abreise aus England ihren Herrn von Allem in Kenntniß setzen sollte.

Sie sah wieder aus den Brief des Doktors. Das Wort »augenblicklich« in dem Satze, welcher sie zu ihrem sterbenden Bruder rief, war zwei Mal unterstrichen. Admiral Bartrams Haus war in einiger Entfernung von der Eisenbahn, die Zeit, welche sie zu einer Fahrt nach St. Crux und wieder zurück brauchte, war vielleicht für die Reise nach Zürich unersetzbar.... Obgleich sie daher unbedingt eine persönliche Zusammenkunft mit Mr. Noël Vanstone vorgezogen haben würde, so blieb doch keine Wahl, wo es sich um Leben und Tod handelte, als die kostbaren Stunden zu sparen, indem sie nur an ihn schrieb.

Nachdem sie weggeschickt hatte, um sich sofort einen Platz in der Morgenpost bestellen zu lassen, setzte sie sich nieder, um an ihren Herrn zu schreiben.

Ihr erster Gedanke war, ihm Alles zu sagen, was auf Nordsteinvilla heute Morgen vorgefallen war. Bei reiflicherem Nachdenken verwarf sie jedoch diesen Gedanken. Schon einmal, als sie die Personalbeschreibung aus Miss Garths Briefe abgeschrieben hatte, hatte sie ihre Waffen in die Hände ihres Herrn gelegt, und Mr. Bygrave hatte es anzudrehen gewußt, daß sie sich schließlich gegen sie selbst kehrten. Sie beschloß diesmal dieselben schlechterdings selber in der Hand zu behalten. Das Geheimniß von dem fehlenden Stücke aus dem Alpacakleide war keinem lebenden Wesen außer ihr selbst bekannt, und sie beschloß, dasselbe bis zu ihrer Rückkehr nach England für sich zu behalten. Der nothwendige Eindruck auf Mr. Noël Vanstones Gemüth konnte füglich auch ohne Eingehen auf Einzelheiten erreicht werden; Sie wußte aus Erfahrung, in welcher Form ein Brief gewißlich einen Eindruck auf ihn hervorbringen würde, und sie schrieb ihn nun in folgenden Worten:

Lieber Mr. Noël!

Traurige Nachrichten kamen aus der Schweiz für mich an. Mein geliebter Bruder liegt im Sterben, und sein ärztlicher Beistand ruft mich augenblicklich nach Zürich. Die unausweichliche Notwendigkeit, mich so rasch als möglich nach dem Festlande zu begeben, läßt mir keine Wahl. Ich muß von der Erlaubniß, welche Sie so freundlich waren mir gleich zu Anfang der Krankheit meines Bruders zu gewähren, Gebrauch machen und muß jede Zögerung vermeiden, indem ich unmittelbar nach London gehe, anstatt einen Abstecher zu machen, um Sie, wie ich es so gern gethan hätte, erst in St. Crux zu besuchen.

So schmerzlich ich durch das mich heimsuchende Familienleid berührt bin, kann ich doch diese Gelegenheit nicht unbenützt lassen, um einen andern Gegenstand zu erwähnen der Ihr Wohl und Wehe ernstlich angeht und an welchem in diesem Betracht Ihre alte Haushälterin den innigsten Theil nimmt.

Ich werde Sie überraschen und erschrecken, Mr. Noël. Ich bitte Sie, regen Sie sich nicht auf, ich bitte Sie, fassen Sie sich!

Der unverschämte Versuch, Sie zu betrügen, welcher zum Glück Ihnen die Augen geöffnet hat über den wahren Charakter Ihrer Nachbarn auf Nordsteinvilla, war nicht der einzige Zweck, welchen Mr. Bygrave hatte, Ihnen seine Gesellschaft aufzudrängen. Die elende Verschwörung, durch die Sie in London bedroht wurden, ist unter Mr. Bygraves Leitung zu Aldborough noch in voller Thätigkeit gegen Sie. Der Zufall, —— ich will Ihnen sagen, was für ein Zufall, sobald wir mit einander zusammenkommen —— hat mich in den Besitz von Nachrichten gesetzt, die für Ihre künftige Sicherheit von Wichtigkeit sind. Ich habe bis zur vollendetsten Gewißheit entdeckt, daß die Person, welche sich Miss Bygrave nennt, keine andere ist, als —— das Frauenzimmer, das uns verkleidet auf der Vauxhallpromenade besuchte.

Ich argwöhnte Dies von Anfang an, aber ich hatte keinen Beweis, um meinen Verdacht zu unterstützen, ich hatte keine Mittel, um den falschen Eindruck, den man auf Sie gemach hatte, zu bekämpfen. Meine Hände sind nun, Gott sei Dank! nicht mehr gebunden. Ich besitze unwidersprechliche Beweise der Behauptung, welche ich soeben gethan habe, Beweise, welche Ihre eigenen Augen sehen können, Beweise, welche Ihnen genügen würden, und wären Sie selbst Beisitzer in einem Gerichtshofe.

Vielleicht werden Sie, Mr. Noël, sogar jetzt noch abgeneigt sein, mir Glauben zu schenken? Mag es so sein. Glauben Sie mir oder glauben Sie mir nicht, ich habe Sie nur um eine letzte Gunst zu bitten, welche Ihr echt englisches Gefühl für ehrliches Spiel mir hoffentlich nicht verweigern wird.

Diese meine traurige Reise wird mich wohl auf vierzehn Tage oder höchstens drei Wochen von England fern halten. Sie werden mich verpflichten —— und Sie werden gewiß nicht Ihre eigene Wohlfahrt und Ihr eigenes Vergnügen opfern wollen —— wenn Sie diese Zwischenzeit hindurch bei Ihren Freunden zu St. Crux verbringen. Wenn irgendwelche unverhoffte Umstände Sie vor meiner Rückkehr noch einmal in die Gesellschaft der Bygraves bringen sollten, und wenn Ihre natürliche Herzensgüte Sie geneigt macht, die Entschuldigungen anzunehmen, welche dieselben in diesem Falle gewiß an Sie richten werden, so halten Sie sich ein wenig zurück, um Ihretwillen, wenn nicht um meinetwillen. unterbrechen Sie Ihre Liebelei mit der jungen Dame —— ich bitte alle anderen jungen Damen um Verzeihung, daß ich sie so nenne —— bis zu meiner Rückkehr.

Wenn ich nach meiner Zurückkunft nicht im Stande bin, Ihnen zu beweisen, daß Miss Bygrave das Weib ist, welche jene Verkleidung trug und jene Drohworte auf Vauxhallpromenade sprach, so mache ich mich anheischig, nach eintägiger Kündigung Ihren Dienst zu verlassen, und will büßen für die Sünde, falsch Zeugniß wider meinen Nächsten geredet zu haben, durch Entsagung auf jeglichen Anspruch, den ich auf Ihre Dankbarkeit habe, sowohl was Ihren seligen Vater, als auch was Sie selber betrifft!

Ich mache dies Erbieten ohne Hinten und Vorbehalt irgendwelcher Art und verspreche dabei zu verharren, wenn mein Beweis mißlingt, so wahr ich eine gute Katholikin bin, und auf das Ehrenwort einer rechtschaffenen Frau.

Ihre

treue Dienerin,
Virginie Lecount.

Der Schlußsatz enthielt, wie die Haushälterin gar wohl wußte, als sie ihn niederschrieb, die einzige Handhabe, durch welche sie einen tiefen und dauernden Eindruck auf ihn hervorzubringen gewißlich hoffen konnte. Sie hätte ihren Eidschwur, ihr Leben, ihren Ruf zum Pfande der Wahrheit der Behauptung geben können, welche sie eben gethan hatte, und hätte dennoch einen haftenden Eindruck auf seinen Geist zu machen verfehlt. Allein wenn sie nicht allein ihre Stellung in seinem Dienste, sondern auch ihre Geldansprüche an ihn ebenso aufs Spiel setzte, so nahm sie die sein ganzes Leben beherrschende Leidenschaft ausschließlich in Anspruch. Es war kein Zweifel —— in dem stärksten aller seiner Interessen, in dem Interesse, sein Geld zu sparen, mußte er warten.

—— Schach matt für Mr. Bygrave! dachte Mrs. Lecount, als sie den Brief siegelte und die Aufschrift machte. Die Schlacht ist aus, das Spiel vorbei.

Während Mrs. Lecount auf Amsee für ihres Herrn künftige Sicherheit sorgte, schritten die Ereignisse auf Nordsteinvilla ebenfalls vorwärts.

Sobald Hauptmann Wragge sich von seinem Erstaunen über das Erblicken der Haushälterin auf seinem Grund und Boden erholt hatte, stürmte er ins Haus und begab sich, geleitet von seinen eigenen Ahnungen des Mißgeschickes, das sich ereignet, geradewegs in das Zimmer seiner Frau.

Niemals in ihrer ganzen Erinnerung hatte die arme Mrs. Wragge das volle Gewicht des Zornes ihres Hauptmanns so gefühlt als jetzt. Die wenige Kundschaft, welche sie natürlich besaß, verschwand sofort in dem Wirbelwind der Wuth ihres Mannes. Die einzigen deutlichen Thatsachen, welche er aus ihr herausbringen konnte, waren zwei an der Zahl. In erster Linie erwies sich Magdalenens jähes Verlassen ihres Postens als ein ebenso triftiger Grund der Entschuldigung als Magdalenens unverbesserliche Ungeduld: sie war fieberhaft und elend aufgestanden und war unbekümmert um alle Folgen ausgegangen, um ihren heißen Kopf in der frischen Morgenluft zu kühlen. In zweiter Linie hatte Mrs. Wragge nach ihrem eignen Geständniß Mrs. Lecount gesehen, hatte mit Mrs. Lecount gesprochen und hatte schließlich Mrs. Lecount die Geistergeschichte erzählt.

Als Hauptmann Wragge diese Entdeckung gemacht hatte, verlor er keine Zeit damit, seines Weibes Schrecken und Verwirrung zu bekämpfen. Er entfernte sich sogleich an ein Fenster, welches eine freie Aussicht auf Mr. Noël Vanstones Haus gewährte, und dort setzte er sich nieder, um alle Vorfälle auf Amsee zu beobachten, gerade so wie Mrs. Lecount sich früher niedergesetzt hatte, um alle Vorfälle auf Nordsteinvilla zu beobachten.

Nicht ein Wort der Erklärung des Unsterns von heute morgen entschlüpfte ihm, als Magdalene zurückkehrte und ihn auf seinem Posten fand. Seine Sprachseligkeit schien endlich ihre Ebbe erreicht zu haben.

—— Ich sagte Ihnen, was Mrs. Wragge thun würde, sagte er, und Mrs Wragge hat es gethan.

Er saß, ohne zu weichen und zu wanken am Fenster mit einer Ausdauer, in welcher ihn Mrs. Lecount selber nicht hätte übertreffen können. Die einzige thätige Maßregel, welche er zu treffen für gut fand, wurde durch eine dritte Person vollbracht. Er schickte das Dienstmädchen nach dem Gasthofe, um einen Wagen und ein schnelles Pferd zu bestellen und zu hinterlassen, er selber würde noch Vormittags hinkommen und dem Fuhrmann sagen, wann der Wagen gebraucht würde. Nicht ein Zeichen der Ungeduld gab er von sich, bis die Zeit herankam, wo die Frühpost abzufahren pflegte. Dann begannen die gekräuselten Lippen des Hauptmanns ängstlich zu zittern, und seine Finger trommelten in Einem fort unruhig den Teufelszapfenstreich auf der Fensterscheibe.

Die rasselnden Räder ließen sich endlich hören, die Kutsche fuhr bei Villa Amsee vor, und Hauptmann Wragge konnte sich durch den Augenschein überzeugen, daß eine von den Personen, welche diesen Morgen vou Aldborough abreisten, —— Mrs. Lecount war.

Da die Hauptungewißheit erledigt war, blieb noch eine ernste Frage, welche durch die Ereignisse des Morgens nahe gelegt wurde, zu lösen übrig. Welches war das Reiseziel von Mrs. Lecounts Wegfahrt, Zürich oder St. Crux? Daß sie ihren Herrn gewiß von Mrs. Wragges Geistergeschichte unterrichten werde und von jeder andern Enthüllung bezüglich der Namen und Orte, welche vielleicht Mrs. Wragge entschlüpft waren, war außer allem Zweifel. Aber welchen von den beiden ihr offen stehenden Wegen, um das Unglück anzurichten, nämlich entweder den mündlichen oder den schriftlichen, sie eingeschlagen habe, das zu wissen war dem Hauptmann von der äußersten Wichtigkeit. Wenn sie zum Admiral gegangen war, so blieb ihm keine Wahl, als der Kutsche zu folgen, den Zug, mit dem sie reiste, zu erreichen und nachmals ihr aus der Fahrt von dem Haltepunkt in Essex bis nach St. Crux vorauszueilen Wenn sie dagegen sich begnügt hatte, ihrem Herrn bloß zu schreiben, so würde es nur nothwendig sein, Maßregeln zu ersinnen, um den Brief aufzufangen. Der Hauptmann entschloß sich zuvörderst nach der Post zu gehen. Indem er annahm, daß die Haushälterin geschrieben hatte, so hatte sie wohl den Brief nicht dem Dienstmädchen anvertraut, sie hatte ihn gewiß selbst sicher in den Briefkasten gesteckt, ehe sie Aldborough verließ.

—— Guten Morgen, sagte der Hauptmann, indem er freundlich den Postmeister ansprach. Ich bin Mr. Bygrave von Nordsteinvilla. Ich denke, Sie haben einen Brief im Kasten, adressirt an Mr. ——?

Der Postmeister war ein kurz angebundener Mann und folglich ein Mann mit einem eigenthümlichen Bewußtsein seiner Wichtigkeit. Er unterbrach mit feierlicher Miene Hauptmann Wragge mitten in seinem Flusse:

—— Wenn ein Brief einmal zur Post gegeben ist, Sir, sagte er, so hat Niemand außer den Beamten Etwas damit zu schaffen, bis er seine Adresse erreicht.

Der Hauptmann war nicht der Mann, welcher sogar durch einen Postmeister außer Fassung gebracht werden konnte. Ein heller Gedanke durchzuckte ihn. Er nahm sein Taschenbuch heraus, in welchem Admiral Bartrams Adresse aufgeschrieben war und erneuerte seinen Angriff:

—— Wenn nun aber ein Brief irrthümlicherweise falsch aufgegeben worden ist? begann er. Und wenn nun der Schreiber den Irrthum verbessern will, nachdem der Brief bereits in den Kasten gelegt worden?

—— Wenn der Brief einmal aufgegeben ist, Sir, wiederholte der unerschütterliche Ortsbeamte, so bekommt ihn Niemand außer den Beamten unter keinerlei Vorwand in die Hände.

—— Recht gern zugegeben, fuhr der Hauptmann beharrlich fort. Ich will ihn gar nicht in die Hände haben, ich will mich nur erklären. Eine Dame hat einen Brief hier aufgegeben, gerichtet an:

NOËL VANSTONE, Esqre
abzugeben bei
ADMIRAL BARTRAM
ST. CRUX

in dar Marsch
ESSEX.

—— Sie schrieb in großer Eile und ist nicht ganz ihrer Sache gewiß, ob sie auch darauf den Namen »OSSORY« geschrieben hat. Es ist von der größten Wichtigkeit, daß der Brief unverzüglich bestellt werde. Was kann Sie hindern, dem Postamte die Arbeit zu erleichtern und eine Dame zum Danke zu verpflichten, indem Sie den Namen der Poststation mit Ihrer Hand hinzuzufügen, —— wenn er ausgelassen ist? Ich frage Sie als einen diensteifrigen Beamten, welchen möglichen Einwand können Sie gegen mein Ersuchen vorbringen?

Der Postmeister war genöthigt anzuerkennen, daß sich dagegen Nichts einwenden ließe, vorausgesetzt, daß nur eine nothwendige Zeile zur Adresse hinzugefügt würde, vorausgesetzt ferner, daß Niemand außer ihm selbst den Brief in die Hand bekam, und vorausgesetzt schließlich, daß die kostbare Zeit des Postamts dabei nicht zu sehr in Anspruch genommen würde. Da in diesem Augenblicke gerade nichts Nöthiges zu thun vorläge, so wolle er gern der Dame gefällig sein, wie Mr. Bygrave ihn bäte.

Hauptmann Wragge beobachtete die Hände des Postmeisters, als er die Briefe aus dem Kasten sortierte, mit athemloser Spannung. War der Brief darunter? Würden die Hände des eifrigen öffentlichen Beamten plötzlich stille halten? —— Ja! sie hielten stille und nahmen einen Brief aus den übrigen heraus.

—— NOËL VANSTONE, Esqre sagten Sie? frug der Postmeister und hielt den Brief in der Hand.

—— NOËL VANSTONE, Esqre, antwortete der Hauptmann, abzugeben bei ADMIRAL BARTRAM ST. CRUX in dar Marsch.

—— OSSORY ESSEX, fiel der Postmeister ein, indem er den Brief wieder in den Kasten warf. Die Dame hat keinen Fehler gemacht. Die Adresse ist ganz vollständig.

Nur die von der Zeit gebotene Rücksicht auf den um jeden Preis zu wahrenden Schein der Wohlanständigkeit hinderte Hauptmann Wragge, als er sich wieder auf der Straße befand, in der Freude seines Herzens seinen hohen weißen Hut in die Luft zu werfen. Jeder weitere Zweifel war nun beseitigt. Mrs. Lecount hatte ihrem Herrn geschrieben, folglich war Mrs. Lecount unterwegs nach Zürich!

Das Haupt höher aufgerichtet denn je, die Flügel seines hochanständigen Frackes hinter ihm im Winde flatternd, auf der Stirn seine angeborene Unverschämtheit kecklich zur Schau tragend, stolzierte der Hauptmann nach dem Gasthofe und forderte den Eisenbahnfahrplan. Nachdem er einige Zahlen —— schwarz auf weiß natürlich —— für sich ausgerechnet, befahl er dem Eigenthümer, die Kutsche in einer Stunde bereitzuhalten, dergestalt, daß er damit noch rechtzeitig die Eisenbahn zu dem zweiten nach London abgelassenen Tageszuge erreichte, mit welchem keine Postverbindung von Aldborough aus unterhalten wurde.

Seine nächste Verrichtung war von weit ernsterer Art, sie setzte eine schreckliche Gewißheit des Erfolges voraus. Der Wochentag war gerade Donnerstag. Von dem Gasthofe ging er nach der Kirche, sprach den Küster und machte bei demselben die nöthige Anzeige wegen einer nächsten Montag stattfindenden Trauung mit Dispens. [marriage by licence, Trauung in summarischer, abgekürzter Form, zu welcher es einer besonderen, oberbehördlichen Erlaubniß bedarf. w.]

So kühn er sonst war, so wurden doch seine Nerven bei dieser letzten Handlung ein wenig erschüttert: seine Hand zitterte, als einen Riegel des Gartenthors aufschob. Er kam seinen Nerven mit Brandy und Wasser zu Hilfe, ehe er Magdalene rufen ließ, um sie von den Vornahmen dieses Morgens in Kenntniß zu setzen. Wahrscheinlich war ihrerseits wieder ein Ausbruch zu gewärtigen, sobald sie hörte, daß der letzte unwiderrufliche Schritt geschehen und jene Anzeige wegen des Hochzeitstages gemacht worden war.

Die Uhr mahnte den Hauptmann, keine Zeit zu verlieren beim Leeren seines Glases. In wenigen Minuten schickte er daher die nothwendige Botschaft nach oben. Während er Magdalenens Eintritt erwartete, versah er sich mit einigen Unterlagen, welche jetzt nöthig wurden, der Verschwörung die Krone aufzusetzen. Zuerst schrieb er —— jedoch durchaus nicht in einer so schönen Handschrift als gewöhnlich —— seinen Namen auf eine weiße Visitenkarte und fügte dann folgende Worte darunter hinzu:

Es ist kein Augenblick zu verlieren. Ich warte Ihrer an der Thür, kommen Sie sofort zu mir herunter.

Sein nächstes Beginnen war, ein halbes Dutzend Briefumschläge aus —— einem Kästchen zu nehmen und sie alle an dieselbe Adresse zu richten:

THOMAS BYGRAVE, Esqre
Musard's Hotel,
SALISBURY-STREET,
Strand,
LONDON

Nachdem er die Umschläge und die Karte sorgfältig in seine Brusttasche gesteckt, schloß er das Pult zu. Als er sich von dem Schreibtische erhob, trat Magdalene ins Zimmer.

Der Hauptmann überlegte einen Augenblick, wie er am Besten die Unterredung beginnen solle, und beschloß dann, dieselbe frischweg, wie er es nannte, zu eröffnen. In wenig Worten erzählte er Magdalenen, was vorgefallen war, und theilte ihr mit, daß Montag ihr Hochzeitstag sein solle.

Er hatte sich darauf vorbereitet, sie zur Ruhe zu sprechen, wenn sie in einen neuen leidenschaftlichen Ausbruch verfiele, ihr abzureden, wenn sie um Aufschub bitten sollte, sie zu bemitleiden, wenn sie in Thränen ausbrach. Zu seinem unaussprechlichen Erstaunen strafte der Erfolg seine Berechnungen Lügen. Sie hörte ihn an, ohne ein Wort zu sagen, ohne eine Thräne zu vergießen. Als er fertig war, sank sie in einen Stuhl. Ihre großen grauen Augen sahen ihn leer an. In einem einzigen geheimnißvollen Augenblicke wich alle ihre Schönheit von ihr: ihr Antlitz wurde schrecklich hart, wie das einer Verstorbenen. Zum ersten Male, so lange Hauptmann Wragge sie kannte, hatte Furcht, allgewaltige Furcht sich ihrer bemächtigt und hielt Leib und Seele gefangen.

—— Sie sind doch nicht wankend geworden? sagte er, indem er versuchte sie wieder aufzurichten. Nicht wahr, Sie sind doch nicht im letzten Augenblicke noch wankend geworden?

Kein Zeichen des Verständnisses ließ sich in ihren Augen lesen, ihr Gesicht blieb Zug für Zug starr dasselbe. Und doch hatte sie ihn gehört; denn sie bewegte sich ein wenig auf dem Stuhle und schüttelte leise das Haupt.

—— Sie nahmen sich diese Heirath aus freiem Willen vor, fuhr der Hauptmann fort mit dem verstohlenen Blick und der unsicheren Stimme eines Mannes, der plötzlich keinen Boden mehr unter den Füßen fühlt. Es war Ihr eigener Gedanke, nicht meiner. Ich möchte die Verantwortung nicht auf meinen Achseln haben, nein! nicht für zweimal zweihundert Pfund. Wenn Ihr Entschluß wankend wird, wenn Sie es für gerathener halten ....

Er hielt inne. Ihr Gesicht wechselte die Farbe, ihre Lippen bewegten sich endlich. Sie erhob langsam ihre linke Hand, die Finger ausgebreitet, sie sah darauf, als ob sie ihr fremd wären, sie zählte daran die Tage ab, die Tage bis zur Hochzeit ....

—— Freitag —— eins, flüsterte sie vor sich hin; Sonnabend —— zwei, Sonntag —— drei, Montag....

Die Hände sanken ihr in den Schooß, ihr Gesicht wurde wieder hart und starr. Noch einmal faßte gräßliche Furcht sie lähmend. an, und die nächsten Worte erstarben ihr im Munde.

Hauptmann Wragge nahm sein Taschentuch heraus und wischte sich die Stirn ab.

—— Der Teufel mag die zweihundert Pfund holen! sagte er für sich. Zweihundert Pfund werden mir nicht diese Qual bezahlen!

Er ging wieder an den Schreibtisch, nahm die Umschläge, welche er an sich selbst überschrieben hatte, aus der Tasche und kehrte an den Stuhl zurück, auf welchem sie saß, diese Umschläge in der Hand.

—— Ermannen Sie sich, sagte er. Ich habe Ihnen ein letztes Wort zu sagen. Können Sie es hören?

Sie kämpfte mit sich und ermannte sich, ein schwacher Anflug von Röthe stieg in ihren Wangen aus, sie nickte mit dem Kopfe.

—— Sehen Sie diese an, fuhr Hauptmann Wragge fort, indem er die Umschläge in die Höhe hielt. Wenn ich diese zu dem Gebrauche anwende, zu dem ich sie beschrieben habe, so wird Mrs. Lecounts Herr den Brief von Mrs. Lecount nimmermehr empfangen. Wenn ich sie zerreiße, so wird er mit der morgenden Post wissen, daß Sie das Weib sind, welches ihn auf der Vauxhallpromenade besucht hat. Sprechen Sie das Wort aus! Soll ich die Umschläge zerreißen, oder soll ich sie wieder in meine Tasche stecken?

Es folgte ein. Pause tiefsten Schweigens. Das Murmeln der Sommerfluth auf den Gesteinen des Ufers, und die Stimmen der Sommergäste auf der Promenade drangen durch das offene Fenster herein und erfüllten die leere Stille des Zimmers.

Sie richtete das Haupt empor, erhob die Hand und zeigte steif und starr nach den Umschlägen hin.

—— Stecken Sie sie ein, sprach sie.

—— Ist das Ihr Ernst? frug er.

—— Mein vollkommener Ernst.

Als sie diese Antwort gab, ließ sich das Geräusch heranrollender Räder auf der Straße draußen vernehmen.

—— Hören Sie diese Räder? sprach Hauptmann Wragge.

—— Ich höre sie.

—— Sehen Sie die Kutsche? sagte der Hauptmann und zeigte durchs Fenster, als die Kutsche, die er vom Gastwirth bestellt hatte, vor dem Gartenthor Vorfuhr.

—— Ich sehe sie.

—— Und aus freiem, eignen Willen sagen Sie mir, ich solle gehen?

—— Ja. Gehen Sie!

Ohne ein Wort weiter verließ er sie. Das Dienstmädchen wartete an der Thür mit seiner Reisetasche.

—— Miss Bygrave ist nicht wohl, sagte er. Sage Deiner Herrin, daß sie zu ihr ins Wohnzimmer gehe.

Er ging und setzte sich in den Gig und fuhr nach der ersten Station der Reise nach St. Crux. ——



Kapiteltrenner

Zwölftes Capitel.

Gegen drei Uhr Nachmittags hielt der Hauptmann an der nächsten Station vor Offory an, wo die Eisenbahn durch Essex vorbeigeht. Nachfragen, die er auf der Stelle veranlaßte, bekehrten ihn, daß er nach St. Crux zu Wagenfahren, dort eine Viertelstunde bleiben und nach der Station rechtzeitig zum Abendzug nach London zurückkehren konnte. Zehn Minuten später war der Hauptmann wieder auf der Landstraße und fuhr eilig in der Richtung nach der Küste zu.

Nachdem er einige (englische) Meilen auf der Straße zurückgelegt hatte, machte die Kutsche eine Wendung und fuhr in ein verwickeltes Netzwerk von Kreuzwegen hinein.

—— Sind wir noch weit von St. Crux? fragte der Hauptmann ungeduldig, nachdem Meile auf Meile zurückgelegt war, ohne daß sich das Ende der Reise absehen ließ.

—— Sie werden das Haus bei der nächsten Wendung der Straße sehen, Sir, sagte der Kutscher.

Die nächste Wendung der Straße brachte sie wieder in Sicht des offenen freien Feldes. Gerade vor dem Wagen sah Hauptmann Wragge eine lange dunkle Linie gegen den Himmel, die Linie des Seedammes, welcher die untere Küste von Essex vor Ueberschwemmung schützt. Das flache Zwischenland war von einem Wirrsal von zeitweiligen Bächen durchschnitten, welche sich von der unsichtbaren See her in wunderlichen phantastischen Wendungen und Sprüngen landeinwärts zogen, Flüsse bei Hochwasser, Schmutzcanäle bei niederem Wasserstande. Zu seiner Rechten lag ein nettes kleines Dorf, zumeist aus Holzhäusern bestehend und sich an den Rand eines jener Rinnsale erstreckend. Zu seiner Linken weiter hin erhoben sich die düsteren Ruinen einer Abtei mit einem langen niederen trostlosen Pfeiler von ungeheurer Höhe und großem Alter, der sich daran lehnte. Eins der Flüßchen, —— welche man beiläufig in Essex »Hinterwasser« [backwaters.] nennt, schlängelte sich fast rings um das Gebäude herum. Ein anderes, das von der entgegengesetzten Seite kam, schien geradewegs durch das Feld zu laufen und einen Flügel der gestaltlosen Masse des Gebäudes, welcher leidlich ausgebessert war, von dem andern, der eigentlich beinahe eine Ruine war, abzutrennen. Holzbrücken und Ziegelsteinbrücken liefen über den Fluß und machten das Gebäude von allen Gegenden des Compasses aus zugänglich. In der Nachbarschaft ließ sich keine menschliche Seele sehen, und man hörte keinen Ton außer dem rauhen Gebell des Haushundes aus einem unsichtbaren Hofe herausschallen.

—— An welcher Thür soll ich Vorfahren, Sir, fragte der Kutscher, an der vorderen oder an der Hinterthür?

—— An der Hinterthür, sagte Hauptmann Wragge, welcher fühlte, daß, je weniger er Aufmerksamkeit in seiner gegenwärtigen Lage auf sich zöge, desto besser es für selbige sein werde.

Die Kutsche ging zwei Mal über den Fluß, ehe der Kutscher auf dem Felde in eine traurige Steinumfassung einlenken konnte. An einer offenen Thür des bewohnten Theiles des Gebäudes saß ein verwitterter alter Diener, welcher sich emsig mit einem halbfertigen Schiffsmodell zu schaffen machte. Er stand aus und trat an den Kutschenschlag, indem er seine Brille auf die Stirn hinaufschob und erstaunt aussah über die Erscheinung eines Fremden.

— Wohnt Mr. Noël Vanstone hier? frug Hauptmann Wragge.

—— Ja, Sir, antwortete, der alte Mann. Mr. Noël kam gestern an.

—— Nehmen Sie doch diese Karte für Mr. Vanstone, wenn Sie so gut sein wollen, sagte der Hauptmann, und sagen Sie ihm, ich wartete darauf, ihn zu sehen.

In wenigen Minuten kam denn auch Mr. Noël Vanstone athemlos und mit Spannung in seinen Zügen zum Vorschein, von Begierde, Nachrichten aus Aldborough zu hören, verzehrt. Hauptmann Wragge öffnete den Wagenschlag, ergriff ihn bei der ausgestreckten Hand und zog ihn ohne Umstände zu sich in die Kutsche.

—— Ihre Haushälterin ist fort, flüsterte der Hauptmann, und Sie werden Montag getraut werden. Regen Sie sich nicht auf und sprechen Sie Ihre Gefühle nicht aus, es ist keine Zeit dazu. Nehmen Sie den ersten Dienstboten im Hause, der Ihnen in den Weg kommt, her und lassen Sie sich Ihr Gepäck in zehn Minuten packen, sagen Sie dem Admiral Lebewohl und, kommen Sie sofort mit mir zurück zum Londoner Zuge.

Mr. Noël Vanstone versuchte schwach eine Frage zu thun. Der Hauptmann weigerte sich sie anzuhören.

—— Sprechen Sie auf der Landstraße, soviel Sie wollen, sagte er, die Zeit ist viel zu kostbar, um sie mit Sprechen zu vergeuden. Oder können wir wissen, ob nicht die Lecount sich die Sache anders überlegt? Können wir wissen, ob sie nicht zurückkommt, ehe sie nach Zürich gelangt?

Diese beunruhigende Erwägung schreckte Mr. Noël Vanstone in augenblicklichen Gehorsam hinein.

—— Was soll ich aber zum Admiral sagen? fragte er in bitterlicher Verlegenheit.

—— Sagen Sie ihm, Sie sollten eben vermählt werden, natürlich! Was verschlägt es, jetzt, wo die Lecount den Rücken gewandt hat? Wenn er sich wundert, daß Sie es ihm nicht eher gesagt haben, so erklären Sie ihm, es sei eine Heirath mit Entführung, und die Braut warte Ihrer. Halt noch eins! Alle Briefe, welche in Ihrer Abwesenheit an Sie abgeschickt werden, werden natürlich hierher gerichtet? Geben Sie dem Admiral diese Couverts und sagen Sie ihm, daß er Ihre Briefe im Einschluß an meine Adresse schickt. Ich bin ein alter Kunde in dem Hotel, zu welchem wir gehen, und wenn wir das Haus gefüllt finden sollten, so wird der Wirth zuverlässig alle Briefe in Acht nehmen, welche meinen Namen tragen. Eine sichere Adresse in London für Ihre Correspondenz kann von der größten Wichtigkeit sein. Wie können wir wissen, ob nicht die Lecount auf ihrer Reise nach Zürich an Sie schreiben wird?

—— Was für einen Kopf haben Sie doch, rief Mr. Noël Vanstone, indem er begierig die Couverts an sich nahm, Sie denken auch an Alles!

Er verließ den Wagen in großer Erregung und eilte ins Haus zurück. Zehn Minuten darauf hatte ihn Hauptmann Wragge in sicherem Gewahrsam, und die Pferde setzten sich zur Rückfahrt in Bewegung.

Die Reisenden erreichten London denselben Abend noch bei guter Zeit und fanden in dem Hotel Unterkunft.

Wohl wissend, welch eine unruhige, neugierige Natur der Mann war, mit dem er zu thun hatte, hatte Hauptmann Wragge eine kleine Schwierigkeit in Bereitschaft gesetzt, wenn es galt, die Fragen zu beantworten, die Wir. Noël Vanstone auf dem Wege nach London an ihn richten würde. Zu seiner großen Freude nahm aber eine aufregende Entdeckung in seinem Hauswesen die ganze Aufmerksamkeit seines Reisegefährten gleich beim Beginne der Reise in Anspruch. Durch ein außerordentliches Versehen, hatte man am Vorabende der Hochzeit vergessen, Miss Bygrave eine Kammerjungfer zu besorgen! Mr. Noël Vanstone erklärte, daß er. die ganze Verantwortung auf sich nehmen wolle, diesen Mangel in der Anordnung auf seine Schultern zu laden. Er wolle Mr. Bygrave nicht behelligen, ihm Beistand zu leisten, er wolle, sobald sie an ihren Bestimmungsort kämen, sich mit der Wirthin des Hotels besprechen und die Candidatinnen für das offene Amt selbst prüfen und erwählen. Auf dem ganzen Wege nach London kam er immer und immer wieder auf diesen Gegenstand zurück, den ganzen Abend im Hotel war er alle Augenblicke im Zimmer der Wirthin, bis er sie füglich nöthigte, die Thür vor ihm zu verschließen. Bei jedem andern Punkte, der sich auf seine Hochzeit bezog, war er im Hintergrunde belassen worden, war genöthigt gewesen, in die Fußtapfen seines gescheidten Freundes zu treten: bei der Angelegenheit der Kammerjungfer forderte er endlich sein ihm zukommendes Recht, —— er folgte Niemand mehr —— er nahm die Zügel selber in die Hand!

Der Vormittag des nächsten Tages ward damit zugebracht, um Heirathsdispens zu erlangen. Die persönliche Auszeichnung, daß er die eidliche Erklärung abgeben mußte, nahm Mr. Noël Vanstone mit Eifer an und schwor nun in ganz gutem Glauben —— auf die vorher von dem Hauptmann erhaltene Mittheilung hin, —— daß die Dame das gesetzliche Alter habe. Als man sich die Urkunde verschafft hatte, kehrte der Bräutigam zurück, um die Charaktere und Eigenschaften der dienst suchenden Dienerinnen zu prüfen, welche die Wirthin in das Hotel beschieden hatte, während sich Hauptmann Wragge »um ein persönliches Geschäft abzumachen«, nach der Wohnung eines Freundes in einem entfernten Theile von London begab.

Der Freund des Hauptmanns war mit den Gesetzen vertraut, und das Geschäft des Hauptmanns war zwiefacher Natur. Sein erster Zweck war, sich über die gesetzlichen Folgen der bevorstehenden Trauung für die Zukunft des Eheherrn und seiner Gattin zu unterrichten. Sein zweiter Zweck war, gleich von vornherein Anstalt zu treffen, um alle Spuren des Aufenthaltsortes zu vertilgen, nach welchem er sich nunmehr begeben würde, sobald er Aldborough am Hochzeitstage verlassen würde. Als er seinen Zweck in beiderlei Hinsicht glücklich erreicht hatte, kehrte er in das Hotel zurück und fand Mr. Noël Vanstone, wie er seine beleidigte Würde in dem Wohnzimmer der Wirthin wahrte. Drei Kammerjungfern waren erschien um ihre Prüfung zu bestehen und hatten sich alle, als es auf die Lohnfrage kam, unverschämterweise rundweg geweigert, die Stelle anzunehmen. Eine vierte Bewerberin wurde den nächsten Tag erwartet, und Mr. Noël Vanstone weigerte sich auf das Bestimmteste, die Hauptstadt eher zu verlassen, bis sie erschienen war. Hauptmann Wragge bezeigte sein Mißvergnügen über den so für die Rückkehr nach Aldborough verursachten unnöthigen Verzug; dies machte aber keinen Eindruck. Mr. Noël Vanstone schüttelte seinen eigensinnigen kleinen Kopf und weigerte sich feierlich, seine Verantwortung auf die leichte Achsel zu nehmen.

Das erste Ereigniß, das am Sonnabend Morgen vorfiel, war die Ankunft von Mrs. Lecounts Brief an ihren Herrn als Einschluß in eins der Couverte, die der Hauptmann an sich selbst adressiert hatte. Er empfing ihn nach einer vorher getroffenen Verabredung mit dem Kellner in seinem Schlafzimmer, las ihn mit der gespanntesten Aufmerksamkeit und legte ihn dann sorgfältig in seine Brieftasche. Der Brief war unheilverkündend für die Zukunft, wenn die Haushälterin nach England zurückkehrte, und er war es Magdalenen schuldig, ihr, die sie die bedrohte Person war, die Warnung vor Gefahr selbst zu überantworten.

Später am Tage erschien die vierte Bewerberin um die Kammerjungferstelle, ein junges Frauenzimmer von geringen Aussichten und unterwürfigem Benehmen, —— wie die Wirthin bemerkte —— wie eine an Mißgeschick gewöhnte Person. Sie bestand die hochnothpeinliche Prüfung mit Erfolg und nahm den gebotenen Lohn ohne Murren an. Nachdem nun das Dienstverhältniß beiderseitig festgestellt war, traten neue Verzögerungen ein, von denen Wir. Noël Vanstone abermals die Ursache war. Er konnte sich nicht entschließen, ob er für den Trauring mehr als eine Guinea geben solle oder nicht, und vergeudete den Rest des Tages in einem Juwelenladen nach dem andern in so unseliger Weise, daß er und der Hauptmann und die Kammerjungfer, welche mit ihnen reiste, mit knapper Noth den letzten Zug, der am Abend von London abging, erreichen konnten.

Es war spät in der Nacht, als sie die Eisenbahn verließen, wo die nächste Station nach Aldborongh war. Hauptmann Wragge war wunderbarer Weise die ganze Fahrt über in Stillschweigen versunken gewesen. Sein Geist war beunruhigt. Er hatte Magdalenen unter sehr kritischen Umständen bei keiner geeigneten Person, um sie im Auge zu behalten, verlassen und war ganz in Unwissenheit über den Gang, den die Ereignisse in seiner Abwesenheit auf Nordsteinvilla genommen haben konnten.



Kapiteltrenner

Dreizehntes Capitel.

Der erste Umstand, der sich nach Hauptmann Wragges Abreise zu Aldborough ereignete, hatte die Bestimmung, in einer späteren Zeit zu ernsten Verwickelungen zu führen.

Sobald Mrs. Wragges Eheherr den Rücken gewendet hatte, empfing sie die Botschaft, welche er bei seiner Abreise durch das Dienstmädchen ihr sagen ließ. Sie eilte ins Wohnzimmer, verwirrt durch ihre stürmische Unterredung mit dem Hauptmann und reumüthig sich bewußt, daß sie Unrecht gethan hatte, aber ohne zu wissen, worin das Unrecht bestand. Wenn Magdalenens Geist nicht von, dem einem Gedanken der Heirath so ganz in Anspruch genommen worden wäre, wenn sie Sammlung genug besessen hätte, um auf Mrs. Wragges wirre Erzählung Dessen, was während ihrer Unterredung mit der Haushälterin vorgefallen, zu lauschen, so würde der Besuch der Mrs. Lecount in dem Garderobenzimmer früher oder später zur Sprache gekommen sein, und Magdalene hätte, obschon sie wohl nimmer die Wahrheit geahnt hätte, wenigstens die Warnung erhalten, daß irgend ein gefährliches Element verrätherisch in der Alpacarobe verborgen lauere. Wie die Dinge aber lagen, so erfolgte kein solcher Umstand auf Mrs. Wragges Erscheinen im Wohnzimmer, denn kein solcher Umstand war jetzt möglich.

Ereignisse, welche früher am Morgen eingetreten waren, Ereignisse, welche vor Tagen und Wochen schon vorgefallen waren, waren so vollständig aus Magdalenens Gedächtniß entschwunden, als wenn sie nie stattgefunden hätten. Das Schreckbild des herannahenden Montags, die unbarmherzige Gewißheit, welche bis auf Tag und Stunde fest bestimmt vorlag, machte alles Gefühl in ihr zu Stein und alles Denken in ihr zunichte. Mrs. Wragge machte drei Mal Versuche, um aus den Gegenstand des Besuchs der Haushälterin zu sprechen zu kommen. Das erste Mal hätte sie sich ebenso gut an den Wind wenden können oder an das Meer. Der weite Versuch schien beinahe etwas erfolgreicher zu sein. Magdalene seufzte, hörte einen Augenblick gleichgültig zu und verlor dann den Gegenstand.

—— Es thut Nichts, sagte sie. Das Ende ist doch gekommen, wie es kommen sollte. Ich bin nicht böse auf Sie. Sprechen Sie nicht weiter davon.

Später am Tage versuchte es Mrs. Wragge, weil sie nicht wußte, wovon sie sonst reden sollte, zum dritten Male.

Dies Mal wandte sich Magdalene ungeduldig nach ihr hin. Um Gottes Willen, machen Sie mir mit solchen Kleinigkeiten den Kopf nicht warm! Ich kann es nicht ertragen.

Mrs. Wragge schloß ihre Lippen auf der Stelle und kam nun nicht wieder auf die Sache zurück. Magdalene, welche zu allen anderen Zeiten freundlich mit ihr gewesen, hatte es ihr unwillig verboten. Der Hauptmann, ganz und gar in Unbekanntschaft mit dem Interesse, das Mrs. Lecount an den Geheimnissen des Kleiderschreins hatte, war niemals so nahe daran gewesen. Alle Kenntniß, die er aus dem verwirrten Verstande seiner Frau herausbekommen konnte, hatte er durch unmittelbare Fragen erhalten, welche er lediglich nach eignem Ermessen an sie stellte.

Er hatte ohne weitere Entschuldigungen auf klaren undeutlichen Antworten bestanden und, wie gewöhnlich, seinen Zweck erreicht. Seine Abreise am selben Morgen hatte ihm keine Zeit gelassen, die Frage noch ein Mal aufs Tapet zu bringen, selbst für den Fall, daß ihm seine Erbitterung gegen seine Frau ihm Dies verstattet hätte. Da hing denn also die Alpacarobe unbeachtet in der finsteren Ecke, der nicht beargwohnte, unbemerkte Mittelpunkt von Gefahren, die noch im Schooße der Zukunft lagen. ——

Gegen den Nachmittag faßte sich Mrs. Wragge ein Herz, um selbst einen Vorschlag zu machen, sie empfahl einen kleinen Gang ins Freie.

Magdalene setzte theilnahmlos ihren Hut auf, begleitete theilnahmlos ihre Gefährtin auf dem öffentlichen Spaziergange, bis sie zu dessen Nordende kamen. Hier war das Ufer einsam, und hier setzten sie sich denn nebeneinander auf die angeschwemmten Steine nieder. Es war ein heller fröhlicher Tag; Vergnügungsboote segelten auf dem ruhigen blauen Wasser; Aldborough machte heitere Ausflüge zu Land und zu Wasser. Mrs. Wragge gewann bei diesem Anblicke ihre Fröhlichkeit wieder und warf wie ein Kind Kieselsteinchen in die See. Von Zeit zu Zeit richtete sie; einen Verstohlenen Blick auf Magdalenen, sah jedoch in deren Benehmen kein Zeichen der Aufmunterung, in deren Antlitz keine Veränderung zur Gemüthlichkeit. Sie saß schweigend da auf dem Geröllabhange, die Ellenbogen aufs Knie gestützt, das Haupt aus die Hand gelehnt, hinausschauend über das Meern, hinausblickend mit unverrückter Aufmerksamkeit und doch mit Augen, die Nichts zu sehen schienen. Mrs. Wragge wurde der Kiesel überdrüssig und verlor auch die Lust nach den Vergnügungsbooten zu schauen. Ihr großer Kopf begann schwerfällig zu nicken, und sie schlummerte in der warmen schwülen Luft ein. Als sie erwachte, waren die Lustfahrer weit hinweg, ihre Segel waren nur noch weiße Pünktchen in der Entfernung. Die Schaar der Spaziergänger auf dem Ufer war dünner geworden, die Sonne war am Horizont gesunken, die blaue See war dunkler und schauerte von einem Windstoß zusammen. Die Veränderungen Von Luft und Erde und Meer zeigten den abnehmenden Tag an, überall waren Veränderungen, —— nur nicht dicht an ihrer Seite. Da saß Magdalene noch in derselben Stellung mit müden Augen, die noch immer über das Meer schauten und noch immer Nichts sahen.

—— Ach, sprechen Sie doch mit mir! sagte Mrs.Wragge.

Magdalene fuhr zusammen und sah zerstreut um sich.

—— Es ist spät, sprach sie fröstelnd von der sich erhebenden Brise, das erste Gefühl, dessen sie sich bewußt wurde. Kommen Sie nach Hause; Sie müssen Ihren Thee haben.

Und so wandelte sie schweigend heim.

—— Seien Sie nicht böse über mein Fragen, sagte Mrs. Wragge, als sie am Theetisch beisammen saßen. Sind Sie in Ihrer Seele betrübt, meine liebe Dame?

—— Ja, versetzte Magdalene. Geben Sie nicht Acht auf mich. Mein Kummer wird bald vorüber sein. Sie wartete geduldig, bis Mrs. Wragge mit ihrem Mahl zu Ende war, und ging dann wieder auf ihr Zimmer hinauf.

—— Montag, sprach sie, als sie an ihrem Putztisch saß. Es kann Etwas dazwischen kommen, ehe es Montag wird.

Ihre Finger irrten gegenstands- und zwecklos unter den Kämmen und Bürsten umher, unter den kleinen Flaschen und Kästchen, welche auf dem Tische standen. Sie setzte sie in Ordnung, bald auf diese, bald aus jene Weise und stieß sie dann plötzlich wieder in einen Haufen zusammen und von sich. Eine Minute etwa blieben ihre Hände müßig. Diese Pause verstrich, dann wurden sie wieder unruhig und zogen die beiden kleinen Fächer in dem Tische heraus und hinein in ihren Geschieben. Unter den kleinen Gegenständen, die sich darin befanden, war auch ein Gebetbuch, das ihr aus Combe-Raven gehört hatte und das sie mit ihren anderen Andenken aus der alten Zeit, wo sie und ihre Schwester von zu Hause Abschied genommen hatten, bewahrt hatte. Sie öffnete das Gebetbuch nach langem Zögern bei dem Trauungsformular, schloß es wieder, ehe sie noch eine Zeile gelesen, und stieß es eilends wieder in eines der Schubfächer hinein. Nachdem sie den Schlüssel in dem Schlosse herumgedreht hatte, stand sie auf und ging ans Fenster.

—— Die entsetzliche See! sprach sie, indem sie sich mit einem Schauder des Mißbehagens davon abwendete. Die einsame, traurige, entsetzliche See!

Sie ging zu dem Schubkästchen zurück und nahm das Gebetbuch zum zweiten Male heraus, öffnete es abermals beim Trauungsdienste halb und warf es wieder ungeduldig in das Fach zurück. Dies Mal nahm sie, als sie zugeschlossen hatte, den Schlüssel ab, ging damit ans offene Fenster und warf ihn heftig in den Garten hinab. Er fiel in ein Beet, das dicht mit Blumen bepflanzt war. Er war nicht mehr zu sehen: er war verloren. Das Gefühl, ihn verloren zu haben, schien ihr eine Erleichterung zu gewähren.

—— Etwas kann Freitag kommen, Etwas kann Sonnabend kommen, Etwas kann Sonntag kommen. Drei Tage noch!

Sie schloß die grünen Läden vor dem Fenster und zog die Vorhänge zu, um das Zimmer noch dunkler zu machen. Ihr Haupt wurde schwer, ihre Augen brannten. Sie warf sich auf ihr Bett mit einem plötzlichen Verlangen, die Zeit zu verschlafen.

Die Ruhe des Hauses unterstützte sie dabei, die Dunkelheit des Zimmers kam ihr zu Hilfe, die Betäubung ihres Geistes, in welche sie verfallen war, that ihre Wirkung auf ihre, Sinne: sie fiel in einen unruhigen Schlaf. Ihre unstäten Hände bewegten sich aller Augenblicke, ihr Haupt wandte sich von einer Seite zur andern auf dem Kissen, —— aber noch immer schlief sie. Alsbald kamen ihr ein, zwei Worte über die Lippen, Worte im Schlafe geflüstert, immer zusammenhängender werdend, immer deutlicher ausgesprochen, je länger der Schlaf andauerte, Worte, welche ihre Unruhe zu beschwichtigen und sie in immer tiefere Ruhe hinein zu lullen schienen. Sie lächelte, sie war in den glücklichen Gefilden des Traumgottes —— Franks Name entschlüpfte ihr.

—— Liebst Du mich, Frank? .. flüsterte sie. Ach, mein Liebling, sag es noch ein Mal, sag es noch ein Mal!...

Die Zeit verging, das Zimmer wurde dunkler, und noch schlummerte und träumte sie. Gegen Sonnenuntergang fuhr sie wieder im Bette auf, in einem Augenblicke wach, ohne daß ein Geräusch in oder außer dem Hause dazu Anlaß gegeben hätte. Die schwüle Dunkelheit des Zimmers flößte ihr Entsetzen ein. Sie eilte ans Fenster, stieß die Läden auf und lehnte sich weit hinaus in die Abendluft und das Abend dunkel. Ihre Augen verschlangen die alltäglichen Gegenstände auf dem Ufer, ihre Ohren schlürften das trauliche Murmeln des Meeres durstig ein. Nichts, das sie von den aufregenden Eindrücken befreien konnte, die ihre Träume hinterlassen hatten! Nicht mehr Dunkelheit, nicht mehr Ruhe! Der Schlaf, welcher zu Anderen wie eine Gnade von oben kam, war zu ihr mit Verrath gekommen. Der Schlaf hatte ihre Augen nur für die Zukunft verschlagen, um sie für die Vergangenheit zu öffnen.——

Sie ging wieder in das Wohnzimmer hinunter, es verlangte sie darnach zu plaudern, gleichviel wie nichtssagend, gleichviel, über welche Kleinigkeiten es sei. Das Zimmer war leer. Vielleicht war Mrs. Wragge an ihre Arbeit gegangen, —— vielleicht war sie auch müde zu Plaudern. Magdalene nahm ihren Hut vom Tische und ging aus. Die See, von welcher sie vor wenigen Stunden zurückgebebt war, sah jetzt freundlich aus. Wie lieblich war sie jetzt in ihrem kühlen Abendblau! Was für eine göttliche Freude in dem fröhlichen Wogengetümmel, das da empordrängte dem Lichte des Himmels entgegen!

Sie blickte hinaus, bis die Nacht hereinfiel und die Sterne blinkten. Die Nacht brachte sie zur Besinnung.

Allmählich erhielt ihr Geist das Gleichgewicht wieder, und sie schaute unerschrocken ihrem Schicksal ins Auge. —— Die eitle Hoffnung, daß ein Zufall das Ende vereiteln möchte, auf das sie aus eigenem, freiem Willen ohne Unterlaß hingearbeitet hatte mit Listen und Ränken, erblich und verließ sie, sich selbst auflösend in ihre eigene Schwäche. Sie kannte die wahre Wahl und sah ihr ins Angesicht. Auf der einen Seite war der beängstigende Abgrund der Hochzeit, auf der andern das Aufgeben ihres Vorhabens. War es zu spät, noch zu wählen zwischen dem Opfer ihrer selbst? Ja, zu spät. Es gab für sie keine Umkehr mehr. Die Zeit, welche kein Wunsch mehr abwenden konnte, die Zeit, welche kein Gebet zurückrufen konnte, hatte ihr Vorhaben eins gemacht mit ihr selbst: einstmals hatte sie es noch in der Hand, jetzt hatte dasselbe sie in der Hand. Je sehr sie zurückbebte, je härter sie rang, desto unbarmherziger trieb es sie an. Kein anderes Gefühl in ihr war stark genug, es in ihr zu meistern, sogar das Entsetzen nicht, das sie toll machte, das Entsetzen vor der Vermählung.

Gegen neun Uhr ging sie zurück in das Haus.

—— Wieder ausgegangen! sagte Mrs. Wragge, die ihr in der Thür begegnete. Kommen Sie herein und setzen Sie sich nieder, meine Liebe. Wie müde müssen Sie sein!

Magdalene lächelte und klopfte Mrs. Wragge freundlich auf die Schultern.

—— Sie vergessen, wie stark ich bin, sagte sie. Nichts rührt mich.

Sie zündete sich ihr Licht an und ging wieder hinauf in ihr Zimmer. Als sie zu der alten Stelle an ihrem Putztisch zurückkehrte, kam ihr die Hoffnung auf die drei Tage Aufschub, die eitle Hoffnung auf einen rettenden Zufall wieder in das Herz, dies Mal in einer faßbareren Gestalt, als sie bisher angenommen hatte.

—— Freitag, Sonnabend, Sonntag. Es kann ihm Etwas begegnen; es kann mir Etwas begegnen. Etwas Schlimmes, etwas Verhängnißvolles... Eines von uns kann sterben...

Ein plötzlicher Umschwung ging in ihr vor und zeigte sich auf ihrem Gesichte. Sie schauerte zusammen, obgleich kein Geräusch sich hören ließ, das sie erschreckte.

—— Eines von uns kann sterben. Ich kann das Eine sein...

Sie versank in tiefes Nachdenken, erhob sich nach einiger Zeit und rief dann, die Thür öffnend, Mrs. Wragge, damit sie hereinkäme und mit ihr spräche.

—— Sie hatten Recht, als Sie dachten, ich würde mich erschöpfen, sprach sie. Mein Spaziergang ist etwas zu anstrengend für mich gewesen. Ich fühle mich abgespannt, und ich will zu Bette gehen. Gute Nacht!

Sie küßte Mrs. Wragge und schloß wieder sanft die Thür.

Nach einigen Gängen im Zimmer auf und ab, öffnete sie plötzlich ihr Schreibzeug und begann an ihre Schwester zu schreiben. Der Brief wuchs und wuchs unter ihren Händen, sie füllte Bogen auf Bogen von Briefpapier. Ihr Herz war voll von ihrem Gegenstande, es war ihre eigene Geschichte, welche sie Nora schrieb. Sie vergoß keine Thränen; sie war gefaßt und ruhig in ihrem Schmerz. Ihre Feder glitt leicht dahin. Nachdem sie länger als zwei Stunden geschrieben hatte, brach sie ab, ehe noch der Brief zu Ende war. Es war keine Unterschrift darunter, es war ein leerer Raum, der zu einer andern Zeit ausgefüllt werden sollte. Nachdem sie das Schreibzeug bei Seite geschoben und die Briefbogen darin wohlverwahrt hatte, ging sie ans Fenster, um Luft zu schöpfen und stand dort und schaute hinaus.

Der Mond verschwand im Meere. Die Brise der früheren Stunden war vorüber. Ueber Land und Meer schwebte der Geist der Nacht in tiefer und erhabener Ruhe —— unheilbrütend.

Ihr Haupt sank auf ihren Busen, und all die Aussicht vor ihr verschwand mit dem schwindenden Monde. Sie sah keine See, keine Luft mehr. Der Versucher Tod war geschäftig in ihrem Herzen.... Der Versucher Tod; zeigte heimwärts, nach dem Grabe ihrer verstorbenen Eltern auf dem Friedhofe von Combe-Raven.

—— Neunzehn am letzten Geburtstage, dachte sie. Erst neunzehn!...

Sie begab sich vom Fenster weg, zögerte und sah dann wieder hinaus ins Freie.

—— Die schöne Nacht! sagte sie anmuthig. Ach, die schöne Nacht!...

Sie verließ das» Fenster und legte sich auf ihr Bett nieder. Der Schlaf, welcher ihr vorher verrätherisch genaht war, kam nun wie eine gute Schickung, kam tief und ohne Träume, das Bild ihres letzten Gedankens im Wachen: —— das Bild des Todes.

Früh am nächsten Morgen ging Mrs. Wragge in Magdalenens Zimmer und fand sie bereits aufgestanden. Sie saß vor dem Spiegel, indem sie mit dem Kamm langsam durch ihr Haar fuhr, nachdenklich und still.

—— Wie befinden Sie sich heute früh? frug Mrs. Wragge. Wieder ganz wohl?

—— Ja.

Nachdem sie diese bejahende Antwort gegeben, stockte sie, dachte ein Weilchen nach und widersprach sich plötzlich selbst.

—— Nein, sagte sie, doch nicht ganz wohl. Ich habe ein wenig Zahnweh.

Als sie ihre erste Antwort in diesen Worten berichtigte, gab sie ihrem Haar mit dem Kamme einen Strich, so daß es vorwärts fiel und ihr Gesicht verbarg.

Beim Frühstück war sie sehr schweigsam und genoß nichts weiter als eine Tasse Thee.

—— Lassen Sie mich in die Apotheke gehen und Etwas dagegen holen, sagte Mrs. Wragge

—— Nein, ich danke Ihnen.

—— O, lassen Sie mich doch gewähren!

—— Nein, sage ich!

Sie lehnte zum zweiten Mal scharf und unwillig ab. Wie gewöhnlich gab Mrs. Wragge nach und ließ ihr den Willen. Als das Frühstück vorüber war, stand sie auf und ging aus, ohne ein Wort zu sagen. Mrs. Wragge sah ihr aus dem Fenster nach und bemerkte, daß sie nach der Apotheke zu ging.

Als sie die Thür der Apotheke erreicht hatte, blieb sie plötzlich stehen, wartete, ehe sie hineinging, und sah durchs Fenster hinein, zögerte und ging ein Stückchen weiter, zögerte wieder und schlug die erste Wendung ein, welche an das Meeresufer zurückführte.

Ohne sich umzusehen, ohne darauf zu achten, welchen Platz sie wählte, setzte sie sich auf das Geröll. Die einzigen Wesen, die, wo sie sich jetzt befand, ihr nahe waren, waren ein Kindermädchen und zwei kleine Knaben. Der jüngste von den beiden hatte ein niedliches Schiff zum Spielen in der Hand. Nachdem der Knabe Magdalenen eine kleine Weile mit dem vollkommensten Ernst und unverwandt angesehen, ging er plötzlich zu Magdalenen heran und bahnte sich den Weg zur Bekanntschaft dadurch, daß er ruhig sein Schifflein in ihren Schooß legte.

—— Sieh mein Schiff an, sagte das Kind, indem es seine Händchen auf Magdalenens Kniee übereinander legte.

Sie war für gewöhnlich nicht sanft mit Kindern. In glücklicheren Tagen würde sie die Annäherung des Knaben nicht so aufgenommen haben, wie sie jetzt that. Die harte Verzweiflung in ihren Augen wich plötzlich daraus, ihre fest geschlossenen Lippen öffneten sich und zitterten. Sie drückte das Schiff wieder in die Hände des Kindes hinein und hob es auf ihren Schooß.

—— Willst Du mir einen Kuß geben? sprach sie leise.

Der Knabe schaute auf sein Schiff, als wenn er lieber das Schiff geküßt hätte.

Sie wiederholte die Frage beinahe flehentlich. Das Kind legte ihr sein Händchen an den Nacken und küßte sie.

—— Wenn ich Dein Schwesterchen wäre, würdest Du mich lieb haben?

All das Elend einer freundlosen Stellung, all das sonst zurückgedrängte Fühlen ihres Herzens ergoß sich in diesen Worten.

—— Würdest Du mich lieben? wiederholte sie, indem sie ihr Gesicht an der Brust des Kindes verbarg.

—— Ja, sagte der Kleine. Sieh nur mein Schiff.

Sie sah sein Schiff durch die Thränen an, die sich in ihren Augen sammelten.

—— Wie nennst Du es? frug sie, indem sie sich sogar zwingen mußte, sich zu eines Kindes Interessen herabzustimmen.

—— Ich nenne es Onkel Kirke’s Schiff, sagte der Knabe. Onkel Kirke ist fortgegangen.

Der Name erinnerte sie an Nichts aus ihrer Vergangenheit. Keine Erinnerungen außer denen aus alter Zeit lebten jetzt noch in ihr.

—— Fortgegangen? wiederholte sie zerstreut, indem sie sann, was sie zunächst mit ihrem kleinen Freunde sprechen sollte.

—— Ja, sprach der Knabe. Fort nach China.

Sogar von den Lippen eines Kindes berührte sie das Wort mit schneidendem Weh. Sie hob Kirkes kleinen Neffen vom Schooße und verließ augenblicklich das Ufer.

Als sie nach Hause zurückkehrte, erneuerte sich der Kampf der vergangenen Nacht in ihrem Geiste. Allein das wohlthätige Gefühl, das das Kind über sie gebracht hatte, die wiederauflebende Zärtlichkeit, welche sie empfunden, wie er auf ihrem Schooße saß, äußerten noch ihren Einfluß auf sie. Sie war sich einer aufdämmernden Hoffnung bewußt, welche sich ihrem Denken aufthat, als die kleinen unschuldigen Augen sich vor ihr aufthaten, als er auf dem Gestade zu ihr gesprungen kam. War es denn wirklich zu spät zur Umkehr? Noch einmal legte sie sich diese Frage vor und —— zum ersten Male fragte sie Das mit zweifelndem Gemüthe.

Sie eilte in ihr Zimmer hinauf mit einem aufkeimenden Mißtrauen gegen sich selbst, welches ihr zurief, zu handeln und nicht zu grübeln. Ohne so lange zu warten, bis sie ihren Shawl abgethan oder ihren Hut heruntergenommen hatte, öffnete sie ihr Schreibzeug und schrieb, so rasch nur die Feder über das Papier fliegen konnte, folgende Zeilen an Hauptmann Wragge.

Sie werden das Geld, das ich Ihnen versprach, im Einschluß finden. Mein Entschluß hat sich geändert. Das Entsetzen, ihn heirathen zu müssen, ist mehr, als ich ertragen kann. Ich habe Aldborough verlassen. Haben Sie Nachsicht mit meiner Schwäche und vergessen Sie mich.

Lassen Sie uns einander nie wieder begegnen.

Mit klopfendem Herzen, mit hastig zitternden Fingern zog sie ihr kleines, weißseidenes Täschchen aus dem Busen und nahm die Banknoten heraus, um sie in den Brief zu legen. Ihre Hand fuhr Ungestüm suchend umher, sie hatte fast ihr Tastgefühl verloren. Sie knitterte den ganzen Inhalt des Täschchens in einen Haufen Papiere zusammen und zog sie heftig heraus, die einen zerreißend, die andern aus ihrer Form bringend. Als sie dieselben vor sich auf den Tisch warf, war das Erste, was ihr in die Augen fiel, ihre eigene Handschrift. Sie sah näher darauf und sah die Worte, welche sie aus ihres seligen Vaters Briefe abgeschrieben hatte —— sah den Brief des Advocaten und dessen schreckliche Erklärung dazu an dem unteren Ende des Blattes ihr entgegenleuchten:

Mr. Vanstones Töchter sind Niemandes Kinder, und das Gesetz überläßt sie hilflos der Gnade ihres Oheims:

Ihr klopfendes Herz stockte, ihre zitternden Hände wurden eisig ruhig. Die ganze Vergangenheit stand vor ihr auf, ein einziger stummer überwältigender Vorwurf! Sie nahm die Zeilen, welche ihre Hand vor kaum einer Minute geschrieben hatte, in die Höhe und sah auf die Tinte, welche noch nicht einmal trocken war, mit gedankenloser Ungläubigkeit.

Die Farbe, welche sich auf ihren Wangen gezeigt hatte, erstarb darauf noch ein Mal. Die harte Verzweiflung schaute aus ihren thränenlosen Augen abermals heraus, kalt und blitzend. Sie legte die Banknoten sorgfältig wieder zusammen und steckte sie wieder in ihre Tasche. Sie drückte die Abschrift von ihres Vaters Brief an ihre Lippen und brachte sie wieder an ihren Platz, samt den Banknoten. Als das Täschchen wieder auf ihrem Busen war, wartete sie einen Augenblick, die Hände vor ihr Gesicht gedrückt, dann zerriß sie entschlossen die an Hauptmann Wragge gerichteten Zeilen. Ehe die Tinte noch trocken war, lag der Brief in tausend Fetzen auf dem Boden.

—— Nein! sprach sie, als ihr das letzte Stückchen des zerrissenen Papiers aus der Hand fiel, —— auf dem Wege, den ich gehe, ist keine Umkehr!

Sie stand gefaßt auf und verließ das Zimmer. Als sie die Treppe hinunterstieg, begegnete sie Mrs. Wragge, die heraufkam.

—— Schon wieder ausgehen, meine Liebe? frug Mrs. Wragge. Darf ich mit Ihnen gehen?

Magdalenens Geist war wo anders. Anstatt auf die Frage zu antworten, antwortete sie auf ihre eigenen Gedanken.

—— Tausende von Frauen heirathen nach Geld. Warum sollte ich nichts auch?

Die verlegene Verwirrung auf Mrs. Wragges Angesicht, wie sie diese Worte gesprochen hatte, ermunterte sie, sich wieder in der Gegenwart zu fühlen.

—— Meine arme, liebe Freundin! sprach sie, ich bringe Sie in Verlegenheit, nicht wahr? Achten Sie nicht darauf, was ich sage, —— alle Mädchen sprechen Unsinn, und ich bin nicht besser als die Uebrigen. Kommen Sie, ich will Ihnen einen Schmaus geben. Sie sollen sich ergötzen solange der Hauptmann fort ist. Wir wollen eine lange Spazierfahrt für uns machen. Setzen Sie ihre pfiffige Haube auf und kommen Sie mit mir nach dem Hotel. Ich will der Wirthin sagen, sie soll ein hübsches kaltes Mittagsessen in eine Schachtel packen. Sie sollen alle die Dinge haben, die Sie gern essen —— und ich will Ihnen vorlegen. Wenn Sie eine alte, alte Frau sein werden, so werden Sie freundlich an mich zurückdenken, nicht wahr? Sie werden sagen: »Sie war kein übles Mädchen, Hunderte waren schlimmer als sie und lebten und waren glücklich, und kein Mensch wirft einen Stein auf sie«. Da, da, gehen Sie und setzen Sie Ihre Haube auf..... Ach, mein Gott, was wird aus meinem Herzen! Wie es lebt und immer noch lebt, wo andere Mädchenherzen schon längst aufgehört hätten zu schlagen!

Eine halbe Stunde später saßen sie und Mrs. Wragge zusammen im Wagen. Eins von den Pferden zog beim Abfahren nicht an.

—— Geben Sie ihm Eins mit der Peitsche, rief sie zornig dem Kutscher zu. Worüber erschrecken Sie! Geben Sie ihm die Peitsche! —— Wenn nun der Wagen umstürzte, sprach sie, plötzlich zu ihrer Gesellschafterin gewandt, und wenn ich nun herausgeworfen und auf der Stelle todt wäre? Unsinn, sehen Sie mich nicht so an. Ich bin wie Ihr Mann; ich habe eine Anwandlung von Humor, und ich mache nur Scherz.

Sie waren den ganzen Tag weg. Als sie wieder heimkamen, war die Nacht schon hereingebrochen. Die langen in der frischen Luft zugebrachten Stunden hinterließen bei Beiden das Gefühl der Müdigkeit. Auch in dieser Nacht schlief Magdalene den tiefen traumlosen Schlaf der Nacht zuvor. Und so ging der Freitag zu Ende.

Ihr letzter Gedanke in der Nacht war derjenige gewesen, der sie den ganzen Tag aufrecht erhalten hatte. Sie legte ihr Haupt auf das Kissen nieder mit derselben Entschlossenheit, sich der nahen Prüfung zu unterwerfen, die sich bereits in Worten ausgesprochen hatte, als sie und Mrs. Wragge sich zufällig auf der Treppe begegneten. Als sie am Sonnabend Morgen aufwachte, war ihre Entschlossenheit wieder verschwunden. Die Freitagsgedanken, —— sogar die Freitagsereignisse waren aus ihrem Gedächtnisse ausgelöscht. Abermals rieselte es ihr trotz ihrer Jugend kalt durch die Adern, sie fühlte wieder das tödtliche Heranrücken der Verzweiflung, die in dem schwindenden Mondenscheine ihr nahegetreten war und die ihr in der erhabenen Stille ins Ohr geflüstert hatte.

—— Ich sah das Ende, wie es kommen mußte, sprach sie zu sich selbst, in der Donnerstagsnacht. Ich bin seitdem immer auf dem falschen Wege gewesen.

Als sie und ihre Gesellschafterin an diesem Morgen zusammenkamen, erneuerte sie ihre Klage wegen des Zahnwehs, sie lehnte das Erbieten der Mrs. Wragge, Arznei zu holen, abermals ab und verließ das Haus nach dem Frühstück wieder in der Richtung nach der Apotheke, wie sie den Morgen zuvor gethan hatte.

Dies Mal trat sie in den Laden, ohne einen Augenblick zu zögern.

—— Ich habe einen Anfall von Zahnweh, sprach sie abgerissen zu einem ältlichen Manne, der hinter dem Ladentische stand.

—— Darf ich Ihren Zahn besehen, Miss?

—— Es ist nicht nöthig, ihn zu besehen. es ist ein hohler Zahn. Ich denke ich habe es von Erkältung.

Der Apotheker empfahl verschiedene Mittel, wie sie seit fünfzehn Jahren in Aufnahme wären. Sie mochte aber keins davon kaufen.

—— Ich habe immer gefunden, daß Opium den Schmerz besser hebt, als irgend etwas Anderes, sagte sie, indem sie mit den Flaschen auf dem Ladentische spielte und dieselben ansah, während sie sprach, anstatt den Apotheker anzublicken. Geben Sie mir etwas Opium.

—— Ganz wohl, Miss. Erlauben Sie mir aber eine Frage, es ist nur der Form wegen. Sie wohnen in Aldborough, nicht wahr?

—— Ja. Ich bin Miss Bygrave von Nordsteinvilla.

Der Apotheker verbeugte sich, wandte sich sofort zu seinen Schränken und füllte ein gewöhnliches Halbunzenfläschchen mit Opium. Indem der Besitzer des Ladens den Namen und die Wohnung des Kunden vorher erfragte, erfüllte er eine Vorsichtsmaßregel, welche bei dem Stande der Gesetzgebung zu damaliger Zeit keineswegs unter solchen Umständen allgemein war.

—— Soll ich Ihnen etwas Watte auf das Opium legen? frug er, nachdem er ein Zettelchen an die Flasche befestigt und in großen Buchstaben ein Wort darauf geschrieben hatte.

—— Wenn Sie so gut sein wollen, ja. Was haben Sie auf die Flasche geschrieben?

Sie stellte die Frage in scharfem Tone mit eben soviel Mißtrauen als Neugier in ihrer Art und Weise.

Der Apotheker beantwortete die Frage, indem er einfach den Papierstreifen nach ihr zu drehte. Sie las darauf m großen Buchstaben geschrieben: Gift.

——Ich gehe gern sicher, sprach der alte Mann lächelnd. Sonst sehr ehrenwerthe Leute sind oft unselig nachlässig, wo es sich um Gifte handelt.

Sie begann wieder mit den Flaschen auf dem Ladentische zu spielen und stellte mit schlecht verhohlener Spannung eine andere Frage.

—— Ist bei so einem kleinen Tropfen Opium, fragte sie, von Gefahr die Rede?

—— Es ist genug, um den Tod hervorzubringen, Miss, versetzte der Apotheker ruhig.

—— Bei einem Kinde oder bei einer Person von schwacher Gesundheit?

—— Tod bei dem stärksten Manne in England, wer es auch sein möge.

Mit diesen Worten siegelte der Apotheker das Fläschchen in seine Hülle von weißem Papier und reichte das Opium, Magdalenen über den Ladentisch hinüber. Sie lachte, als sie es von ihm in Empfang nahm, und bezahlte es.

—— Es wird auf Nordsteinvilla keine Gefahr zu fürchten sein, sprach sie. Ich werde das Fläschchen in meinem Putztische verschlossen halten. Wenn es den Schmerz nicht hebt, so muß ich wieder zu Ihnen kommen und es mit einem andern Mittel versuchen. Guten Morgen.

—— Guten Morgen, Miss.

Sie ging geradewegs nach Hause, ohne einmal auf zusehen, ohne zu bemerken, ob Jemand und wer neben ihr ging. Sie streifte in der Flur an Mrs. Wragge vorbei, als ob sie an einem Stück Möbel vorbei gestreift wäre. Sie ging die Treppe hinaus und verfing ihren Fuß zwei Mal in ihren Kleidern wegen ihrer Unachtsamkeit auf die gewöhnliche Vorsicht, sie in die Höhe zu nehmen. Die alltäglichen Interessen und Sorgen des Lebens hatten bereits ihre Macht auf sie verloren.

In der Stille ihres Zimmers nahm sie das Fläschchen aus seiner Hülle und warf das Papier und die Watte ins Kamin. In dem Augenblicke, als sie Das that, geschah ein Klopfen an die Thür. Sie versteckte die kleine Phiole und schloß ungeduldig auf. Mrs. Wragge kam ins Zimmer.

—— Haben Sie Etwas für Ihr Zahnweh, meine Liebe?

Ja.

—— Kann ich Ihnen irgendwo zur Hand sein?

—— Nein.

Mrs. Wragge zögerte noch unruhig an der Thür, Ihr Benehmen verrieth deutlich, daß sie noch Etwas auf dem Herzen hatte.

—— Was gibt es? frug Magdalene mit scharfem Tone.

—— Seien Sie nicht Böse, sprach Mrs. Wragge. Ich bin in meinen Gedanken noch nicht ruhig über den Hauptmann. Er ist ein fleißiger Briefschreiber —— und doch hat er noch nicht geschrieben Er ist schnell wie der Blitz, —— und doch ist er noch nicht zurück. Heute ist Sonnabend, und noch kein Zeichen von ihm. Ist er auf und davon gegangen, was meinen Sie? Ist ihm Etwas begegnet?

—— Ich glaube es nicht. Gehen Sie wieder hinunter; ich will sogleich kommen und mit Ihnen davon sprechen.——

Sobald Magdalene wieder allein war, stand sie von ihrem Stuhle auf, ging auf einen Schrank im Zimmer zu, der verschlossen war und hielt einen Augenblick zögernd inne, die Hand am Schlüssel. Mrs Wragges Erscheinen hatte ihren ganzen Gedankengang in Verwirrung gebracht. Mrs. Wragges letzte Frage, so nichtssagend sie auch war, hatte sie am Rande des Abgrundes stutzig gemacht, hatte die alte schwache Hoffnung auf Erlösung durch einen Zufall aufs Neue in ihr rege gemacht.

—— Und warum nicht? sprach sie. Warum sollte Einem von ihnen nicht Etwas zugestoßen sein können?

Sie stellte das Opium in den Schrank, verschloß diesen und steckte den Schlüssel in ihre Tasche.

—— Noch Zeit genug bis Montag, dachte sie, —— ich will warten, bis der Hauptmann zurückkommt.

Nach einigem Hin- und Herreden im unteren Zimmer wurde ausgemacht, daß das Dienstmädchen die Nacht aufbleiben und, bis ihr Herr zurückkehrt, warten sollte. Der Tag verging ruhig ohne Ereignisse irgendwelcher Art. Magdalene träumte die Stunden hinweg, indem sie in einem Buche las. Die Geduld des Harrens und Wartens war über sie gekommen, die stechende Qual des Grübelns war endlich der Betäubung und Abstumpfung gewichen. Sie brachte den Tag und den Abend im Wohnzimmers hin, mit einem unbestimmten Gefühl, das sie warnte, in ihr eigenes Zimmer zu gehen. Als die Nacht herankam, als das Geräusch draußen und im Hause aufhörte, begann ihre Unruhe aufs Neue. Sie versuchte, sich durch Lesen zu zerstreuen. Allein die Bücher vermochten nicht ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. Die Zeitung lag in einer Ecke des Zimmers; sie versuchte es nun mit der Zeitung.

Sie blickte zerstreut auf die Ueberschriften der Artikel, sie blätterte ohne Aufmerksamkeit Seite auf Seite durch, bis ihre umherschweifenden Blicke auf die Schilderung einer Hinrichtung in einem entfernten Theile von England fielen und angezogen wurden. Es war Nichts in der Geschichte des Verbrechens, das sie irgendwie anging, und doch las sie dieselbe. Es war eine gewöhnliche, entsetzlich gewöhnliche Mordgeschichte —— die Ermordung einer Bauernmagd durch einen Knecht, der eifersüchtig auf sie war. Er war durch keinen außerordentlichen Beweis überführt worden, und man hatte ihn dann unter keinen außergewöhnlichen Umständen aufgeknüpft Er hatte sein Geständniß abgegeben, wie andere Verbrecher seiner Classe, als er sah, daß keine Hoffnung mehr für ihn war, und die Zeitung hatte dasselbe am Schlusse des Artikels in folgenden Worten veröffentlicht: [Authentisch, vgl. Allgem. Zeitung, 3. August 1862, Correspondenz ans London. W.]

Ich stand mich mit der Verstorbenen ungefähr ein Jahr lang gut. Ich sagte, ich würde sie heirathen, wenn ich erst Geld genug hätte. Sie sagte, ich hätte jetzt Geld genug. Wir hatten einen Streit. Sie weigerte sich, mit mir wieder auszugehen; sie wollte Nichts mehr von meinem Bier wissen, sie ließ sich mit meinem Kameraden, dem Knecht David Crouch, ein. Ich ging am Sonnabend zu ihr hin und sagte, ich wolle sie heirathen, sobald wir nur aufgeboten werden könnten —— wenn, sie Crouch aufgeben wollte.

Sie lachte mich aus. Sie drängte mich aus dem Waschhause hinaus, und die Anderen sahen, wie sie mich hinaussteckte. Ich war nicht mehr bei mir selber. Ich ging fort und setzte mich auf ein Thor, das Thor auf der Wiese, die sie »Pettits Stück« nennen. Ich dachte, ich müßte sie. erschießen. Ich ging und nahm meine Flinte her und lud sie. Ich ging wieder hinaus auf die Wiese. Ich hatte mir es fest vorgenommen, mit mir aufs Reine zu kommen. Ich dachte, ich könnte mein Glück versuchen, —— ich meine, das Schicksal fragen, ob ich sie todt machen sollte oder nicht —— indem ich die Pflugschar in die Luft würfe. Ich sagte zu mir, wenn sie flach fällt, so will ich ihr das Leben schenken, wenn sie aber mit der Spitze in die Erde fällt, so will ich sie todt machen. Ich schwang sie tüchtig herum und warf sie in die Höhe. Sie fiel mit der Spitze in die Erde. Da ging ich denn und schoß sie nieder. Es war ein schlechter Spaß, aber ich that es. Ich that es, weils, wie man zu sagen pflegt, Bestimmung war. Ich hoffe, der Herr wird Gnade mit mir haben. Ich wünsche, daß meine Mutter meine alten Kleider erhält. Ich habe Nichts mehr zusagen.

In den glücklicheren Tagen ihres Lebens würde Magdalene den Bericht von der Hinrichtung überschlagen haben samt dem gedruckten Geständnis das ihn begleitete; der Gegenstand würde sie nimmer angezogen haben. Jetzt aber las sie die entsetzliche Geschichte, las sie mit einem ihr selbst unerklärlichen Interesse. Ihre Aufmerksamkeit, welche über edlere und bessere Gegenstände hinweggegangen war, folgte jedem Satze in dem abscheulich unumwundenen Geständnisse des Mörders von Anfang bis zu Ende. Wenn der Mann oder das Frauenzimmer ihr bekannt gewesen wären, wenn der Ort irgend ein Interesse für sie gehabt hätte, so hätte sie der Erzählung nicht aufmerksamer folgen oder einen tieferen Eindruck auf ihr Gemüth davontragen können. Sie legte die Zeitung hin, verwundert über sich selbst, sie nahm sie noch einmal in die Hand und versuchte einen andern Theil ihres Inhalts zu lesen. Der Versuch war vergeblich, ihr Geist schweifte sogleich wieder ins Weite. Sie warf das Blatt weg und ging in den Garten hinaus. Der Abend, war dunkel, die Sterne waren nur einzeln und schwach zu sehen. Sie konnte nur den Kiesweg erkennen und auf ihm zwischen der Hausthür und dem Gartenthore auf- und abgehen.

Das Geständnis; in der Zeitung hatte sich ihrem Geiste auf schauerliche Weise eingeprägt. Wie sie ans dem Wege dahinschritt, that sich die schwarze Nacht über dem Meere auf und zeigte ihr den Mörder auf dem Felde, wie er die Pflugschar in die Lüfte schwang. —— Sie eilte schaudernd ins Haus zurück. Der Mörder folgte ihr ins Wohnzimmer —— Sie ergriff den Leuchter und ging auf ihr Zimmer hinauf. Das Wahngebild ihrer eigenen gestörten Phantasie folgte ihr bis zu dem-Orte, wo sie das Opium verborgen hatte —— und verschwand dort....

Es war Mitternacht, und noch gab es kein Zeichen von der Rückkehr des Hauptmanns.

Sie nahm aus dem Schreibzeuge den langen Brief, welchen sie an Nora geschrieben hatte und las ihn langsam durch. Der Brief beruhigte sie. Als sie die leer gelassene Stelle am Schlusse erblickte, wandte sie rasch um und begann von vorne wieder zu lesen.

Es schlug Eins an der Kirchthurmuhr, und noch ließ der Hauptmann sich nicht blicken.

Sie las den Brief zum zweiten Male; sie wandte dann verzweifelt und beharrlich abermals um und las ihn zum dritten Male. Als sie nun wieder an die letzte Seite gekommen war, blickte sie nach ihrer Uhr. Es war ein Viertel vor Zwei. Sie hatte gerade die Uhr in den Gürtel ihres Kleides zurückgesteckt, als weit aus der Ferne durch die Morgenstille das Geräusch rollender Räder an ihr Ohr drang.

Sie ließ den Brief fallen, und schlug die Hände im Schooße zusammen und lauschte. Das Geräusch kam näher und näher, rascher und rascher. Für alle Anderen ein alltägliches Geräusch, für sie die Posaune des jüngsten Gerichts. —— Es ging längs des Hauses hin, es fuhr noch eine Strecke weiter, es blieb halten. Sie hörte ein lautes Pochen, dann das Aufgehen eines Fensters, dann Stimmen, dann lange Stille, dann die Räder wieder, zurückkommend, dann das Oeffnen der Thüre unten und den Klang der Stimme des Hauptmanns auf der Flur.

Sie konnte es nicht länger ertragen. Sie öffnete ihre Thür ein klein wenig und rief ihn an.

Er eilte augenblicklich die Treppe herauf, erstaunt, sie noch auf zu finden. Sie sprach mit ihm durch die enge Spalte der Thür, indem sie sich selbst dahinter verbarg; denn sie fürchtete sich, ihm ihr Gesicht zu zeigen.

—— Ist Etwas schlecht gegangen? frug sie.

—— Beruhigen Sie sich, antwortete er. Nichts ist schlecht gegangen.

—— Kann binnen heute und Montag kein widriger Zufall eintreten?

—— Ich wüßte keinen; Die Vermählung ist bereits eine fertige Thatsache.

—— Eine Thatsache?

—— Gewiß.

—— Gute Nacht.

Sie reichte ihm die Hand durch die Thür. Er ergriff sie mit einiger Ueberraschung: es war in seiner Erinnerung nicht oft vorgekommen, daß sie ihm aus eigenem Antriebe ihre Hand gab.

—— Sie sind zu lange aufgeblieben, sagte er, als er den Druck ihrer kalten Finger fühlte. Ich fürchte, Sie werden eine schlechte Nacht haben, ich fürchte, Sie werden nicht schlafen.

Sie schloß leise die Thür.

—— Ich werde, sprach sie, eher schlafen, als Sie es denken.

Es war über zwei Uhr, als sie sich in ihr Zimmer einschloß. Ihr Stuhl stand an seinem gewöhnlichen Platze am Putztische Sie setzte sich einige Minuten gedankenvoll nieder, öffnete dann ihren Brief an Nora und wandte sich an den Schluß, wo die leere Stelle war. Die letzten Zeilen, die über dieser Stelle standen, lauteten folgendermaßen:

... Ich habe mein ganzes Herz vor Dir bloß gelegt, ich habe Dir Nichts verborgen. Es ist bis dahin gekommen. Das Ende, das ich herbeizuführen gesonnen habe ans Kosten meines edleren Selbst, muß ich erreichen oder sterben. Es ist eine Erbärmlichkeit, es ist eine Tollheit, —— nenne es, wie Du willst —— aber es ist so. Es liegen jetzt zwei Gänge vor mir, zwischen denen ich die Wahl habe. Wenn ich ihn heirathen soll, —— der Gang zur Kirche. Wenn meine Selbstentwürdignng zu schmachvoll ist, als daß ich sie vollbringen kann, —— der Gang ins Todtenbett.

Unter diesen letzten Satz schrieb sie folgende Zeilen:

Meine Wahl ist entschieden. Wenn es das grausame Gesetz Dir gestatten will, so leg mich zu Vater und Mutter auf den Kirchhof daheim. Leb wohl, meine Liebe! Bleib immerdar unschuldig, sei immer glücklich. Wenn Frank je nach mir fragt, so sage ihm, ich starb und vergab ihm. Gräme Dich nicht lange um mich, Nora, —— ich verdiene es nicht.

Sie siegelte den Brief zu und richtete ihn an ihre Schwester. Die Thränen sammelten sich in ihren Augen, als sie ihn auf den Tisch legte. Sie wartete, bis ihr Blick wieder klar war und nahm dann die Banknoten abermals aus dem kleinen Täschchen auf ihrem Busen. Nachdem sie dieselben in einen Bogen Briefpapier eingeschlagen hatte, schrieb sie des Hauptmann Wragge Namen auf den Umschlag und setzte noch folgende Worte darunter:

—— Schließen Sie die Thür meines Zimmers und lassen Sie mich, bis meine Schwester kommt. Das Geld, das ich Ihnen versprach, ist hierin. Sie haben keinen Vorwurf verdient, es ist meine Schuld und nur die meine. Wenn Sie sich meiner freundlich erinneren wollen, so seien Sie um meinetwillen gut gegen Ihre Frau.

Nachdem sie diesen Umschlag neben den Brief an Nora gelegt hatte, stand sie auf und sah sich im Zimmer um. Ein paar kleine Gegenstände waren darin nicht an ihrem Platze. Sie stellte sie in Ordnung und zog die Vorhänge auf beiden Seiten am Kopfende ihres Bettes. Ihr Anzug war der nächste Gegenstand ihrer genauen Betrachtung. Er war so fein und rein und wohlgeordnet, wie immer; Nichts an ihr in Verwirrung, außer ihr Haar. Einige Flechten waren auf der einen Seite ihres Kopfes locker geworden und herunter gefallen, sie legte sie sorgfältig mit Hilfe ihres Spiegels wieder an ihren Platz.

—— Wie bleich ich aussehe! dachte sie mit einem schwachen Lächeln. Werde ich noch bleicher aussehen, wenn sie mich früh finden?....

Sie ging gerade auf die Stelle los, wo das Opium verborgen war, und nahm es hervor. Das Fläschchen war so klein, daß es ganz gut in die hohle Hand ging. Sie ließ es eine Weile drin und stand in Betrachtungen davor.

—— Tod! sprach sie, in diesem Tropfen braunen Trankes —— Tod! Sowie diese Worte über ihre Lippen gekommen waren, erfaßte sie augenblicklich ein unaussprechliches Entsetzen. Sie ging unruhig durch das Zimmer, mit einer wahnsinnigen Verwirrung im Kopfe, mit einer erstickenden Angst im Herzen. Sie faßte nach dem Tische, um sich daran zu halten. Das schwache Geräusch von dem Fläschchen, als es leicht aus ihrer offenen Hand heraus fiel und an ein Porzellangeschirr auf dem Tische anrollte, drang ihr wie ein Dolchstich durchs Gehirn. Der Ton ihrer eigenen Stimme, herabgesenkt zu einem Flüstern, wie sie das eine Wort: Tod aussprach, drang in ihr Ohr wie Sturmesbrausen. Sie schleppte sich ans Bett und lehnte am Boden sitzend ihren Kopf darauf.

—— Ach, mein Leben, mein Leben! dachte sie, was ist denn mein Leben Werth, daß ich so daran hänge?

Es trat eine Pause ein, und sie fühlte darauf, daß ihre Kraft wiederkehrte. Sie erhob sich auf ihre Kniee und verbarg ihr Antlitz auf dem Bette. Sie versuchte zu beten, um Vergebung zu beten dafür; daß sie ihre letzte Zuflucht zum Tode nahm. Wahnwitzige Worte fielen von ihren Lippen, Worte, die wie Schmerzensrufe geklungen hätten, hätte sie dieselben nicht in den Betten erstickt. Sie sprang auf ihre Füße, Verzweiflung verlieh ihr jählings die Kräfte einer Wüthenden. In einem Augenblicke war sie am Tische zurück, in einem weiteren Augenblick war das Gift noch ein Mal in ihren Händen.

Sie nahm den Kork heraus und hob das Fläschchen an ihren Mund.

Bei der ersten kalten Berührung des Glases an ihre Lippen bäumte sich ihr starkes junges Leben in ihrem Blute auf und kämpfte mit der ganzen Wucht seiner Verzweiflung gegen den nahen Todesschrecken an. Jede Fiber der üppigen Lebenskraft, die ihr beiwohnte, erhob sich in Empörung gegen das Werk der Zerstörung, das ihr eigener Wille an ihrem eigenen Leben zu begehen im Begriffe stand. Sie hielt inne, zum zweiten Male hielt sie inne wider ihren Willen. Da stand sie in der herrlichen Blüthe ihrer Jugend und Vollkraft, da stand sie zitternd an der Grenzscheide des menschlichen Daseins, den Kuß des Erbfeindes alles Lebens dicht vor den Lippen, für sich die Natur, die treu ihrem geheiligten Anrecht bis zuletzt um ihre Erhaltung kämpfte!

Kein Wort kam über ihre Lippen. Ihre Wangen errötheten tief, ihr Athem flog in immer stärkeren Zügen. Mit dem Gift noch in ihrer Hand, mit dem Gefühl, daß sie im nächsten Augenblick ohnmächtig werden würde, bewegte sie sich nach dem Fenster hin und zog den Vorhang auf, der es bedeckte.

Der junge Tag war angebrochen. Die breite graue Morgendämmerung strömte über das ruhige östliche Meer zu ihr herein.

Sie sah die Wasser mächtig und still in der nebelverhüllten Meeresstille sich heben und wälzen, fühlte den frischen Hauch der Morgenluft kühl über ihr Antlitz fächeln. Ihre Kraft kam zurück, ihr Geist wurde heller. Beim Anblick der See erinnerte sich ihre Seele des nächtlichen Spaziergangs im Garten und des Schreckbildes, das ihre gestörte Phantasie auf den schwarzen Grund gemalt hatte. Sie sah im Geiste das Bild wieder, sah den Mörder die Pflugschar wieder in die Luft werfen und Leben oder Tod des Weibes, das ihn verlassen hatte, aus den Zufall des Fallens der Spitze setzen. Der schreckliche Wahn dieses Menschen wirkte ansteckend auf ihren Geist, so jählings wie der junge Tag vor ihren Augen angebrochen war. Die Hoffnung aus Erlösung von dem Schrecken ihres Zauderns, die sie darin erblickte, erhob die letzte Willenskraft, die sie in ihrer Verzweiflung noch in sich fand. Sie entschloß sich den Kampf zu endigen, indem sie Leben oder Tod auf die Entscheidung des Zufalls setzte....

Aber auf welchen Zufall?...

Das Meer zeigte ihn ihr. Nur undeutlich konnte sie durch das Dunkel des Nebels eine kleine Flottille von Küstenschiffen erblicken, die langsam auf das Haus zufahren, alle dieselbe Richtung mit der günstigen Strömung der Fluth verfolgend. In einer halben Stunde, vielleicht noch eher, mußte die Flotte an ihrem Fenster vorüberkommen. Die Zeiger ihrer Uhr wiesen auf Vier. Sie setzte sich dicht ans Fenster, mit ihrem Rücken gegen die Gegend, aus der die Schiffe gegen sie herantrieben, das Gift auf das Fensterbret gestellt, die Uhr auf ihrem Schooße liegend. Noch eine halbe Stunde beschloß sie zu warten und die Schiffe zu zählen, wenn sie herankämen. Wenn dies Mal eine gerade Zahl an ihr vorüberkäme, sobald das Zeichen gegeben, so sollte es ein Zeichen zum Leben sein. Wenn die ungerade Zahl herrschte, so sollte Tod das Ende sein.

Mit diesem letzten Entschlusse lehnte sie ihr Haupt an das Fenster und wartete auf das Vorüberziehen der Schiffe.

Das erste kam, hochragend, dunkel und nahe in dem Nebel, geräuschlos durch die schweigende See gleitend. Eine Pause —— und das zweite folgte mit dem dritten hinterdrein. Eine zweite Pause, länger und länger ausgesponnen —— und Nichts kam vorüber. Sie sah auf ihre Uhr. Zwölf Minuten und drei Schiffe... Drei...

Das vierte kam, langsamer als die übrigen, größer als die übrigen, weiter ab in dem Nebel als die übrigen. Die Pause folgte, abermals eine lange Pause dann zog das nächste Fahrzeug vorbei, das dunkelste und nächste von allen... fünf ... die nächste ungerade Zahl.

Sie sah wieder auf ihre Uhr neunzehn Minuten und fünf Schiffe... zwanzig Minuten... einundzwanzig zwei... drei... und kein sechstes Schiff... vierundzwanzig, und das sechste kam vorbei fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, siebenundzwanzig, achtundzwanzig und die nächste ungerade Zahl —— die unheilvolle Sieben —— zog langsam herauf.... Noch zwei Minuten bis zu Ende der halben Stunde... und sieben Schiffe....

Neunundzwanzig, und Nichts folgte im Kielwasser des siebenten Schiffes. Der Minutenzeiger der Uhr bewegte sich halbwegs zu dreißig und noch blieb die weiße schwellende See eine neblige leere Fläche. —— Ohne ihren Kopf vom Fenster zu drehen, nahm sie das Gift in die eine Hand und hob die Uhr in der andern. Wie die raschen Secunden einander abzählten, so rasch sahen ihre Augen von der Uhr aufs Meer, vom Meer auf die Uhr, sahen zum letzten Male aufs Meer —— und —— sahen das achte Schiff!

Leben, im letzten Augenblicke Leben!

Sie rührte sich nicht mehr, sie sprach nicht mehr. Der Tod der Gedanken und Gefühle schien bereits über sie gekommen zu sein. Sie stellte das Gift gedankenlos wieder auf das Bret des Fensters und sah wie im Traume dem Schiffe zu, wie es sanft seinen stillen Weg dahinzog, dahinzog, bis es dämmernd in dem Schatten verschwand —— dahinzog, bis es im Nebel verschwunden war.

Der Druck auf ihrem Geiste ließ nach, als der Bote des Lebens aus ihrem Gesichtskreise entschwunden war.

—— Vorsehung? flüsterte sie leise vor sich« hin, Vorsehung oder Zufall?

Ihre Augen schlossen sich, und ihr Haupt sank zurück. Als das Gefühl des Lebens ihr zurückkam, war die Morgensonne warm auf ihrem Angesichte, blickte der blaue Himmel auf sie nieder und war das Meer eine Fluth von Gold.

Sie sank auf ihre Kniee am Fenster und brach in Tränen aus.

. . . . . . . . . . . . . .

Gegen Mittag desselben Tages wurde der Hauptmann, als er unten wartete und keine Bewegung in Magdalenens Zimmer merkte, unruhig über das lange Schweigen. Er befahl, daß das Mädchen mit ihm hinausginge, und, indem er aus die Thür zeigte, sagte er ihr, daß sie sachte hineinsehen und nachsehen sollte, ob ihre Herrin erwacht sei.

as Mädchen trat ins Zimmer, blieb einen Augenblick darin und kam dann wieder heraus, indem es die Thür leise wieder zumachte.

—— Sie sieht schön aus, Sir, sagte das Mädchen; und sie schläft so ruhig, wie ein neugeborenes Kind.



Kapiteltrenner

Vierzehntes Capitel.

Der Morgen der Rückkehr ihres Gatten nach Nordsteinvilla war für immerdar denkwürdig in dem Familienkalender der Mrs. Wragge. Sie führte auf diese Gelegenheit die erste Anzeige zurück, die ihr von Magdalenens Verheirathung wurde.

Es war Mrs. Wragges irdisches Loos gewesen, ihr Leben in einem Zustande fortwährender Ueberraschungen hinzubringen. Indessen war sie noch nie in ein solches Staunen vor Ueberraschung versunken gewesen, als jetzt, wo der Hauptmann ihr trocken die Wahrheit sagte. Sie war so gescheidt gewesen, zu vermuthen, daß Mr. Noël Vanstone in das Haus käme als gern gesehener Liebhaber, und hatte gewisse Ausdrücke von Ungeduld, welche von Magdalenens Lippen gefallen waren, als schlechte Zeichen für den Erfolg seines Werbens angesehen. Doch ihr größter Scharfblick hatte sich nie zu einer Ahnung der bevorstehenden Vermählung verstiegen. Sie fiel von einem Erstaunen ins andere, als ihr Gemahl mit seiner Mitteilung fortfuhr. Eine Hochzeit in der Familie, den Tag vorher erst angemeldet! und diese Hochzeit die von Magdalenen! Und nicht ein einziges neues Kleid für Jemand fertig, die Braut mit eingerechnet! Und die orientalische Kaschmirrobe ganz unbrauchbar gerade bei der Gelegenheit, wo sie dieselbe zu ihrem größten Vortheil hätte tragen können! Mrs. Wragge sank zusammen gekrümmt in einen Stuhl nieder und schlug ihre der Ordnung entwöhnten Hände auf ihre ungeheuerlichen Kniee in gänzlicher Vergessenheit der Anwesenheit des Hauptmanns und des schrecklichen Auges des Hauptmanns, Es würde sie nicht in Verwunderung gesetzt haben, wenn sie weiter gehört hätte daß die Welt zu Ende ginge und daß das einzige sterbliche Wesen, das die Vorsehung bei dem gründlichen Aufräumen dieser irdischen Angelegenheiten vergessen hätte, sie selber sei!

Indem Hauptmann Wragge seiner Frau es überließ, sich mit eigener Hilfe von ihrem Erstaunen zu erholen, entfernte er sich, um Magdalenens Erscheinen in dem unteren Theile des Hauses abzuwarten. Es war nahe an ein Uhr, als das Geräusch von Schritten in dem Zimmer oben ihm anzeigte, daß sie wach und auf den Füßen sei. Er ließ noch einmal das Mädchen kommen, dessen Name, wie er erfahren, Louise war und schickte zum andern Male zu dessen Herrin hinauf.

Magdalene stand an ihrem Putztische, als ein schwaches Klopfen an der Thür sie jählings aufmerksam machte. Auf, das Klopfen folgte der Klang einer weichen Stimme, welche sich als die ihres Mädchens zu erkennen gab und frug, ob Miss Bygrave irgend eines Dienstes für den Morgen benöthigt sei.

—— Für jetzt nicht, sprach Magdalene, sobald sie sich von dem Erstaunen erholt hatte, sich unerwarteter Weise im Besitze einer Bedienung zu sehen, Ich will klingeln, wenn ich Sie brauche.

Als sie das Mädchen mit dieser Antwort entlassen, hatte, blickte sie zufällig von der Thür nach dem Fenster. Alle Betrachtungen betreffs der neuen Dienerin, welchen sie sich sonst hingegeben haben würde, wurden augenblicklich durch den Anblick des Fläschchens mit Opium unterbrochen, das noch auf dem Fensterbrete stand, wo sie es bei Sonnenaufgang gelassen hatte. Sie nahm es noch einmal in die Hand mit einem seltsam gemischten Gefühle, mit einem schwankenden Zweifel, ob der Anblick desselben sie an eine schreckliche Wirklichkeit oder an einen schrecklichen Traum erinnerte. Ihr erster Antrieb war, sich desselben auf der Stelle zu entledigen. Sie hob das Fläschchen, um den Inhalt aus dem Fenster zu gießen und hielt inne in plötzlichem Mißtrauen gegen den Antrieb, der ihr gekommen war.

——Ich habe mein neues Leben angenommen, dachte sie. Wie kann ich wissen, was dieses Leben für mich in Bereitschaft hat?

Sie wandte sich vom Fenster und ging an den Tisch zurück. Ich kann mich Vielleicht genöthigt sehen, es doch noch zu trinken, sprach sie und steckte das Opium in ihr Putzkästchen.

Ihr Geist war nicht beruhigt, als sie Dies gethan hatte, es schien irgendwelche unsagbare Undankbarkeit in dieser Handlung. Noch machte sie keinen Versuch, das Fläschchen aus seinem Versteck zu entfernen; Sie eilte an ihre Toilette, sie kürzte die Zeit ab, wo sie ihrem Mädchen klingeln und sich und ihre nächtlichen Gedanken vergessen konnte.

Nachdem sie die Klingel gezogen, nahm sie ihren Brief an Nora und ihren Brief an den Hauptmann und legte sie beide in ihr Putzkästchen zu dem Opium und verschloß es sicher mit dem Schlüssel, den sie an ihrer Uhrkette befestigt trug.

Magdalenens erster Eindruck von ihrer Dienerin war kein angenehmer. Sie konnte das Mädchen nicht mit dem erfahrenen Auge der Wirthin in dem Londoner Hotel prüfen, welche die Fremde als eine junge Person bezeichnete, die schon Viel mit Unglück zu thun gehabt und welche durch Blick und Auftreten deutlich gezeigt hätte, von welcher Art jenes Unglück vermuthlicher Weise gewesen wäre. Doch selbst bei diesem Mangel war Magdalene vollkommen urtheilsfähig, die Spuren von Krankheit und Kummer zu entdecken, welche gar nicht tief unter der Oberfläche des thätigen und höflichen Wesens des neuen Dienstmädchens verborgen lagen. Sie argwöhnte, das Mädchen sei mürrischer Art, sie konnte dessen Namen nicht leiden und war überhaupt wenig geneigt, einen Dienstboten willkommen zu heißen, welcher von Mr. Noël Vanstone in Dienst genommen war. Aber schon nach den ersten wenigen Minuten wuchs »Lonise« in ihrer Gunst. Sie beantwortete alle an sie gerichteten Fragen mit vollkommener Offenheit, sie schien ihre Obliegenheiten durchaus zu verstehen und sprach nicht eher, als bis sie angeredet wurde. Nachdem Magdalene alle die Fragen, welche ihr gerade eingefallen waren, gethan hatte, und nachdem sie sich entschlossen hatte, dem Mädchen die Probe leicht zu machen, stand sie auf und verließ das Zimmer. Die ganze Luft darin war ihr noch schwer unter dem Drucke der letzten Nacht.

—— Hast Du mir noch Etwas zu sagen? frug sie zu der Dienerin gewendet, die Hand auf dem Thürschlosse.

—— Ich bitte Sie um Entschuldigung, Miss, sagte Louise sehr höflich und sehr ruhig. Ich denke, daß mein, Herr mir sagte, daß die Trauung morgen stattfinden sollte?

Magdalene unterdrückte das Schaudern, das sie heimlich befiel bei dieser Erwähnung der Hochzeit im Munde einer fremden Person und antwortete bejahend.

—— Es ist nur kurze Zeit, Miss, um die Vorbereitungen zu treffen. Wenn Sie so gut sein wollten, mir meine Weisungen betreffs des Einpackens zu geben, bevor Sie hinunter gehen...?

—— Es sind keine solchen Vorbereitungen zu treffen, als Du vermuthest, sprach Magdalene hastig. Die wenigen Dinge, welche ich hier habe, können alle sogleich gepackt werden, wenns Dir beliebt. Ich werde morgen dasselbe Kleid tragen, das ich heute anhabe. Laß nur den Strohhut außen und den hellen Shawl, das Andere thue Alles in meine Koffer. Ich habe keine neuen Kleider einzupacken —— ich habe mir nichts Dergleichen für diese Gelegenheit bestellt.

Sie versuchte einige alltägliche Wendungen zur Erklärung vorzubringen, um den Ausfall der gewöhnlichen Ausstattung und des Brautkleides so wenig auffällig als möglich darzustellen. Allein sie brachte keine weitere Erwähnung der Hochzeit über ihre Lippen und verließ plötzlich ohne ein Wort weiter das Zimmer.

Die unterwürfige und schwermüthige Louise stand in Erstaunen versunken.

—— Da ist Etwas nicht in Ordnung hier, dachte sie bei sich. Meine neue Stelle kommt mir schon halb und halb unheimlich vor.

Sie seufzte mit Ergebung, schüttelte ihren Kopf und ging zum Kleiderschrank. Sie durchsuchte erst die Schubkasten darunter, nahm das verschiedene Leinenzeug, das darin lag, heraus und legte es auf Stühle. Indem sie dann den oberen Theil des Schrankes öffnete, breitete sie die Kleider darin neben einander aufs Bett aus. Ihr letztes Geschäft war, die leeren Koffer in die Mitte des Zimmers zu schieben und den Raum, den sie zur Verfügung hatte, mit den Kleidungsstücken zu vergleichen, die sie zu packen hatte. Sie machte ihre Voranschläge mit dem schnell fertigen Geschick einer Frau, welche durchaus ihren Dienst verstand, und begann sofort einzupacken. Eben als sie das erste Leinenzeug in den kleinen Koffer gelegt hatte, ging die Thür des Zimmers auf, und das Hausmädchen das gern Plaudern wollte, kam herein.

—— Was wünschen Sie? frug Louise ruhig.

—— Haben Sie je so Etwas gehört! sagte das Hausmädchen, indem es sofort auf ihren Gegenstand zu sprechen kam.

—— Wie was denn?

—— Wie diese Heirath natürlich. Sie sind ein Londoner Kind, sagt man mir. Haben Sie je von einer jungen Dame gehört, welche heirathet, ohne ein einziges neues Kleid auf dem Leibe zu haben? Kein Hochzeitsschleier und kein Hochzeitsmahl und keine Hochzeitstrinkgelder für die Dienerschaft! Es ist himmelschreiend, Das muß ich sagen. Ich bin nur ein armer Dienstbote, das weiß ich. Aber es ist ein Unrecht, ein schreiendes Unrecht, und mich schert es nicht, wer es hören mag!

Louise fuhr fort mit Einpacken.

—— Sehen Sie nur ihre Kleider an! redete das Hausmädchen weiter, indem es mit der Hand unwillig auf das Bett zeigte. Ich bin nur ein armes Mädchen, —— aber ich möchte den besten Mann von der Welt nicht haben, erhielt ich nicht zugleich ein nettes Kleid für mich. Sehen Sie her! nein, dies plumpe braune Stück hier! Alpaca! Sie werden doch nicht dies Alpacakleid einpacken, nicht wahr nicht? Es ist ja wahrlich kaum für ein Dienstmädchen gut genug! Schweiß nicht, ob ich es geschenkt nähme, wenn man mir es anböte. Es würde mir passen, wenn ich es unten einschlüge und in der Taille ausließe —— und es würde nicht schlecht aussehen mit ein wenig hellem Aufputz, nicht wahr?

—— Seien Sie so gut, lassen Sie das Kleid liegen, sprach Louise so ruhig, wie immer.

—— Was sagten Sie? rug die Andere, indem sie nicht recht wußte, ob sie ihren Ohren trauen durfte.

—— Ich sagte, lassen Sie das Kleid da liegen. Es gehört meiner Herrschaft, und ich habe Befehl von meiner Herrschaft, Alles im Zimmer einzupacken Sie helfen mir nicht dadurch, daß Sie bloß hereingekommen sind, —— Sie sind mir sehr im Wege.

—— Gut! sagte das Hausmädchen. Sie mögen ein Londoner Kind sein, wie man sagt. Aber wenn das Ihre Londoner Bildung ist, so lobe ich mir Suffolk!

Sie machte die Thür auf mit einem Zornigen Riß in die Klinke, schlug sie heftig zu, öffnete sie dann wieder und sah herein.

—— Und ich lobe mir Suffolk! sagte das Hausmädchen mit einem Kopfnicken zum Abschied, das die Spitze ihres Hohnes noch verschärfen sollte.

Louise fuhr mit ihrem Einpacken fort und ließ sich nicht stören.

Als sie das Leinenzeug sauber in dem kleineren Koffer untergebracht hatte, wandte sie sich dann zu den Kleidern. Erst sah sie dieselben sorgfältig der Reihe nach durch, ums herauszubekommen, welches das am wenigsten kostbare der Sammlung sei, um dies eine in der Reisetasche unten hinzulegen, damit die übrigen darauf zu liegen kämen, und traf dann ihre Wahl ohne die geringsten Schwierigkeiten. Das erste Kleid, das sie in den Koffer legte, war —— die braune Alpacarobe.

Mittlerweile hatte Magdalene den Hauptmann unten getroffen. Obgleich er unfehlbar die Ermüdung in ihren Zügen und die Langsamkeit in allen ihren Bewegungen bemerken mußte, war er doch froh, zu finden, daß sie ihm mit vollkommener Fassung entgegentrat. Sie war sogar stark genug, daß sie ihn mit keinem andern Zeichen von Aufregung, als ein vorübergehendes Wechseln der Farbe, ein kleines Zittern der Lippen, fragen konnte, wie es ihm auf der Reise ergangen.

—— Soviel über die Vergangenheit, sagte Hauptmann Wragge, als er mit seiner Erzählung von der Reise nach London über St. Crux zu Ende gekommen war. Jetzt aber zur Gegenwart. Der Bräutigam...

—— Wenn es Ihnen einerlei ist, unterbrach sie ihn, —— so nennen Sie ihn Mr. Noël Vanstone.

—— Mit dem größten Vergnügen. Mr. Noël Vanstone kommt diesen Nachmittag hierher, um bei uns zu speisen und den Abend zuzubringen. Er wird langweilig bis zum Ueberdruß sein, —— aber wie alle langweiligen Leute wird er um keinen Preis los zu werden sein. Ehe er kommt, habe ich ein paar Wörtchen zur Warnung mit Ihnen insgeheim zu sprechen. Morgen um diese Zeit werden wir fern von einander sein, ohne daß Eines von uns Beiden genau weiß, ob wir uns je wieder treffen werden. Es liegt mir daran, Ihren Interessen treulich bis zu Ende förderlich zu sein, —— es liegt mir daran, daß Sie bei unserm Abschied selber erkennen, wie ich für Ihre künftige Sicherheit Alles gethan habe, was in meinen Kräften stand.

Magdalene sah ihn mit Verwunderung an. Er sprach mit verändertem Tone. Er war aufgeregt, er meinte es wunderbar aufrichtig. Etwas in seinem Blick und Wesen führte sie im Geiste zurück zu dem ersten Abend zu Aldborough, wo sie ihm in der Stille des Abends ihr Herz, geöffnet hatte, —— wo sie Beide allein beisammen gesessen hatten auf der Halde des Wachthurmes.

—— Ich habe keinen Grund, anders als freundlich Ihrer zu gedenken, sprach sie.

Hauptmann Wragge verließ plötzlich seinen Stuhl und machte einen Gang in dem Zimmer hin und her. Magdalenens Worte schienen eine außerordentliche Verwirrung in ihm hervorgebracht zu haben.

—— Hols der Henker, brach er heraus, ich kanns nicht leiden, daß Sie so sprechen. Sie haben alle Ursache, schlecht von mir zu denken. Ich habe Sie betrogen. Sie bekamen von Anfang an nie Ihren reinen Gewinnantheil von der Dramatischen Unterhaltung. Da, nun ist der Mord heraus!

Magdalene lächelte und gab ihm ein Zeichen, daß er wieder zu seinem Stuhle zurückkehren.sollte.

—— Ich wußte, daß Sie mich betrogen, sprach sie ruhig. Sie waren eben in der Ausübung Ihres Berufs, Hauptmann Wragge. Ich sah das voraus, als ich Sie traf. Ich beklagte mich damals nicht darüber, und ich thue es auch jetzt nicht. Wenn das Geld, das Sie nahmen, eine Entschädigung ist für all die Noth, die ich Ihnen gemacht habe, so mögen Sie es von Herzen gern behalten.

—— Wollen Sie mir die Hand darauf geben? fragte der Hauptmann mit einer Ehrfurcht und einer Zurückhaltung, die ganz und gar mit seiner gewöhnlichen leichten Art und Weise im Widerspruche stand.

Magdalene gab ihm ihre Hand. Er drückte sie derb.

—— Sie sind ein wunderliches Mädchen, sprach er, indem er sich Mühe gab, einen leichten Ton anzuschlagen. Sie haben mirs dergestalt angethan, daß ich mich gar nicht darein finden kann. Ich bin halb untröstlich darüber, daß ich das Geld von Ihnen annahm, ja und doch —— nicht wahr, jetzt brauchen Sie es nicht?

Er zögerte.

—— Ich wünsche beinahe, sprach er, daß ich Ihnen nie auf den Wällen von York begegnet wäre.

—— Es ist zu spät, das zu wünschen, Hauptmann Wragge. Sagen Sie Nichts weiter. Sie betrüben mich nur, —— sagen Sie Nichts weiter. Wir haben über andere Dinge zu reden. Was waren das für Worte zur Warnung, die Sie mir insgeheim zu sagen hatten?

Der Hauptmann machte abermals einen Gang durchs Zimmer und kämpfte innerlich mit sich selber, um wieder in seinen gewöhnlichen Charakter hinein zu kommen. Er brachte aus seiner Brieftasche den Brief von Mrs. Lecount an ihren Herrn zum Vorschein und übergab ihn Magdalenen.

—— Da ist ein Brief, der uns zu Grunde gerichtet hätte, wenn er an seine Bestimmung gelangt wäre, sprach er, lesen Sie ihn genau durch. Ich habe Sie Etwas zu fragen, wenn Sie fertig sind.

Magdalene las den Brief.

—— Was ist das für ein Beweis, frug sie, auf den sich Mrs. Lecount so zuversichtlich bezieht?

—— Dieselbe Frage« möchte ich an Sie richten, sprach Hauptmann Wragge. Ziehen Sie Ihr Gedächtniß zu Rathe, was vorfiel, als Sie jenes Wagstück auf der Vauxhallpromenade aufführten. Hat Mrs. Lecount keinen andern Vortheil über Sie erlangt, als Sie mir schon angaben?

—— Sie entdeckte, daß mein Gesicht verstellt war, und hörte mich mit meiner eigenen Stimme sprechen.

—— Und weiter Nichts?

—— Weiter Nichts.

—— Sehr gut. Dann ist meine Auslegung des Briefes gewiß die richtige. Der Beweis, auf den sich Mrs. Lecount verläßt, ist meines Weibes verteufelte. Geistergeschichte, welche, geradeheraus gesagt, wieder die Geschichte von Miss Bygrave ist, die in Miss Vanstones Verkleidung gesehen wurde; der Zeuge ist dieselbe Person, die sich nachmals in Aldborough in der Rolle von Miss Bygraves Tante zeigte. Eine ausgezeichnete Aussicht für Mrs. Lecount, wenn sie nur zur rechten Zeit Mrs. Wragge habhaft werden kann —— und gar keine Aussicht, wenn sie das nicht kann. Beruhigen Sie Ihr Gemüth wegen dieses Punktes. Mrs. Wragge und meine Frau haben sich zum letzten Mal gesehen. Zugleich versäumen Sie aber die Warnung nicht, die ich Ihnen gab, indem ich Ihnen diesen Brief behändigte. Zerreißen Sie ihn, damit kein Unheil daraus entsteht, aber vergessen Sie ihn nicht.

—— Verlassen Sie sich darauf, ich werde seiner eingedenk sein, versetzte Magdalene, indem sie den Brief vernichtete, während sie sprach. Haben Sie mir noch mehr zu sagen?

—— Ich habe Ihnen noch Einiges mitzutheilen, sprach Hauptmann Wragge, was sich doch nützlich erweisen dürfte, da es sich auf Ihre künftige Sicherheit bezieht. Bedenken Sie wohl, ich will Nichts wissen von Ihren Schritten; sobald das Morgen vorüber ist: wir machten Das aus, als wir zuerst den Gegenstand besprachen. Ich thue keine Fragen und lege mich nicht aufs Errathen. Alles, was ich jetzt thun will, ist Sie von Ihrer gesetzlichen Stellung nach Ihrer Verheirathung in Kenntniß zu setzen und es Ihnen dann zu überlassen, von Ihrer Kenntniß den Gebrauch zu machen, wie Sie nach ganz eignem Ermessen für gut befinden. Ich holte das Gutachten eines Advocaten darüber ein, als ich in London war, weil ich dachte, es könnte von Nutzen für Sie sein.

—— Gewiß ist es von Nutzen. Was sagte der Advocat?

—— Um es kurz und gerade heraus zu sagen, es war Folgendes. Wenn Mr. Noël Vanstone jemals entdeckt, daß Sie ihn vorsätzlich unter einem falschen Namen geheirathet haben, so kann er sich an das geistliche Obergericht [The Ecclesiastical Court.] wenden, um seine Heirath für null und nichtig erklären zu lassen. Der Erfolg seines Antrags hängt von den Richtern ab. Wenn er aber beweisen kann, daß er absichtlich getäuscht worden ist, so würde die Auffassung des Gerichts diesen Fall als einen schweren betrachten und ahnden.

—— Wenn ich nun aber den Antrag stellte? sprach Magdalene eifrig. Was dann?

—— Sie können den Antrag stellen, versetzte der Hauptmann. Aber bedenken Sie das Eine, Sie würden vor das Gericht treten mit der Anerkenntniß Ihres eigenen Betrugs.

Ich überlasse es Ihnen, sich selbst zu sagen, was die Richter davon denken würden.

—— Sagte Ihnen der Advocat noch mehr?

—— Noch Eins außerdem, sprach Hauptmann Wragge. Was auch das Gesetz mit der Heirath bei Lebzeiten beider Parteien anfangen mag: beim Tode eines der Beiden würde kein Antrag, den der Ueberlebende stellen würde, eine rechtskräftige Wirkung erhalten und betreffs des Ueberlebenden die Ehe gültig bleiben. —— Verstehen Sie? Wenn er stirbt oder Sie sterben, und wenn kein Antrag beim Gericht gestellt worden ist, so würden der Ueberlebende, oder Sie als Ueberlebende keine Macht haben, die Ehe ungültig erklären zu lassen. Aber wenn bei Lebzeiten von Ihnen Beiden er die Ehe getrennt sehen will, so sind die Aussichten alle zu seinen Gunsten, so daß er den Proceß gewinnen wird.

Er blickte, als er diese Worte sprach mit einer heimlichen Neugier nach Magdalenen hin. Sie wandte den Kopf weg, indem sie ihre Uhrkette zerstreut in einen Knoten band und wieder auflöste und ersichtlich mit der gespanntesten Aufmerksamkeit über Alles nachdachte, was er zu ihr gesagt hatte. Hauptmann Wragge trat unruhig ans Fenster und blickte hinaus. Der erste Gegenstand, den sein Auge erblickte, war Mr. Noël Vanstone, welcher von Amsee her sich näherte. Er kehrte sofort an seinen früheren Platz im Zimmer zurück und redete Magdalenen noch einmal an.

—— Da kommt Mr. Noël Vanstone, sprach er. Eine letzte Vorsicht, bevor er eintritt. Seien Sie auf der Hut mit ihm betreffs Ihres Alters. Er stellte mir die Frage, bevor er die Erlaubniß zur Trauung einholte. Ich machte kurzen Proceß mit der heiklen Sache und sagte ihm frischweg, Sie seien einundzwanzig Jahre alt, und er machte die Angabe demgemäß. Um mich seien Sie unbesorgt: übermorgen bin ich verschwunden. Aber in Ihrem eigenen Interesse vergessen Sie nicht, wenn der Gegenstand jemals zur Sprache kommt, daß Sie das Alter haben. —— Jetzt gibt es Nichts mehr. Sie sind mit jeder nothwendigen Mittheilung versehen, die ich Ihnen geben kann. Was auch in Zukunft vorkommen möge, vergessen Sie nicht, daß ich mein Bestes gethan habe.——

Er eilte zur Thür, ohne auf eine Antwort zu warten, und ging in den Garten hinaus, um seinen Gast zu empfangen.

Mr. Noël Vanstone erschien am Thore, indem er feierlich in beiden Händen sein Brautgeschenk nach Nordsteinvilla überbrachte. Der in Frage kommende Gegenstand war ein altes Kästchen —— einer von den Einkäufen seines Vaters —— drinnen in dem Kästchen lag eine altmodische Karfunkelbroche in Silberfassung —— wieder einer von den Einkäufen seines Vaters —— beides Brautgeschenke, welche das unschätzbare Verdienst hatten, daß sie das Geld in seiner Börse nicht in Anspruch nahmen. Er schüttelte seinen Kopf wunderlich hin und her, als ihn der Hauptmann nach seiner Gesundheit und Laune frag. Er hatte eine schlaflose Nacht zugebracht; es hatte ihn eine unbezwingliche Angst vor einer plötzlichen Rückkehr der Lecount ergriffen, sobald er sich in Amsee allein befunden habe.

Villa Amsee schmeckte nach Lecount, Amsee —— so gut es auch auf Pfahlwerk gebaut und so ausgemacht es auch das festeste Haus in England war —— war von nun ab ihm verhaßt. Er hatte dies die ganze Nacht gefühlt, er hatte das Gewicht seiner Verantwortlichkeit gefühlt. Da war gleich zum Anfang die Kammerjungfer. Jetzt wo er sie angenommen hatte, begann er zu denken, daß sie nicht genügen werde. Sie konnte ihm vielleicht unter den Händen krank werden, sie konnte ihn durch Annahme eines falschen Charakters betrogen haben, sie und die Wirthin Schrecklich! Schrecklich wirklich, das zu denken! Dann war da die andere Verantwortlichkeit, vielleicht die schwerste von den beiden, die Verantwortlichkeit, sich zu entscheiden, wo er morgen hingehen und die Flitterwochen zubringen solle. Er würde am liebsten in eines der leeren Häuser seines Vaters gezogen sein. Aber mit Ausnahme des auf der Vauxhallpromenade gegen welches vermuthlich Einwendungen erhoben werden würden, und das zu Aldborough welches selbstverständlich gar nicht in Frage kam, waren alle Häuser vermiethet. Er würde sich selbst in Mr. Bygraves Hände geben. Wo hatte Mr. Bygrave seine Flitterwochen zugebracht? Wenn die britischen Inseln gegeben wären, um darin zu treffen, wo würde Mr. Bygrave sein Zelt aufschlagen bei einer sorgfältigen Erwägung aller Umstände?

Bei, diesem Punkte kamen die Fragen des Bräutigams plötzlich zu Ende, und sein Gesicht zeigte einen Ausdruck unbezwinglichen Erstaunens. Sein gescheidter Freund, dessen Rath ihm bei jeder andern Angelegenheit zur Verfügung gestanden hatte, drehte sich bei der Angelegenheit der Flitterwochen nach ihm um und lehnte trocken ab, über den Gegenstand weiter zu sprechen.

—— Nein! sagte der Hauptmann, als Mr. Noël Vanstone die Lippen öffnete, um ihn zu weiteren Auslassungen zu bewegen, Sie müssen mich wirklich entschuldigen. Mein Gesichtspunkt in dieser Sache ist wie gewöhnlich ein ganz besonderer. Seit einiger Zeit habe ich in einer wahren Atmosphäre von Betrug gelebt, um Ihnen gefällig zu sein. Diese Atmosphäre, mein lieber Herr, wird schwül, mein sittliches Selbst verlangt Lüftung. Bringen Sie die Frage der Ortswahl mit meiner Nichte in Ordnung und lassen Sie mich auf mein ausdrückliches Begehren in gänzlicher Unkenntniß betreffs der Sache. Mrs. Lecount wird sicher nach ihrer Rückkehr von Zürich hierher kommen und wird mich sicher fragen, wohin Sie gegangen sind. Sie mögen es seltsam finden, Mr. Vanstone, aber wenn ich ihr sage, ich weiß es nicht, so wünsche ich den schier entwöhnten Genuß zu haben, einmal in einer Sache die Wahrheit zu sagen!

Mit diesen Worten öffnete er die Thür des Putzzimmers, führte Mr. Noël Vanstone zu Magdalenen hinein, verbeugte sieh, ging unter diesen Verbeugungen wieder aus dem Zimmer hinaus und machte sich auf, um den Rest des Nachmittags auf einem Spaziergange zu verleben Sein Gesicht ließ deutliche Zeichen von Unruhe blicken, und seine zweifarbigen Augen sahen mißtrauisch bald hier- bald dorthin, wie er längs des Ufers hin schlenderte.

—— Die Zeit hängt schwer über uns, dachte der Hauptmann. Ich wünschte, morgen wäre da, und Alles vorbei!

Der Tag verging, und Nichts fiel vor; der Abend und die Nacht folgten friedlich und ereignißleer. Der Montag kam, ein heiterer, milder Tag. Der Montag bestätigte des Hauptmanns Versicherung, daß die Verheirathung eine fertige Thatsache sei. Gegen zehn Uhr stieg der Küster die Stufen zur Kirche hinan und zog das alte Sprichwort: »Glücklich die Braut, auf welche die Sonne scheint« [ Happy the bride on whom the sun shines. Anders der Deutsche in seinem Spruch: »Der glücklichen Braut fällt der Regen in den Schooß«. Vergl. Körte, »Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Deutschen«. 2 Auslage 1861. Leipzig.] an, als er die Kirchstuhlschließerin in der Vorhalle traf.

Eine Viertelstunde später war das Brautpaar in der Sakristei, und der Geistliche ging zum Altar voran. So sorgfältig das Geheimniß der Hochzeit verborgen gehalten worden war, so war doch das Oeffnen der Kirche am frühen Tage genug gewesen, um es zu verrathen; Eine kleine Versammlung, beinahe ausschließlich aus Frauen bestehend, war in den Kirchenstühlen hie und da vertheilt. Kirkes Schwester und ihre Kinder waren bei einer Freundin in Aldborough auf Besuch, und natürlich war daher die Erstere mit unter der anwesenden Gemeinde.

Als der Hochzeitszug in die Kirche trat, theilte sich die Gespensterfurcht vor Mrs. Lecount von Mr. Noël Vanstone auch dem Hauptmann mit. In den ersten wenigen Minuten blickten die Augen Beider unter den Frauen in der Kirche umher mit demselben suchenden Eifer und sahen mit demselben Ausdruck der Befriedigung hinweg. Der Küster begann da insgeheim Zweifel zu fühlen, ob wohl das alte Sprichwort über die Braut ein allemal zutreffendes sei. Die weiblichen Glieder der Versammlung murmelten unter einander über die unentschuldbare Vernachlässigung des Scheines, die sich in dem Anzuge der Braut aussprach: Kirkes Schwester flüsterte giftig ihrer Freundin ins Ohr:

—— Gott sei Dank für heute um Roberts willen!

Mrs. Wragge weinte still mit der Furcht irgend eines drohenden Unheils, sie wußte nicht, welches. Die einzige Person, welche äußerlich unerschüttert blieb, war Magdalene selber. Sie stand mit thränenloser Entsagung auf ihrer Stelle Vor dem Altar, stand da, als ob alle Organe der menschlichen Bewegung in ihr eingefroren wären. Was sie diesen Morgen litt, litt sie innerlich da, wo kein sterbliches Auge hineinzublicken vermag..

Der Geistliche öffnete das Buch.

*~~~~~~~~~~~~*

Es war vorüber. Die erhabenen Worte, welche von der Erde zum Himmel empor gesprochen werden, waren gefallen. Die Kinder der beiden todten Brüder, Erben der unversöhnlichen Feindschaft, welche ihre Eltern getrennt hatte, waren Mann und Frau.

Von diesem Augenblicke eilten die Ereignisse mit überstürzter Hast nach der Abschiedsseite hin. Sie waren wieder nach Hause zurück, während ihnen noch die Worte der Trauungsformel in den Ohren zu klingen schienen. Ehe sie fünf Minuten im Hause waren, fuhr der Wagen vor dem Gartenthor vor. Eine Minute später kam die Gelegenheit, welche Magdalene und der Hauptmann erspäht, hatten, die nämlich, um sich zum letzten Male insgeheim zu sprechen.

Sie bewahrte noch immer ihre eisige Entsagung, sie schien jetzt außer allem Bereich der Furcht, welche sich ihrer einst bemächtigt, der Reue, welche sie einst bis in die Seele hinein gefoltert hatte. Mit fester Hand gab sie ihm das versprochene Geld. Mit festem Blick sah sie ihn zum letzten Male an.

—— Ich bin außer Schuld, flüsterte er eifrig, ich habe nur gethan, was Sie von-mir verlangten.

Sie neigte ihr Haupt; sie beugte sich freundlich nach ihm hin und ließ in ihre Stirn mit seinen Lippen berühren.

—— Nehmen Sie sich in Acht! sagte er. Meine letzten Worte sind: um Gottes Willen nehmen Sie sich in Acht, wenn ich fort bin!

Sie wandte sich mit einem Lächeln von ihm und sagte nun seiner Frau Lebewohl. Mrs. Wragge kämpfte schwer, um ihren Verlust tapfer zu ertragen, den Verlust der Freundin, welche wie ein Strahl von Himmelslicht auf den düsteren Pfad ihres Lebens gefallen war.

—— Sie sind immer so gut gegen mich gewesen, meine Liebe, ich danke Ihnen herzlich, ich danke Ihnen von ganzer Seele...!

Sie konnte Nichts mehr sagen, sie klammerte sich fest an Magdalenen mit einem Ausbruch von Thränen, wie ihre Mutter sich an sie geklammert hätte, hätte sie diesen schrecklichen Tag erlebt.

—— Ich bin in Angst um Sie! schrie das arme Wesen mit laut jammernder Stimme. Ach mein liebes Herz, ich bin in Angst um Sie!

Magdalene riß sich mit verzweifelter Anstrengung los, küßte sie und stürzte aus dem Zimmer. Der Ausdruck dieser ungekünstelten Dankbarkeit, der Aufschrei dieser aufrichtigen Zuneigung, erschütterte sie mehr, als Alles, was an diesem Tage vorgefallen war. Es war für sie eine rettende Zuflucht, daß der Mann, den sie geheirathet hatte, da stand und an der Thür auf sie wartete.

Mrs. Wragge versuchte ihr in den Garten nachzueilen. Aber der Hauptmann hatte Magdalenens Angesicht gesehen, als sie wegeilte, und er hielt sein Weib daher in dem Hausgange fest. Aus dieser Entfernung wurde das letzte Lebewohl gewechselt. So lange der Wagen in Sicht war, sah Magdalenens Antlitz zu ihnen zuriick, sie winkte mit ihrem Taschentuche, wie sie um die Ecke herumfuhr. Einen Augenblick später war der letzte Faden, der sie mit ihnen verband, zerrissen, das vertraute Zusammenleben mancher Monate war nunmehr eine Thatsache, welche der Vergangenheit angehörte!

Hauptmann Wragge schloß die Hausthür vor den Spaziergängern, die von der Promenade herein sahen. Er führte seine Frau in das Putzzimmer zurück und sprach ihr mit einer Nachsicht zu, welche sie noch nie von seiner Seite erfahren hatte.

—— Sie ist ihren Weg gegangen, sprach er, und in einer Stunde werden wir unseres Weges gegangen sein. Weine Dich nur aus, ich habe Nichts dagegen: sie verdient beweint zu werden.

Sogar jetzt, sogar da, wo die Furcht wegen Magdalenens Zukunft in seinem Gemüthe am Düstersten Platz gegriffen hatte, hing die herrschende Gewohnheit seines ganzen Lebens ihm an. Ohne zu wissen, was er that, schloß er sein Bücherfutteral aus, zerstreut schlug er sein Contobuch auf und trug den letzten Posten, den Posten seines letzten Geschäfts mit Magdalenen, schwarz auf weiß ein.

Von Miß Vanstone___________|_____|____
erhalten . . . . . . £ | 200 |

schrieb der Hauptmann mit düsterm Angesicht.

—— Du bist doch nicht böse mit mir? sagte Mrs Wragge, indem sie furchtsam durch ihre Thränen nach ihrem Manne hinsah. Ich möchte gern ein Wort des Trostes haben, Hanptntann. Ach, sage mir doch, wann werde ich sie wiedersehen!

Der Hauptmann schlug das Buch zu und gab seine Antwort in dem einen unerbittlichen Worte:

—— Niemals!

Zwischen elf und zwölf Uhr in jener Nacht fuhr Mrs. Lecount in Zürich ein.

Ihres Bruders Haus war verschlossen, als sie dort anhielt. Mit Schwierigkeit und Zeitverlust wurde das Dienstmädchen geweckt. Dies schlug seine Hände in sprachlosem Erstaunen zusammen, als es die Thür öffnete und sah, wer die Fremde war.

—— Lebt mein Bruder noch? frug Mrs. Lecount, als sie ins Haus trat.

——Er lebt noch! gab das Mädchen zurück. Er ist zur Erholung aufs Land gegangen, um seine Genesung in der frischen Luft zu beendigen.

Die Haushälterin fuhr zurück gegen die Wand der Hausflur. Der Kutscher und das Mädchen setzten sie auf einen Stuhl. Ihr Gesicht war entfärbt, und die Zähne klapperten ihr im Munde.

—— Lassen Sie den Arzt meines Bruders holen, sagte sie, sobald sie wieder sprechen konnte.

Der Arzt kam. Sie übergab ihm einen Brief, ehe er ein Wort sagen konnte.

—— Schrieben Sie diesen Brief?

Er sah rasch darüber hin und antwortete ihr ohne Zögern.

—— Ganz gewiß nicht!

—— Es ist aber Ihre Hand.

—— Es ist eine Fälschung meiner Handschrift.

Sie erhob sich von dem Stuhle, neue Kraft in sich fühlend.

—— Wann geht die Post zurück nach Paris? frug sie.

—— In einer halben Stunde.

—— Gehe augenblicklich hin und bestelle mir einen Platz darin!

Das Mädchen zögerte, der Arzt machte Vorstellungen. Sie blieb taub für Beide.

—— Gehe fort, wiederholte sie, oder ich gehe selber.

Man gehorchte. Das Mädchen ging, um den Platz, zu bestellen, der Doctor blieb und hatte eine Unterredung mit Mrs. Lecount. Als die halbe Stunde vorüber war, half er ihr in die Post hinein und gab heimlich dem Conducteur einen Wink, auf die Reisende Acht zu geben.

—— Sie ist ohne. Unterbrechung von England her gereist, sagte der Arzt, und sie reist, ohne sich Rast zu gönnen, wieder Zurück. Nehmen Sie dieselbe daher in Acht, sonst bricht sie unter der doppelten Reife zusammen.

Die Post fuhr ab. Ehe die erste Stunde des neuen Tages abgelaufen war, war Mrs. Lecount unterwegs nach England zurück.



Kapiteltrenner

Achtes Buch.

Zwischenscenen in Briefen.

I.

George Bartram an Noël Vanstone.

St. Crux, den 4. September 1847.

Lieber Noël!

Hier hast Du gleich von vornherein zwei offene Fragen. Im Namen alles Geheimnißvollem was hast Du, daß Du Dich verborgen hältst? Und warum wird Alles auf Deine Heirath Bezügliche vor Deinen ältesten Freunden als tiefstes Geheimniß bewahrt?

Ich bin in Aldborough gewesen, um zu versuchen, ob ich Dich von jenem Orte aus aufspüren könnte, und bin so klug zurückgekommen, wie ich hingegangen war. Ich habe mich an Deinen Advocaten in London gewandt und habe zur Antwort erhalten, daß Du ihm verboten habest, den verborgenen Ort Deines Aufenthaltes irgend Jemand zu nennen, ohne erst die Erlaubniß dazu von Dir erhalten zu haben. Alles, was ich von ihm erlangen konnte, war, daß er jeden Brief, der ihm anvertraut würde, an Dich befördern würde. Demnach schreibe ich und, vergiß es nicht, erwarte auch eine Antwort.

Du wirst vielleicht in Deiner übellaunigen Art fragen, was ich mit Angelegenheiten von Dir, welche Du für gut findest geheim zu halten, zu schaffen habe? Mein lieber Noël, es liegt ein ernster Grund vor, daß wir von hier aus mit Dir in Briefwechsel treten. Du weißt nicht, welche Ereignisse auf St. Crux vorgefallen sind, seit Du wegeiltest, um Dich trauen zu lassen, und obgleich ich Briefschreiben hasse, so will ich doch eine Stunde auf der Jagd heute Opfern, um zu versuchen, Dich aufzuklären.

Am dreiundzwanzigsten des letzten Monats wurden der Admiral und ich bei unserm Weine nach Tische durch die Meldung gestört, daß ein Fremder unerwartet auf St. Crux eingetroffen sei. Wer denkst Du wohl, daß der Gast war? —— Mrs. Lecount!

Mein Oheim verließ mit seiner gewöhnlichen altmodischen Junggesellengalanterie, welche jeder Schürzenträgerin gleiche Rücksicht zollt, sofort die Tafel, um Mrs. Lecount selbst zu bewillkommnen. Wie ich noch schwankte, ob ich ihm folgen sollte oder nicht, wurde meinem Ueberlegen plötzlich durch einen lauten Ruf vom Admiral ein Ende gemacht. Ich eilte in das Morgenzimmer, —— und dort war Deine unglückliche Haushälterin mehr todt als lebendig auf dem Sopha, alle Dienstmädchen um sie her versammelt. Sie war von England nach Zürich und von Zürich wieder zurück nach England gereist —— ohne Anhalten; und sie sah ernstlich und buchstäblich halbtodt aus. Ich war sofort mit meinem Oheim darüber einig, daß das Erste, was geschehen mußte, war, nach dem Arzte zu schicken. Wir schickten sofort einen Reitknecht weg und ließen auf das ausdrückliche Ersuchen von Mrs. Lecount alle Mädchen insgesamt aus dem Zimmer gehen.

Sobald wir allein waren, überraschte uns Mrs. Lecount mit einer einzigen Frage. Sie fragte, ob Du einen Brief erhalten, den sie, ehe sie England verließ, an Dich hierher aufgegeben habe. Als wir ihr sagten, daß der Brief auf Deinen ausdrücklichen Wunsch unter Couvert an Deinen Freund, Mr. Bygrave, geschickt worden sei, wurde sie kreideweiß, und als wir hinzufügten, daß Du uns in Gesellschaft desselben Mr. Bygrave verlassen habest, schlug sie ihre Hände zusammen und starrte uns an, als ob sie ihre Besinnung verloren hätte. Ihre nächste Frage war:

—— Wo ist Mr. Noël jetzt?

Wir konnten ihr nur eine Antwort geben: Mr. Noël habe uns nicht benachrichtigt. Sie sah vollkommen wie vom Donner gerührt aus, als sie das hörte.

—— Er ist in sein Verderben gegangen! sagte sie.

Er ist gegangen in Gesellschaft des größten Schurken in England. Ich muß ihn finden! Ich sage Ihnen, ich muß Mr. Noël finden! Wenn ich ihn nicht sogleich finde, wird es zu spät sein.

—— Er wird heirathen! brach sie wie eine Wahnsinnige aus, auf Ehre und Seligkeit, er wird heirathen!

Der Admiral sagte ihr —— unvorsichtig vielleicht, aber mit der besten Absicht, daß Du schon verheirathet seiest. Da gab sie einen Schrei von sich, der die Fensterscheiben klirren machte, und fiel ohnmächtig aufs Sopha zurück. Der Arzt kam gerade zur höchsten Zeit und brachte sie bald wieder zu sich. Allein sie wurde in derselben Nacht krank, sie ist seitdem immer schlimmer geworden, und der letzte ärztliche Bericht ist, daß das Fieber, an dem sie leidet, auf dem besten Wege ist, ihr Gehirn anzugreifen.

Nun haben weder ich, noch mein Oheim den Wunsch, uns in Dein Vertrauen eindrängen zu wollen. Wir sind natürlich erstaunt über das außerordentliche Geheimniß, daß über Dir und Deiner Heirath schwebt, und wir können uns nicht der Thatsache verschließen, daß Deine Haushälterin ersichtlich einen guten Grund hat, um Mrs. Noël Vanstone mit einer Feindseligkeit und einem Mißtrauen anzusehen, welche, wie wir gern glauben wollen, jene Dame zu verdienen wohl kaum Anlaß gegeben hat. Was immer für ein seltsames Mißverständniß in Deinem Hause walten mag, ist Deine Sache, wenn Du es vorziehst, es für Dich zu. behalten —— und nicht unsere. Alles, was wir zu thun berechtigt sind, ist: Dir zu sagen; was der Arzt sagt. Seine Patientin sprach irre; er glaubt nicht, für ihr Leben stehen zu können, wenn es mit ihr so fort geht, wie jetzt, und er meint, weil er findet, daß sie beständig von ihrem Herrn spricht, daß Deine Gegenwart gut sein würde, um sie zu beruhigen, wenn Du sofort hierher kommen und Deinen Einfluß ausüben könntest, ehe es zu spät ist.

Was sagst Du dazu? Willst Du Dich aus dem Dunkel, das dich umgibt, hervormachen und nach St. Crux kommen? Wenn es sich um einen gewöhnlichen Dienstboten handelte, so könnte ich begreifen, wenn Du zögertest, die Freuden Deiner Flitterwochen zu verlassen um einer solchen Sache willen, die man hier Dir zumuthet. Aber, lieber alter Freund, Mrs. Lecount ist kein gewöhnlicher Dienstbote. Du bist ihr für ihre Treue und Anhänglichkeit sowohl von Deines Vaters Lebzeiten her, als auch aus Deiner Zeit, zu Danke verpflichtet; und wenn Du die Besorgnisse, welche dieses unglückliche Weib bis zum Wahnsinn treiben, wirklich beschwichtigen kannst, so denke ich wirklich, daß Du hierher kommen und Dies thun solltest. Daß Du darum Mrs. Noël Vanstone verlassen solltest, kommt gar nicht in Frage. Es liegt keine Nothwendigkeit zu einem so harten Schritte vor. Der Admiral wünscht, daß ich Dich daran erinneren soll, wie er Dein ältester lebender Freund sei, und daß sein Haus Deiner Gattin zur Verfügung stehe, wie es Dir gegenüber immer gewesen ist. In diesem großen Gebäude, in dem man bequem spazieren reiten könnte, hat sie keine nähere Berührung mit dem Krankenzimmer zu fürchten, und bei all den Eigenheiten des Oheims wird sie sicherlich das Erbieten seiner Freundschaft nicht verschmähen.

Habe ich Dir schon gesagt, daß ich nach Aldborough ging, um zu sehen, ob ich nicht einen Fingerzeig über Deinen Aufenthalt erhalten könnte? Ich kann mir nicht erst die Zeit nehmen, umzuwenden und nachzusehen. Wenn ich es also Dir schon gesagt haben sollte, gut, dann sage ich Dirs zum zweiten Male. Die Wahrheit ist, ich machte in Aldborough eine Bekanntschaft, von der Du schon weißt, wenigstens von Hörensagen.

Nachdem ich mich vergeblich nach Amsee gewendet hatte, ging ich in den Gasthof, um nach Dir zu fragen. Die Wirthin konnte mir keine Mittheilungen machen. Aber in dem Augenblicke, wo ich Deinen Namen nannte, fragte sie, ob ich mit Dir verwandt sei, und als ich ihr nun sagte, daß ich Dein leiblicher Vetter sei, sagte sie, es wäre jetzt eine junge Dame im Hotel, deren Name ebenfalls Vanstone sei und welche in großen Aengsten schwebe über eine vermißte Verwandte und sich mir vielleicht von Nutzen erweisen könnte, oder umgekehrt, der ich von Nutzen sein könnte, wenn wir von unseren wechselseitigen Geschäften in Aldborough wüßten. Ich hatte auch nicht die geringste Idee, wer sie wohl sein könne; aber ich schickte ihr aufs Geratewohl meine Karte, und fünf Minuten später, siehe, da befand ich mich einem der liebenswürdigsten Frauenzimmer gegenüber, welche diese meine Augen jemals geschaut haben.

Unsere ersten einleitenden Worte bekehrten mich, daß ihr mein Familienname von Hörensagen bekannt war. Wer denkst Du wohl, daß sie war? —— Die älteste Töchter meines und Deines Oheims —— Andreas Vanstone. Ich hatte in früheren Jahren meine arme Mutter von ihrem Bruder Andreas sprechen hören, und ich wußte auch von der traurigen Geschichte auf Combe-Raven. Allein unsere Familien, wie Dir wohl bekannt sein wird, waren einander immer entfremdet gewesen, und ich hatte meine reizende Cousine noch nie zuvor gesehen. Sie hat die dunklen Augen und Haare und das milde zurückhaltende Benehmen, das ich von jeher an Frauen bewundert habe. Ich will nicht unsere alten Meinungsverschiedenheiten über das Benehmen Deines Vaters gegen dieses beiden Schwestern wieder vorbringen oder in Abrede stellen, daß sein Bruder Andreas sich schlecht gegen ihn benommen habe: bin auch bereit, anzuerkennen, daß der hohe sittliche Standpunkt, den er in dieser Sache einnahm, für einen so elenden Sünder, als ich bin, ganz unerreichbar und unerfaßlich ist, und will nicht bestreiten, daß meine eigenen verschwenderischen Gewohnheiten mich unfähig machen, eine Meinung abzugeben über anderer Leute Geldangelegenheiten. Aber mit allen diesen Zugeständnissen und Einschränkungen kann ich Dir nur Eins sagen, Noël. Wenn Du jemals die ältere Miss Vanstone sähest, so prophezeihe ich Dir dreist, daß Du zum ersten Male in Deinem Leben zweifeln würde, ob es gut gethan war, Deines Vaters Beispiel zu befolgen. ——

Sie erzählte mir ihre kleine Geschichte, das arme Kind, ganz einfach und anspruchslos. Sie hat jetzt ihre zweite Stelle als Erzieherin und wie gewöhnlich kannte ich, der ich alle Welt kenne, auch diese Familie. Sie ist befreundet mit meines Oheims Familie, welcher Letztere sie in der späteren Zeit aus dem Gesicht verloren hatte, die Tyrrels vom Portland-Platz —— und sie behandeln Miss Vanstone mit solcher Freundlichkeit und Achtung, als wenn sie ein Glied der Familie wäre. Eine von deren alten Dienerinnen begleitete sie nach Aldborough, und der Zweck ihrer Reise an diesen Ort war derjenige, den die Wirthin angeführt hatte. Das Familienmißgeschick hat, wie es scheint, auf die jüngere Schwester der Miss Vanstone einen tiefen Eindruck gemacht, dieselbe hat ihre Verwandten und Freunde verlassen und wird schon seit einiger Zeit von zu Hause vermißt. Sie hat zuletzt aus Aldborough von sich hören lassen, und ihre ältere Schwester hatte sich gleich nach ihrer Rückkunft mit den Tyrrels vom Festlande aufgemacht, um an diesem Orte Nachfrage zu halten.

Dies war Alles, was mir Miss Vanstone sagte. Sie frug, ob Du Etwas von ihrer Schwester gesehen hättest, oder ob Mrs. Lecount Etwas von ihrer Schwester wüßte, vermuthlich, weil sie erfahren hatte, daß Du in Aldborough wärest. Natürlich konnte ich ihr meinerseits Nichts sagen. Sie ließ sich nicht weiter über den Gegenstand aus, und ich konnte mir nicht herausnehmen, mehr zu fragen. Alles, was ich that, war, daß ich mich aus allen Kräften daran machte, sie bei ihren Nachforschungen zu unterstützen. Der Versuch schlug vollständig fehl: Niemand konnte uns Aufschluß geben. Wir versuchten natürlich mit einer Personalbeschreibung, und wunderlich klingt es, die einzige junge Dame, die vorher in Aldborough war, welche der Beschreibung entsprach, war von allen Leuten in der Welt die Dame, die Du geheirathet hast! Wenn sie nicht einen Oheim und eine Tante gehabt hätte —— welche Beide den Ort verlassen haben —— so würde ich angefangen haben, zu vermuthen, daß Du, ohne es zu wissen, Deine Cousine geheirathet hättest. Ist dies der Schlüssel zu dem Geheimniß? Werde nicht böse; ich muß meinen kleinen Spaß machen und muß halt, Gott sei’s geklagt, so unbedachtsam schreiben, wie ich spreche. Das Ende davon war: unsere Nachforschungen waren alle umsonst, und ich reiste mit Miss Vanstone und ihrer Dienerin bis zu unserm Haltepunkte auf der Eisenbahn hierher. Ich denke die Tyrrels zu besuchen, wenn ich das nächste Mal in London bin. Ich habe wirklich die Familie unverantwortlich lange arg vernachlässigt.

Hier bin ich mit meinem dritten Briefbogen fertig! Ichs nehme nicht oft die Feder zur Hand; aber wenn ich es einmal thue, so wirst Du mir Recht geben, daß ich mich eben nicht sehr beeile, sie wieder wegzulegen. Denke von dem Uebrigen in meinem Briefe, was Du willst: aber überlege, was ich Dir von Mrs. Lecount gesagt habe, und vergiß nicht, daß die Zeit von Wichtigkeit ist.

Immer der Deinige,

George Bartram.



Kapiteltrenner

II.

Nora Vanstone an Miss Garth.

Portland-Platz.

Meine liebe Miss Garth!

Noch mehr Kammer, noch mehr vergebliche Hoffnungen! Ich bin eben von Aldborough zurück, ohne eine Entdeckung gemacht zu haben. Magdalene ist noch immer für mich verloren.

Ich kann dies neue Scheitern meiner Hoffnungen keineswegs einem Mangel an Ausdauer und Umsicht beimessen, den ich mir beim Anstellen der nöthigen Nachforschungen etwa zu Schulden kommen ließ. Meine Unerfahrenheit in solchen Dingen wurde sehr freundlich und unerwarteter Weise durch Mr. George Bartrams Beistand unterstützt. Durch ein seltsames Zusammentreffen war auch er gerade in Aldborough anwesend und stellte Nachforschungen nach Mr. Noël Vanstone an, ganz zu derselben Zeit, wo ich dort war und nach Magdalenen forschte. Er schickte mir seine Karte zu und da, als ich den Namen sah, mir einfiel, daß er mein Cousin sei, wenn ich ihn so nennen darf, dachte ich, daß es nicht unschicklich sei, ihn zu sehen und ihn um seinen Rath zu bitten. Ich unterließ es um Magdalenens willen, in Einzelheiten einzugehen, und machte daher keine Anspielung auf den Brief von Mrs. Lecount, welchen Sie statt meiner beantworteten. Ich sagte ihm nur, daß Magdalene vermißt werde und zuletzt aus Aldborongh von sich hören gelassen habe. Die freundliche Theilnahme, welche er dadurch, daß er sich ganz meinem Beistande widmete, an den Tag legte, ist über alle Beschreibung. Er behandelte mich in meiner verzweifelten Lage mit einer Zartheit und einer Achtung, welche ich in dankbarem Herzen nimmer vergessen werde, wenn er auch vielleicht längst selber unser zufälliges Zusammentreffen aus der Erinnerung verloren haben wird. Er ist noch jung —— nicht älter als dreißig, sollte ich meinen. In Gesicht und Gestalt erinnert er mich ein wenig an das Bild meines Vaters auf Combe-Raven, ich meine das Bild im Speisesaale von meinem Vater, als er ein junger Mann war.

So nutzlos, wie unsere Nachforschungen waren, so liegt doch ein Ergebniß vor, das einen wunderbaren und tiefen Eindruck aus meinen Geist hinterlassen hat.

Es scheint, daß Mr. Noël Vanstone kürzlich eine junge Dame, Namens Bygrave, die er in Aldborough getroffen hatte, geheirathet hat, und zwar unter geheimnißvollen Umständen. Er ist mit seiner Gattin weggegangen, ohne Jemand außer seinem Advocaten zu sagen, wohin. Dies hörte ich von Mr. George Bartram, welcher bemüht war, seine Spur ausfindig zu machen, um ihm die Nachricht von der schweren Erkrankung seiner Haushälterin mitzutheilen, welche letztere beiläufig dieselbe Mrs. Lecount ist, deren Brief Sie beantworteten. So weit ist Nichts, werden Sie vielleicht sagen, was ein besonderes Interesse für uns Beide haben könnte. Allein ich meine, Sie werden so erstaunt sein, als ich es war, wenn ich Ihnen sage, daß die von den Leuten zu Aldboroitgh gegebene Beschreibung von Miss Bygrave sehr anffallend und unerklärlich der Beschreibung von Magdalenens Aeußern ähnlich ist.

Diese Entdeckung, zusammengehalten mit all den uns bewußten Umständen, hat auf meinen Geist einen Eindruck gemacht, den ich Ihnen nicht beschreiben kann, den ich mir selbst nicht klar zu machen wage. Ich bitte, kommen Sie und besuchen Sie mich! Ich habe mich nie so unglücklich gefühlt um Magdalenens willen, als gerade jetzt. Die Anstrengung muß meine Nerven auf wunderbare Weise zerrüttet haben. Ich fühle die trübsten Ahnungen wegen der geringfügigsten Dinge. Diese zufällige Aehnlichkeit einer ganz fremden Person mit Magdalenen erfüllt mich in manchen Augenblicken mit ganz entsetzlichen Ahnungen, lediglich weil Mr. Noël Vanstones Name zufällig damit in Verbindung gebracht ist. Noch einmal, ich bitte, kommen Sie zu mir —— ich habe Ihnen so viel zu sagen, daß ich weder im Stande bin, noch wage, es dem Papiere anzuvertrauen.

Dankbar und herzlich die Ihrige,

Nora.



Kapiteltrenner

III.

Mr. John Loscombe, Anwalt, an George Bartram Esq.

London, Lincoln’s Inn,
den 6. September 1847.

Mein Herr!

Ich bekenne mich zum Empfang Ihres Billets mit dem Einschluß eines Briefes an meinen Clienten Mr. Noël Vanstone und Ihrem Ersuchen, daß ich selbigen an Mr. Vanstones gegenwärtige Adresse befördern möchte.

Seitdem ich das letzte Mal das Vergnügen hatte, mit Ihnen über diesen Gegenstand zu verhandeln, ist meine Stellung zu meinem Clienten eine ganz andere geworden. Drei Tage sind es her, da erhielt ich einen Brief von ihm, welcher seine Absicht aussprach, seinen Aufenthaltsort den nächstfolgenden Tag verändern zu wollen, mich aber betreffs der Gegend, wohin er die Absicht hatte sich zu wenden, ganz in Unkenntniß ließ. Ich habe seitdem Nichts wieder von ihm gehört, und da er vorher eine größere Stimme als gewöhnlich bezogen hatte, so liegt keine augenblickliche Notwendigkeit vor, wieder an mich zu schreiben, wenn man nämlich annehmen darf, daß es sein Wunsch ist, seinen Aufenthaltsort vor Jedermann, mich eingeschlossen, verborgen zu halten.

Unter diesen Umständen halte ich es für das Beste, Ihnen Ihren Brief zurückzusenden mit der Versicherung, daß ich es Ihnen zu wissen thun werde, wenn ich wieder in der Lage sein sollte, denselben an seine Bestimmung befördern zu können.

Ihr ergebener Diener,

John Loscombe.



Kapiteltrenner

IV.

Nora Vanstone an Miss Garth.

Portland-Platz.

Meine liebe Miss Garth!

Vergessen Sie den Brief, den ich Ihnen gestern schrieb, und all die trüben Ahnungen welche er enthält. Die Frühpost von heute hat mir neues Leben gegeben: ich habe von Magdalenen gehört!

Der Brief ist sehr kurz, er scheint in Eile geschrieben zu sein. Sie sagt, sie habe seit einigen Nächten von mir geträumt, und ihre Träume hätten sie besorgt gemacht, daß ihr langes Schweigen mir ihretwegen mehr Kummer gemacht habe, als sie werth sei.

Sie schreibe daher, daß sie munter und wohl sei, daß sie hoffe, mich ehestens zu sehen, und daß sie mir, wenn wir zusammen sein würden, Etwas zu sagen habe, was meine schwesterliche Liebe zu ihr stärker als Etwas je zuvor auf die Probe stellen werde. Der Brief trägt kein Datum; aber das Postzeichen ist:

ALLONBY,

welches, wie ich nach Zuratheziehung des Zeitungslexikons gefunden habe, ein kleines Seebad in Cumberland ist. Es ist keine Hoffnung, daß ich wieder zurückkehren kann; denn Magdalene sagt ausdrücklich, daß sie am Vorabend ihrer Abreise von ihrem gegenwärtigen Aufenthalte stehe und nicht sagen könne, wohin sie zunächst gehen werde, noch Anweisung hinterlassen, wie ihr etwaige Briefe nachgeschickt werden könnten.

In glücklicheren Zeiten würde ich diesen Brief noch lange nicht für einen befriedigenden gehalten haben, und ich würde ernstlich beunruhigt gewesen sein, durch jene Anspielung auf eine künftige vertrauliche Mittheilung von ihrer Seite, welche meine Liebe zu ihr mehr denn je auf die Probe stellen solle. Allein nach all der Herzenspein, die ich erduldet, scheint das Glück, ihre Handschrift wiederzusehen, mein Herz zu erfüllen und alle anderen Gefühle daraus zu verbannen. Ich schicke Ihnen nicht ihren Brief, da ich weiß, daß Sie mich bald besuchen werden, und ich mir die Freude gönnen muß, zu sehen, wie Sie ihn lesen.

Ihre immerdar herzlich zugethanene

Nora.

NS. George Bartram machte heute Besuch bei Mrs.Tyrrel. Er bestand darauf, zu den Kindern geführt zu werden. Als er fort war, lachte Mrs. Tyrrel in ihrer gutmüthigen Weise und sagte, daß sein Eifer, die Kinder zu sehen, in ihren Augen sehr darnach aussähe, als wolle er nur mich sehen. Sie können denken, wie sehr mein Geist sich erheitert, wenn ich meine Feder anwenden kann, solchen Unsinn niederzuschreiben!



Kapiteltrenner

V.

Mrs. Lecount an Mr. De Bleriot, Generalagenten
in London.

St. Crux, den 23. October 1847.

Lieber Herr!

Ich habe lange gesäumt, Ihnen für den freundlichen Brief zu danken, der mir Ihren Beistand in Aussicht stellt, in freundlicher Erinnerung an die geschäftlichen Beziehungen, welche früher zwischen Ihnen und meinem Bruder stattgefunden haben. Die Wahrheit ist, ich habe bei meiner Genesung Von einer schweren und gefährlichen Krankheit meine Kraft überschätzt, und die letzten zehn Tage habe ich an einem Rückfall leiden müssen. Ich befinde mich nun besser und im Stande, auf das Geschäft einzugehen, das Sie so freundlich waren für mich unternehmen zu wollen.

Die Person, deren gegenwärtiger Aufenthaltsort zu entdecken für mich von der allergrößten Wichtigkeit ist, ist Mr. Noël Vanstone. Ich bin seit vielen Jahren als Haushälterin in dieses Herrn Diensten gestanden, und da ich noch nicht meine förmliche Entlassung erhalten habe, so betrachte ich mich als noch immer in seinen Diensten. Während meiner Abwesenheit auf dem Festland wurde er zu Aldborough in Suffolk am letzten achtundzwanzigsten August heimlich getraut. Er verließ Aldborough noch am selben Tage, indem er seine Frau mit sich nahm nach irgend einem Zufluchtsorte, der für Jedermann geheim gehalten wurde außer für seinen Rechtsanwalt, Mr. Loscombe von Lincoln’s Inn. Nach kurzer Zeit, am vierten September, entfernte er sich, ohne Mr Loscombe dies Mal von seinem neuen Aufenhaltsorte in Kenntniß zusetzen. Von jenem Tage bis jetzt ist der Rechtsanwalt in gänzlicher Unkenntniß geblieben —— oder gibt wenigstens vor geblieben zu sein ——, wo er jetzt wohl ist. Man hat sich unter diesen Umständen an Mr. Loscombe gewendet, daß er doch wenigstens angeben möchte, welches der frühere Aufenthaltsort war, von welchem ihn Mr. Vanstone bekanntermmaßen in Kenntniß gesetzt hatte. Mr. Loscombe hat sich geweigert, diesem Ersuchen zu willfahren, aus Mangel an ausdrücklicher Ermächtigung, seines Clienten. Schritte nach dem Weggang Von Aldborough irgend Jemandem mitzutheilen. Ich habe alle diese Einzelheiten von Demjenigen, der mit Mr. Loscombe darüber Briefe gewechselt hat, von dem Neffen des Herrn, dem dies Haus gehört und dessen Güte mir während der schweren Gefahr meiner Krankheit unter seinem Dache eine Zuflucht gewährt hat.

Ich glaube, die Gründe, welche Mr. Noël Vanstone veranlaßt haben, sich und sein Weib fortwährend verborgen zu halten, sind solche, die sich ganz und gar auf mich beziehen. In erster Linie fürchtet er, daß die Umstände, unter welchen er geheirathet hat, ganz darnach angethan sind, mir das Recht zu geben, ihn mit Unwillen anzusehen. In zweiter Linie weiß er, daß meine treuen Dienste bei seinem Vater und ihm selbst einen Zeitraum Von zwanzig Jahren hindurch, ihm schon aus Anstandsrücksichten nicht gestatten, mich hilflos in die Welt hinauszustoßen ohne eine Versorgung bis ans Ende meiner Tage. Er ist der gemeinste Mensch, welcher auf Gottes Erdboden lebt, und seine Frau ist das gemeinste Weib, das auf der Welt ist. So lange er es vermeiden kann, seine Verbindlichkeiten gegen mich zu erfüllen, wird er es thun, und man kann sich darauf verlassen, daß ihn seine Frau ermuntern und in seiner Undankbarkeit bestärken wird.

Mein Zweck, weshalb ich ihn ausfindig zu machen entschlossen bin, ist kürzlich folgender. Seine Verheirathung hat ihn Folgen ausgesetzt, welche auch ein Mann von zehn Mal mehr Muth, als er selbst besitzt, nicht ohne Schaudern ins Auge fassen würde. Von diesen Folgen weiß er noch Nichts. Seine Frau weiß davon und hält ihn in Unkenntniß. Ich weiß es und kann ihm ein Licht aufstecken. Seine Sicherheit vor der ihm drohenden Gefahr liegt lediglich in meinen Händen, und er soll den Preis seiner Rettung bis auf den letzten Heller der Schuld bezahlen, welche die Gerechtigkeit als mein Theil fordert, nicht mehr und nicht weniger.

Ich habe Ihnen nun mein gerz ohne Rückhalt eröffnet, wie Sie es wünschten. Sie wissen nun, warum ich diesen Menschen ausfindig machen muß und was ich thun werde, sobald ich ihn finde. Ich überlasse Ihrer Theilnahme gegen mich, die noch bleibende ernste Frage zu beantworten: Wie wird die Entdeckung ausgeführt werden? Wenn nur eine erste Spur von Denselben nach ihrer Wegreise von Aldborough gefunden werden könnte, so glaube ich, würde eine sorgfältige Nachforschung für das Weitere genügen. Die persönliche Erscheinung der Frau und der außerordentliche Gegensatz zwischen ihrem Gatten und ihr selbst müssen jedem Fremden, der sie steht, sicher auffallen und in Erinnerung bleiben.

Wenn Sie mich mit einer Antwort erfreuen, so richten Sie die Adresse folgender gestalt ein:

ADMIRAL BARTRAM
ST. CRUX

in der Marsch
bei Ossory
ESSEX.

Ihre ganz ergebene

Virginie Lecount.



Kapiteltrenner

VI.

Mr. De Bleriot an Mrs. Lecount

Kingsland Darks Häuser,
den 25. October 1847

(Ganz geheime und vertrauliche Mittheilung.)
Liebe Madame!

Ich eile, Ihnen auf Ihr Geehrtes vom letzten Sonnabend Folgendes zu antworten. Die Umstände sind mir sofern günstig gewesen, daß ich in der Lage war, Ihre Interessen durch Zuratheziehung eines meiner Freunde zu fördern, eines Freundes, welcher in der Leitung von geheimen Nachforschungen aller Art sehr erfahren ist. Ich habe ihm —— ohne Namen zu nennen —— Ihren Fall vorgelegt, und ich freue mich, Ihnen mittheilen zu können, daß unsere beiderseitigen Ansichten über das besondere Verhalten, das Sie einzuhalten haben dürften, in jeder Einzelheit übereinstimmen.

ir Beide, mein Freund und ich, sind der Meinung, daß wenig oder gar Nichts geschehen kann, um die Personen, die Sie im Sinne haben, aufzuspüren, bevor nicht der Ort ihres zeitweiligen Aufenthaltes, nachdem sie Aldborough verlassen, entdeckt worden ist. Wenn Dies überhaupt geschehen kann, so mag es je eher je lieber geschehen. Nach Ihrem Briefe zu urtheilen, müssen einige Wochen ins Land gegangen sein, seitdem der Advocat keine Mittheilungen erhielt, wonach dieselben ihren Aufenthalt verändert hatten. Wenn sie Beide auffallend aussehende Personen sind, so haben sie die Leute, welche mit ihnen unterwegs zu thun hatten, wahrscheinlich noch nicht vergessen. Nichtsdestoweniger ist eine Reise wünschenswerth.

Die Frage, welche Sie zu erwägen haben, ist nun, ob Dieselben die Adresse, welche wir so nöthig brauchen, nicht möglicherweise einer andern Person außer dem Advocaten mitgetheilt haben. Der Gatte kann doch an Mitglieder seiner Familie geschrieben haben, oder die Frau hat an Jemand von den Ihrigen geschrieben. Wir beide, ich und mein Freund, sind der Meinung, daß das Letztere das Wahrscheinlichere ist. Wenn Sie also irgend eine Möglichkeit haben, zu der Familie seiner Frau in Beziehung zu treten, so empfehlen wir Ihnen dringend, davon Gebrauch zu machen. Wo nicht, so geben Sie uns die Namen vor irgendwelchen näheren Verwandten oder vertrauten Freunden, die Sie kennen, und dann wollen wir versuchen, statt Ihrer uns Eingang zu verschaffen.

Auf jeden Fall ersuchen wir Sie zugleich, geben Sie uns gefälligst die genaueste Personalbeschreibung, welche nur von beiden Personen gegeben werden kann. Wir können Ihres Beistandes in diesem wichtigen Punkte binnen hier und fünf Minuten benöthigt sein. Senden Sie uns also die Beschreibung gefälligst mit umgehender Post. Inzwischen wollen wir uns bemühen, unsererseits herauszubekommen, ob insgeheim auf Mr. Loscombes Schreibstube Etwas zu erfahren ist. Der Advocat selbst ist wahrscheinlich unnahbar für uns. Aber wenn einer von seinen Schreibern mit Vortheil behandelt werden kann, unter Bedingungen, welche für Ihre Geldmittel nicht unerschwinglich sind, so seien Sie versichert, daß die Gelegenheit beim Schopf ergriffen werden wird, werthe Madame, von

Ihrem
getreuen Diener,

Alfred De Bleriot



Kapiteltrenner

VII.

Mr. Pendril an Nora Vanstone.

Searl-Street, den 27. October 1847

Liebe Miss Vanstone!

Die Dame, Namens Lecount, früher als Haushälterin in Mr. Noël Vanstones Diensten, hat mich diesen Morgen auf meiner Expedition besucht und mich gebeten, ihr die Adresse von Ihnen zu geben. Ich habe sie gebeten, mich zu entschuldigen, wenn ich ihr nicht sogleich willfahren könne, und mich doch morgen früh zu besuchen, wo ich im Stande sein würde, ihr mit einer bestimmten Antwort zu dienen.

Mein Zögern in dieser Sache ist nicht etwa durch irgend ein Mißtrauen gegen die Person der Mrs. Lecount veranlaßt —— denn ich weiß durchaus Nichts gegen sie einzuwenden. Allein als sie mir ihr Gesuch vorstellte, gab sie an, der Zweck der gewünschten Unterredung sei, daß sie Sie unter vier Augen in Betreff Ihrer Schwester zu sprechen wünsche. Verzeihen Sie, wenn ich gestehen muß, daß, als ich dies hörte, ich die Adresse zurückzuhalten beschloß. Wollen Sie Ihrem alten Freunde und aufrichtigen Berather in Etwas zu Willen sein? Vergessen Sie einmal nicht, wenn ich mich aufs Stärkste dagegen ausspreche, daß Sie Sich unter was immer für einem Vorwande für die Zukunft mit den Schritten Ihrer Schwester zu schaffen machen.

Ich will Sie nicht dadurch betrüben, daß ich mich weiter darüber auslasse. Allein ich fühle ein zu tiefes Interesse für Ihr Wohlergehen und eine zu aufrichtige Bewunderung für die Geduld, mit der Sie bisher alle Ihre Prüfungen erduldet haben, als daß ich weniger sagen dürfte.

Wenn ich Sie nicht dazu vermögen kann, meinen Rath zu befolgen, so brauchen Sie Das nur zu sagen, und Mrs. Lecount soll Ihre Adresse morgen haben. In diesem Falle, den ich nicht ohne die größte Mißbilligung betrachten kann, lassen Sie Sich wenigstens noch anrathen, daß Sie ausmachen, Miss Garth bei der Unterredung zugegen sein zu lassen. In jeder Sache, die Ihre Schwester angeht, können Sie des Rathes eines alten Freundes und des Schutzes eines alten Freundes gegen Ihre eigenen großmüthigen Regungen bedürfen. Wenn ich selber Ihnen auf diese Weise hätte helfen können, so würde ich es gethan haben; allein Mrs. Lecount gab mir versteckt zu verstehen —— daß der Gegenstand, der in Frage kommen solle, zu zarter Natur sei, als daß er meine Anwesenheit vertrage. Was immer dieser Einwurf werth sein möge, er kann sich nicht auf Miss Garth erstrecken, welche Sie Beide von Jugend aus erzogen hat. Ich wiederhole daher, wenn Sie Mrs. Lecount sehen, so sehen Sie sie in Gesellschaft Miss Garths.

Immerdar Ihr getreuer

William Pendril.



Kapiteltrenner

VIII.

Nora Vanstone an Mr. Pendril.

Portland-Platz, Mittwoch.

Lieber Mr. Pendril!

Denken Sie ja nicht, daß ich undankbar bin für Ihre Liebe und Güte. Wahrlich, wahrlich, ich bin es nicht! Allein ich muß Mrs. Leconnt sprechen ——. Sie konnten ja, als Sie an mich schrieben, nicht wissen, daß ich eben einige wenige Zeilen von Magdalenen erhalten hatte, worin sie mir zwar nicht sagte, wo sie gegenwärtig ist, allein die Hoffnung unterhielt, daß wir uns binnen Kurzem sehen sollten. Hat vielleicht Mrs. Lecount mir gerade über diesen Punkt Etwas zu sagen? Selbst wenn es nicht so sein sollte, so ist und bleibt meine Schwester, mag sie thun, was sie will —— immer meine Schwester. Ich kann sie nicht verlassen, ich kann Niemandem den Rücken kehren, welcher in ihrem Namen zu mir kommt. Sie wissen, lieber Mr. Pendril, ich bin immer in diesem Punkte eigensinnig gewesen, und Sie haben immer Geduld mit mir gehabt. Lassen Sie mich Ihnen noch mehr verpflichtet sein, mehr als ich Ihnen vergelten kann, —— aber haben Sie noch ferner Geduld mit mir!

Brauche ich Ihnen erst noch zu sagen, daß ich recht gern Ihren Rath, soweit er Miss Garth betrifft, annehme? Ich habe ihr bereits schriftlich die Bitte mitgetheilt, daß sie morgen Nachmittag vier Uhr hierher kommen möge. Wenn Sie Mrs. Lecount sehen, so benachrichtigen Sie dieselbe gefälligst, daß Miss Garth bei mir sein und daß sie selbst uns hier morgen um vier Uhr bereit finden werde, sie zu empfangen.

Ihre dankbar ergebene

Nora Vanstone.



Kapiteltrenner

IX.

Mr. De Bleriot an Mrs. Lecount.

Darks Häuser, den 28. October.

(Privatmittheilung.)
Liebe Madame!

Einer Von Mr. Loscombes Schreibern hat sich gegen eine geringe Geldvergütung bereit finden lassen und uns einen Umstand mitgetheilt, den zu kennen für Sie von einiger Wichtigkeit sein kann.

So ziemlich vor einem Monate verschaffte der Zufall dem in Frage stehenden Schreiber Gelegenheit, in eine der Urkunden auf seines Herrn Tische Einsicht zu erhalten. Er hatte während Mr. Loscombes augenblicklicher Abwesenheit gerade nur soviel Zeit, seiner Neugier Genüge zu thun, indem er auf den Anfang und das Ende der Urkunde sah. Am Schlusse entdeckte er die Unterschrift von Mr. Noël Vanstone mit dem Namen zweier Zeugen darunter und den Tag —— dessen er ganz gewiß ist ——: den dreißigsten September d. J.

Ehe noch der Schreiber Zeit hatte, weitere Nachforschungen anzustellen, kam sein Herr wieder zurück, ordnete die Papiere auf dem Tische und verschloß sorgfältig das Testament in dem festen Koffer, welcher dazu bestimmt war, Mr. Noël Vanstones Urkunden zu bewahren. Es hat sich herausgestellt, daß Mr. Loscombe gegen Ende September von der Expedition abwesend war. Wenn er damals gebraucht wurde, zur Ueberwachung von seines Clienten Testamenten, was sehr leicht möglich war, so geht doch deutlich hervor, daß er nach seiner Entfernung vom 4. September das Geheimniß von Mr. Vanstones Adresse kannte. Wenn Sie Ihrerseits Nichts thun können, so mag es wohl wünschenswerth sein, den Advocaten unsererseits bewachen zu lassen. In jedem Falle ist es erwiesen, daß Mr. Noël Vanstone nach seiner Verheirathung sein Testament gemacht hat. Ich überlasse es Ihnen, sich Ihre eigenen Schlüsse aus dieser Thatsache zu ziehen, und verbleibe in der Hoffnung, bald von Ihnen zu hören,

Ihr getreuer Diener,

Alfred De Bleriot.



Kapiteltrenner

X.

Miss Garth an Mr. Pendril.

Portland-Platz, den 28. October.

Lieber Herr!

Soeben hat uns Mrs. Lecount verlassen. Wenn es nunmehr nicht zu spät wäre, so würde ich von Grund meines Herzens wünschen, daß Nora Ihren Rath befolgt und sich geweigert hätte, sie zu sprechen.

Ich schreibe in einer solchen geistigen Niedergeschlagenheit, daß ich kaum hoffen kann, Ihnen einen klaren und vollständigen Bericht über die Unterredung zu geben. Ich kann Ihnen nur in der Kürze erzählen, was Mrs. Lecount gethan hat, und welches unsere gegenwärtige Lage ist. Das Uebrige mag verschoben bleiben, bis ich mehr gefaßt bin und Sie persönlich sprechen kann.

Sie werden sich erinneren, daß ich Ihnen von dem Briefe Mittheilung machte, den Mrs. Lecount von Aldborough aus an Nora gerichtet hatte und den ich in deren Abwesenheit an ihrer Statt beantworte. Als Mrs. Lecount heute erschien, zeigten uns ihre ersten Worte an, daß sie gekommen war, um den Gegenstand aufs Neue anzuregen. So gut ich mich besinnen kann, war nun, was sie zu Nora gewendet, sagte, etwa Folgendes:

—— Ich schrieb vor einiger Zeit einen Brief an Sie, Miss Vanstone, betreffs Ihrer Schwester und Miss Garth hatte die Güte, denselben zu beantworten. Was ich damals befürchtete, hat sich nachmals bewahrheitet. Ihre Schwester hat allen meinen Bemühungen, ihr zuvor zu kommen, gespottet, und ist in Gesellschaft meines Herrn, Mr. Noël Vanstone, verschwunden. Sie befindet sich daher in einer so gefährlichen Lage, daß sie in einem einzigen Augenblicke für ihre Lebenszeit zu Grunde gerichtet und entehrt sein kann. Mein Interesse ist es, daß ich meinen Herrn wiedererlange, Ihr Interesse ist es, Ihre Schwester zu retten. Sagen Sie mir —— denn die Zeit ist kostbar —— haben Sie irgendwelche Nachrichten von ihr?

Nora antwortete, so gut ihr Schrecken und Kummer es zuließ:

—— Ich habe einen Brief erhalten, aber es war keine Adresse darin.

Mrs. Lecount frug nun:

— War kein Poststempel auf dem Couvert?

Nora sagte:

—— Ja; Allonby.

—— Allonby ist besser, als Nichts, sprach Mrs. Lecount. Allonby kann uns dazu verhelfen, sie ausfindig zu machen. Wo liegt Allonby?

Nora sagte es ihr. Das Alles ging in einer Minute vor sich. Ich war zu verwirrt und erschrocken, als daß ich mich eher hineinmischen konnte. Allein ich sammelte mich jetzt soweit, daß ich jetzt wenigstens mich ins Mittel legen konnte.

—— Sie haben keine Einzelheiten angegeben, sagte ich, Sie haben uns nur erschreckt, Sie haben uns ja noch gar Nichts erzählt.

—— Sie sollen die näheren Umstände hören, Madame, sprach Mrs.Lecount, und Sie und Miss Vanstone sollen selber urtheilen, ob ich Sie ohne Ursache erschreckt habe.

Hierauf begann sie sogleich eine lange Erzählung, welche ich, möchte ich fast sagen, nicht vermag, welche ich nicht wage, nachzusagen Sie werden das Entsetzen verstehen, welches wir Beide fühlten, wenn ich Ihnen das Ende mittheile. Wenn Mrs. Lecounts Angaben verläßlich sind, so hat Magdalene ihren tollen Entschluß, ihres Vaters Vermögen wieder zu gewinnen, bis zur letzten und verzweifelten Consequenz verfolgt: sie hat Michael Vanstones Sohn unter falschem Namen geheirathet ——!

Ihr Gatte ist bis zu diesem Augenblick noch der festen Meinung, daß ihr Mädchenname Bygrave sei und daß sie wirklich die Nichte eines Schwindlers ist, welcher ihr bei ihrem Betruge Beistand leistete und den ich aus der Beschreibung als Hauptmann Wragge erkenne.

Ich erspare Ihnen Mrs. Lecounts kaltes Zugeständniß, das sie uns machte, als sie sich erhob, um uns zu verlassen, wie es nur ihr eigenes Geldinteresse sei, daß sie wünsche ihren Herrn zu entdecken und ihn aufzuklären. Ich erspare Ihnen die Winke, die sie fallen ließ, über Magdalenens geheime Absicht beim Eingehen dieser schändlichen Ehe. Das einzige Ziel und Ende meines Briefes ist, Sie dringend zu bitten, mir Ihren Beistand zu leisten, um Noras Seelenangst zu beschwichtigen. Der Schlag, den sie durch die mündliche Mittheilung dieser Nachrichten über ihre Schwester erhalten hat, ist noch nicht die schlimmste Folge des Vorgefallenen. Sie hat sich eingeredet, daß die Antworten, welche sie in ihrer Unschuld aus Mrs. Lecounts Fragen wegen des Briefes gab, die ihr unter dem plötzlichen Druck der Verwirrung und des Schreckens abgerungenen Antworten, zu Magdalenens Schaden benutzt werden würden durch das Weib, das sie von vornherein absichtlich darum erschreckte, damit sie die Auskunft gäbe. Ich kann sie von irgend einem verzweifelten Schritte, den sie ihrerseits thun möchte, irgend einem Schritte, durch den sie die Freundschaft und den Schutz der trefflichen Leute, bei denen, sie jetzt lebt, verscherzen könnte, nur dadurch abhalten, daß ich sie daran erinnere, daß, wenn Mrs. Lecount ihren Herrn nur mittelst des Postzeichens auf dem Briefe nachspüre, wir Magdalenen zur selbigen Zeit und auf dieselbe Weise nachspüren können. Welchen Widerwillen Sie nun auch persönlich empfinden mögen, um dies elende Mädchen, welches schon in York so beklagenswerth sich verging, zu retten, so beschwöre ich Sie um Noras willen, jetzt dieselben Schritte zu thun, die wir damals thaten. Schicken Sie mir die einzige Versicherung, welche sie beruhigen kann, die eigenhändige Versicherung, daß die Nachforschungen auch unsererseits bereits begonnen haben. Wenn Sie Dies thun werden, so können Sie sich auf mich verlassen, ich werde, wenn die Zeit kommt, zwischen beiden Schwestern stehen und Noras Frieden, Charakter und künftiges Glück um jeden Preis wahren und schützen.

Ihre aufrichtigst ergebene

Harriet Garth.



Kapiteltrenner

XI.

Mrs. Lecount an Mr. De Bleriot.

den 28. October.

Werther Herr!

Ich habe die Spur gefunden, welche Sie brauchen. Mrs. Noël Vanstone hat an ihre Schwester geschrieben. Der Brief enthält keine Adresse; aber das Postzeichen ist Allonby in Cumberland. Bei Allonby müssen daher die Nachforschungen beginnen. Sie haben bereits die Personalbeschreibung von beiden Ehegatten. Ich empfehle Ihnen dringend, keine unnöthige Zeit zu verlieren. Wenn es möglich ist, augenblicklich nach Empfang dieser Zeilen nach Cumberland zu senden, so bitte ich es zu thun.

Ich habe Ihnen noch ein Wort zu sagen, bevor ich dies mein Billet schließe —— ein Wort über die Entdeckung in Mr. Loscombes Expedition.

Es hat mich nicht überrascht, das; Mr. Noël Vanstone nach seiner Verheirathung sein Testament gemacht hat, und ich kann gar leicht errathen zu wessen Gunsten dasselbe gemacht ist. Wenn es mir glückt, meinen Herrn aufzufinden, so lassen Sie nur die Person das Geld bekommen, wenn sie es im Stande ist! Es ist mir ein Verfahren eingefallen, seitdem ich Ihren Brief erhalten habe; jedoch läßt mich meine Unbekanntschaft mit den Einzelheiten des Geschäftes und den Spitzfindigkeiten des Gesetzes noch ungewiß, ob mein Gedanke einer schnellen und sichern Ausführung fähig ist. Ich will Sie morgen zwei Uhr auf Ihrem Bureau besuchen, um Ihren Rath über diesen Gegenstand zu hören. Es ist von großer Wichtigkeit, daß, wenn ich Mr. Noël Vanstone das nächste Mal sehe, er mich in dieser Angelegenheit mit dem Testament vollständig gerüstet finde.

Ihre ganz ergebene Dienerin,

Virginie Lecount.



Kapiteltrenner

XII.

Mr. Pendril an Miss Garth.

Searle-Street den 29. October.

Liebe Miss Garth!

Ich habe nur einen Augenblick, um Ihnen den Schmerz auszudrücken, mit dem ich Ihren Brief gelesen habe. Die Umstände, unter denen Sie Ihr Ersuchen stellen, und die Gründe, die Sie dafür angeben, daß Sie es stellen, reichen hin, um jeden Einwand zurückzuweisen, den ich sonst gegen das Verfahren, das Sie vorschlagen, vorzubringen hätte. Eine zuverlässige Person, die ich selbst angewiesen habe, wird noch heute nach Allonby abgehen, und sobald ich von derselben irgend welche Nachricht erhalte, sollen Sie durch einen expressen Boten davon Kunde bekommen. Sagen Sie Dies Miss Vanstone und fügen Sie freundlich den aufrichtigen Ausdruck meines Mitgefühles und meiner Hochachtung hinzu.

Ihr Getreuer,

William Pendril.



Kapiteltrenner

XIII.

Mr. De Bleriot an Mrs. Lecount.

Darks Häuser, den l. November.

Liebe Madame!

Ich habe das Vergnügen, Ihnen anzuzeigen, daß die Entdeckung mit weit weniger Schwierigkeit gemacht worden ist, als ich gedacht hätte.

Mr. und Mrs. Noël Vanstone sind über die Meerenge von Solway bis nach Damfries und von da nach einer Villa wenige Meilen von der Stadt an dem Ufer des Nith verfolgt worden. Die genaue Adresse ist:

VILLA BALIOL
bei
DUMFRIES.

Diese so leicht ausgekundschaftete Spur wurde nichtsdestoweniger unter ziemlich seltsamen Verhältnissen und Umständen erlangt.

Ehe die Personen, welche ich dazu angestellt hatte, Allonby verließen, entdeckten sie zu ihrer Verwunderung, daß ein Fremder am Orte war, der dieselben Nachforschungen als sie selber anstellte. Im Mangel jeder Anweisung, die sie auf einen solchen Zwischenfall vorbereiteten, faßten sie den Umstand von ihrem eigenen Gesichtspunkte ins Auge. Indem sie den Mann als Einen, der in ihr Handwerk pfuschte, dessen Erfolg sie um die Ehre und den Gewinn der Entdeckung bringen könnte, ansahen, machten sie sich ihre Ueberlegenheit in der Anzahl und den Umstand, daß sie die Ersten auf dem Platze waren, zu nutze und führten den Fremden gründlich irre, ehe sie mit ihren eigenen Nachforschungen weiter vorgingen. Ich bin von den Einzelheiten ihrer Maßregeln unterrichtet, will Sie aber nicht damit weiter behelligen. Das Ende war, daß diese Person, wer immer sie auch sein möge, in geschickter Weise auf falscher Spur wieder zurück nach Süden geleitet worden ist, ehe die von mir angestellten Leute den Meeresarm überschritten.

Ich erwähne dieses Umstandes, damit Sie besser als ich im Staude seien, den Schlüssel dazu zu finden und, weil er vielleicht geeignet ist, Sie zu veranlassen, Ihre Reise zu beschleunigen.

Ihr getreuer Diener,

Alfred de Bleriot.



Kapiteltrenner

XIV.

Mrs. Lecount an Mr. De Bleriot.

Den l. November.

Lieber Herr!

Nur eine Zeile, um Ihnen anzuzeigen, daß mich Ihr Brief in meiner Wohnung zu London getroffen hat. Ich denke wohl, ich kenne Denjenigen, welcher den fremden Mann nach Allonby schickte, um dort Nachforschungen zu halten. Es kommt wenig darauf an. Ehe er seinen Irrthum einsieht, werde ich in Dumfries sein. Mein Gepäck ist gepackt, und ich gehe mit dem nächsten Zug nach dem Norden.

Ihre tief zu Dank verpflichtete

Virginie Lecount.



Kapiteltrenner

Neuntes Buch.

Auf Villa Baliol in Dumfries..

Erstes Capitel.

Gegen elf Uhr früh am dritten November bot der Frühstückstisch auf Villa Baliol jenen recht eigentlich ungemüthlichen Anblick dar, welchen eine Mahlzeit in einem Uebergangszustande zu gewähren pflegt, d. h. eine Mahlzeit, die für zwei Personen hergerichtet und bereits von einer derselben erledigt worden ist, ohne daß die andere sich derselben genähert hat. Es muß ein scharfer Appetit sein, welcher ohne augenblickliche Entmuthigung die zerbrochenen Eierschalen, die halbabgegessenen Fischgräten, die Fleischreste in der Schüssel und die Neigen in den Tassen anschauen kann. Es liegt gewiß eine ganz kluge Rücksichtnahme auf diese Schwäche der menschlichen Natur, die man achten und mit nichten tadeln muß, in der fürsorglichen Schnelligkeit, mit der die Bedienung an öffentlichen Orten alle Spuren des früheren Gastes aus den Augen des gegenwärtigen Gastes wegzuräumen beflissen ist. Mag auch der Vorgänger am Tische die Frau unserer Liebe oder das Kind unseres Herzens gewesen sein: Niemand kann sich den Spuren eines verschwundenen Essers gegenüber befinden, ohne das vorübergehende Gefühl des Widerwillens in Beziehung auf sein eigenes Mahl.

Solch ein Eindruck drängte sich auch Mr. Noël Vanstone auf, als er kurz nach elf Uhr in das einsame Frühstückszimmer auf Villa Baliol trat. Er sah mit Unlust auf den Tisch und zog die Klingel mit einem Ausdruck des Widerwillens...

—— Räume dies Essen hinweg, sprach er, als die Bedienung erschien. Ist Deine Herrin fort?

—— Ja, Sir, fast schon eine Stunde.

—— Ist Louise unten?

—— Ja, Sir.

—— Wenn Du den Tisch in Ordnung gebracht hast, so schicke Louisen zu mir herauf.

Er ging ans Fenster hin. Die augenblickliche Gereiztheit verschwand von seinem Gesichte, hinterließ aber einen gewissen bleibenden Ausdruck darin, einen Ausdruck von schmerzlicher Unzufriedenheit. Was sein Aeußeres anlangte, so hatte ihn seine Verheirathung zum Schlimmeren verändert. Seine weißlichen kleinen Wangen waren im Zusammenschrumpfen, seine schwächliche kleine Gestalt hatte sich schon leicht zusammengekrümmt. Die frühere Zartheit seiner Gesichtsfarbe war verschwunden —— die kränkliche Blässe derselben war Alles, was davon übrig war. Sein dünner, flachsgelber Schnurrbart war nicht mehr sorgfältig gewichst und in einen zierlichen Schnörkel gekräuselt, ihre zarten flaumigen Enden hingen matt herab über die kläglich verzogenen Mundwinkel hätte man die zehn bis zwölf Wochen seit seiner Verheiratung nach seinem Aussehen berechnen wollen, so konnten sie wohl als zehn bis zwölf Jahre geschätzt werden. Er stand am Fenster und las gedankenlos Blättchen aus einem Haidekrauttopfe, der davor stand, und summte traurig ein abgerissenes Stück von einer klagenden Melodie.

Die Aussicht vom Fenster ging auf den Nithfluß bei einer seiner Krümmungen, die wenige Meilen oberhalb Dumfries war. Hier und da durch winterliche Lücken auf dem bewaldeten Ufer begegneten breite Streifen des flachen bebauten Thallandes dem Auge. Boote fuhren auf dem Flusse, und Wagen rasselten auf der Landstraße auf ihrem Wege nach Dumfries. Die Luft war hell, die Novembersonne schien so freundlich, als wenn das Jahr um zwei Monate jünger wäre, und die in Schottland wegen ihres friedsamen freundlichen Zaubers berühmte Aussicht stellte sich im besten Lichte dar, wie es ihr winterlicher Charakter nur gestattete. Wenn sie in Nebel verhüllt oder mit Regen getränkt gewesen wäre, so würde sie Mr. Noël Vanstone allem Anscheine nach ebenso anziehend gefunden haben, als jetzt. Er wartete am Fenster, bis er Louisens Klopfen an der Thür hörte, drehte sich dann plötzlich nach der Frühstückstafel um und sagte: ——

—— Herein!

—— Bereite den Thee! sprach er weiter. Ich verstehe mich nicht darauf. Ich werde hier vernachlässigt. Niemand hilft mir.

Die verschwiegene Louise gehorchte schweigend und ehrerbietig.

—— Hinterließ Deine Herrschaft einige Worte für mich, frug er, ehe sie wegging?

—— Nichts Besonderes, nein, Sir. Meine Herrschaft sagte nur, sie würde zu spät kommen, wenn sie länger auf das Frühstück wartete.

—— Weiter sagte sie Nichts?

—— Sie sagte mir am Wagenschlage, Sir, daß sie sehr wahrscheinlich Ende der Woche zurück sein werde.

—— War sie: guter Laune an dem Wagenschlage?

—— Nein, Sir. Ich dachte, meine Herrin schiene sehr ängstlich und unruhig. —— Gibt es noch was zu thun für mich, Sir?

—— Ich weiß nicht. Warte eine Minute.

Er fuhr unbefriedigt mit seinem Frühstück fort. Louise wartete geduldig an der Thür.

—— Ich denke, Deine Herrin ist in der letzten Zeit immer schlechter Laune gewesen, begann er wieder mit einem plötzlichen Ausbruche von Unleidlichkeit.

—— Meine Herrin ist nicht sehr heiter gewesen, Sir.

—— Was meinst Du mit »nicht sehr heiter«? Denkst Du mir auszuweichen? Bin ich Nichts im Hause? Soll ich über Alles im Dunkeln gelassen werden? Kann Deine Herrin fortgehen nach ihren Geschäften und mich hier wie ein Kind zu Hause lassen —— und kann ich nicht einmal eine Frage über sie thun? Soll mir sogar ein Dienstbote ausweichend kommen? Ich will nicht, daß man mir ausweichend komme! Nicht sehr heiter? Was meinst Du mit Deinem »nicht sehr heiter«?

—— Ich meinte nur, daß meine Herrin nicht guter Laune war, Sir.

—— Warum konntest Du das nicht gleich sagen? Kennst Du nicht die Bedeutung mancher Worte? Die furchtbarsten Folgen hängen zuweilen mit der Unkenntniß der Bedeutsamkeit mancher Worte zusammen. Sagte Dir Deine Herrin, daß sie nach London ginge?

—— Ja, Sir.

—— Was dachtest Du Dir, als Dir Deine Herrin sagte, daß sie nach London ginge? Hieltest Du es für thöricht, daß sie ohne mich dahin ginge?

—— Ich nahm mir nicht heraus, es für thöricht zu halten, Sir. —— Ist hier noch Etwas für mich zu thun, Sir, darf ich bitten?

—— Was für ein Morgen ist es draußen? Ist es warm? Ist die Sonne im Garten?

—— Ja, Sir.

—— Hast Du die Sonne selbst im Garten gesehen?

—— Ja, Sir.

—— Gib mir meinen großen Rock, ich will einen Gang machen. Hat der Bediente ihn gebürstet? Hast Du selber den Bedienten ihn bürsten sehen? —— Was verstehst Du unter Bürsten, wenn Du sagst, er habe ihn gebürstet, sobald Du es nicht gesehen hast? Laß mich die Schöße sehen, wenn ein Staubfleck auf den Schößen ist, so drehe ich dem Bedienten den Hals um! Hilf mir ihn anziehen.

Louise half ihm den Rock anziehen und gab ihm seinen Hut. Er ging ärgerlich fort. Der Rock war lang —— er hatte seinem Vater gehört ——; der Hut war groß —— er paßte ihm nicht, er hatte ihn selber wohlfeil gekauft. Er stak über und über in seinem Hut und seinem Rock und sah daher äußerst klein, schwächlich und elend aus, wie er in dem winterlichen Sonnenschein seines Weges dahinwandelte den Gartenweg entlang. Der Pfad zog sich sanft hinter dem Hause vor nach der Wasserseite hin, und dort war er durch ein niederes hölzernes Gehege begrenzt. Nachdem er langsam eine kleine Weile rückwärts und vorwärts gewandelt war, blieb er am unteren Ende des Gartens stehen, lehnte sich gegen das Staket und schaute unaufmerksam auf die glatte Fluth des Flusses nieder.

Seine Gedanken eilten hinweg und waren noch immer bei dem Gegenstande seiner ersten ärgerlichen Frage an Louisen, er grübelte über die Umstände nach, unter denen seine Gattin diesen Morgen die Villa verlassen hatte, und über den Mangel an Achtung vor ihm selbst, welcher in der Art ihrer Abreise lag. Je länger er über seinen Kummer nachsann, desto empfindlicher fühlte er dessen Stachel. Er hatte ein starkes Zartgefühl, wenn es sich um eine Verletzung seines Selbstgefühles handelte! Sein Haupt sank allmählich auf seine Arme herab, wie sie auf dem Staket ruhten, und in der tiefen Aufrichtigkeit seiner Zerknirschung seufzte er bitterlich. ——

Der Seufzer wurde durch eine Stimme dicht an seiner Seite beantwortet.

—— Bei mir waren Sie doch glücklicher, Sir! sagte die Stimme im Tone zartesten Bedauerns.

Er schaute auf mit einem Schrei, buchstäblich mit einem Schrei und —— stand Mrs. Lecount gegenüber.

War es der Geist dieses Weibes oder das Weib selber? Ihr Haar war weiß, ihr Gesicht war eingefallen, ihre Augen sahen groß, hell und verstört über ihre hohlen Wangen herunter. Sie war alt und hinfällig geworden. Ihr Kleid hing in Falten um ihre eingefallene Gestalt: nicht eine Spur von ihrer muntern herbstlichen Schönheit war geblieben. Die ruhige verschlossene Entschiedenheit, die sanft einschmeichelnde Stimme —— das waren die einzigen Ueberbleibsel aus der Vergangenheit, welche Mrs. Lecount infolge ihrer Krankheit und ihrer Leiden geblieben waren.

—— Fassen Sie sich, Mr. Noël, sagte sie sanft. Sie haben keine Ursache, bei meinem Anblicke zu erschrecken Ihr Dienstmädchen sagte mir, als ich sie frug, daß Sie im Garten seien, und ich kam hierher, Sie zu suchen. Ich habe Sie ohne Groll aufgespürt, Sir, gegen Ihren Willen, aber ohne Sie nur durch den Schatten eines Vorwurfs betrüben zu wollen. Ich komme hierher in Dem, was da war und noch ist die Beschäftigung meines Lebens: in Ihrem Dienste. Er erholte sich ein wenig, war aber noch immer unfähig zu sprechen. Er hielt sich an dem Staket fest und starrte Sie an.

—— Versuchen Sie im Geiste zu fassen, Sir, was ich zu Ihnen sage, fuhr Mrs. Lecount fort. Ich bin nicht als Ihre Feindin, sondern als Ihre Freundin hierhergekommen. Ich bin heimgesucht worden durch Krankheit, bin heimgesucht worden durch Herzeleid. Nichts ist von mir übrig geblieben, als mein Herz. Mein Herz vergibt Ihnen, mein Herz stellt mich in Ihrer herben Noth, einer Noth, die Sie erst noch kennen sollen, als Dienerin an Ihre Seite. Nehmen Sie meinen Arm, Mr. Noël. Ein kleiner Gang in der Sonne wird Ihnen helfen wieder zu sich zu kommen.

Sie steckte seine Hand unter ihren Arm und führte ihn langsam den Gartenweg hinauf. Ehe sie fünf Minuten in seiner Gesellschaft war, hatte sie bereits wieder vollen Besitz von ihm genommen, als wie von einem ihr zustehenden Rechte.

—— Nun wieder hinunterwärts, Mr. Noël, sagte sie, langsam wieder hinunter in diesem schönen Sonnenschein. Ich habe Ihnen viel zu sagen, Sir, was Sie niemals von mir zu hören erwartet haben. Lassen Sie mich eine kleine häusliche Frage thun. Man sagte mir an der Hausthür, Mrs. Noël Vanstone sei verreist. Ist sie auf lange verreist?

Die Hand ihres Herrn zitterte auf ihrem Arme, als sie diese Frage that. Anstatt sie zu beantworten, versuchte er schwach, sich zu entschuldigen. Die ersten Worte, welche ihm entschlüpften, wurden durch das erste Zurückkehren seines Bewußtseins, eingegeben, des Bewußtseins, daß seine Haushälterin ihn in ihren Gewahrsam genommen habe. Er versuchte sich im Guten mit Mrs. Lecount auseinander zu setzen.

—— Ich dachte immer, Etwas für Sie zu thun, sagte er mit gezwungenem Lächeln. Sie würden von mir binnen Kurzem gehört haben. Auf mein Wort und meine Ehre, Lecount, Sie würden binnen Kurzem von mir gehört haben!

—— Ich ziehe es gar nicht in Zweifel, Sir, erwiderte Mrs. Lecount. Aber jetzt, bitte, denken Sie gar nicht an mich. Jetzt kommen Sie und Ihre Interessen zuerst.

—— Wie kamen Sie nur hierher? frug er, erstaunt auf sie hin blickend. Wie konnten Sie mich ausfindig machen?

—— Das ist eine lange Geschichte, Sir, ich will Sie Ihnen ein ander Mal erzählen. Lassen Sie es genug sein, wenn ich jetzt sage, ich habe Sie gefunden. Wird Mrs. Noël heute wieder heimkehren? —— Ein wenig lauter, Sir, ich kann Sie kaum verstehen. —— So! so! Nicht wieder zurück vor Ende der Woche! Und wohin ist sie gegangen? —— Nach London sagte Sie? Und wozu? —— ich bin nicht neugierig, Mr. Noël; ich thue ernste Fragen und nur nothgedrungen. Warum hat Ihre Frau Sie hier verlassen und ist allein nach London gegangen?

Sie waren wieder beim Staket unten, als sie diese letzte Frage stellte, und sie wartete daran gelehnt, daß Noël Vanstone antworten sollte. Ihre wiederholten Versicherungen, daß sie ihm nicht böse sei, brachten allmählich ihre Wirkung auf ihn hervor: er begann sich vom Schreck zu erholen. Die alte trostlose Gewohnheit, alle seine Klagen an seine Haushälterin zu richten, kehrte bereits wieder, so wie Mrs. Lecount wieder auftrat, kehrte sogleich wieder in Verbindung mit dem ihn meisternden Verlangen, von seinen Unannehmlichkeiten zu sprechen, das ihn schon an dem Frühstückstische überwältigt und die seiner Eitelkeit angethanene Verletzung der Kammerjungfer seiner Frau gegenüber verrathen hatte.

—— Ich kann nicht einstehen für Mrs. Noël Vanstone, sagte er giftig, Mrs. Noël Vanstone hat mich nicht mit der mir zukommenden Achtung behandelt. Sie hat meine Erlaubniß als gegeben vorausgesetzt und nur für gut befunden, mir zu sagen, daß der Zweck ihrer Reife sei, ihre Freunde in London zu besuchen. Sie ging diesen Morgen fort, ohne mir Lebewohl zu sagen, sie geht ihren eigenen Weg, als ob ich Nichts wäre, sie behandelt mich wie ein Kind. Sie können es nicht glauben, Lecount, —— aber ich weiß nicht einmal, wer denn ihre Freunde sind. Ich bin ganz im Dunkeln gelassen —— man überläßt mir zu. errathen, daß ihre Freunde in London ihr Oheim und ihre Tante sind.

Mrs. Lecount sah bei sich die Frage im Lichte ihres eigenen in London erlangten Wissens von der Sache an. Sie fand alsbald den naheliegenden Schluß. Nachdem Magdalene ihrer Schwester im ersten Augenblicke geschrieben hatte, war sie aller Wahrscheinlichkeit nach dem Briefe in Person nachgefolgt. Es war kaum zu bezweifeln, daß die Freunde, die sie in London besuchen wollte, keine anderen als ihre Schwester und Miss Garth seien.

—— Nicht ihr Oheim und ihre Tante, Sir, begann Mrs. Lecount ruhig aufs Neue. Ich will Ihnen Etwas unter vier Augen sagen: Sie hat gar keinen Oheim und keine Tante. Aber erst noch einen kleinen Gang durch den Garten, ehe ich mich deutlicher erkläre —— noch einen kleinen Gang, unt Ihren Geist zu beruhigen.

Sie nahm ihn noch einmal in Beschlag und führte ihn nach dem Hause zurück.

—— Mr. Noël, sagte sie, indem sie plötzlich mitten im Gehen inne hielt. Wissen Sie, was das schlimmste Unglück war, das Sie sich in Ihrem Leben zufügten? —— Ich will es Ihnen sagen. Das größte Unglück war —— daß Sie mich nach Zürich schicken.

Seine Hand begann abermals aus ihrem Arm zu zittern.

Ich habe es nicht gethan! schrie er kläglich. Es war Mr. Bygrave allein.

—— Sie geben also zu, Sir, daß Mr. Bygrave mich hinterging? fuhr Mrs. Lecount fort. Ich bin froh, Das zu hören. Sie werden dann um so bereitwilliger sein, die nächste Entdeckung zu machen, die Ihrer harrt, die Entdeckung, daß Mr. Bygrave auch Sie getäuscht hat. Er ist nicht hier, um mir durch die Finger zu schlüpfen, und ich bin hier nicht die verlassene Frau, die ich in Aldborough war. Gott sei Dank!

Sie murmelte diesen frommen Ausruf zwischen den Zähnen. Ihr ganzer Haß gegen Hauptmann Wragge zischte ihr in diesen Worten über die Lippen.

—— Seien Sie so gut, Sir, und halten Sie einmal die eine Seite meiner Reisetasche, begann sie wieder, während ich sie öffne und Etwas herausnehme.

Das Innere der Tasche brachte eine Anzahl sauber zusammengefalteter Papiere, die alle in Ordnung und von außen nummeriert waren, zu Tage. Mrs. Lecount nahm eines von den Papieren heraus und schloß die Tasche wieder zu durch einen Druck auf das Schloß, das laut zuschnappte.

—— In Aldborough, Mr. Noël, hatte ich nur meine Ansicht zu meiner Unterstützung, bemerkte sie. Meine Ansicht war, gegen Miss Bygraves Jugend und Schönheit und Mr. Bygraves Abgefeimtheit ließe sich Nichts sagen. Ich konnte nur mit handhaften Beweisen Ihre Behexung zu bekämpfen hoffen, und zu damaliger Zeit hatte ich sie nicht. Jetzt habe ich sie aber! Ich bin über und über bewaffnet mit Beweisen, ich starre von Kopf bis zu Fuß von Beweisen, ich breche mein erzwungenes Stillschweigen und spreche zu Ihnen mit dem vollen Gewicht meiner Beweise. —— Kennen Sie diese Schrift, Sir?

Er fuhr vor dem Papier zurück, das sie ihm vorhielt.

—— Ich verstehe Dies nicht, sagte er gereizt und aufgeregt. Ich weiß gar nicht, was Sie wollen oder was Sie meinen ——.

Mrs. Lecount drückte ihm das Papier mit Gewalt in die Hand.

—— Sie sollen erfahren, was ich meine, Sir, wenn Sie mir nur einen Augenblick aufmerksam zuhören wollen, sagte sie. —— An dem Tage, nachdem Sie nach St. Crux gegangen waren, erhielt ich Einlaß in Mr. Bygraves Haus —— und hatte eine geheime Unterredung mit Mr. Bygraves Frau. Diese Unterredung verschaffte mir die Mittel in die Hände, um Sie zu überzeugen, Mittel, nach denen ich Woche auf Woche vorher getrachtet hatte. Ich schrieb Ihnen einen Brief, um Ihnen Das zu erzählen, um Ihnen zu melden, daß ich meine Stelle in Ihren Diensten und meine Anwartschaft auf Ihre Freigebigkeit aufs Spiel setzen wollte, falls ich, sobald ich aus der Schweiz zurück käme, Ihnen nicht bewiese, daß mein geheimer Argwohn gegen Miss Bygrave begründet sei. Ich richtete diesen Brief an Sie nach St. Crux und gab ihn selbst auf die Post. Jetzt, Mr. Noël, lesen Sie das Papier, das ich Ihnen in die Hand gedrückt habe. Es ist Admiral Bartrams schriftliche Erklärung, daß mein Brief nach St. Crux gelangte und daß er ihn selber im Einschluß an Mr. Bygrave auf Ihr eigenes Geheiß an Sie weiter besorgte. Gab Ihnen Mr. Bygrave jemals diesen Brief? Regen Sie sich nicht auf, Sir! Ein Wort der Antwort wird genügen —— Ja oder Nein?

Er las das Papier und sah zu ihr mitwachsender Verwirrung und Furcht hinauf. Sie wartete hartnäckig, bis er sprach.

—— Nein, sagte er schwach; ich erhielt niemals diesen Brief.

—— Erster Beweis! sagte Mrs. Lecount, indem sie ihm das Papier wieder wegnahm und es in den Reisesack steckte. Noch einen weiteren mit Ihrer gütigen Erlaubniß, ehe wir zu noch ernsteren Dingen kommen. Ich gab Ihnen, Sir, zu Aldborough die schriftliche Beschreibung einer nicht genannten Person und ersuchte Sie, dieselbe mit Miss Bygrave zu vergleichen, sobald Sie das nächste Mal in deren Gesellschaft seien. Nachdem Sie erst Mr. Bygrave die Beschreibung gezeigt haben, —— es ist unnöthig, es jetzt zu leugnen, Mr. Noël, Ihr Freund auf Nordsteinvilla ist nicht hier, um Ihnen zu helfen! —— nachdem Sie meinen Zettel erst Mr. Bygrave gezeigt hatten, machten Sie die Vergleichung und fanden, daß sie in dem wichtigsten Punkte nicht zutraf. Wohl waren zwei kleine Male dicht neben einander auf der linken Seite des Nackens in meiner Beschreibung der unbekannten Dame angegeben; aber es waren durchaus keine solchen vorhanden, als Sie Miss Bygraves Nacken anschauten. —— Ich bin alt genug, um Ihre Mutter sein zu können, Mr. Noël. Wenn die Frage nicht unzart ist —— darf ich fragen, wie es jetzt mit Ihrer Kenntniß von dem Nacken Ihrer Frau steht?

Sie sah ihn mit unbarmherziger Festigkeit an. Er zog sich einige Schritte zurück, indem er sich vor ihrem Blicke nieder duckte.

—— Ich kann es nicht sagen, stammelte er, ich weiß es nicht... Was wollen Sie mit diesen Fragen sagen?.. Ich habe niemals wieder an die Male gedacht, ich sah nie wieder hin... Sie trägt ihr Haar tief herunter...

—— Sie hat allen Grund, ihr Haar so zu tragen, Sir, bemerkte Mrs. Lecount. Wir wollen suchen und das Haar in die Höhe ziehen, ehe wir mit dem Gegenstand vollends fertig sein werden. —— Ich sah, als ich hierher kam, um Sie im Garten aufzusuchen, eine hübsche junge Person durchs Küchenfenster mit ihrer Arbeit in der Hand, die mir wie eine Kammerjungfer aussah. Ist diese junge Person die Kammerjungfer Ihrer Gattin? Entschuldigen Sie, Sir, sagten Sie jetzt Ja? —— In diesem Falle noch eine andere Frage, wenn es Ihnen gefällig ist. Haben Sie dieselbe in Dienst genommen, oder Ihre Gattin?

—— Ich nahm sie in Dienst...

—— Während ich weg war? Während ich in gänzlicher Unkenntniß darüber war, daß Sie damit umgingen, eine Frau oder eine Kammerjungfer zu nehmen?

—— Ja.

—— Unter diesen Umständen, Mr. Noël, können Sie füglich nicht auf den Gedanken kommen, als stecke ich mit dem Mädchen unter einer Decke, um gegen Sie Ränke zu spinnen. Gehen Sie hinein, Sir, während ich hier außen warte. Fragen Sie das Mädchen, das früh und abends Mrs. Noël Vanstone die Haare macht, ob seine Herrin ein Muttermal auf der linken Seite ihres Nackens hat, und wenn dies der Fall ist, was es für ein Mal ist.

Er ging wenige Schritte nach dem Hause zu, ohne ein Wort herauszubringen, blieb dann stehen und sah nach Mrs. Lecount zurück. Seine blinzelnden Augen waren fest, und sein weißliches Gesicht war plötzlich wieder ruhig geworden. Mrs. Leconnt ging ein wenig vorwärts und trat zu ihm. Sie sah die Veränderung, irrte sich jedoch bei aller ihrer Erfahrung von ihm in der Erklärung derselben.

—— Brauchen Sie einen Vorwand, Sir? frug sie. Fehlt es Ihnen an einem »Gewerbchen«, um der Kammerjungfer Ihrer Gattin eine Frage vorzulegen, wie Sie nach meinem Wunsche thun sollen? Vorwände sind leicht gefunden, welche Personen in deren Lebensstellung genügen müssen. Sagen Sie ihr, ich sei hierhergekommen mit der Nachricht von einem Vermächtniß für Mrs. Noël Vanstone, und es sei erst dabei die Frage zu entscheiden, ob sie die rechte Person sei, ehe sie das Geld erhalten könne.

Sie zeigte auf das Haus. Er schenkte diesem Winke keine Aufmerksamkeit. Sein Gesicht wurde bleicher und bleicher. Ohne sich zu rühren oder zu sprechen, stand er da und schaute sie an.

—— Fürchten Sie sich? frug Mrs. Leconut.

Diese Worte stachelten ihn auf, diese Worte warfen endlich einen Funken von Männlichkeit in ihn. Er wandte sich nach ihr um, wie ein Lamm gegen einen Hund.

—— Ich will nicht ausgefragt und gegängelt sein! brach er heraus, indem er unter dem neuen Gefühl seines eigenen Muthes heftig zitterte. Ich will mir nicht länger bange machen und mich im Dunklen herum führen lassen! Wie fanden Sie mich an diesem Orte aus? Was wollen Sie eigentlich hier mit Ihren Andeutungen und Ihrer Geheimnißkrämerei? Was haben Sie gegen meine Frau vorzubringen?

Mrs. Lecount öffnete ruhig ihre Reisetasche und nahm ihr Riechfläschchen heraus, um es für den Nothfall bei der Hand zu haben.

—— Sie haben deutlich mit mir gesprochen, sagte sie. Sie sollen nun auch in deutlichen Worten Ihre Antwort haben.

Ihre Blicke und ihre Stimme setzten ihn unwillkürlich in Furcht. Sein Muth begann wieder zu sinken und, so verzweifelt er auch versuchte, seine Stimme fest zu machen, so zitterte sie doch, als er ihr antwortete.

—— Geben Sie mir die Antwort, sagte er, aber geben Sie mir sie sogleich.

—— Ihr Befehl soll buchstäblich befolgt werden, versetzte Mrs. Lecount. Ich bin hierher gekommen aus zweierlei Gründen: Ihnen die Augen zu öffnen über Ihre Lage und dann Ihnen Ihr Vermögen zu retten, vielleicht auch Ihr Leben. —— Ihre Lage ist folgende. Miss Bygrave hat Sie unter falschem Charakter und Namen geheirathet. —— Können Sie Ihr Gedächtnis; auffrischen? Können Sie sich des verkleideten Frauenzimmers entsinnen, welches Sie auf der Vauxhallpromenade bedrohte? Jenes Frauenzimmer ist —— so gewiß ich hier vor Ihnen stehe —— jetzt Ihre Frau.

Er sah sie in athemlosem Schweigen an. Der Mund blieb ihm offen stehen, seine Augen starrten leer vor sich hin und forderten Erklärung. Die Plötzlichkeit der Enthüllung hatte über ihr Ziel hinausgeschossen. Sie hatte ihn verblüfft.

—— Meine Frau? wiederholte er und brach in ein dummes Lachen aus.

—— Ihre Frau, wiederholte Mrs. Lecount.

Bei diesen abermals gesprochenen Worten ließ der betäubende Druck auf seinem Geiste nach. Ein Gedanke dämmerte ihm zum ersten Male auf. Seine Augen hefteten sich auf sie mit geheimen: Schrecken, und er zog sich schnell von ihr zurück.

—— Wahnsinnig! sprach er vor sich hin, indem ihm auf einmal einfiel, was sein Freund Mr. Bygrave ihm zu Aldborough gesagt hatte, und worin er nun durch seine eigenen Augen durch die häßliche Veränderung, die er auf ihrem Gesichte wahrnahm, bestärkt wurde.

Er flüsterte es nur vor sich hin, aber Mrs. Lecount hörte es. Sie war augenblicklich wieder neben ihm. Zum ersten Male verließ? sie ihre Selbstbeherrschung, und sie faßte ihn zornig beim Arm.

—— Wollen Sie meinen Wahnsinn auf die Probe stellen, Sir? frug sie.

Er machte sich von ihr los, er begann wieder Muth zu schöpfen bei der starken Aufrichtigkeit seines Unglaubens, Muth um der Behauptung entgegenzutreten, welche sie fortfuhr, ihm aufzudrängen.

—— Ja, antwortete er. Was soll ich thun?

—— Thun Sie, was ich Ihnen sagte, sprach Mrs. Lecount. Legen sie auf der Stelle der Jungfer jene Frage über ihre Herrin vor. Und wenn sie Ihnen sagt, daß das Mal dort ist, so thun Sie noch Etwas. Nehmen Sie mich mit in das Zimmer Ihrer Frau und machen Sie in meiner Gegenwart bereit Kleiderschrank mit eigenen Händen auf.

—— Was haben Sie mit ihrem Kleiderschrank zu thun?

—— Das sollen Sie erfahren, wenn Sie ihn aufmachen.

—— Sehr seltsam! sagte er gedankenlos vor sich hin. Es ist wie eine Scene in einem Romane, es geht gar nicht natürlich zu...

Er ging langsam ins Haus, und Mrs. Lecount wartete auf ihn im Garten.

Nachdem er wenige Minuten abwesend gewesen war, kam er wieder zum Vorschein auf der aus dem Garten ins Haus führenden Treppe. Er hielt sich mit einer Hand an das eiserne Geländer, während er mit der andern Mrs. Lecount bat, zu ihm auf die Treppe zu kommen.

—— Was sagt das Mädchen? frug sie, als sie ihm nahe, war ist das Mal da?

Er antwortete:

—— Ja.

Was er von dem Mädchen gehört, hatte eine merkwürdige Veränderung in ihm hervorgebracht. Das Entsetzen der bevorstehenden Enthüllung hatte sich bereits lähmend auf seinen Geist gelegt. Er bewegte sich, ohne zu wissen, was er that, er sah aus und sprach wie im Traume.

—— Wollen Sie meinen Arm nehmen, Sir?

Er schüttelte mit dem Kopfe und wies sie, indem er ihr in der Flur und die Treppe hinauf voranschritt, in das Zimmer seiner Frau. Als sie zu ihm trat und die Thür aufschloß, stand er da und ließ Alles geschehen, indem er sich, ohne eine Bemerkung zu machen, ohne äußerlich eine Ueberraschung zu verrathen, von ihr leiten ließ. Er hatte weder Hut noch Ueberrock abgelegt. Mrs. Lecount nahm ihm Beides ab.

—— Ich danke Ihnen, sagte er mit der Gelehrigkeit eines wohlgezogenen Kindes. —— Es ist wie eine Scene in einein Roman es geht nicht natürlich zu...

Das Schlafgemach war nicht sehr groß, und die Möbel waren plump und altmodisch. Aber Spuren von Magdalenens natürlichen: Geschmack und Schönheitssinn waren überall sichtbar in den kleinem Ausputz, welcher das Ansehen des Zimmers verschönte und belebte. Der Duft von trockenen Rosenblättern war in der kalten Luft vorherrschend und stark. Mrs. Lecount roch diesen Duft mit schauderndem Widerwillen und öffnete das Fenster von Unten bis oben.

—— Puh! sagte sie mit tugendsamem Entsetzen, die echte Luft des Betrages!

Sie fetzte sich an das Fenster. Der Kleiderschrank stand an der Wand gegenüber, und das Bett war an der Seite ihr zur Rechten.

—— Machen Sie den Kleiderschrank auf, Mr. Noël, sagte sie. Ich komme ihm nicht zu nahe, ich rühre darin Nichts an. Nehmen Sie die Kleider mit eigener Hand heraus und legen Sie dieselben aufs Bett. Nehmen Sie eins nach dem andern heraus, bis ich sage, daß Sie aufhören.

Er gehorchte ihr.

—— Ich wills so gut machen als ich kann. Meine Hände sind kalt, und mein Kopf ist halb im Schlafe...

Der zu entfernenden Kleider waren nicht viele; denn Magdalene hatte einige derselben mit fortgenommen. Nachdem er zwei Kleider aufs Bett gelegt hatte, wurde er genöthigt, in den inneren Räumen des Schrankes zu suchen, ehe er ein drittes finden konnte. Als er es hervorbrachte, gab ihm Mrs. Lecount ein Zeichen, inne zu halten. Der Zweck war bereits erreicht, er hatte das braune Alpacakleid gefunden.——

—— Legen Sie es auf dem Bett auseinander, sagte Mrs. Lecount. Sie werden eine doppelte Frisur um den Saum desselben laufen sehen. Heben Sie die äußere Frisur in die Höhe und lassen Sie die innere Zoll für Zoll durch Ihre Finger gleiten. Wenn Sie zu einer Stelle kommen, wo ein Stück ans dem Zeuge fehlt, so halten Sie inne und sehen Sie mich an.

Er ließ die Frisur langsam durch die Finger gehen über eine Minute, hielt dann inne und sah auf. Mrs Lecount holte ihre Brieftasche heraus und öffnete sie.

—— Jedes Wort, das ich jetzt sage, Sir, ist von ernsten Folgen für Sie und für mich, sprach sie. Hören Sie mich mit der gespanntesten Aufmerksamkeit an. —— Als das Weib, das sich Miss Garth nannte, uns auf Vanxhallpromenade besuchte, kniete ich hinter dem Stuhle, auf welchem es saß, nieder und schnitt ein Stückchen Zeug von dem Kleide aus, das es trug, um mit Hilfe desselben das Kleid wieder zu kennen, wenn ich es je wiedersah. Ich that dies, als die ganze Aufmerksamkeit des Frauenzimmers auf das Gespräch mit Ihnen gerichtet war. Das Stückchen Zeug ist in meiner Brieftasche geblieben. Von jener Zeit an bis zu diesem Augenblicke. Sehen Sie selbst, Mr. Rost, ob es in die Lücke des Kleides paßt, welches Sie eben eigenhändig aus dem Kleiderschrein Ihrer Frau genommen haben.

Sie stand auf und gab ihm übers Bett das Stück Zeug in die Hand. Er legte es in die fehlende Stelle der Frisur, so gut es seine zitternden Finger ihm gestatteten.

—— Paßt es, Sir? frug Mrs Lecount.

Das Kleid fiel ihm aus-den Händen, und die tödtliche bläuliche Blässe, vor welcher jeder Doktor, der ihn in Behandlung gehabt hatte, seine Haushälterin gewarnt hatte, verbreitete sich langsam über sein Gesicht. Mrs. Lecount hatte nicht auf eine solche Antwort auf ihre Frage gerechnet, wie sie jetzt auf seinen Wangen sah. Sie eilte um das Bett herum auf ihn zu mit dem Riechfläschchen in der Hand. Er sank auf seine Kniee und hielt sich an ihrem Kleide mit dem angstvollen Klammern eines Ertrinkenden.

—— Retten Sie mich! röchelte er in heiserm, athemlosem Flüstern. Ach, Lecount, retten Sie mich!

—— Ich verspreche, Sie zu retten, sprach Mrs. Lecount, ich bin hier mit den Mitteln und dem entschlossenen Willen, Sie zu retten. Kommen Sie von diesem Orte hinweg, kommen Sie näher an die Luft.

Sie hob ihn in die Höhe, wie sie so sprach, und führte ihn durchs Zimmer nach dem Fenster hin.

—— Fühlen Sie wieder die linke Schläfe schmerzen? frug sie mit den früheren Zeichen von Unruhe, die sie jetzt an den Tag gelegt hatte. Hat Ihre Frau etwas Eau de Cologne, etwas flüchtiges Salz in ihrem Zimmer? Machen Sie sich nicht matt durch Sprechen, —— zeigen Sie nur auf die Stelle!

Er zeigte nach einem kleinen dreieckigen Wandschrank von altem wurmstichigen Nußholz, der in einer Ecke des Zimmers in der Höhe an gebracht war. Mrs Lecount versuchte ihn zu öffnen, die Thür war verschlossen.

Als sie diese Entdeckung machte, sah sie sein Haupt allmählich auf den Lehnstuhl sinken, auf den sie ihn gesetzt hatte. Die Warnung des Arztes in früheren Jahren:

—— Lassen Sie ihn ohnmächtig werden, so ist es sein Tod! fiel ihr wieder ein, als wenn sie erst gestern gesprochen wäre. Sie sah wieder auf den Wandschrank. In einem Behältniß unter demselben lagen einige Stücke Bindfaden, die dahin gelegt waren zum Zwecke des Einpackens. Ohne einen Augenblick zu zögern, hob sie ein Stück Bindfaden auf, band das eine Ende fest an den Knopf der Schrankthür, faßte dann das andere Ende mit beiden Händen und zog dieselben plötzlich mit Aufbietung aller Kräfte an. Das morsche Holz gab nach, die Schrankthür flog auf, und ein Haufen kleiner Nippsachen fiel mit Geräusch auf den Boden. Ohne sich bei dem zerbrochenen Porzellan und Glaswerk zu ihren Füßen aufzuhalten, schaute sie in die dunklen Fächer des Schrankes und sah das Funkeln zweier Glasfläschchen. Eins stand ganz hinten auf dem Brete, das andere ein wenig weiter vorn und verdeckte es beinahe. Sie ergriff sie beide zugleich und nahm sie, in jeder Hand eins, an das Fenster, wo sie ihre Signaturen bei hellerem Lichte sehen konnte. Das Fläschchen in ihrer rechten Hand war das erste, das sie ansah, es war bezeichnet:

Salz

Also Riechsalz. Sie legte sofort das andere Fläschchen neben sich auf den Tisch, ohne es weiter anzusehen. Das andere Fläschchen lag da, indem es wartete, bis es an die Reihe kam. Es enthielt eine dunkle Flüssigkeit und war bezeichnet:

Gift

Mrs. Lecount vermischte das flüchtige Salz mit Wasser und wandte es sofort an. Das Reizmittel that seine Wirkung. In wenigen Minuten war Noël Vanstone im Stande, sich ohne Beistand in dem Stuhle zu erheben, seine Farbe änderte sich wieder zum Bessern, und sein Athemholen ging wieder weniger beklommen von Statten.

—— Wie befinden Sie sich jetzt, Sir? frug Mrs. Lecount. Sind Sie wieder auf der linken Seite warm?

Er schenkte dieser Frage keine Aufmerksamkeit, seine Augen, die im Zimmer umhergingen, richteten sich zufällig nach dem Tische. Zu Mrs. Lecounts Verwunderung beugte er sich, anstatt ihr zu antworten, in seinem Stuhle vorwärts und schaute mit starren Augen und Deuten der Hand auf das zweite Fläschchen, welches sie aus dem Schranke genommen und hastig bei Seite gestellt hatte, ohne es zu beachten. Da sie sah, daß irgend etwas Anderes ihm Unruhe verursachte, ging sie nach dem Tische und sah auch dahin, wohin er blickte. Die Seite mit dem Zettel war ganz sichtbar, und da in der deutlichen Handschrift des Apothekers zu Aldborough sah ihnen Beiden das eine schreckliche Wort ins Gesicht:

Gift.

Sogar Mrs. Lecounts Selbstbeherrschung wurde durch diese Entdeckung erschüttert. Sie war nicht vorbereitet, ihre düstersten Ahnungen, die unerkannte Quelle ihres Hasses gegen Magdalenen, so verwirklicht vor ihren Augen zu sehen. —— Die Selbstmörderverzweiflung in welcher das Gift angeschafft worden war, der Selbstmordzweck, zu welchem ein an der Zukunft verzagendes Herz das Gift in Bereitschaft gesetzt, hatten nun ihren Lohn dahin. Da lag das Fläschchen in Magdalenens Abwesenheit als falscher Zeuge eines Anschlages, der nimmer in ihre Seele gekommen, des Anschlages gegen ihres Gatten Leben! ——

Mit seiner Hand noch immer unwillkürlich auf den Tisch deutend, erhob Noël Vanstone sein Haupt und sah zu Mrs. Lecount auf.

—— Ich nahm es aus dem Schranke, sagte sie zur Antwort auf den Blick. Ich nahm beide Fläschchen zusammen heraus, indem ich nicht wußte, welches dasjenige sein mochte, das ich brauchte. Ich bin ebenso erschreckt, ebenso beängstigt als Sie.

—— Gift! sprach er vor sich hin langsam, Gift —— von meiner Gattin auf dem Schranke in ihrem Zimmer verschlossen gehalten!

Er hielt inne und sah noch einmal auf Mrs. Lecount.

—— Für mich? frug er in einem zerstreuten, forschenden Tone.

—— Wir wollen nicht davon sprechen, Sir, bis nicht Ihr Geist erst ruhiger geworden ist, sagte Mrs. Lecount. Lassen Sie uns versuchen, diese fürchterliche Entdeckung über der Gegenwart zu vergessen, wir wollen sogleich hinunter gehen. Alles, was ich Ihnen jetzt zu sagen habe, läßt sich in einem andern Zimmer sagen.

Sie half ihm vom Stuhle auf und nahm seinen Arm unter den ihrigen.

—— Es ist gut für ihn, gut für mich, dachte sie, als sie zusammen hinuntergingen, daß ich gerade jetzt kam. ——

Als sie über die Flur gingen, schritt sie auf die vordere Thür zu, wo der Wagen wartete, der sie von Dumfries hergebracht hatte, und gab dem Kutscher den Befehl, seine Pferde in dem nächsten besten Gasthofe unterzubringen und in zwei Stunden wieder vorzukommen. Als Dies geschehen war, begleitete sie Noël Vanstone in das Empfangszimmer, schürte das Feuer im Kamin an und setzte ihn bequem in einen Lehnstuhl davor. Er saß einige Minuten und wärmte schwach, wie ein alter Mann, seine Hände und starrte gerade vor sich hin in das Feuer. Dann sprach er.

—— Als das Frauenzimmer auf der Vauxhallpromenade kam und mich bedrohte, begann er, indem er fort und fort ins Feuer sah, kamen Sie, nachdem es gegangen war, in das Besuchszimmer zurück und sagten mir...?

Er hielt inne, schwankte ein wenig und verlor den Faden seiner Erinnerungen bei diesem Punkte.

—— Ich sagte Ihnen, Sir, sprach Mrs. Lecount, daß das Frauenzimmer meiner Meinung nach Miss Vanstone selber war. —— Fahren Sie nicht auf, Mr. Noël! Ihre Gattin ist fort, und ich bin hier, um für Sie zu sorgen! Sagen Sie zu sich, wenn Sie Furcht empfinden:

—— Die Lecount ist ja hier, die Lecount wird für mich sorgen.

—— Die Wahrheit muß gesagt werden, Sir, wie hart sie auch zu tragen sein wird. Miss Magdalene Vanstone war das Weib, das zu Ihnen verkleidet kam, —— das Weib, das zu Ihnen verkleidet kam, ist dasselbe, das Sie geheirathet haben. Der Anschlag, mit dem dasselbe Sie zu London bedrohte, ist derselbe, durch welchen sie Ihre Frau wurde: das ist die volle Wahrheit. Sie haben das Kleid oben gesehen. Wenn das Kleid nicht mehr vorhanden gewesen wäre, so würde ich doch noch Beweise gehabt haben, um Sie zu überzeugen. Dank meiner Unterredung mit Mrs. Bygrave habe ich das Haus, wo das Weib in London wohnte, entdeckt, —— es lag unserm Hause auf Vauxhallpromenade gegenüber. Ich habe mich an eine von den Töchtern der Wirthin herangemacht, die Ihre Frau von einem inneren Zimmer aus beobachtete und sah, wie sie die Verkleidung anlegte, welche Erstere also ihre Persönlichkeit und die ihrer Begleiterin, Mrs. Bygrave, feststellen kann und mir auf mein Ersuchen eine schriftliche Erklärung über den Thatbestand, die sie, falls Jemand ihr widersprechen sollte, eidlich zu erhärten erbötig ist, übergeben hat. Sie sollen die Erklärung lesen, Mr. Noël, wenn Sie wollen, sobald Sie so weit gefaßt sind, um sie zu verstehen. Sie sollen auch einen Brief von der Hand der Miss Garth zu lesen bekommen, —— welche auf Ihren allfallsigen Wunsch selbst mündlich wiederholen wird, was sie mir geschrieben hat —— einen Brief, welcher auf das Bestimmteste in Abrede stellt, daß sie je auf Vauxhallpromenade war, und auf das Bestimmteste erklärt, daß jene Male auf dem Nacken Ihrer Gattin Miss Magdalene Vanstone eigenthümlich sind, die sie von Kindesbeinen auf gekannt hat. —— Ich sage es mit gerechtem Stolze: Sie werden nirgends eine schwache Stelle in dem Beweise entdecken, den ich Ihnen gebe. Wenn Mr. Bygrave nicht meinen Brief unterschlagen hätte, so würden Sie gewarnt gewesen sein, ehe ich ein Opfer der grausamen Täuschung wurde, die mich nach Zürich schickte, und die Beweise, die ich Ihnen jetzt nach Ihrer Verheirathung gebe, würde ich Ihnen damals vor derselben geschafft haben. Machen Sie mich nicht verantwortlich, Sir, für Das, was vorgefallen, seitdem ich England verlassen hatte. Klagen Sie den Bastard ihres Oheims an, klagen Sie den Schurken mit dem braunen und dem grünen Auge an!

Sie sprach ihre letzten giftigen Worte so langsam und deutlich aus, wie die übrigen. Noël Vanstone gab keine Antwort von sich, er saß noch da und kauerte sich am Feuer zusammen. Sie sah ihm ins Gesicht. Er weinte still vor sich hin.

—— Ich war so verliebt in sie! sagte das elende kleine Geschöpf; und ich dachte, sie sei so verliebt in mich!

Mrs. Lecount kehrte ihm in verächtlichem Schweigen den Rücken.

—— Verliebt in sie!

Wie sie jene Worte vor sich hin wiederholte, wurde ihr hartes Gesicht beinahe wieder hübsch in der strahlenden Innigkeit ihrer Verachtung.

Sie schritt auf einen Bücherschrank an dem unteren Ende des Zimmers zu und begann die Bände darin zu mustern. Ehe sie lange auf diese Weise beschäftigt war, wurde sie durch den Ton seiner Stimme aufgeschreckt, welcher sie ängstlich zurückrief. Die Thränen waren getrocknet, sein Gesicht war wieder schreckensbleich, als er sich zu ihr wandte.

—— Lecount! sagte er, mit beiden Händen nach ihr greifend. Kann ein Ei vergiftet werden? Ich hatte ein Ei zum Frühstück heute Morgen und ein Stückchen Butterbrod.

—— Beruhigen Sie sich, Sir, sprach Mrs. Lecount. Das Gift des Betrugs Ihrer Frau ist das einzige, das Sie bis jetzt eingenommen haben. Wenn sie sich bereits entschlossen hätte, Sie den Preis Ihrer Thorheit mit dem Leben zahlen zu lassen, würde sie nicht vom Hause abwesend sein, während Sie noch darin sind. Lassen Sie den Gedanken fahren. —— Es ist jetzt Mittag, Sie bedürfen der Erholung. Ich habe Ihnen im Interesse Ihrer eignen Sicherheit noch mehr zu sagen, ich habe Etwas für Sie zu thun, was sofort geschehen muß. Sammeln Sie Ihre Kräfte, und Sie werden es auch vollbringen. Ich will Ihnen im Essen mit guten: Beispiel vorangehen, wenn Sie der Speise in diesem Hause mißtrauen. Sind Sie gefaßt genug, dem Mädchen seine Weisungen zu geben, wenn ich die Klingel ziehe? Es ist für den Zweck, den ich für Sie im Sinne habe, nothwendig, daß Niemand Sie für krank an Leib oder Seele hält. Versuchen Sie es erst mit mir, ehe das Mädchen hereinkommt. Wir wollen erst einmal sehen, wie Sie es anfangen und sprechen, wenn Sie sagen:

—— Bring das zweite Frühstück.

Nach zweimaligem Probieren hielt; ihn Mrs Lecount für fähig, um den Befehl zu geben, ohne sich zu verrathen.

Louise gehorchte dem Befehl, —— Louise sah Mrs Lecount scharf an. Das Frühstück wurde von dem Hausmädchen hereingebracht —— das Hausmädchen sah Mrs. Lecount scharf an. Als das Frühstück zu Ende war, wurde der Tisch durch die Köchin abgeräumt, die Köchin sah Mrs. Lecount scharf an. Die drei Dienstmädchen wurden offenbar argwöhnisch, daß etwas Außerordentliches im Hause vorgehe. Es war kaum zu bezweifeln, daß sie sich untereinander in die drei Gelegenheiten getheilt hatten, welche die Bedienung bei Tische ihnen gewährte, um ins Zimmer zu gelangen.

Die Neugier, deren Gegenstand sie war, entging dem Scharfblick von Mrs. Lecount nicht.

—— Ich that wohl daran, dachte sie bei sich, mich bei guter Zeit mit den Mitteln auszurüsten, mein Ziel zu erreichen. Wenn ich das Gras unter meinen Füßen wachsen lasse, möchte mir eines oder das andere dieser Frauenzimmer in den Weg treten.

Veranlaßt durch diese Erwägung brachte sie, sobald das letzte von den Mädchen das Zimmer verlassen hatte, ihre Reisetasche aus einer Ecke hervor, setzte sich an das entgegengesetzte Ende des Tisches Noël Vanstone gegenüber und sah ihn einen Augenblick an mit fester, forschender Aufmerksamkeit. Sie hatte sorgfältig die Menge Wein abgemessen, welche er beim Frühstück zu sich genommen, sie hatte ihn nur gerade so viel trinken lassen, als hinreichte, ihn zu stärken, ohne ihn aufzuregen, und betrachtete nun sein Gesicht sorgsam wie ein Künstler sein Gemälde am Ende seines Tagewerks. Das Ergebniß schien sie zu befriedigen, und sie begann nun das ernste Geschäft der Unterredung auf der Stelle.

—— Wollen Sie das geschriebene Zeugniß einmal ansehen, Mr. Rost, das ich Ihnen erwähnte, ehe ich mehr sage? frug sie. Oder sind Sie hinreichend von der Wahrheit überzeugt, um sogleich auf den Vorschlag eingehen zu können, den ich Ihnen jetzt zu machen habe?

—— Lassen Sie mich Ihren Vorschlag hören, sprach er, seine Ellenbogen ungescheut aus den Tisch stützend und seinen Kopf aus seine Hände legend.

Mrs. Lecount nahm das schriftliche Zeugniß, auf das sie eben angespielt hatte, aus ihrer Reisetasche und legte die Papiere auf die eine Seite neben ihn, so daß erste, wenn er sie haben wollte, leicht erreichen konnte. Ihre Erfahrung belehrte sie, daß das Zeichen Gutes bedeute.

In jenen seltenen Augenblicken, wo das geringe Maß von Entschlossenheit, das er besaß, in ihm lebendig war, äußerte sich dasselbe unveränderlich, wie die Entschlossenheit der meisten anderen schwachen Menschen, dadurch, daß er Streit suchte. In solchen Zeiten hob sich in demselben Verhältniß, als er gegen seine Umgebung äußerlich mürrisch und unhöflich war, seine Entschlossenheit und fiel in demselben Verhältniß, als er höflich und artig wurde. Der Ton der Antwort, die er eben gegeben hatte, und die Haltung, die er am Tische einnahm, brachten Mrs. Lecount zu der Ueberzeugung, daß spanischer Wein und schottischer Hammelbraten das Ihrige gethan und seinen sinkenden Muth wieder angefrischt hatten.

—— Ich will die Frage nur der Form halber an Sie stellen, wenn Sie es wünschen, fuhr sie fort. Aber ich bin eigentlich ohne alle Frage bereits meiner Sache gewiß, —— daß Sie nämlich Ihr Testament gemacht haben?

Er nickte mit dem Kopfe, ohne sie anzusehen.

—— Sie haben es zu Gunsten Ihrer Frau gemacht?

Er nickte abermals.

—— Sie haben ihr Alles vermacht, was Sie besitzen?

—— Nein.

Mrs. Lecount sah überrascht aus.

—— Hatten Sie, Mr. Noël, auf Ihre Hand bereits ein heimliches Mißtrauen gegen dieselbe? frug sie, oder hat vielleicht Ihre Frau selber ihrem eigenen Interesse in Ihrem Testamente Schranken gesetzt?

Er schwieg und war unangenehm berührt, er schämte sich offenbar, die Frage zu beantworten. Mrs. Lecount wiederholte letztere in einer weniger unmittelbaren Weise.

—— Wie viel haben Sie Ihrer Wittwe hinterlassen, Mr. Noël, für den Fall Ihres Todes?

—— Achtzig Tausend Pfund.

Diese Antwort erledigte die Frage. Achtzig Tausend Pfund waren gerade das Vermögen, das Michael Vanstone den Waisen seines Bruders beim Tode seines Bruders genommen hatte, gerade das Vermögen, von dem Michael Vanstones Sohn, als die Reihe an ihn kam, eben so unbarmherzig wie sein Vater Besitz ergriffen hatte. —— Noël Vanstones Schweigen sprach das Geständniß aus, das er sich schämte abzulegen. —— In der schwachen Stunde, worin ihm die Lust zu schenken gekommen war, hatte er seiner Gattin wahrscheinlich sein ganzes Hab und Gut zu Füßen gelegt. Und dies Mädchen, dessen rachsüchtiges Wagstück allen Widerstand überwältigt hatte, dies Mädchen, welches von seinem verzweifelten Entschluß selbst vor der Kirchthür nicht zurück gebebt war, hatte nur einen Theil angenommen, hatte buchstäblich nur seines Vaters Vermögen bis auf den letzten Heller von ihm genommen und dann der Hand, welche es mit noch zehn Tausend in Versuchung führte, kalt den Rücken gewandt! Für einen Augenblick wurde Mrs. Lecount füglich durch ihre eigene Ueberraschung sprachlos gemacht, Magdalene hatte ihr das Staunen abgenöthigt, welches mit Bewunderung nah verwandt ist, das Staunen, dessen sich ihre Feindseligkeit gern erwehrt haben würde. Sie haßte von dieser Zeit an Magdalenen noch zehn Mal mehr. ——

—— Ich zweifle gar nicht, Sir, fuhr sie nach einem augenblicklichen Schweigen fort, daß Mrs. Noël Vanstone Ihnen triftige Gründe angab, warum ihre Versorgung bei Ihrem Tode nicht mehr betragen sollte und auch nicht weniger, denn achtzig Tausend Pfund. Und auf der andern Seite bin ich überzeugt, daß, sie in Ihrer Unschuld und Arglosigkeit damals jene Gründe für zutreffend hielten. Jene Zeit ist aber nun vorbei. Ihre Augen sind offen, Sir, und Sie werden so wenig verfehlen, zu bemerken, als ich selbst, daß die Besitzung Combe-Raven genau der Summe entspricht, die Sie Ihrer Gattin als Vermächtniß nach deren eigenen Weisungen auswarfen. Wenn Sie nun um den Grund, warum dieselbe Sie geheirathet hat, noch einen Augenblick in Zweifel sind, so schauen Sie in Ihr Testament, —— da drinnen ist der Grund zu finden!

Er erhob sein Haupt von seinen Händen und wurde zum ersten Male, seitdem sie sich bei Tische gegenüber saßen, ganz aufmerksam auf Das, was sie ihm sagte. Die Besitzung Combe-Raven war niemals in seinem Geiste für sich besonders gerechnet worden. Sie war auf ihn gekommen, als sein Vater starb, mitten unter den übrigen Besitzungen seines Vaters. Die Entdeckung, die ihm nun offenbar ward, war eine solche, wie er sie bei seiner Denkungsart und seiner Arglosigkeit bisher nicht machen konnte. Er sagte Nichts —— aber er sah Mrs. Lecount weniger mürrisch an. Sein Wesen war leutseliger geworden, die Fluth seines Muthes war bereits wieder Ebbe geworden.

—— Ihre Lage, Sir, muß in diesem Augenblicke Ihnen so klar sein, als mir, sagte Mrs. Lecount. Es ist nur ein Hinderniß jetzt übrig, das zwischen dieser Frau und der Erreichung ihres Zieles liegt. Dies Hinderniß ist Ihr Leben. Nach der Entdeckung, welche wir eben gemacht haben, überlasse ich es Ihrem eigenen Ermessen, sich zu sagen, wie viel Ihr Leben Werth ist.

Bei diesen entsetzlichen Worten verlief sich die Ebbe seiner Entschlossenheit bis auf das letzte Tröpfchen.

—— Erschrecken Sie mich nicht! bat er, ich bin ja schon genug erschreckt worden!

Er stand auf und zog seinen Stuhl hinter sich um den Tisch herum an die Seite von Mrs. Lecount. Er setzte sich und küßte liebkosend ihre Hand.

—— Sie gute Seele! sagte er mit sinkender Stimme.

Sie herrliche Lecount! Sagen Sie mir, was geschehen muß. Ich bin voll Entschlossenheit —— ich will Alles thun, um mein Leben zu retten!

—— Haben Sie Schreibmaterialien im Zimmer, Sir? frug Mrs. Lecount. Wollen Sie dieselben gefälligst auf den Tisch stellen?

Während die Schreibmaterialien herzugeschafft wurden, zog Mrs. Lecount abermals die Hilfsmittel ihrer Reisetasche zu Rathe. Sie zog zwei Papiere heraus, jedes in derselben schönen kaufmännischen Handschrift überschrieben. Das eine war überschrieben:

Entwurf zu einem gewissen Testament.

Das andere:

Entwurf zu einem gewissen Briefe.

Als sie dieselben auf den Tisch vor sich legte, zitterte ihre Hand« ein wenig, und sie wendete das flüchtige Salz, das sie um Noël Vanstones willen mitgenommen hatte, nun für sich selber an.

—— Ich hatte, als ich hierher kam, gehofft, fuhr sie fort, Ihnen mehr Zeit zum Ueberlegen geben zu können, Mr. Noël, als es jetzt angezeigt scheint, Ihnen zu verstatten. Als Sie mir zuerst von der Abwesenheit Ihrer Gattin in London sprachen, hielt ich es für wahrscheinlich, daß der Zweck ihrer Reise ein Besuch bei ihrer Schwester und Miss Garth sei. Seit der fürchterlichen Entdeckung, welche wir oben im Hause gemacht haben, bin ich geneigt, diese meine Ansicht zu ändern. —— Der Entschluß Ihrer Gattin, Ihnen nicht zu sagen, wer denn die Freunde und Verwandten seien, die sie besuchen wolle, erfüllt mich mit Besorgniß. Sie kann Mitschuldige und Helfershelfer in London haben, Helfershelfer in diesem Hause haben; denn wir haben vom Gegentheil gar keine Beweise. Alle Ihre drei Dienstmädchen, Sir, haben der Reihe nach Gelegenheit genommen, in das Zimmer zu kommen und mich anzuschauen. Ich lese nichts Gutes in ihren Blicken! Weder Sie, noch ich können wissen, was von einem Tage zum andern, ja nicht einmal, was von einer Stunde zur andern vorfallen kann. Wenn Sie meinen Rath annehmen, so beugen Sie allen möglichen Unglücksfällen mit einem Male vor und verlassen, wenn der Wagen zurückkommt, das Haus mit mir!

—— Ja, ja! sagte er eifrig, ich will das Haus mit Ihnen verlassen. Ich würde um alle Summen in der Welt nicht hier bleiben, was man mir auch bieten möchte. —— Wozu brauchen wir Feder und Tinte? Wollen Sie, oder soll ich hier Etwas schreiben?

—— Sie sollen Etwas schreiben, Sir, sprach Mrs. Lecount. Die Mittel, welche angewendet werden sollen, um Ihre Sicherheit herzustellen, sollen von Anfang bis zu Ende ganz von Ihnen selbst in Bewegung gesetzt werden. Ich schlage vor, Mr. Noël, und Sie entscheiden. —— Erkennen Sie Ihre Lage wohl, Sir. Was ist Ihre erste und dringendste nothwendige Aufgabe? Es ist offenbar folgende. Sie müssen das Interesse Ihrer Gattin an Ihrem Tode in Wegfall bringen, indem Sie ein anderes Testament machen.

Er nickte heftig Beifall, seine Farbe hob sich, und seine blinzelnden Augen glänzten in boshafter Siegesfreude.

—— Sie soll keinen Heller haben, sprach er flüsternd vor sich hin, —— sie soll keinen Heller haben!

—— Wenn Ihr Testament aufgesetzt ist, Sir, fuhr Mrs. Lecount fort, so müssen Sie es in die Hände einer zuverlässigen Person legen —— nicht in meine Hände, Mr. Noël, ich bin nur Ihre Dienerin! Dann, wenn das Testament in Sicherheit gebracht ist und Sie selber in Sicherheit sind, so schreiben Sie in diesem Hause an Ihre Gattin. Sagen Sie ihr, ihr schändliches Lügengewebe sei entdeckt, sagen Sie ihr in Ihrer gerechten Entrüstung, daß sie Ihre Schwelle niemals wieder betreten solle. Bringen Sie sich in diese starke Stellung, und fortan sind Sie nicht mehr von der Gnade und Ungnade Ihrer Gattin abhängig, sondern Ihre Gattin ist von Ihnen abhängig. Nehmen Sie Ihre eigene Kraft, Sir, zusammen mit der Hilfe, die Ihnen die Gerichte gewähren, und zwingen Sie diese Frau in Unterwürfigkeit und Demuth hinein gegenüber jeden Bedingungen, die Sie ihr für die Zukunft aufzuerlegen für gut befinden.

Er nahm eifrig die Feder zur Hand.

—— Ja, sprach er mit rachsüchtiger Selbstüberhebung, jeden Bedingungen, die ich aufzuerlegen für gut befinde.

Er hielt aber plötzlich wieder inne, und sein Gesicht wurde verzagt und verwirrt.

—— Wie soll ich es aber anfangen? frug er, indem er die Feder so rasch wieder hinwarf, als er sie erfaßt hatte.

—— Was anfangen, Sir? frug Mrs. Leconnt.

—— Wie kann ich meinen letzten Willen aussetzen, wenn Mr. Loscombe weit weg in London, und kein Advoeat hier ist, mir Beistand zu leisten?

Mrs. Lecount klopfte mit dem Zeigefinger sanft auf die Papiere vor ihr.

—— All der Beistand, den Sie brauchen, Sir, wartet hier auf Sie, sprach sie. Ich überlegte diesen Gegenstand sorgfältig hin und her, ehe ich hierher kam, und versah mich mit dem vertraulichen Rath eines Freundes, um mir über diejenigen Schwierigkeiten, welche ich allein für meine Person nicht überwinden konnte, hinweg helfen zu lassen. Der Freund, welchen ich meine, ist ein Herr von schweizerischer Abkunft, aber in England geboren und erzogen. Er ist kein Advocat von Beruf, aber er hat nichtsdestoweniger hinreichende Kenntniß von den Gesetzen. Dieser hat mir nun nicht allein eine Vorlage, nach der Sie Ihr Testament aufsetzen können, gemacht, sondern auch den schriftlichen Entwurf eines Briefes geliefert, den wir eben so unerläßlich nothwendig haben, als die Vorlage für das Testament selbst. Es gibt aber noch ein dringendes Geschäft für Sie, Mr. Noël, das ich bisher noch nicht erwähnt habe, welches jedoch in seiner Art nicht weniger wichtig ist, als die Aufgabe mit dem Testament.

— Was ist Das? frug er mit erwachender Neugier.

—— Wir wollen es, wenn es soweit ist, vornehmen, antwortete Mrs. Lecount. Es ist noch nicht die Reihe an ihm. Zuvörderst das Testament, wenn Sie wollen. Ich will es nach der in meinen Händen befindlichen Vorlage dictiren, und Sie werden nachschreiben. Wenn ich mich nicht ganz und gar in Ihren Absichten irre, wird die Urkunde, sobald sie fertig ist, kurz und einfach genug sein, daß ein Kind sie verstehen kann. Wenn Sie aber noch irgend einen Zweifel in sich hegen, so beruhigen Sie sich darob vollkommen, indem Sie Ihr Testament einem Advocaten von Beruf vorlegen. In mittelst sehen Sie es nicht für zudringlich an, wenn ich Sie daran erinnere, daß wir Alle sterblich sind und daß

»den verlornen Augenblick
Bringt keine Ewigkeit zurück«.

—— Während noch die Zeit Ihnen gehört und während Ihre Feinde noch nicht Verdacht geschöpft gegen Sie, machen Sie Ihr Testament!

Sie schlug einen Bogen Briefpapier auseinander und legte ihn glatt vor ihn hin, tauchte die Feder in die Tinte und gab sie ihm in die Hand. Er nahm sie, ohne ein Wort zusagen, von ihr an und war allem Anscheine nach wiederum von einer augenblicklichen Unruhe gequält. Aber die Hauptsache war erreicht.

Da saß er, das Papier vor sich, die Feder in der Hand, endlich fest entschlossen, sein Testament zu machen.

—— Die erste Frage, die Sie zu entscheiden haben, Sir, sprach Mrs. Lecount nach einem flüchtigen Blick auf ihren Entwurf, ist Ihre Wahl eines Testamentsvollstreckers. Ich habe kein Verlangen, Ihre Entscheidung zu beeinflussen aber ich darf Sie wohl ohne Rückhalt daran erinneren, daß eine kluge Wahl mit anderen Worten heißt: die Wahl eines alten bewährten Freundes, den Sie genugsam kennen, um ihm Vertrauen zu schenken.

—— Das heißt vermuthlich den Admiral? sagte Noël Vanstone.

Mrs. Lecount nickte.

—— Sehr gut, fuhr er fort. Der Admiral soll’s drum sein!

Es lag aber offenbar noch ein Druck auf seiner Seele. Sogar unter den sehr verfänglichen Umständen, in die er jetzt gerathen war, war es nicht seine Art, Mrs. Lecounts vollkommen vernünftigen und uneigennützigen Rath ohne einiges Tüfteln hinzunehmen, wie es jetzt der Fall war.

— Sind Sie bereit, Sir?

—— Ja.

Mrs. Lecount dictirte ihm den ersten Satz nach dem Entwurf, wie folgt:

Das ist der letzte Wille und das Testament von mir, Noël Vanstone, jetzt auf Baliol-Villa bei Dumfries Wohnhaft.
Ich widerrufe schlechterdings und in jedem einzelnen Stück mein früheres am dreißigten September achtzehnhundertneunundvierzig aufgesetzt« Testament und ernenne hiermit den Contreadmiral Arthur Everard Bartram zu St. Crux in der Marsch in der Grafschaft Esser zum einzigen Vollstrecker dieses meines Testaments.

—— Haben Sie diese Worte geschrieben, Sir?

—— Ja.

Mrs. Lecount legte den Entwurf hin, Noël Vanstone legte die Feder hin. Sie sahen einander Beide nicht an. Es war ein langes Stillschweigen.

—— Ich warte, Mr. Noël, sprach endlich Mrs. Lecount, —— um zu hören, was Ihre Wünsche betreffs der Verfügung über Ihr Vermögen, —— Ihr großes Vermögen sind, setzte sie mit unbarmherzigem Nachdruck hinzu.

Er nahm die Feder wieder in die Hand und fing an, in tiefem Schweigen den Federbart vom Kiel abzurupfen.

—— Vielleicht kann Ihnen Ihr bereits vorhandenes Testament dazu verhelfen, mir Ihre Weisungen zu geben, Sir, fuhr Mrs. Lecount fort. Darf ich Sie fragen, wem Sie Ihr ganzes übriges Vermögen nach Abzug der Ihrer Frau vermachten achtzig Tausend Pfund hinterlassen hatten?

Wenn er diese Frage offen beantwortet hätte, so hätte er sagen müssen:

—— Ich habe den ganzen Ueberschuß meinem Vetter, George Bartram, vermacht.

Und das darin liegende Anerkenntniß, daß Mrs. Lecounts Name in dem Testament nicht vorkam, hätte dann vor Mrs. Lecount selber erfolgen müssen. Ein viel kühnerer Mann möchte an seiner Stelle dieselbe Beklemmung und Verwirrung gefühlt haben, die er jetzt fühlte. Er zupfte das letzte Stückchen Federbart von dem Kiel und that nun, indem er mit einem verzweifelten Sprung über den Abgrund zu seinen Füßen hinwegsetzte, den ersten Schritt Mrs. Lecount entgegen, um deren Ansprüchen an ihn zu entsprechen.

—— Ich möchte lieber von keinem andern Testamente sprechen, als dem, das ich jetzt mache, sagte er unruhig. Das erste Ding, Lecount,...

Er zögerte, steckte das nackte Ende des Kiels in den Mund, nagte daran in Gedanken versunken und sprach kein Wort weiter.

—— Nun, Sir? —— beharrte Mrs. Lecount.

—— Das Erste ist...

—— Nun, Sir?

—— Das Erste ist, ... Ihre Versorgung festzustellen.

Er sprach die letzten Worte in dem Tone einer kläglichen Frage, als ob er auch jetzt noch nicht alle Hoffnung aufgegeben habe, daß man großmüthig ablehnen werde. Mrs. Lecount klärte ihn über diesen Punkt, ohne einen Augenblick Zeit zu verlieren, sofort auf.

—— Ich danke Ihnen, Mr. Noël, sprach sie mit dem Tone und der Art einer Frau, welche nicht eine Vergünstigung anerkennt, sondern ein Recht in Empfang nimmt.

Er biß noch einmal in den Kiel. Man sah, wie ihm der Schweiß auf das Gesicht trat.

—— Die Schwierigkeit ist, bemerkte er, zu sagen, wie viel.

—— Ihr seliger Vater, Sir, versetzte Mrs. Lecount, faßte bereits diese Schwierigkeit ins Auge, wenn Sie sich gefälligst erinneren wollen, noch in der Zeit seiner letzten Krankheit?

—— Ich erinnere mich nicht, sprach Noël Vanstone verstockt.

—— Sie waren aus der einen Seite des Betts, Sir, und ich war auf der andern. Wir versuchten Beide vergeblich, ihn dazu zu bewegen, ein Testament zu machen. Nachdem er uns gesagt, er wolle warten und seinen letzten Willen dann erst aussehen, wenn er wieder wohl sei, sah er sich nach mir um und sprach einige freundliche und gefühlvolle Worte, die mein Gedächtniß bis an mein seliges Sterbestündlein treu hegen und bewahren wird. Haben Sie diese Worte vergessen, Mr. Noël?

—— Ja, sprach Mr. Noël ohne Zögern.

—— In meiner gegenwärtigen Lage, Sir, gab ihm Mrs. Lecount anzuhören, verbietet mir mein Zartgefühl, Ihr Gedächtniß aufzufrischen.

Sie sah auf ihre Uhr und verfiel in Stillschweigen. Er presste seine Hände und rückte auf seinem Stuhle hin und her in einem wahren Todeskampfe von Unschlüssigkeit. Mrs. Lecount verschmähte es, ihm die geringste Beachtung zu schenken.

—— Was würden Sie sagen? begann er und hielt plötzlich wieder inne.

—— Nun, Sir?

—— Was würden Sie sagen zu —— ein Tausend Pfund?

Mrs. Lecount erhob sich von ihrem Stuhle und sah ihm voll ins Gesicht mit dem achtungheischenden Unwillen eines zum Aeußersten getriebenen Weibes.

—— Nach dem Dienst, den ich Ihnen heute geleistet habe, Mr. Noël, sagte sie, habe ich wenigstens einen Anspruch auf Ihre Achtung erworben, wenn auch sonst Nichts weiter. Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen.

—— Zwei Tausend! schrie Noël Vanstone mit dem Muthe der Verzweiflung.

Mrs. Lecount brach ihre Papiere zusammen und hing in verächtlichem Schweigen ihre Reisetasche auf den Arm.

—— Drei Tausend!

Mrs. Lecount bewegte sich mit unbeugsamer Würde vom Tische nach der Thür hin.

—— Vier Tausend!

Mrs. Lecount schlug mit einer unwilligen Gebärde ihren Shawl um und öffnete die Thür.

—— Fünf Tausend!

Er schlug in seine Hände und rang sie in einer wahnsinnigen Aufregung von Zorn und Angst.

—— Fünf Tausend! war der Todesschrei seines finanziellen Selbstmordes.

Mrs. Lecount schloß die Thür leise wieder zu und kam einen Schritt zurück.

—— Frei von der Erbschaftssteuer Sir? frug sie.

—— Nein.

Mrs. Lecount wandte sich auf ihren Absätzen um und öffnete abermals die Thür.

—— Nun ja doch!

Mrs. Lecount kam zurück und nahm ihren Platz am Tische wieder ein, als wenn Nichts vorgefallen wäre.

—— Fünf Tausend Pfund frei von der Erbschaftssteuer waren die Summe, Sir, welche Ihres Vaters dankbare Anerkennung mir in seinem Testament auszusetzen versprach, sprach sie ruhig. Wenn Sie Ihr Gedächtniß etwas anstrengen wollten, was sie bisher unterlassen haben, so wird dieses Ihnen sagen, daß ich die Wahrheit sage. Ich nehme Ihre kindliche Erfüllung des Versprechens Ihres Vaters an, Mr. Noël, und bleibe hierbei stehen. Ich verschmähe es, einen gemeinen Vortheil von meiner Stellung zu Ihnen zu ziehen, verschmähe es, Ihnen in Ihrer Angst Etwas auszupressen. Sie sind durch meine Achtung vor mir und dem Namen, den ich trage, vor mir selber sicher. Sie haben keine Verpflichtung gegen mich für Alles, was ich in Ihrem Dienst gethan und was ich darin gelitten habe. Die Wittwe des Professors Lecount, Sir, nimmt nur, was ihr von Rechtswegen zukommt, —— und mehr nimmt sie nicht!

Wie sie diese Worte sprach, schienen die Spuren der Krankheit für den Augenblick von ihrem Angesicht zu schwinden; ihre Augen glänzten von einem festen, inneren Feuer, das eine ganze Weile erglühte und leuchtete in dem Glanze ihres Triumphes, des Triumphes, der mühselig errungen war, um ihren Zweck zu erreichen, ihre alte Stellung wieder geltend zu machen und zugleich es Magdalenen in ihrer unbestechlichen Selbstverleugnung auf ihrem eignen Grund und Boden gleichzuthun!

—— Wenn Sie wieder bei sich selber sind, Sir, werden wir weiter sprechen. Lassen Sie uns ein wenig warten. Sie gab ihm Zeit, sieh zu erholen, und dictirte ihm dann, nachdem sie erst in ihren Entwurf geblickt, den zweiten Absatz des Testaments in folgenden Worten:

Ich verschreibe und vermocht Madame Virginie Lecount. Wittwe des zu Zürich verstorbenen Professor Lecount, die Summe von fünf Tausend Pfund, frei von der Erbschaftssteuer. Und indem ich dies Vermächtniß mache, wünsche ich zugleich zu Protokoll zu geben, daß ich nicht nur meine eigene Anerkennung von Madame Lecounts Anhänglichkeit und Treue als Haushälterin in meinen Diensten ausspreche, sondern daß ich mich darin auch für den Vollstrecker der Absichten meines verstorbenen Vaters halte, welcher, wenn nicht der Fall eingetreten wäre, daß er ohne Testament starb, Madame Lecount in seinem dasselbe Zeichen seiner dankbaren Anerkennung ihrer Dienste hinterlassen hätte, welches ich ihr nunmehr in dem meinigen hinterlasse.

—— Haben Sie diese letzten Worte geschrieben, Sir?

—— Ja.

Mrs. Lecount beugte sich über den Tisch und bot Noël Vanstone die Hand.

—— Ich danke Ihnen, Mr. Noël, sprach sie. Die fünftausend Pfund sind meine Belohnung von Seiten Ihres Vaters für Das, was ich für ihn gethan habe. Die Worte in dem Testament da sind meine Belohnung von Ihrer Seite.

Ein schwaches Lächeln flackerte zum ersten Male in seinem Gesicht auf. Es tröstete ihn bei näherem nachsinnen der Gedanke, daß die Sachen noch schlimmer hätten gehen können. Es war Balsam für sein wundes Herz, daß er die Dankesschuld durch etwas Schriftliches zahlen durfte, das beim Banquier nicht in Geld umgesetzt werden konnte. Was sein Vater auch gethan haben mochte, er hatte nach alle Dem die Lecount sehr billig!

—— Noch ein wenig mehr muß geschrieben werden, Sir, begann Mrs. Lecount aufs Neue, dann wird Ihre schmerzliche, aber nothwendige Pflicht erfüllt sein. Da der unwichtige Gegenstand meines Vermächtnisses erledigt ist, können wir zu der noch übrigen wichtigen Frage verschreiten. Die letztwillige Verfügung über ein großes Vermögen wartet nun auf Ihr Machtwort. Auf wen soll es übergehen?

Er begann wieder auf seinem Stuhl hin und her zu rücken. Sogar unter dem allmächtigen Zauber seiner Gattin war die Trennung von seinem Gelde auf dem Papier nicht ohne Schmerzgefühl von Statten gegangen. Er hatte den Schwerz ausgehalten, er hatte sich in das Opfer gefügt und ergeben. Und jetzt war die fürchterliche Marterqual wieder da und harrte seiner unbarmherzig zum anderen mal.

—— Vielleicht kann ich Ihrer Entscheidung zu Hilfe kommen, Sir, wenn ich eine Frage an Sie richte, die ich schon einmal an Sie gestellt habe, ließ Mrs. Lecount sich vernehmen. Wem ließen Sie denn in dem Testament, das Sie unter dem Einflusse Ihrer Gattin machten, das übrige Geld, das zu Ihrer Verfügung blieb?

Es war jetzt kein Grund mehr vorhanden, die Frage unbeantwortet zu lassen. Er gestand, daß er das Geld seinem Vetter George hinterlassen habe.

—— Sie hätten nichts Besseres thun können, Mr. Noël —— und Sie können auch jetzt nichts Besseres thun, sprach Mrs. Lecount. Mr. George Bartram und seine beiden Schwestern sind Ihre einzigen noch übrigen Verwandten. Eine von diesen Schwestern ist eine unheilbare Kranke, die schon mehr als zuviel Geld hat, um all die Bedürfnisse befriedigen zu können, welche sie bei ihren Leiden etwa noch haben kann. Die andere ist die Gattin eines Mannes, der noch reicher ist, als Sie selber. Das Geld diesen Schwestern hinterlassen, hieße dasselbe verschwenden. Das Geld ihrem Bruder George hinterlassen, heißt Ihrem Vetter gerade den Beistand geben, dessen er bedarf, wenn er eines Tages seines Oheims baufälliges Haus und heruntergekommenes Gut erbt. Ein Testament, das den Admiral zu Ihrem Testamentsvollstrecker und Mr. George zu Ihrem Erben ernennt, ist das rechte, das Sie machen müssen. Es ehrt die Ansprüche der Freundschaft und berücksichtigt billig die Ansprüche des Blutes.

Sie sprach warm; denn sie sprach in dankbarem Angedenken an alles Das, was sie der Gastfreundschaft auf St. Crux zu danken hatte. Noël Vanstone nahm eine andere Feder und begann den zweiten Kiel seines Federbartes zu entkleiden, wie er den ersten kahl gerupft hatte.

—— Ja, sagte er mit Widerstreben. Ich glaube, Georg muß es erhalten, —— ich glaube, George hat die ersten Ansprüche an mich.

Er zögerte, er sah nach der Thür, sah nach dem Fenster, als wenn er wünschte, seine Flucht durch das Eine oder das Andere bewerkstelligen zu können.

—— Ach, Lecount, rief er kläglich, es ist ein so großes Vermögen! Lassen Sie mich ein Weilchen warten, ehe ich es Jemand vermache!

Zu seinem Erstaunen gab Mrs. Lecount sofort ihren Beifall über dies sehr bezeichnende Verlangen zu erkennen.

—— Ich wünsche auch, daß Sie warten, Sir, versetzte sie. Ich habe noch etwas Wichtiges zu sagen, ehe Sie eine Zeile Ihrem Testamente weiter hinzufügen. Ich sagte Ihnen vor einer kleinen Weile, daß noch ein zweites dringendes Geschäft mit Ihrer gegenwärtigen Lage in Beziehung stehe, das bis jetzt noch gar nicht ins Auge gefaßt worden ist, das aber nothwendiger Weise erledigt werden muß, wenn seine Zeit gekommen ist. Die Zeit dazu ist nun da. Sie haben mit einer ernsten Schwierigkeit zu kämpfen und noch etwas zu thun, ehe Sie Ihr Vermögen Ihrem Vetter George Vermachen können.

—— Was für eine Schwierigkeit? frug er.

Mrs. Lecount erhob sich von ihrem Stuhle, ohne zu antworten, schlich sich nach der Thür und riß sie plötzlich auf. Kein Lauscher war draußen, die Flur öde von einem Ende zum andern.

—— Ich mißtraue allen Dienstboten, sagte sie, als sie an ihren Platz zurückkehrte, namentlich aber Ihren Dienstboten. Setzen Sie sich näher zu mir, Mr. Noël. Was ich zu sagen habe, darf von keiner lebenden Seele außer uns selbst gehört werden.



Kapiteltrenner

Zweites Capitel.

Es entstand eine Pause von wenigen Minuten, während Mrs. Lecount das zweite der vor ihr auf dem Tische liegenden Papiere öffnete und ihrem Gedächtniß durch einen raschen Blick in dasselbe zu Hilfe kam. Als Dies vorbei war, wandte sie sich abermals an Noël Vanstone, indem sie sorgsam ihre Stimme senkte, um sie für Jeden, der etwa draußen im Gange lauschen möchte, unhörbar zu machen.

—— Ich muß Sie um die Erlaubnis; bitten, Sir, begann sie, noch einmal auf Ihre Gattin zurückkommen zu dürfen. Ich thue es sehr ungern und verspreche Ihnen auch, daß Das, was ich jetzt um Ihretwillen und meinetwegen über sie zu sagen habe, in den kürzesten Worten gesagt werden soll. Was wissen wir von dieser Frau, Mr. Noël, indem wir sie nach ihrem eigenen Bekenntniß, als sie in der Rolle der Miss Garth zu uns kam, und nach ihren eigenen Handlungen nachmals zu Aldborough beurtheilen? Wir wissen, daß, wenn nicht der Tod Ihren Vater aus ihrem Bereich gerückt hätte, sie mit ihrem Anschlag drauf und dran war, ihn des Combe-Raven-Vermögens zu berauben. Wir wissen, daß, als Sie Ihrerseits das Geld erbten, sie drauf und dran war, Sie zu berauben. Wir wissen, wie sie diesen Anschlag bis zu Ende führte, wissen, daß in diesem Augenblicke Nichts, als Ihr Tod noch fehlt, um ihre Raubsucht und ihren Betrug mit Erfolg zu krönen. Alles Dessen sind wir gewiß. Wir sind deß gewiß, daß sie jung, und schlau ist, —— daß sie weder Bedenklichkeiten, noch Gewissensbisse, noch Erbarmen kennt, —— und daß sie, die persönlichen Eigenschaften besitzt, welche die Männer im Allgemeinen —— mir für meine Person rein unbegreiflich! —— schwach genug sind, zu bewundern. Dies sind nicht Hirngespinnste, Mr. Noël, sondern ausgemachte Thatsachen, —— Sie kennen dieselben so gut, als ich selbst.

Er machte ein bejahendes Zeichen, und Mrs. Leconut fuhr fort.

Halten Sie fest, was ich Ihnen von der Vergangenheit gesagt habe, Sir, und thun Sie nun mit mir einen Blick in die Zukunft. Ich hoffe und erwarte zuversichtlich, daß Sie noch ein langes Leben vor sich haben; allein lassen Sie uns nur einen Augenblick den Fall Ihres Todes annehmen —— wie sie nach Ihrem Ableben dies Testament da hinterlassen, das Ihr Vermögen Ihrem Cousin George zuschreibt. Ich habe erfahren, gibt eine Behörde in London, bei der Abschriften von allen Testamenten hinterlegt werden müssen. Jeder neugierige Fremde, welchem es einfällt, einen Schilling für die Befugniß zu zahlen, kann in jenes Bureau treten und dort jedes Testament lesen, das man ihm oder, wenn es eine Dame ist, ihr anvertraut. Sehen Sie, wohin ich ziele, Mr. Noël? Ihre enterbte Wittwe zahlt ihren Schilling und liest Ihr Testament. Ihre enterbte Wittwe sieht, daß das Combe-Raven-Vermögen, das von Ihrem Vater auf Sie übergegangen ist, dann von Ihnen auf George Bartram übergeht. Was ist die gewisse Folge dieser Entdeckung? Die Folge ist, daß Sie Ihrem Cousin und Freund das Erbtheil der Rache dieses Weibes und ihrer betrügerischen Ränke hinterlassen, und zwar einer Rache, die durch ihren Grimm über ihren Mißerfolg noch entschlossener einer Ränkesucht, welche dadurch noch teuflischer geworden, als je zuvor. —— Was ist Ihr Vetter George? Er ist ein edelmüthiger, argloser Mann, selber für seine Person unfähig des Betrugs und auch keinen Betrug von Anderen fürchtend. Ueberlassen Sie ihn den rücksichtslosen Zauberkünsten und unergründlichen Ränken Ihrer Frau, und ich sehe schon im Geiste das Ende so sicher vor mir, wie ich Sie da sitzen sehe! Sie wird seine Augen verblenden, wie sie die Ihrigen blendete, und Ihnen zum Trotz, mir zum Trotz das Geld erhalten!

Sie hielt inne und ließ ihren letzten Worten Zeit sich in seinem Geiste zu befestigen. Die Umstände waren so klar dargelegt, der Schluß aus denselben war so richtig gezogen, daß er ohne Mühe ihre Meinung verstand und sofort begriff.

—— Ich sehe es ein! sprach er rachsüchtig seine Hände ballend. Ich verstehe, Lecount! Sie soll keinen Pfifferling haben! Sagen Sie mir, was ich thun soll —— soll ich es dem Admiral hinterlassen?

Er machte eine Pause und dachte ein wenig« nach.

—— Nein, begann er wieder, es ist dieselbe Gefahr, wenn ich es dem Admiral vermache, als wenn ich es George hinterlasse.

—— Es ist keine Gefahr dabei, Mr. Noël, wenn Sie meinen Rath annehmen wollen.

—— Was ist Ihr Rath?

—— Folgen Sie Ihrer eigenen Ansicht, Sir. Nehmen Sie die Feder zur Hand und hinterlassen Sie das Geld dem Admiral.

Er tauchte die Feder unwillkürlich in die Tinte und zögerte.

—— Sie sollen erfahren, wohin ich Sie führe, Sir, sprach Mrs. Lecount, ehe Sie Ihr Testament unterschreiben. In mittelst lassen Sie uns Zoll für Zoll Boden gewinnen, wie wir vorwärts kommen. Ich möchte, daß das Testament erst fertig wird, ehe wir einen Schritt weiter gehen. Fangen Sie Ihren dritten Absatz an, Mr. Neel, unter den Zeilen, welche mir Ihr Vermächtniß von fünf Tausend Pfund hinterlassen

Sie sagte ihm in einem Augenblick den letzten Absatz des Testaments nach dem Entwurf in ihren Händen folgendermaßen vor:

Den ganzen Rest meines immobilen Vermögens nach Abzug der Kosten meines Begräbnisses und meine ausweisbaren Schulden verschreibe und vermache ich dem Contreadmiral Artuhur Everad Bartram, meinem nur genannten Testamentsvollstrecker, auf daß er davon Gebrauch, mache, der ihm gut dünkt.

Zu Urkund Dessen habe ich meinen Namen unterschrieben und mein Siegel beigesetzt, heute, als am dritten November, Eintausendachthundertundsiebenundvierzig.

—— Ist das Alles? fragte Noël Vanstone erstaunt.

—— Das reicht hin, Sir, um das Vermögen den Admiral zu verschreiben, und das ist Alles. Nun wo wieder auf den Fall zurückkommen den wir schon gesetzt haben. Ihre Wittwe bezahlt ihren Schilling und sieht Ihr Testament ein. Da ist das Combe-Raven-Vermögen dem Admiral Bartram hinterlassen mit einer ausdrücklichen gemessenen Erklärung, daß es sein ist, um davon den Gebrauch zu machen, der ihm gut dünkt. Wenn sie das sieht, was wird sie thun? Sie legt dem Admiral ihre Schlingen. Er ist ein Junggesell und ein alter Herr. Wer soll ihn schützen gegen die Künste dieses verzweifelten Frauenzimmers? —— Schützen Sie ihn selbst, Sir, mit noch einigen wenigen Strichen derselben Feder, welche bereits solche Wunder gethan hat. Sie haben ihm in Ihrem Testament dies Vermächtniß hinterlassen, und Ihre Frau sieht dies Testament. Nehmen Sie ihm das Vermächtniß in einem Briefe wieder ab und lassen Sie diesen Brief ein tiefes Geheimniß zwischen Ihnen und dem Admiral sein und bleiben. Stecken Sie das Testament und den Brief in ein und dasselbe Couvert und legen Sie Beides in die Hände des Admirals mit Ihrer schriftlichen Weisung für ihn, das Siegel am Tage Ihres Todes zu erbrechen. Lassen Sie das Testament sagen, was es jetzt besagt, und lassen Sie erst den Brief, —— der da Ihr und sein Geheimniß ist —— ihm die Wahrheit sagen. Sagen Sie, daß, indem Sie ihm vor der Welt Ihr Vermögen vermachten, Sie es mit dem Bedingung thaten, daß er Ihr Vermächtniß mit der einen Hand nehmen und dasselbe mit der andern an seinen Neffen George abtreten möge. Erklären Sie ihm, daß Ihre Zuversicht in dieser Angelegenheit einzig und allein auf Ihrem Vertrauen auf seine Ehre und Ihrem Glauben an seine dankbare Erinnerung an Ihren Vater und Sie selber beruhe. Sie kennen den Admiral seit Ihrer frühesten Jugend. Er hat seine kleinen Schrullen und Sonderbarkeiten, aber er ist ein Ehrenmann von dem Wirbel bis zur Zehe und schlechterdings unfähig, einem Vertrauen in seine Ehre, das ein verstorbener Freund in ihn gesetzt hat, nicht zu entsprechen. Heben Sie die Schwierigkeit durch eine solche Kriegslist nur immer frischweg, und Sie retten diese beiden hilflosen Männer vor den Ränken Ihrer Gattin, den Einen mittelst des Andern. Hier auf der einen Seite ist Ihr Testament, das Ihr Vermögen dem Admiral zuweist und folglich ihre Hinterlist aufs Neue rege macht. Und da auf der andern Seite ist Ihr Brief, der insgeheim das Geld seinem Neffen in die Hände gibt!

Die boshafte Geschicklichkeit dieser verwickelten Anordnung war gerade so recht nach Mr. Noël Vanstones Sinn und seinem Verständniß angepaßt. Er versuchte seine Zustimmung und Bewunderung in Worten auszusprechen. Mrs. Lecount hob aber warnend ihre Hand auf und schloß ihm die Lippen.

—— Warten Sie? Sir, ehe Sie Ihre Meinung aussprechen, fuhr sie fort. Wir haben die Schwierigkeit erst halb überwunden. —— Wir wollen nun einmal sagen, der Admiral hat von Ihrem Vermächtniß den Gebrauch gemacht, wie Sie insgeheim von ihm geheischt haben. Früher oder später, wie gut auch das Geheimniß bewahrt werden möge, wird Ihre Frau die Wahrheit erfahren. Was folgt auf diese Entdeckung? Sie legt die Belagerung vor Mr. George. Alles, was Sie gethan haben, ist, daß Sie ihm das Geld auf einem Umwege vermachen. Da ist er ihr nach Verlauf von einiger Zeit ebenso sehr preisgegeben, als wenn Sie ihn ganz offen in Ihrem Testament eingesetzt hätten. Was gibt es für ein Mittel dagegen? —— Das Mittel ist, sie irre zu leiten, wenn wir es vermögen, zum Schutze Ihres Vetters George zum zweiten Male ein Hinderniß zwischen sie und das Geld zu setzen. Können Sie wohl selber rathen, Mk. Noël, welches das zuverlässigste Hinderniß ist, das wir ihr in den Weg werfen können?

Er schüttelte mit dem Kopfe. Mrs. Lecount lächelte und machte ihn aufs Aeußerste gespannt, indem sie ihre Hand auf seinen Arm legte.

—— Stellen Sie ihr ein Weib in den Weg, Sir! flüsterte sie in ihrem verschmitztesten Tone. Wir glauben, Gott Lob! nicht an ihre bezaubernde Schönheit, was auch Sie davon halten mögen. Unsere Lippen brennen nicht, um solche glatte Wangen zu küssen. Unsere Arme verlangen nicht darnach, sich um jenen zarten Leib zu legen. Wir durch schauen ihr Lächeln und ihre Lockungen, ihr Bleiben und ehen, uns kann sie eben nicht bezaubern! Stellen Sie ihr ein Weib in den Weg, Mr. Noël! Nicht ein Weib in meiner hilflosen Lage, die ich nur ein Dienstbote bin, nein, ein Weib mit dem Ansehen und der Eifersucht einer Ehefrau. Machen Sie es in Ihrem Briefe an den Admiral zur Bedingung, daß, wenn Mr. George zur Zeit Ihres Todes noch Junggeselle ist, derselbe in einer bestimmten Zeit nachher heirathen solle, sonst Ihr Vermächtniß verliere. Gesetzt, er bleibt ledig trotz Ihrer Bedingung, wer soll das Geld dann haben? Noch einmal, Sir, stellen Sie Ihrer Frau ein Weib entgegen und vermachen Sie das Vermögen in diesem Falle der verheirathen Schwester Ihres Vetters George.

Sie hielt inne. Noël Vanstone versuchte abermals sich auszusprechen, und wieder machte ihn die Hand der Mrs. Lecount verstummen.

— Wenn Sie einverstanden sind, Mr. Noël, sprach sie, so will ich Ihre Zustimmung hiermit für gegeben erachten. Wenn Sie dawider sind, will ich Ihren Einwürfen begegnen, noch ehe sie über Ihre Lippen sind. Sie können sagen: »Wenn nun auch diese Bedingung hinreichend ist, um dem Zwecke zu dienen, warum sie in einem Briefe an den Admiral verborgen halten? Warum sie nicht offen mit meines Vetters Namen dazu in das Testament hineinschreiben? —— Nur aus einem Grunde nicht, Sir. Nur weil der geheime Weg der sichere ist gegenüber einem solchen Weibe, wie Ihre Frau ist. Je geheimer Sie Ihre Absichten halten, ist ein ihrer Verrätherei abgerungener Gewinn für den Admiral, ein Gewinn für Mr. George, wenn er noch Junggeselle ist, damit er ungestört seine Lebensgefährtin wählen kann, Zeitgewinn für den Gegenstand seiner Wahl zu dessen eigener Sicherheit, da selbiger sonst dem Argwohn und der Feindschaft Ihrer Frau zuerst ausgesetzt sein würde. Denken Sie an das im Oberstübchen aufgefundene Fläschchen und halten Sie daher dieses verzweifelte Weib, so lange Sie können, in Unwissenheit, Dies heißt soviel als Unschädlichkeit. Das ist mein Rath, Mr. Noël, in den kürzesten und deutlichsten Worten. —— Was sagen Sie dazu, Sir? Bin ich aus meine Art beinahe ebenso schlau als —— Ihr Freund Mr. Bygrave? Versteh ich mich auch ein wenig aufs Ränkespinnen, wenn das Ziel meiner Verschwörung dahin geht, Ihre Wünsche zu krönen und Ihre Freunde zu schützen?

Mr. Noël Vanstone, dem endlich der Gebrauch seiner Zunge wieder verstattet war, sprach sich seine Bewunderung vor Mrs. Lecount in Worten aus, welche aufs Haar denjenigen glichen, mit denen er bei einer früheren Gelegenheit Hauptmann Wragge seine Achtung bezeugt hatte.

—— Wass für einen Kopf haben Sie! waren die Dankesworte, welche er einst zu Mrs. Lecounts bitterstem Feinde gesprochen hatte.

—— Was für einen Kopf haben Sie! waren die Dankesworte, welche er jetzt zu Mrs. Lecount selber sprach.

So berühren sich die Extreme, und so lächerlich allbeweihräuchernd ist manchmal der Beifall eines Thoren!

—— Erlauben Sie, daß mein Kopf die schmeichelhaften Aeußerungen erst verdiene, die Sie ihm eben gespendet haben, sagte Mrs. Lecount. Der Brief an den Admiral, noch ist er nicht geschrieben. Das Testament da, es ist ein Leib ohne Seele, ein Adam ohne Eva, bis —— der Brief vollendet und ihm beigelegt ist. Erst noch wenig meinerseits dictirt, noch ein wenig nachgeschrieben von Ihrer Seite, und unser Werk ist vollbracht. —— Verzeihen Sie. Der Brief wird länger sein, als das Testament, wir müssen dies Mal größeres Papier als diese Briefbogen da nehmen.

Die Schreibmappe wurde durchsucht, und etwas Briefpapier von größerem Format, wie es gewünscht wurde, aufgefunden. Mrs. Lecount fing wieder an zu dictiren, und Noël Vanstone nahm wieder die Feder zur Hand.

Dumfries,
Baliol-Villa, den 3. November 1847.

(Vertrauliche Mittheiluug.)
Lieber Admiral Bartram!

Wenn Du mein Testament eröffnest, in welchem Du zu meinem alleinigen Testamentsvollstrecker ernannt bist, so wirst Du finden, daß ich den ganzen Rest meines Grundbesitzes nach Auszahlung eines Vermächtnisses von fünf Tausend Pfund Dir vererbt habe. Es ist der Zweck dieses meines Briefes, Dir vertraulich mitzutheilen, welches die Absicht ist, aus der ich das Vermögen, das nunmehr in Deine Hände gegeben ist, gerade Dir hinterlassen habe.

Siehe dies große Vermächtniß, bitte ich, nur als ein unter gewissen Bedingungen Deinerseits an Deinen Neffen George abzutretendes an. Wenn Dein Neffe zur Zeit meines Todes verheirathet ist und seine Gattin noch lebt, so ersuche ich Dich, ihn sofort in Besitz Deines Vermächtnisses zu setzen, indem Du ihm zugleich meinen Wunsch ausdrücken wirst, den er sicherlich als eine heilige und unverbrüchliche Verpflichtung ansehen wird, —— daß er das Geld seiner Frau und seinen Kindern, wenn er deren hat, zuschreiben lasse. Wenn er aber im andern Falle zur Zeit meines Todes unverheirathet oder ein Wittwer ist, so mache es in diesen beiden Fällen zur Bedingung für den Empfang der Erbschaft, daß er sich verheirathe innerhalb einer Zeit von....

Mrs. Lecount legte den brieflichen Entwurf nieder, aus welchem sie bisher dictirt hatte, und bedeutete Noël Vanstone durch ein Zeichen, daß er seine Feder ruhen lassen möge.

—— Wir sind hier zu einer Zeitfrage gekommen, Sir, bemerkte sie. Wie lange Frist wollen Sie Ihrem Vetter geben, wenn er unverheirathet oder Wittwer ist zur Zeit Ihres Todes?

—— Soll ich ihm ein Jahr geben? frug Noël Vanstone.

—— Wenn wir Nichts, als die Interessen des Vermögens im Auge zu behalten hätten, sagte Mrs. Lecount, würde ich auch sprechen: ein Iahr, Sir, namentlich wenn Mr. George zufällig Wittwer wäre. Allein wir haben Ihre Frau nicht zu vergessen, ebensowenig als die Interessen des Vermögens. Ein Jahr Aufschub zwischen Ihrem Tode und der Verheirathung Ihres Vetters ist eine gefährlich lange Zeit, um die Verfügung über Ihr Vermögen in der Schwebe zu erhalten. Geben Sie einer entschlossenen Frau ein Jahr Zeit zu ihren Ränken und Anschlägen, und es braucht nicht erst gesagt zu werden, was sie nicht im Stande wäre zu thun.

—— Ein halbes Jahr? schlug Noël Vanstone vor.

—— Ein halbes Jahr, begann Mrs. Lecount, ist von den beiden Fristen die bessere. Ein Zwischenraum von sechs Monden vom Tage Ihres Todes reicht hin für Mr. George.

—— Sie sehen unbefriedigt aus, Sir. Was haben Sie?

—— Ich wünschte, Sie sprächen nicht immer soviel von meinem Tode, brach er auffahrend heraus. Ich mag es nicht leiden! Ich hasse sogar den Klang des Wortes!

Mrs. Lecount lächelte nachgiebig und wandte sich wieder zu ihrem Entwurf.

—— Ich sehe das Wort »Ableben« hier geschrieben, warf sie ein, vielleicht würden Sie dieses verziehen, Mr. Noël?

—— Ja, sagte er, ich ziehe »Ableben« vor. Es klingt nicht so schrecklich als »Tod«.

—— So wollen wir denn mit dem Briefe fortfahren, Sir.

Sie begann wieder zu dictiren, und zwar folgendermaßen:

... so mache ich es in diesen beiden Fällen zur Bedingung für den Empfang der Erbschaft:

daß er sich verheirathe innerhalb einer Zeit von sechs Kalendermonaten vom Tage meines Ablebens an;

daß die Frau, die er erwählt, keine Wittwe sei, und daß seine Trauung in der Pfarrkirche zu Ossory mit Aufgeboten stattfinde, da er daselbst von Jugend auf bekannt ist, und die Familie und Verhältnisse seiner zukünftigen Frau füglich Gegenstände eines öffentlichen Interesses und allgemeiner Erkundigungen sind.

—— Dies, sprach Mrs. Lecount, indem sie ruhig von ihrem Entwurf aufblickte, ist deshalb, Sir, unt Mr. George zu schützen für den Fall, daß man ihm dieselbe Schlinge legen wollte, die Ihnen so erfolgreich gelegt wurde. Sie wird ihre falsche Rolle und ihren angenommenen Namen das nächste Mal nicht ganz so leicht anbringen können, nein, selbst nicht mit Hilfe von Mr. Bygrave! —— Tauchen Sie noch einmal ein, Mr. Noël; wir wollen den nächsten Satz schreiben. Sind Sie bereit?

—— Ja.

Mrs. Lecount fuhr fort:

Wenn Dein Neffe diese Bedingungen zu erfüllen unterläßt, d.h. wenn er, ob er nun Junggesell oder Wittwer zur Zeit meines Ablebens sei, unterläßt, sich ganz in der Art und Weise, wie ich ihm vorgeschrieben habe, innerhalb sechs Kalendermonaten von jener Zeit an zu verheirathen: so ist es mein Wille, daß er die Erbschaft nicht erhalte, auch nicht einen Theil derselben. Ich ersuche Dich, in dem hier vorgesehenen Falle ihn ganz zu übergehen und das Dir in meinem Testament vermachte Vermögen seiner verheiratheten Schwester, Mrs. Girdlestone, abzutreten.

Nachdem ich Dich nun mit meinen Gründen und Absichten bekannt gemacht habe, komme ich zur nächsten Frage, welche nothwendig erwogen werden muß. Wenn zu der Zeit, wo Du diesen Brief erbrichst, Dein Neffe unverheirathet ist, so ist es offenbar unerläßlich, daß er die ihm hier auferlegten Bedingungen so schleunig als Du selbst erfahre. Wirst Du ihm unter diesen Umständen offen mittheilen, was ich Dir hier geschrieben habe? Oder wirst Du ihn in dem Wahne lassen, daß kein solcher geheimer Ausdruck meiner Wünsche wie dieser da vorhanden ist, und willst Du ihm vielleicht all die aufs eine Verheirathung bezüglichen Bedingungen als wie ganz von Dir ausgehend auferlegen?

Wenn u diesen letzten Weg einschlagen willst, so wirst Du zu den vielen freundschaftlichen Verpflichtungen, die ich schon gegen Dich habe, noch eine große hinzufügen.

Ich habe ernsten Grund zu glauben, daß der Besitz meines Vermögens und die Entdeckung etwaiger besonderer letztwilliger Anordnungen und Verfügungen darüber Gegenstände betrügerischer Ränke und Anschläge einer gewissenlosen Person sein werden. Ich wünsche daher sehr, zunächst um Deinetwillen, daß kein Verdacht von dem Dasein dieses Briefes der Person in den Sinn komme, auf welche ich anspiele. Ebenso ist es um Mrs. Girdlestones willen in zweiter Linie mein Wille, daß jene selbige Person ganz in Unwissenheit darüber bleibe, daß die Erbschaft in Mrs. Girdlestones Besitz kommen, solle, wenn Dein Neffe in der gegebenen Zeit nicht verheirathet ist. Ich kenne Georges leichten, nachgiebigen Sinn, ich fürchte die Angriffs die man darauf gründen wird und fühle es lebhaft, daß das klügste Verfahren sein wird, daß man unterläßt, Geheimnisse ihm anzuvertrauen, deren verfrühte Enthüllung von ernsten und sogar gefährlichen Folgen begleitet sein könnte.

Stelle daher lieber die Bedingungen Deinem Neffen, als wenn Sie von Dir kämen. Laß ihn denken, daß sie Dir in den Sinn gekommen sind wegen der neuen Pflichten, die Dir als Ehrenmann durch Deine Stellung in meinem Testament und Deinen folgerichtigen Wunsch, für die Fortdauer des Familiennamens zu sorgen, auferlegt sind. Wenn diese Gründe nicht hinreichen, um ihn zu befriedigen, so kann er Nichts dagegen haben, wenn Du ihn wegen weiterer Aufklärungen, die er noch wünschen könnte, auf seinen Hochzeitstag vertröstest!

Ich bin fertig. Meine letzten Wünsche sind Dir nun vertraut, indem ich stillschweigend auf Deine Ehre rechne und auf die zärtliche Sorge für das Andenken Deines Freundes. Von den beklagenswersthen Umständen, welche mich so zu schreiben zwingen, wie eben geschehen ist, sage ich Nichts. Du wirst, wenn ich am Leben bleibe, aus meinem eigenen Munde davon hören; denn Du wirst der erste Freund sein, den ich in meiner Noth und Sorge zu Rathe ziehen werde. Halte diesen Brief sorgfältig geheim und sorgfältig in Deinen Händen, bis meine Wünsche erfüllt sind. Laß kein menschliches Wesen außer Dir unter keinerlei Vorwand wissen, wo er ist;

Halte mich, lieber Admiral Bartram, immer für
Deinen herzlich ergebenen
Noël Vanstone.

—— Haben Sie unterschrieben, Sir? frug Mrs. Lecount. Lassen Sie mich, wenn Sie wollen, den Brief noch ein Mal überlesen, ehe Sie ihn zusiegeln.

Sie las den Brief sorgsam durch. In Noël Vanstones enger, gedrängter Handschrift füllte er zwei Seiten eines Briefbogens und schloß oben auf der dritten Seite. Anstatt ein Couvert zu nehmen, brach ihn Mrs. Leconnt sauber und sicher in der altherkömmlichen Art. Sie zündete den Wachsstock auf dem Schreibzeug an und gab den Brief dem Absender zurück.

—— Siegeln Sie ihn, Mr. Noël, sprach sie, eigenhändig und mit Ihrem eigenen Petschaft zu. ——

Sie löschte den Wachsstock aus und gab ihm wieder die Feder in die Hand.

—— Schreiben Sie die Adresse, Sir, fuhr sie fort: an

ADMIRAL BARTAM
ST. CRUX
in der Marsch
ESSEX

—— Und nun fügen Sie über der Adresse folgende Worte hinzu und unterzeichnen Sie dieselben:

In Deinen Händen zu bewahren und erst am Tage meines Todes ——
oder wenn Sie lieber wollen:
—— meines Ablebens zu erbrechen.

Noël Vanstone.

—— Sind Sie fertig? Lassen Sie mich noch einmal sehen. —— Ganz richtig in allen Stücken. Nehmen Sie meinen Glückwunsch, Sir. Wenn nunmehr Ihre Frau nicht ihren letzten Anschlag wegen des Combe-Raven-Vermögens ausgeführt hat, so ist es nicht Ihre Schuld, Mr. Noël, —— auch nicht meine Schuld!

Als Noël Vanstone nach Vollendung des Briefes seine Aufmerksamkeit wieder unterbrechen konnte, kam er sofort auf rein persönliche Betrachtungen zurück.

—— Jetzt müssen wir an das Einpacken denken, sprach er, ich kann nicht fortgehen ohne meine warmen Sachen.

—— Entschuldigen Sie, Sir, fiel Mrs. Lecount ein, es ist noch das Testament zu unterschreiben, und es müssen zwei Personen gefunden werden, die Ihre Unterschrift bezeugen.

Sie sah zum Vorderfenster hinaus und sah den Wagen an der Thür halten.

—— Der Kutscher ist gut zu einem dieser Zeugen, sagte sie. Er ist in einem anständigen Dienst in Damfries und kann ausfindig gemacht werden, wenn er nötig ist. Als zweiten Zeugeki müssen wir eins von Ihren Leuten nehmen, glaube ich. Es sind alles abscheuliche Frauenzimmer; die Köchin ist noch die, welche von den Dreien am Wenigsten übel aussieht. Klingeln Sie der Köchin, Sir, während ich hinausgehe und den Kutscher rufe. Wenn wir unsere Zeugen hier haben, haben Sie nur folgende Worte zu sprechen:

—— Ich habe da eine Urkunde zu unterschreiben, und ich wünsche, daß Ihr als Zeugen meiner Unterschrift Eure Namen mit hersetzt.

—— Weiter Nichts, Mr. Noël! Sagen Sie diese wenigen Worte in Ihrer gewöhnlichen Art und Weise, und wenn das Unterschreiben vorüber ist, will ich selbst nach dem Einpacken und Ihren warmen Sachen sehen.

Sie ging nach der Vorderthür und rief den Kutscher in das Zimmer herein. Bei ihrer Rückkehr fand sie die Köchin schon in der Stube. Die Köchin sah unerklärlicher Weise beleidigt aus und starrte Mrs. Lecount ununterbrochen an. Eine Minute später kam der Kutscher, ein ältlicher Mann, herein. Es ging ihm ein frischer Branntweingeruch voran, aber sein Kopf war fest auf gut Schottisch, und nichts als der Geruch verrieth ihn.

—— Ich habe da eine Urkunde zu unterschreiben, sagte Noël Vanstone, wie ihm eingelernt worden war, und ich wünsche, daß Ihr als Zeugen meiner Unterschrift Eure Namen mit hersetzt.

Der Kutscher sah auf das Testament. Die Köchin verwandte kein Auge von Mrs. Lecount.

—— Mit Verlaub, Sie werden wohl Nichts dawider haben, Sir, sagte der Kutscher mit der Vorsicht seines Volkes, die sich in jedem Zuge seines Gesichts aussprach. Sie werden Nichts dawider haben, Sir, mir zuerst zu sagen, was das eigentlich für ’ne Urkunde ist?

Mrs. Lecount schlug sich ins Mittel, noch ehe Noël Vanstones Unwille sich in Worten aussprechen.konnte.

—— Sie müssen dem Manne sagen, Sir, daß dies Ihr Testament ist, sagte sie. Wenn er Ihre Unterschrift bezeugt, kann er allein schon so viel sehen,wenn er an den Anfang der Seite sieht.

—— Ja, ja, sagte der Kutscher und sah sofort an den Anfang der Seite. Sein »letzter Wille und Testantent«. Ja, Sirs! des is ’n schlechtes Voraugentreten mit dem Tode in einer Urkunde, die Ihrigte!

—— ’S Fleisch ist wie Gras, fuhr der Kutscher fort, indem er einen neuen Whiskygeruch ausströmte und fromm zur Decke aufblickte. Nehmen Se diese Worte mit der übrigen heiligen Schrift: Viele feind berufen, aber wenige auserwählt. Nehmen Sie Das wieder zu der Offenbarung: erstes Capitel, Vers eins bis. fünfzehn. Legen Se das Ganze aufs Herz —— und wie ist dann der Reichthum von Sie? Schlamm, Sirs! Und Ihr Leib? wieder die Schrift! Thon für den Töpfer. Und Ihr Leben? (noch einmal die Schrift!) Athem von Ihrer Nase!

Die Köchin lauschte, als wenn sie in der Kirche wäre, aber sie Verwandte kein Auge von Mrs. Lecount.

—— Sie können am Besten nun unterschreiben, Sir. Dies ist offenbar noch ein Brauch, der in Dumfries bei Abschließen Von Geschäften herrscht, sagte Mrs. Lecount mit Ergebung. Der Mann meint es gut, ich wette.

Sie setzte diese Worte in sanftem Tone hinzu, denn sie sah, daß Noël Vanstones Unwille fast dem Ausbruche nahe war. Die unerwartet sich ergießende Ermahnung des Kutschers schien ihm eben so viel Furcht als Verdruß verursacht zu haben.

Er tauchte die Feder in die Tinte und unterschrieb das Testament, ohne ein Wort zu sagen. Der Kutscher, der in einem Augenblick von der Theologie auf das Geschäft übersprang, betrachtete die Unterschrift mit der gewissenhaftesten Aufmerksamkeit und schrieb seinen Namen als Zeuge mit einer stillen Betrachtung über den Vorgang nieder, die von einer neuen Whiskyduftausströmung in Gestalt eines tiefen Seufzers begleitet war. Die Köchin blickte von Mrs. Lecount nur mit Mühe hinweg, schrieb in heftiger Eile ihren Namen darunter und sah flugs wieder mit einem starren Staunen auf dieselbe, als ob sie erwartete, in deren Händen eine mittlerweile zum Vorschein gebrachte geladene Pistole zu erblicken.

—— Ich danke Ihnen, sagte Mrs. Lecount in ihrer freundlichsten Art.

Die Köchin öffnete ihre Lippen ruckweise und schaute ihren Herrn an.

—— Du kannst gehen sagte ihr Herr.

Die Köchin hustete verächtliche und —— ging.

—— Wir wollen Sie nicht lange aufhalten, sprach Mrs. Lecount zum Kutscher, als sie ihn fortgehen ließ. In weniger als einer halben Stunde werden wir zur Rückreise bereit sein.

Die ernstfeierliche Haltung des Kutschers ließ zum ersten Male nach. Er lächelte geheimnißvoll und näherte sich Mrs. Lecount auf den Fußspitzen.

—— Sie werden aberst Eins nicht vergessen, gnädige Fraue, sagte er mit der einschmeichelndsten Artigkeit. Sie werden das Zeugen nicht vergessen, sowie das Fahren, wenn Sie mich für den Tag bezahlen thun?

Er lachte wichtigthuend tief aus der Kehle hervor und schritt, seine Atmosphäre hinter sich lassend aus dem Zimmer.

—— Lecount, sagte Noël Vanstone, sobald der Kutscher die Thür geschlossen hatte. Hörte ich recht, daß Sie dem Manne sagten, wir würden in einer halben Stunde fertig sein?

—— Nun, Sir?

—— Sind Sie blind?

Er that diese Frage mit einem unwilligen Stampfen des Fußes. Mrs. Lecount sah ihn erstaunt an.

—— Können Sie denn nicht sehen, daß der dumme Kerl betrunken ist, fuhr er immer gereizter werdend, fort. Ist mein Leben Nichts? Soll ich der Gnade eines betrunkenen Kutschers preisgegeben werden? Ich würde dem Manne nicht das Zutrauen schenken, mich zu fahren, nicht um Alles in der Welt! Ich muß mich sehr wundern, Lecount, daß Sie daran denken konnten!

—— Der Mann hat allerdings Etwas getrunken, Sir, sprach Mrs. Lecount, das ist leicht zu sehen und zu riechen. Aber er ist offenbar gewohnt zu trinken. Wenn er nüchtern genug ist, ganz gerade zu gehen —— was er doch gewiß thut —— und seinen Namen in einer ganz vortrefflichen Handschrift herzusetzen, was Sie selbst auf dem Testament sehen können, so denke ich denn doch, er ist nüchtern genug, uns nach Dumfries zu fahren.

—— Nicht im Geringsten! Sie sind eine Ausländerin, Lecount, Sie verstehen sich auf diese Leute nicht; die trinken Whisky von früh bis spät. Whisky ist von den Branntweinen der stärkste, den es giebt, Whisky ist bekannt wegen seiner Einwirkungen auf das Gehirn. Ich sage Ihnen, ich will die Gefahr nicht laufen. Ich wurde nie gefahren, will nie gefahren sein von einem andern als nüchternen Menschen!

—— Soll ich selber nach Dumfries zurückgehen Sir?

—— Und mich hier zurücklassen? Mich hier im Hause allein lassen, nach Alledem, was vorgefallen ist? Wie kann ich denn wissen, ob meine Frau nicht heute Abend zurückkommt? Wie kann ich wissen, ob ihre Reise überhaupt nicht eine Schlinge ist, um mich zu berücken? Haben Sie kein Gefühl, Lecount? Können Sie mich in meiner kläglichen Lage verlassen....?

Er sank in einen Stuhl und brach über seinen Gedanken in Thränen aus, ehe er denselben in Worten fertig ausgesprochen hatte.

—— Zu schlecht! sagte er mit seinem Taschentuche vor dem Gesicht, zu schlecht!

Es war unmöglich, ihn nicht zu bedauern. Wenn je ein Sterblicher zu bedauern war, so war er dieser Sterbliche.

Er war unter dem Kampfe widerstrebender Gefühle, die in ihm seit dem Morgen rege geworden waren, endlich zusammengebrochen. Die Anstrengung, Mrs. Lecount durch die Irrgänge der verwickelten Pläne zu folgen, durch die sie ihn fortwährend geführt, hatte ihn aufrecht erhalten, so lange eben die Anstrengung gedauert hatte: in dem Augenblicke, wo dieselbe zu Ende war, knickte er zusammen. Der Kutscher hatte eine Wirkung beschleunigt, von der er weit entfernt war die eigentliche Ursache zu sein.

—— Sie überraschen mich, Sie betrüben mich, Sir, sagte Mrs. Lecount. Ich beschwöre Sie, sich zu fassen. Ich will wenn Sie es wünschen, mit Vergnügen hier bleiben, ich will um Ihretwillen heute Nacht hier bleiben. Sie bedürfen der Ruhe und Erholung nach diesem schrecklichen Tage. Der Kutscher soll noch diesen Augenblick fortgeschickt werden, Mr. Noël. Ich will ihm ein Billet an den Wirth des Hotels mitgeben, und der Wagen soll morgen früh mit einem andern Kutscher, der uns fahren soll, wieder vorkommen.

Die durch diese Worte sich ihm eröffnende Aussicht machte ihn wieder froh. Er wischte sich die Thränen ab und küßte Mrs. Lecount die Hand.

—— Ja! sagte er mit schwacher Stimme, schicken Sie den Kutscher fort und bleiben Sie hier. Sie gutes Geschöpf! Sie vortreffliche Lecount! Schicken Sie den betrukenen dummen Kerl fort und kommen Sie gleich zurück. Wir wollen uns gemächlich ans Feuer setzen, Lecount, und ein hübsches kleines Mittagsbrod einnehmen.

Seine schwache Stimme brach, er kehrte ans Kamin zurück und zerfloß wieder unter dem überschwenglichen Einflusse seiner eignen Gedanken in Thränen.

Mrs. Lecount verließ ihn eine Minute, um den Kutscher zu entlassen. Als sie zurückkehrte in das Zimmer, fand sie ihn mit der Hand am Klingelzuge.

—— Was wünschen Sie, Sir? frug sie.

—— Ich will den Dienstmädchen sagen, sie sollen Ihr Zimmer in Bereitschaft setzen, antwortete er. Ich will Ihnen jegliche Aufmerksamkeit erweisen, Lecount.

—— Sie sind die Freundlichkeit selber, Mr. Noël, aber warten Sie lieber noch ein wenig. Es wird gut sein, wenn wir diese Papiere auf die Seite schaffen, ehe das Mädchen wieder hereinkommt. Wenn Sie das Testament und den Brief in einen Umschlag stecken wollen und Beides an den Admiral adressiren, so will ich Sorge tragen, daß der so verschlossene Inhalt sicher in seine Hände gelangt. —— Wollen Sie an den Tisch kommen, Mr. Noël, nur noch auf einen Augenblick?

Nein! Er bestand aus seinen Kopf, er weigerte sich vom Feuer aufzustehen, er war krank und ermüdet vom Schreiben, er wünschte nimmer geboren zu sein, und es ekelte ihn schon der bloße Anblick von Feder und Tinte an. Mrs. Lecounts ganze Geduld und ganze Ueberredungskunst war nöthig, um ihn zu bewegen, die Adresse des Admirals zum zweiten Male zu schreiben. Sie hatte nur so viel Erfolg, daß sie ihm das unbeschriebene Couvert auf der Schreibemappe entgegenbringen und es ihm schmeichelnd auf den Schooß legen konnte. Er brummte, er verschwor sich sogar, aber er versah doch zuletzt das Couvert mit folgender Anschrift:

ADMIRAL BARTAM
ST. CRUX

in der Marsch

DURCH GÜTE
der
MRS. LECOUNT.

Mit diesem Gefälligkeitsact hatte seine Gelehrigkeit ihr Endschaft erreicht. Er weigerte sich in den stärksten Ausdrücken das Couvert zu siegeln.

Es war keine Noth, ihn zu dieser Handlung zu drängen. Sein Petschaft lag auf dem Tische bereit da, und es kam wenig daraus an, ob er es anwendete oder statt seiner eine Vertrauensperson von ihm. Mrs. Lecount siegelte das Couvert mit den beiden sorgsam hineingelegten Iulagen zu.

Sie machte ihre Reisetasche zum letzten Male auf, hielt einen Augenblick inne, ehe sie das versiegelte Paquet wegsteckte und sah es noch einmal mit einer durch Worte nicht aussprechbaren Siegesfreude an. Sie lächelte, als sie es in die Tasche fallen ließ. Nicht der Schatten eines Zweifels, daß das Testament überflüssige Worte und Wendungen enthalten könnte, die ein praktischer Advocat nicht gebraucht haben würde, nicht die Spur einer Unsicherheit, daß der Brief nicht eine so vollständige Urkunde sei, wie ein praktischer Advocat sie gemacht haben würde, beunruhigte ihr Gemüth. In dem blinden Vertrauen, das aus ihrem Hasse gegen Magdalene und ihrem Rachedurst herstammte, dem blinden Vertrauen auf ihre Geschicklichkeit und die Gesetzkunde ihres Freundes, rechnete sie mit Bestimmtheit auf die Zukunft im Sinne ihrer Bemühung von heute Morgen.

Als sie ihre Reisetasche schloß, zog Noël Vanstone die Klingel. Diesmal kam Louise daraus herein.

—— Mache das Gastzimmer zurecht, sagte ihr Herr, diese Dame wird heute hier über Nacht bleiben. Lüfte meine warmen Sachen, diese Dame und ich gehen morgen früh zusammen weg.

Die höfliche und unterwürfige Louise empfing ihre Befehle in düsterm Schweigen, schoß einen mürrischen Blick auf den räthselhaften Besuch ihres Herrn und verließ das Zimmer. Die Mädchen waren ersichtlich allesamt den Interessen ihres Herrn ergeben und alle insgesamt einer Meinung betreffs Mrs. Lecount.

—— Das wäre abgemacht, sprach Noël Vanstone mit einem Seufzer voll unendlicher Befriedigung. Kommen Sie und setzen Sie sich, Lecount, wir wollen es uns bequem machen, wir wollen am Feuer Eins Plaudern.

Mrs. Lecount nahm die Einladung an und schob einen Stuhl neben ihn. Er ergriff ihre Hand mit vertraulicher Zärtlichkeit und hielt sie in der seinigen, während die Unterhaltung ihren Verlauf nahm. Ein Fremder, der sie durchs Fenster gesehen hätte, würde sie für Mutter und Sohn gehalten und bei sich gedacht haben:

—— Was für ein trautes Selbander!

Die Unterhaltung, welche von Noël Vanstone geführt wurde, bestand wie gewöhnlich ans einer endlosen Reihe von Fragen und war ganz dem einen Gegenstande geweiht; seine Person und seine künftigen Anordnungen.

—— Wohin wollte ihn die Lecount nehmen, wenn sie den nächsten Tag weggehen wollten?...

—— Warum nach London?...

—— Warum sollte er in London gelassen werden, während die Lecount nach St. Crux weiter ging und dem Admiral Testament und Brief übegab?

—— Weil seine Frau ihm vielleicht folgen konnte, wenn er mit zum Admiral ginge?... Gut, daran war etwas.

—— Und weil er sorgfältig vor ihr in einer bequemen Wohnung bei Mr. Loscombe verborgen gehalten werden sollte? ...

—— Warum bei Mr. Loscombe?...

—— Ach, ja, sicherlich, nur um zu erfahren, was das Gericht thun würde, ihn zu unterstützen ...

—— Würde das Gericht ihn von der Frauensperson losmachen können, die ihn hinters Licht geführt? ...

—— Wie langweilig, daß es die Lecount nicht wußte! ...

—— Würde das Gericht sagen, daß er hingegangen und zum zweiten Male geheirathet habe, dadurch, daß er mit der Frauensperson wie Mann und Frau in Schottland gelebt habe?...

—— War in Schottand Alles, was öffentlich für eine Ehe gehalten wurde, wirklich eine Ehe, wie er gehört habe? ...

—— Wie äußerst langweilig von der Lecount, dazusitzen und zu sagen, sie wisse davon Nichts!...

—— Sollte er lange in London allein bleiben mit Niemand außer Mr. Loscombe, mit dem er sprechen könnte?...

—— Würde die Lecount so rasch zu ihm zurückkehren, als sie jene wichtigen Papiere in die Hände des Admirals niedergelegt haben würde.

—— Wollte die Lecount sich als noch in seinen Diensten stehend betrachten? ...

—— Die gute Lecount! die treffliche Lecount!...

—— Und wenn nun alle die gerichtlichen Schritte abgemacht wären, was dann?...

—— Warum nicht dieses entsetzliche England verlassen und wieder ins Ausland gehen?...

—— Warum nicht nach Frankreich reisen an irgend einen billigen Ort bei Paris? ...

—— Vielleicht nach VersailIes? Vielleicht St. Germain? ... In ein hübsches kleines französisches billiges Haus?... Mit einer hübschen französischen Bonne als Köchin, welche ihn nicht zu Grunde richtete durch übermäßiges Fett der Speisen?... Mit einem hübschen kleinen Garten, wo er selbst arbeiten, gesund werden und —— die Kosten eines Gärtners ersparen könnte? ...

—— Das wäre kein schlechter Gedanke? Und Das scheint sich für die Zukunft gut zu machen, nicht wahr, Lecount?...

So schwatzte es fort, das arme, schwächliche Wesen! Die elende kleine Spottgeburt von einem Manne!

Als die Dunkelheit hereinbrach und der kurze Novembertag zu Ende war, begann er schläfrig zu werden, —— seine endlosen Fragen hörten endlich auf, er schlief ein. Der Wind draußen sang sein trauriges Winterlied, das Trappeln vorübergehender Schritte, das Rollen vorbeifahrender Räder auf der Straße verstummte in traurigem Schweigen. Er schlief ruhig fort. Das Licht vom Kamin flackerte hin und her auf seinem bleichen kleinen Gesichte und seinen kraftlosen herabfallenden Händen. Mrs. Lecount hatte ihn noch nie bemitleidet. Nunmehr fing sie aber an ihn zu bedauern. Ihr Zweck war erreicht, ihr Interesse war in dem Testament gewahrt und gesichert; er hatte aus eigenem Antriebe seine künftige Existenz unter ihre mütterliche Sorge gestellt; das Kaminfeuer war so traulich: die Umstände waren dem Aufkeimen christlicher Milde günstig.

—— Armes Wesen! sagte Mrs. Lecount, indem sie ihn mit ernstem Mitgefühl anschaute —— armes Wesen!

Die Essensstunde weckte ihn. Er war bei Tisch ausgeräumt, er kam aus den Gedanken von dem billigen Häuschen in Frankreich zurück; er lächelte und schmunzelte und sprach französisch mit Mrs. Lecount, während das Hausmädchen und Louise abwechselnd, aber mit Widerwillen, bedienten. Als das Essen vorbei war, kehrte er aus seinen bequemen Stuhl vor dem Feuer zurück, und Mrs. Lecount folgte ihm. Er begann die Unterhaltung wieder, was bei ihm so viel hieß, als: er wiederholte seine Fragen. Aber er war nicht so lebhaft und rasch mit denselben, als er früher am Tage damit gewesen. Sie begannen nachzulassen, sie kehrten in längeren und immer längeren Pausen wieder, sie hörten endlich ganz auf. Gegen neun Uhr verfiel er wieder in Schlummer.

Dies Mal war es nicht ein ruhiger Schlaf. Er murmelte und knirschte mit den Zähnen und rückte seinen Kopf von einer Seite zur andern auf dem Stuhle. Mrs. Lecount machte absichtlich Geräusch, um ihn zu erwecken. Er erwachte mit starren Augen und gerötheten Wangen. Er ging unruhig im Zimmer auf und ab mit einem neuen Gedanken im Kopfe, dem Gedanken, einen schrecklichen Brief zu schreiben, einen Brief mit ewigem Lebewohl an seine Frau.

Wie sollte der Brief geschrieben werden? In welcher Sprache sollte er seine Gefühle aussprechen? Die Sprachgewalt selbst eines Shakespeare wäre der Aufgabe gegenüber unzureichend. Er war das Opfer einer schlechterdings nicht ihres Gleichen habenden Unthat gewesen. Eine Elende hatte sich in seine Brust geschlichen! Eine Viper hatte sich an seinem Herde eingenistet! Wo konnte er Worte finden, sie mit der Schmach zu brandmarken, die sie verdiente?

Er hielt inne mit dem erdrückenden Gefühl der Ohnmacht seiner Wuth, er hielt inne und ballte zitternd seine Faust in die Luft.

Mrs. Lecount schlug sich jetzt mit einem Nachdruck und einer Entschlossenheit ins Mittel, welche nur von ihrer ernsten Besorgniß eingegeben war. Nach dem schweren Druck, welcher bereits auf seinen schwachen Geist ausgeübt worden war, konnte ein Ausbruch heftiger Leidenschaft, wie er jetzt sich bei ihm kund that, die Ruhe der Nacht ernstlich in Frage stellen und ihm die Kraft zur morgenden Reise rauben. Mit unendlicher Schwierigkeit, mit endlosen Versprechungen, morgen früh wieder auf den Gegenstand zurückkommen und ihm dabei mit Rath zur Hand gehen zu wollen, setzte sie es bei ihm durch, daß er auf sein Zimmer hinaufging und für den Abend Beruhigung faßte. Sie gab ihm ihren Arm, um ihn zu stützen. Unterwegs die Treppe hinauf wurde seine Aufmerksamkeit zu ihrer großen Freude durch einen neuen Einfall getheilt. Er erinnerte sich an eine gewisse warme stärkende Mischung von Wein, Ei, Zucker und Gewürz, welche sie oft in früheren Zeiten für ihn bereitet hatte, und welche, wie er glaubte, ihm ausbündig wohlthun würde, ehe er zu Bett ginge. Mrs. Lecount half ihm seinen Schlafrock anziehen und ging dann wieder die Treppe hinunter, um an dem Feuer im Wohnzimmer seinen Warmtrunk für ihn zu bereiten.

Sie zog die Klingel und bestellte in Noël Vanstones Namen die nöthigen Bestandtheile für die Mischung. Die Dienstmädchen brachten mit der kleinlichen Bosheit ihres Geschlechts, eins nach dem andern, diese Bestandtheile und ließen sie auf jedes derselben so lange als möglich warten. Sie hatte nun die Terrine und den Löffel, den Becher, das Reibeisen für die Muscatnuß und den Wein, allein nicht das Ei, den Zucker, noch das Gewürz: da hörte sie ihn oben geräuschvoll in seinem Zimmer auf- und abgehen, wie er sich ganz wahrscheinlich über den alten Gegenstand aufs Neue in Aufregung versetzte.

Sie ging abermals zu ihm hinauf, aber er war zu schnell für sie, er hörte sie draußen Vor der Thür, und als sie dieselbe öffnete, fand sie ihn auf seinem Stuhle, indem er ihr schlau den Rücken zugewendet hielt. Da sie ihn zu genau kannte, um eine Gegenvorstellung zu machen, zeigte sie ihm nur an, daß der Warmtrunk allsogleich kommen werde, und wandte sich, um das Zimmer zu verlassen. Unterwegs beim Hinausgehen bemerkte sie in einer Ecke einen Tisch mit Tintefaß und Papier darauf und versuchte, ohne seine Aufmerksamkeit zu erregen, die Schreibmaterialien wegzuschaffen. Aber er war wieder zu schnell für sie. Er frug sie zornig, ob sie an seinem gegebenen Versprechen zweifle. Sie stellte aus Besorgniß, ihn zu beleidigen, die Schreibmaterialien wieder auf den Tisch und verließ das Zimmer.

In einer halben Stunde war endlich die Mischung fertig. Sie trug sie ihm hinauf, heiß und schäumend in einem großen Becher.

—— Er wird darauf schlafen, dachte sie bei sich, als sie die Thüre öffnete; ich habe den Trunk darum stärker als gewöhnlich gemacht.

Er hatte seinen Platz verändert. Er saß an dem Tische in der Ecke, aber immer noch den Rücken ihr zugewandt, und —— schrieb. Dies Mal hatten ihm seine guten Ohren Nichts genutzt. Dies Mal ertappte sie ihn auf der That.

—— Ei, Mr. Noël! Mr. Noël sprach sie vorwurfsvoll, was soll man nun auf Ihr Versprechen geben?

Er antwortete nicht. Er saß mit seinem linken Ellenbogen auf dem Tische da, das Haupt gestützt auf seine linke Hand. Seine rechte Hand lag hinter ihm auf dem Papier mit derFeder lose in derselben.

—— Ihr Trank, Mr. Noel, sagte sie mit freundlicherem Tone, indem sie ihm nicht wehe thun mochte.

Er nahm keine Notiz von ihr.

Sie ging an den Tisch, um ihn zu wecken. War er so tief in Gedanken?

Er war todt.



Kapiteltrenner

Zehntes Buch.

Zwischenscene in Briefen.

I.

Mrs. Noël Vanstone an Mr. Loscombe

St. Johns Wood,
Parkterrasse den 5. November.

Lieber Herr!

Ich kam gestern zum Zweck eines Besuches bei Verwandten nach London, indem ich Mr. Vanstone auf Villa Baliol zurückließ und vorhatte, im Laufe der Woche zu ihm zurückzukehren. Ich langte sehr spät in London an und fuhr nach dieser Wohnung, nachdem ich mir vorher ein Zimmer bestellt hatte.

Die Post von diesem Morgen hat mir einen Brief von meiner Kammerjungfer gebracht, welche ich in Villa Baliol zurückgelassen mit der Weisung, mir Augenblicks zu schreiben, wenn etwas Außerordentliches in meiner Abwesenheit vorfallen sollte. Sie werden den Brief des Mädchens im Einschluß finden. Ich kenne es lange genug und glaube, daß man sich auf dasselbe verlassen kann und es durchweg die Wahrheit sagt.

Ich enthalte mich absichtlich, Sie unnöthiger Weise durch eine Erwähnung meiner Person zu behelligen. Wenn Sie den Brief meiner Kammerjungfer gelesen haben werden, werden Sie den Eindruck begreifen, den die darin enthaltene Nachricht auf mich gemacht hat. Ich kann nur wiederholen, daß ich in deren Angaben unbedingtes Vertrauen setze. Ich bin fest überzeugt, daß meines Mannes frühere Haushälterin ihn ausfindig gemacht, in meiner Abwesenheit dessen Schwäche benutzt und ihn vermocht hat, ein anderes Testament aufzusetzen. Nach Dem, was ich von der Person weiß, hege ich nicht den geringsten Zweifel, daß sie ihren Einfluß auf Mr. Vanstone angewandt hat, um mich womöglich alles künftigen Genusses an meines Mannes Vermögen verlustig zu machen.

Unter solchen Umständen ist es im höchsten Grade von Wichtigkeit, aus mehr Gründen, als ich hier zu erwähnen brauche, daß ich Mr. Vanstone sehen und bei der ersten besten Gelegenheit zu einer Erklärung mit ihm gelangen kann. Sie werden finden, daß meine Jungfer ihren Brief absichtlich bis zum letzten Augenblick offen ließ, wo der Postschluß war, ohne jedoch mir weitere Nachrichten geben zu können, als, daß Mrs. Lecount diese Nacht in der Villa schlafen sollte und daß sie und Mr. Vanstone heute früh zusammen abreisen wollten. Aber was diesen letzten Theil der Mittheilung anlangt, so hätte ich eigentlich schon jetzt unterwegs nach Schottland sein sollen. Wie die Sache liegt, kann ich mich nicht entschließen, was ich zunächst thun soll. Meine Rückreise nach Dumfries, nachdem Mr. Vanstone es verlassen hat, scheint wie eine Reise ins Blaue, und mein Verbleiben in London sieht beinahe ebenso unnütz aus.

Wollen Sie so gütig sein, mir in dieser Schwierigkeit Ihren Rath geben? Ich will zu Ihnen nach Lincoln’s Inn kommen, diesen Nachmittag oder morgen zu jeder Zeit, welche Sie nur immer mir angeben wollen. Meine nächsten paar Stunden sind besetzt. Sobald dieser Brief abgefertigt ist, gehe ich nach Kensington, um zu erfahren, ob gewisse Befürchtungen, die ich über die Mittel fühle, durch welche Mrs. Lecount ihre Entdeckung bewerkstelligt hat, begründet sind oder nicht. Wenn Sie mir umgehend Ihre Antwort zugehen lassen, so werde ich nicht verfehlen, in St. John’s Wood zu rechter Zeit zurück zu sein, um sie in Empfang zu nehmen. Genehmigen Sie die Versicherung meiner Ergebenheit als Ihre

Magdalene Vanstone.



Kapiteltrenner

II.

Mr. Loscombe an Mrs. Noël Vanstone.

Lincoln’s Inn, den 5. November.

Verehrte Frau!

Ihr Brief mit Inlage hat bei mir eben soviel Interesse, als Ueberraschung erregt. Der Drang der Geschäfte läßt mir leider keine Hoffnung, daß ich im Stande wäre, Sie entweder noch heute oder morgen früh zu empfangen. Allein wenn morgen Nachmittag drei Uhr Ihnen paßt, so werden Sie mich zu dieser Stunde zu Ihren Diensten finden.

Ich kann mir nicht erlauben, eine bestimmte Meinung zu äußern, bevor ich mehr Einzelheiten über jenes außerordentliche Geschäft kenne, als ich einestheils in Ihrem Briefe, anderntheils in dem Ihrer Kammerjungfer mitgetheilt finde. Allein mit diesem Vorbehalt möchte ich wohl behaupten, daß Ihr Verbleiben in London bis morgen möglicherweise zu noch anderen Ergebnissen führen kann außer der Berathung auf meiner Expedition. Wenigstens ist Aussicht, daß Sie mit der Frühpost eine weitere Mittheilung über diese seltsame Geschichte erhalten.

Ich verbleibe, verehrte Frau,
Ihr ganz ergebener Diener,

John Loscombe.



Kapiteltrenner

III.

Mrs. Noël Vanstone an Miss Garth.

Den 5. November, 2 Uhr.

Ich bin eben von Westmorlandpalast zurück, nachdem ich ihn absichtlich insgeheim verließ und absichtlich Ihnen unter Ihrem eigenen Dache aus dem Wege ging. Sie sollen erfahren, warum ich kam und wieder ging. Ich bin es dem Andenken an frühere Zeiten schuldig, daß ich Sie nicht wie eine Fremde behandle, obschon ich Sie nimmer wieder als Freundin behandeln kann. ——

Ich reiste gestern aus dem Norden nach London. Mein einziger Zweck für diese lange Reise war, noch einmal Nora zu sehen. Ich hatte viele traurige Wochen hindurch solche Gewissensbisse gehabt, wie sie nur elende Frauen wie ich erdulden können. Vielleicht hat mich das Leiden schwach gemacht, vielleicht erweckte es auch einige alte vergessene Zärtlichkeit in meinem Herzen wieder auf: Gott mag es wissen! —— ich kann es nicht erklären. Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich anfing, bei Tage nur an Nora zu denken und in der Nacht nur von ihr zu träumen, bis ich von meinem Schmerz beinahe aufgerieben wurde. Ich habe keinen bessern Grund als diesen, den ich für den Entschluß anführen kann, daß ich all diese Gefahren lief und nach London kam, um sie zu sehen! —— Ich will nicht mehr für mich beanspruchen, als ich verdiene, mag Ihnen nicht sagen, daß ich das reumütige und in sich gegangene Wesen war, das Sie vielleicht wieder auf- und angenommen hätten. Ich hatte nur ein Gefühl in mir, dessen ich mir bewußt war. Ich sehnte mich, meine Arme um Noras Hals zu, schlingen und mich auszuweinen an Noras Busen. Kindisch genug, kann ich wohl sagen. Es wäre vielleicht Etwas daraus entstanden, vielleicht auch Nichts, —— wer weiß es?

Ich sah keine Möglichkeit vor mir, ohne Ihren Beistand Nora ausfindig zu machen. Wie sehr Sie auch mißbilligen möchten, was ich gethan, ich dachte, Sie würden sich gewiß nicht weigern, mir dazu zu verhelfen, daß ich meine Schwester fände. Als ich mich die letzte Nacht in das fremde Bett zur Ruhe begab, sprach ich zu mir selbst:

—— Ich will Miss Garth um meines Vaters und meiner Mutter willen bitten, es mir zu sagen.

Sie können nicht ermessen, welchen Trost ich in dem Gedanken fühlte. Aber wie sollten Sie auch? Was wissen tugendhafte Frauen, wie Sie, von elenden Sünderinnen, wie ich? Alles was Sie wissen, ist, daß Sie für uns in der Kirche beten. ——

Gut, ich schlief in dieser Nacht zum ersten Male seit meiner Verheirathung glücklich und froh ein. Als der Morgen kam, büßte ich für die Vermessenheit, auch nur für eine Nacht glücklich und froh gewesen zu sein. Als der Morgen Kam, kam zugleich mit ihm ein Brief, der mir berichtete, daß meine bitterste Feindin auf Erden —— Sie haben Sich genug schon in meine Angelegenheiten gemischt, um sofort zu wissen, welche Feindin ich meine —— in meiner Abwesenheit Rache an mir genommen habe. Indem ich dem Drange nachgab, der mich zu meiner Schwester trieb, war ich in mein Verderben gerannt.

Das Unglück war für den Augenblick ohne alle Abhilfe, als ich die Nachricht davon empfing. Was auch immer vorgefallen war, was noch vorfallen mochte, ich stählte meinen Geist in dem Entschlusse, Nora zu sehen, ehe ich noch etwas Anderes thäte. Ich hatte Sie im Verdacht, daß Sie mit an dem Unglück schuld wären, das mich betroffen hatte, —— weil ich in Aldborough ganz sicher und gewiß wußte, daß Sie und Mrs. Lecount einander geschrieben hatten. Aber ich hatte niemals Nora in Verdacht. Und wenn ich in diesem Augenblicke auf meinem Sterbebette läge, so könnte ich mit guten: Gewissen sagen, Nora hatte ich niemals in Verdacht.

So ging ich heute Morgen nach Westmorlandpalast, um Sie nach der Wohnung meiner Schwester zu fragen und offen zu gestehen, daß ich Sie in Verdacht hatte, wieder mit Mrs. Lecount in Briefwechsel zu stehen.

Als ich an der Thür nach Ihnen frug, sagte man mir, Sie seien ausgegangen, würden aber binnen Kurzem zurückerwartet. Man frug mich, ob ich Ihre Schwester besuchen wolle, welche gerade im Schulzimmer war. Ich wünschte, daß Ihre Schwester in keiner Weise behelligt werde, mein Geschäft sei nicht mit ihr, sondern mit Ihnen. Ich bat um die Erlaubniß, in einem Zimmer allein zu warten, bis Sie zurückkämen.

Man wies mich in das Doppelzimmer im Erdgeschoß, das durch Vorhänge getrennt ist, wie es damals war, wo ich es zuletzt gesehen hatte. Es war Feuer in der äußern Abtheilung des Zimmers, nicht aber in der inneren, und aus diesem Grunde vermuthlich waren die Vorhänge zugezogen. Das Dienstmädchen war sehr höflich und aufmerksam gegen mich. Ich habe für Höflichkeit und Aufmerksamtkeit dankbar zu sein gelernt und sprach mit ihm so heiter als ich konnte. Ich sagte zu dem Mädchen:

—— Ich werde Miss Garth hier sehen, wenn sie nach der Thür zukommt, und kann sie durch das große Fenster herein zu kommen bitten.

Das Mädchen sagte, Das könnte ich thun, wenn Sie des Weges daher kämen; aber Sie schlössen Sich manchmal mit Ihrem eigenen Schlüssel selbst auf, indem Sie durch die Thür vom Garten hinten hereinkämen, und wenn Sie das thaten, so würde sie dafür sorgen, Sie von meinem Besuche in Kenntniß zu setzen. Ich erwähne diese geringfügigen Einzelheiten, um Ihnen zu zeigen, daß kein vorbedachter Betrug in meiner Absicht lag, als ich in dies Haus kam.

Ich wartete eine traurige lange Zeit, und Sie kamen immer und immer nicht. Ich weiß nicht, ob meine Ungeduld es mich glauben machte, oder ob das große Feuer im Kamin das Zimmer wirklich so heiß machte: ich weiß nur, daß ich nach einer Weile durch die Vorhänge in das innere Zimmer schritt, um in kühlere Luft zu kommen.

Ich ging an das lange Fenster, welches in den Hintergarten geht, um hinauszusehen, und beinahe im selben Augenblicke höre ich die Thür öffnen, die Thür des Zimmers, das ich eben verlassen hatte, und höre Ihre Stimme und die Stimme noch einer andern Frau sprechen, welche Letztere mir unbekannt ist. Die Fremde war eine von den Pensionärinnen glaube ich. Ich nahm aus den ersten Worten, welche Sie mit einander wechselten, ab, daß Sie Sich in der Flur getroffen, sie die Treppe heruntergehend und Sie vom Hintergarten herein kommend. Die nächste Frage derselben und Ihre nächste Antwort belehrten mich, daß diese Person eine Freundin meiner Schwester war, die eine große Theilnahme für dieselbe an den Tag legte und welche wußte, daß Sie gerade von einem Besuche bei Nora zurückkamen. Bis dahin zögerte ich nur deshalb mich selbst zu zeigen, da ich in meiner peinlichen Lage mich scheute, mit einer Fremden zusammen zu kommen. Allein als ich unmittelbar daraus meinen eignen Namen von Ihren Lippen und von derselben aussprechen hörte, da trat ich unwillkürlich dem zwischen uns befindlichen Vorhange näher und lauschte absichtlich.

Eine gemeine Handlung, wollen Sie sagen? —— Nennen Sie es gemein, wenn Sie wollen. Was können Sie von einer Person, wie ich bin, Besseres erwarten?

Sie waren immer ob Ihres Gedächtnisses berühmt, es ist mithin nicht nöthig, die Werte zu wiederholen, welche Sie vor kaum einer Stunde zu Ihrer Freundin sprachen, und die Worte, die Ihre Freundin zu Ihnen sagte. Wenn Sie diese Zeilen lesen, werden Sie so gut als ich selber wissen, was jene Worte besagten. Ich frage nicht nach Einzelheiten, ich nehme all Ihre Gründe und all Ihre Entschuldigungen für gegeben an. Es ist mir genug zu wissen, daß Sie und Mr. Pendril mich wieder haben suchen lassen und daß Nora dies Mal mit bei der Verschwörung ist, um mich wider meinen Willen zurückzufordern. Es ist mir genug, daß ich weiß, wie mein Brief an meine Schwester zu einem Fallstrick benutzt wurde, um mich darin zu fangen, und wie Mrs. Lecounts Rache durch Mittheilungen aus Noras Munde ihr Ziel erreicht hat.

Soll ich Ihnen sagen, was ich litt, als ich diese Dinge hörte? Nein, es wäre bloß Zeitverschwendung es Ihnen zu sagen. Was ich auch leide, ich verdiene es, —— nicht wahr?

Ich wartete in dem inneren Zimmer —— da ich mein heftiges Temperament kannte und mir nicht zutraute, Sie nach dem, was ich gehört hatte, sehen zu können —— ich wartete in dem inneren Zimmer, indem ich zitterte, es möchte das Dienstmädchen Ihnen von meinem Besuche sagen, ehe ich Gelegenheit fände, das Haus zu verlassen. Dies Mißgeschick wenigstens sollte mir erspart bleiben. Das Mädchen hörte ohne Zweifel die Stimmen oben und nahm an, daß wir uns in der Flur getroffen hätten. Ich weiß nicht, wie lang oder wie kurz die Zeit war, bis Sie das Zimmer verließen, um den Hut abzulegen, und Ihre Freundin mit Ihnen ging. Ich zog das große Fenster leise in die Höhe und stieg in den hinteren Garten. Der Weg, auf dem Sie ins Haus zurückkehrten, war derselbe, auf dem ich es verließ. Das Mädchen trifft keine Schuld. Wie gewöhnlich ist, wo ich im Spiele bin, Niemand als ich der schuldige Theil.

Es ist Zeit genug vergangen, um meinen Geist etwas zu beruhigen. Sie wissen wohl, wie stark ich bin? Sie wissen noch, wie ich schon als Kind ankämpfte gegen alle meine Krankheitsanfälle? Jetzt, wo ich ein Weib, kämpfe ich nun ganz ebenso gegen mein zahlloses Elend an. Bedauern Sie mich nicht, Miss Garth! Bedauern Sie mich nicht!

Ich hege keinen Groll gegen Nora. Die Hoffnung, welche ich hatte, sie zu sehen, ist mir nunmehr benommen, der Trost, den ich hatte, wenn ich ihr schrieb, ist mir für die Zukunft abgeschnitten. Ich bin ins Herz getroffen, aber ich habe doch keine bittere Empfindung gegen meine Schwester. Sie meint es gut, die gute Seele, —— ich darf wohl sagen, sie meint es gut. Es würde sie betrüben, wenn sie wüßte, was vorgefallen ist. Erzählen Sie es ihr nicht. Verschweigen Sie meinen Besuch und verbrennen Sie, meinen Brief.

Ein letztes Wort an Sie selbst, und ich bin fertig.

Wenn ich meine Lage recht verstehe, suchen mich Ihre Spione ebenso vergeblich, als damals in York. Schicken Sie dieselben fort, Sie verschwenden Ihr Geld umsonst. Wenn Sie mich morgen entdeckten, was könnten Sie thun? Meine Lage ist ganz verändert. Ich bin nicht mehr das arme ausgestoßene Mädchen, die landläufige Schauspielerin, auf welche Sie einstmals Jagd machten. Ich habe gethan, was ich Ihnen vorausgesagt habe, —— ich habe dies Mal das allgemeine Anstandsgefühl zum Mitschuldigen gemacht. Wissen Sie, wer ich jetzo bin? Ich bin eine ehrenwerthe Frau, für meine Handlungen Niemandem auf Gottes Erdboden verantwortlich, denn meinem Manne. Ich habe nun endlich eine Stelle in der Welt und einen Namen in der Welt. Sogar das Gesetz, welches der Freund von Euch Allen, »ehrenwerthen« Leute, ist, hat meine Existenz anerkannt und ist auch mein Freund geworden! Der Erzbischof von Canterbury gab mir die Erlaubniß zu heirathen, und der Pastor zu Aldborough vollzog die Trauung. Wenn ich Ihre Spione mir auf der Straße folgen sähe und gegen sie geschützt sein wollte, so würde das Gesetz auf meiner Seite sein. Sie vergessen, wie meine Erbärmlichkeit Wunder gethan hat. Sie hat Niemandes Kind zu Jemandes Weibe gemacht!

Wenn Sie diesen Erwägungen ihr volles Recht einräumen wollen, wenn Sie Ihren vortrefflichen natürlichen Verstand walten lassen, dann habe ich keine Furcht davor, genöthigt zu werden, den Schutz meines neu gefundenen Freundes und Hortes —— des Gesetzes anzurufen. Sie werden dies Mal fühlen, daß Sie Sich schließlich nicht ohne einen gewissen Erfolg in meine Angelegenheiten gemischt haben.

Ich bin Nora entfremdet, —— bin von meinem Gatten entdeckt, —— bin von Mrs. Lecount überlistet.

Sie haben mich bis zum Aeußersten getrieben, Sie haben mich stark gemacht, um den Kampf meines Lebens mit der Entschlossenheit zu bestehen, die nur ein verlassenes und vereinsamtes Weib fühlen kann. So schlecht Ihre Pläne gelungen sind, so haben sie sich doch am Ende nicht ganz ohne Frucht erwiesen!

Ich habe Nichts weiter zu sagen. Wenn Sie je mit Nora über mich sprechen, so erzählen Sie ihr, daß ein Tag kommen wird, wo sie mich wiedersehen wird, der Tag, wo wir beiden Schwestern unser ureigenes Recht wiedererlangen werden, der Tag, wo ich Nora ihr Vermögen in die Hände legen kann.

Das sind meine letzten Worte. Erinnern Sie Sich das nächste Mal daran, wenn Sie Sich versucht fühlen sollten, Sich wieder in meine Angelegenheiten zu mischen.

Magdalene Vanstone.



Kapiteltrenner

IV.

Mr. Loscombe an Mrs. Noël Vanstone.

Lincoln’s Inn, den 6. November.

Verehrte Frau!

Die Post von heute früh hat Ihnen ohne Zweifel dieselbe traurige Nachricht gebracht, wie mir. Sie müssen in diesem Augenblicke wissen, daß eine schreckliche Prüfung Sie heimgesucht hat, die Prüfung durch Ihres Gatten plötzlichen Tod!

Ich stehe im Begriff, nach dem Norden aufzubrechen, um die nöthigen Nachforschungen anzustellen und all die Anforderungen zu erfüllen, denen ich mich als Sachwalter des verstorbenen Herrn füglich zu unterziehen habe. Erlauben Sie mir, Sie ernstlich zu ersuchen, mir nicht nach Villa Baliol zu folgen, bis ich erst Zeit gefunden haben werde, Ihnen zu schreiben und solchen Rath zu geben, wie ich ihn in diesem Augenblicke aus Unkenntniß aller näheren Umstände zu geben mich außer Stande sehe. Sie können sich darauf verlassen, daß ich allsogleich nach meiner Ankunft in Schottland mit erster Post schreiben werde.

Ich verharre, verehrte Frau, in treuer Ergebenheit als

Ihr gehorsamer

John Loscombe.



Kapiteltrenner

V.

Mr. Pendril an Miss Garth.

Searle-Street, den 6. November.

Liebe Miss Garth!

Ich schicke Ihnen Mrs. Noël Vanstone’s Brief zurück. Ich kann mir Ihre inneren Vorwürfe leicht denken ob des Tones, in dem er geschrieben ist, und Ihren Kummer über die Art und Weise, wie dies unglückliche Weib das Gespräch gedeutet hat, das es in Ihrer Wohnung mit angehört hat. Ich kann, ehrlich gesagt, nicht etwa beklagen, was vorgefallen ist; Meine Meinung hat sich seit der Zeit von Combe-Raven nimmer geändert. Ich halte Mrs. Noël Vanstone für eine der rücksichtslosesten verwegensten und verkehrtesten Frauen unter der Sonne, und alle Umstände, welche sie ihrer Schwester entfremden, heiße ich eben um ihrer Schwester willen einfach willkommen.

Es kann keinen Augenblick zweifelhaft sein, welches Verfahren Sie in dieser Sache zu befolgen haben. Sogar Mrs. Noël Vanstone erkennt es ihrerseits als angemessen an, ihrer Schwester zwecklosen und unnöthigen Kummer zu ersparen. Auf jeden Fall halten Sie ja Miss Vanstone in Unkenntniß über den Besuch zu Kensington und den Brief, der darauf erfolgt ist. Es wäre nicht nur unklug, sondern sogar geradezu grausam, sie davon in Kenntniß zu setzen. Wenn wir ein Mittel anzwenden oder auch nur eine Hoffnung zu bieten hätten, so würden wir einiges Bedenken fühlen können, unser Geheimniß zu verschweigen. Aber es gibt weder Mittel noch Hoffnung. Mrs. Noël Vanstone ist vollkommen berechtigt hinsichtlich der Ansicht, die sie von ihrer Lage hat. Weder Sie noch ich können das geringste Recht geltend machen, ihre Handlungen maßgebend zu beeinflussen.

Ich habe bereits die nöthigen Maßregeln getroffen, um unsere unnöthigen Nachforschungen abzubrechen. In wenigen Tagen werde ich an Miss Vanstone schreiben und mein Bestes thun, um ihr Gemüth in Absicht ihrer Schwester zu beruhigen. Wenn ich keinen hinreichenden Grund finden sollte, so wird es besser sein, sie denkt, daß wir nichts entdeckt haben, als daß sie die Wahrheit erfährt.

Betrachten Sie mich immerdar als

Ihro ganz ergebenen

William Pendril.



Kapiteltrenner

VI.

Mr. Loscombe an Mrs. Noël Vanstone.

Lincoln’s Inn, den 15. November.

(Vertrauliche Mittheilung)
Verehrte Frau!

Ich bedaure, daß das Andauern Ihres Unwohlseins sie verhindert, mich zu besuchen. In Gemäßheit Ihres Ersuchens gehe ich nun daran, Ihnen schriftlich mitzutheilen, was ich Ihnen lieber mündlich mitgetheilt hätte. Betrachten Sie diesen Brief als durchaus vertraulicher Natur, nur für Sie und mich bestimmt und berechnet.

Ich lege Ihnen auf Ihren Wunsch eine Abschrift des von Ihrem verstorbenen Gatten am Dritten dies es, Monats gemachten Testaments bei. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Urschrift echt ist. Ich legte der Form halber Verwahrung ein gegen den Sachwalter des Admiral Bartram, welcher auf Villa Baliol sich als maßgebende Persönlichkeit benahm. Aber er trat dennoch als solcher auf, indem er sich als der gerichtliche Vertreter des einzigen Vollstreckers des zweiten Testamentes auswies. Ich muß gestehen, daß ich an seiner Stelle ganz ebenso verfahren hätte.

Es kommt nun die ernste Frage: Was können wir in unserem Interesse am Besten thun? Das Testament, das unterm dreißigsten September l. J. von mir notariell aufgesetzt wurde, wird jetzt durch das zweite und spätere Testament, das am dritten November gemacht wurde, aufgehoben und widerrufen. Können wir diese Urkunde ausstoßen?

Angesichts des neuen Testaments zweifle ich an der Möglichkeit, dasselbe umzustoßen. Es ist ohne Zweifel nicht ordnungsmäßig abgefaßt, allein es ist mit Datum, Unterschrift und Zeugen versehen, wie es das Gesetz vorschreibt, und die ganz einfachen und unumwundenen Anordnungen, die es enthält, sind in keinem Betracht, der mir auffällig wäre, geeignet, Handhaben für den Angriff zu bieten.

Wenn dies der Fall ist, können wir das Testament angreifen etwa darauf hin, daß es zu einer Zeit aufgesetzt wurde, als der Erblasser nicht in der gehörigen Verfassung war, um über sein Eigenthum verfügen zu können? Oder wo der Erblasser einem ungesetzlichen widrigen Einflusse unterlag?

Im ersten dieser Fälle würde die Aussage des Arztes uns ein Hinderniß sein. Wir können unmöglich behaupten, daß vorhergehendes Unwohlsein den Geist des Erblassers schwach gemacht habe. Es erhellt, daß er in Folge eines Herzschlages eines plötzlichen Todes starb, wie die Aerzte schon längst vorausgesagt hatten. Er war an dem Tage seines Todes wie gewöhnlich außen im Garten und ging spazieren; er genoß sein ordentliches Mittagsessen; keines von den Leuten in seinen Diensten bemerkte eine Veränderung an ihm. Er war ein wenig gereizter gegen sie, als gewöhnlich; aber Das war auch Alles. Es ist unmöglich, seine Geistesverfassung anzugreifen und so weit ist es nicht statthaft, einen Proceß anzustrengen.

Können wir behaupten, daß er unter gesetzlichem Einflusse von Mrs. Lecount handelte?

Auch hier stellen sich uns ernste Schwierigkeiten entgegen, um dies Verfahren einzuschlagen. Wir können zum Beispiel nicht behaupten, daß Mrs. Lecount in dem Testament eine Stelle eingenommen habe, die ihr nicht von Rechtswegen zukomme. Sie hat pfiffig ihr eigenes Interesse nicht nur auf Das beschränkt, was ihr von Rechtswegen zukommt, sondern so gar einzig und allein auf Das, was der verstorbene Mr. Michael Vanstone selbst die Absicht hatte, ihr seinerseits zu vermachen. —— Wenn ich über diesen Gegenstand befragt worden wäre, so müßte ich wohl oder übel anerkennen, daß ich selbst ihn diese Absicht aussprechen hörte. Es ist nur die Wahrheit, wenn ich sage, daß ich ihn diese Ansicht mehr denn einmal habe aussprechen hören. Es ist also kein Angriffspunkt in Mrs. Lecount’s Vermächtniß, und dann ist auch keiner in der Wahl des Testamentsvollstreckers, die Ihr verstorbener Gemahl getroffen hat. Er hat den ältesten und zuverlässigsten Freund, den er hienieden hatte, gewählt, eine kluge und sehr nahe liegende Wahl.

Es bleibt nur noch eine Erwägung, —— die wichtigste, zu welcher ich noch gekommen bin und die ich daher bis zuletzt aufgespart habe.

Am dreißigsten September macht der Erblasser ein Testament, in welchem er seine Wittwe als einzige Vollstreckerin einsetzt mit einem Vermächtniß von achtzig Tausend Pfund Sterling. Am dritten November darauf widerruft er ausdrücklich dies Testament und hinterläßt an Stelle desselben ein anderes, in welchem seine Wittwe auch nicht ein einziges Mal erwähnt ist und in welchem er den ganzen Rest seines Vermögens nach Abzug eines vergleichsweise unbedeutenden Vermächtnisses einem Freunde vererbt.

Es bleibt durchaus Ihre Sache zu sagen, was für ein handhafter Grund vorhanden sein oder nicht vorhanden sein kann, um ein solches außerordentliches Verfahren zu erklären. Wenn kein Grund gefunden werden kann —— und ich selber kenne keinen —— so denke ich, daß wir hier einen Punkt haben, der unsere sorgfältigste Erwägung verdient; denn es ist ein solcher, welcher uns Handhaben zum Angriff bieten dürfte. Verstehen Sie mich recht, daß ich mich jetzt lediglich als Sachwalter, der genöthigt ist, alle Möglichkeiten ins Dinge zu fassen, an Sie wende. Ich habe kein Verlangen, in Ihre geheimsten Angelegenheiten einzudringen, ich habe kein Verlangen, ein Wort niederzuschreiben, das als eine Art von halben Vorwurf gegen Sie selbst gedeutet werden könnte.

Wenn Sie mir erklärten, daß, so weit Sie wüßten, Ihr Gatte Sie nur aus einer Laune aus seinem Testamente strich, ohne einen nachweisbaren Grund oder Anlaß und ohne andere fügliche Erklärung dieses seiner Handlungsweise, als daß er in dieser Sache ganz unter dem Einflusse von Mrs. Lecount handelte: —— dann will ich sofort die Ansicht des Gerichtshofes einholen betreffs der Angemessenheit, auf diesen Grund hin das Testament anzufechten.

Wenn Sie aber andernfalls mir sagen, daß es Gründe gäbe, die Sie selber kennen, ich aber nicht kenne, um nicht das Verfahren einzuschlagen, das ich angerathen habe, so will ich diese Mittheilung hinnehmen, ohne Sie fürder zu behelligen, Sich deutlicher auszudrücken, den Fall ausgenommen Sie wünschten es selbst.

Im letzteren Falle will ich wieder an Sie schreiben; denn ich werde dann über das Testament noch Etwas zu sagen haben, was Sie höchlich verwundern wird.

Ihr getreuer

John Loscombe.



Kapiteltrenner

VII.

Mrs. Noël Vanstone an Mr. Loscombe.

Den 16. November.

Werther Herr!

Empfangen Sie meinen besten Dank für die Freundlichkeit und Dichtung mit der Sie mich behandelt haben und lassen Sie meine körperlichen und geistigen Leiden als Entschuldigung gelten, daß ich auf Ihren Brief ohne Umstände in den kürzest möglichsten Worten antworteten.

Ich habe meine Gründe, um nicht einen Augenblick zu zögern, Ihre Frage verneinend zu beantworten. Es ist unmöglich für uns, betreffs des Testamentes, den Schutz der Gesetze anzurufen.

Genehmigen Sie die Versicherung meiner dankbaren Ergebenheit als

Ihre gehorsame

Magdalene Vanstone.



Kapiteltrenner

VIII.

Mr. Loscombe an Mrs. Noël Vanstone.

Lincoln’s Inn, den 17. November.

Verehrte Frau!

Ich bekenne mich gehorsamst zum Empfang Ihres Briefes mit der abschläglichen Antwort auf meinen Vorschlag, die sich auf Gründe stützt, die Ihnen nur allein bekannt sind. Unter diesen Umständen —— über die ich mir füglich keine Gedanken weiter mache —— führe ich mein Versprechen aus, weiter mit Ihnen betreffs des Testamentes Ihres seligen Gatten zu verhandeln.

Sehen Sie freundlich in Ihrer Abschrift der Urkunde nach. Sie werden darin finden, daß die Clausel, welche den ganzen Rest von Ihres Gatten Vermögen dem Admiral Bartram zuschreibt, mit folgenden Worten schließt:

»auf daß er davon den Gebrauch mache der ihm gut dünkt«.

So einfach diese Worte Ihnen auch erscheinen mögen, so sind sie doch sehr merkwürdig. Einmal würde kein praktischer Rechtsanwalt sie bei dem Entwurf von Ihres Gatten Testamente gebraucht haben. In zweiter Linie sind sie äußerst unnütz, um einem offenen deutlichen Zwecke zu dienen. Das Vermächtniß ist dem Admiral bedingungslos hinterlassen, und in demselben Athem wird ihm gesagt, daß er damit machen kann, was er will!

Diese Redewendung deutet offen auf zwei Schlüsse hin.

Entweder ist sie dem Schreiber aus reiner Unwissenheit aus der Feder geflossen, oder aber sie ist absichtlich dahin gesetzt, wo sie steht, um als Finte zu dienen.

Ich bin fest überzeugt, daß die letztere Erklärung die richtige ist.

Die Worte sind ausdrücklich darauf berechnet, irgend Jemand irre zu führen, —— aller Wahrscheinlichkeit nach Sie selber —— und die List, welche sie zu diesem Behufe aufgesetzt, hat, wie es regelmäßig zu geschehen pflegt, wenn unberufene Personen sich in Rechtssachen mischen, über ihr Ziel hinausgeschossen. Meine dreißigjährige Erfahrung liest jene Worte in einer dem Sinne, den sie auszudrücken bestimmt sind, ganz entgegengesetzten Tragweite. Ich sage, daß Admiral Bartram nicht freie Hand hat, sein Vermächtniß zu solchen Zwecken, als ihm gut dünkt, anzuwenden —— ich glaube vielmehr, er ist insgeheim durch eine ergänzende Urkunde in Gestalt eines geheimen Zusatzartikels gebunden.

Ich kann Ihnen leicht erklären, was ein geheimer Zusatzartikel ist. Er tritt gewöhnlich auf in Gestalt eines Briefes von einem Erblasser an seine Testamentsvollstrecker und unterrichtet sie von solchen letztwilligen Verfügungen, welche offen in seinem Testamente niederzulegen er nicht für geeignet gehalten hat. Ich vermache Ihnen z. B. hundert Pfund, schreibe aber zugleich einen geheimen Brief, der Sie verpflichtet, das Vermächtniß zwar anzunehmen, aber nicht nach Ihrem Gutdünken zu verwenden, sondern dasselbe einer dritten Person zu geben, deren Namen ich meine Gründe habe, nicht in meinem Testamente zu nennen.

Das ist ein geheimer Zusatzartikel.

Wenn ich nun Recht habe mit meiner festen Annahme, daß solch eine Urkunde, wie ich sie hier beschrieben habe, sich in diesem Augenblick in Admiral Bartrams Besitz befindet, eine Annahme, welche zunächst auf den auffallenden Worten beruht, die ich Ihnen angeführt habe, und in zweiter Linie auf rein juristischen Erwägungen, mit denen es unnöthig ist diesen Brief anzufüllen, —— wenn ich Recht habe mit dieser meiner Annahme: so würde die Entdeckung des geheimen Artikels aller Wahrscheinlichkeit nach für unsere Interessen von äußerster Wichtigkeit sein. Ich will Sie nicht belästigen mit Gründen, die aus meinem Berufe hergenommen sind, noch mit Anspielungen auf meine Erfahrung in diesen Dingen, die nur ein Mann meines Berufes verstehen würde. Ich beschränke mich darauf, Ihnen zu sagen, daß ich Ihre Sache nicht unbedingt verloren gebe, bevor nicht die mir jetzt beigekommene Ansicht sich als unbegründet erwiesen hat.

Ich kann nicht mehr hinzufügen, weil diese wichtige Frage noch in Zweifel gehüllt bleibt, noch kann ich ein Mittel vorschlagen, diesen Zweifel zu lösen. Wenn das Vorhandensein eines Geheimartikels nachgewiesen wäre, und wenn die Natur der darin enthaltenen ausgemachten Dinge mir bekannt gegeben würde, dann könnte ich bestimmt sagen, was Sie für Aussichten hätten, wenn Sie es darauf wagen wollten, auf Grund und Kraft desselben einen Proceß anzufangen, und könnte Ihnen auch noch sagen, ob ich es verantworten könnte, infolge eines besonderen Uebereinkommens mit Ihnen jenen Prozeß zu führen oder nicht.

Wie die Dinge jetzt stehen, kann ich keine Anordnung treffen und keinen Rath anbieten. Ich kann Sie nur vertraulich mit meiner Ansicht bekannt machen, indem ich es Ihnen vollständig überlasse, Sich daraus Ihre eigenen Folgerungen zu ziehen, und indem ich bedaure, daß ich nicht noch zuversichtlicher und bestimmter schreiben kann. Alles, was ich nach Pflicht, bestem Wissen und Gewissen über diesen sehr schwierigen und sehr zarten Fall sagen konnte, habe ich gesagt.

Genehmigen Sie, verehrte Frau, die Versicherung meiner Hochachtung und Ergebenheit als

Ihr gehorsamer

John Loscombe.



Kapiteltrenner

IX.

Mrs. Noël Vanstone an Mr. Loscombe.

Lieber Herr!

Ich habe Ihren Brief mehr als ein Mal mit dem größten Interesse und der größten Aufmerksamkeit durchgelesen, und je öfter ich ihn las, desto fester glaube ich, daß in der That ein solcher Brief, als Sie erwähnen, in Admiral Bartrams Händen ist.

Es ist mir natürlich Alles daran gelegen, daß die Entdeckung gemacht wird, und ich bekenne Ihnen zugleich, daß ich entschlossen bin, Mittel und Wege zu suchen, dieselbe insgeheim und gewiß zu machen. Mein Entschluß beruht auf anderen Gründen, als Sie vielleicht als maßgebend für mich annehmen möchten. Ich sage Ihnen dies nur für den Fall, daß Sie mir Gegenvorstellungen zu machen geneigt sein sollten. Es ist guter Grund zu Dem vorhanden, was ich sage: sobald ich erkläre, daß Ihre Gegenvorstellungen unnütz sein würden.

Ich bitte Sie nicht um Beistand in dieser Sache, ich will Niemand behelligen, mir zu rathen. Sie sollen nicht in etwaige jähe Maßregeln hineingezogen werden. Was auch für Gefahr dabei sein möge, ich will sie bestehen. Was auch für Verzögerungen eintreten mögen, ich will sie ruhig ertragen. Ich bin einsam und ohne Freunde und krank; aber ich bin doch noch stark genug, meinen Weg durch noch schlimmeres Wirrsal zu nehmen, als dieses ist. Mein Geist wird sich wieder erheben, und meine Zeit wird kommen. Wenn jener Geheimartikel in Admiral Bartrams Händen ist, so sollen Sie, wenn Sie mich das nächste Mal sehen, dasselbe in meinen Händen sehen.

Ihre dankbar ergebene

Magdalene Vanstone.



Kapiteltrenner

Elftes Buch.

In St. Johnes Wood.

Erstes Capitel.

Es fehlten nur noch vierzehn Tage bis Weihnachten. Aber das Wetter ließ noch Nichts von Frost und Schnee spüren, welche doch von der herannahenden Jahreszeit unzertrennlich zu sein pflegen. Die Luft war unnatürlich warm, und das alte Jahr ging matt in Alles erweichendem Regen und Alles lähmendem Nebel zu Rüste.

Eines Nachmittags gegen Ende Decembers saß Magdalene in der Wohnung, welche sie seit ihrer Ankunft in London eingenommen, einsam da. Langsam brannte das Feuer in dem engen kleinen Kamin. Die Aussicht auf die nassen Häuser und die durchweichten Gärten gegenüber wurde rasch dunkel, und das Glöckchen des Semmeljungen aus der Vorstadt klingelte schläfrig in der Ferne. Dicht am Feuer sitzend mit etwas Geld auf dem Schooße schob Magdalene die Münzen auf der glatten Oberfläche ihres Kleides hin und her, indem sie unablässig deren Lage änderte, als ob es Stücke von Kinderspielzeug wären, die sie zusammensetzen wollte. Der düstere Feuerschein, der von Zeit zu Zeit schwach über sie aufflammte, zeigte Veränderungen an ihr, welche Freunden aus alter Zeit deutlich genug ihre traurige Geschichte erzählt hätten. Ihr Kleid war lose geworden, weil ihre Gestalt abgefallen war; aber sie hatte nicht Sorge getragen, es zu ändern, es einzuziehen. Ihr Gesicht behielt seinen leidenden, aber herben Ausdruck der Ruhe, seine unveränderliche unnatürliche Leidenschaftslosigkeit. Mr. Pendril würde sein hartes Urtheil über sie gemildert haben, hätte er sie jetzt gesehen, und Mrs. Lecount in der Fülle ihres Triumphes würde endlich ihre niedergeworfene Feindin bemitleidet haben.

Kaum vier Monate waren vergangen seit der Hochzeit zu Aldborough; aber schon war die Buße für diesen Tag erlegt, erlegt in unausweichbarer Reue, in hoffnungsloser Vereinsamung, in unverbesserlicher Niederlage. Dies möge für sie angeführt werden; die Wahrheit, welche von ihren Fehlen gesagt worden, möge auch von ihrer Entsühnung ausgesprochen werden. Es möge von ihr bemerkt werden, daß sie keine stille Siegesfreude am Tage ihres glücklichen Erfolges empfand. Das Entsetzen vor sich selber, mit dem sie von ihrer eigenen Handlungsweise erfüllt war, war aufs Höchste gestiegen, als der Plan mit ihrer Verheirathung endlich ausgeführt war. Sie hatte niemals innerlich so gelitten, wie damals, wo das Vermögen von Combe-Raven in ihres Gatten Testament ihr vermacht worden war. Sie hatte niemals die zur Erreichung ihres Zieles angewandten Mittel so demüthigend empfunden, als an dem Tage, wo nun jenes Ziel erreicht war. Aus diesem Gefühl-war die Reue hervorgegangen, welche sie gedrängt hatte, Trost und Vergebung in der Liebe ihrer Schwester zu suchen. Niemals, seitdem das Vorhaben, dem sie sich gewidmet hatte, zum ersten Male in ihr Herz kam, niemals, seitdem sie am Grabe ihres Vaters dasselbe geweckt fühlte, hatte dasselbe so nahezu alle seine Macht auf sie verloren, als eben jetzt. Nimmer hätte Noras Einfluß so viel Gutes bewirkt, als der eine Tag, wo jener Einfluß verschwunden war, der Tag, wo der verhängnißvolle Brief aus Schottland ihr von Mrs. Lecounts Rache berichtete.

Das Unglück war geschehen, die Handlung war vorbei.

Ebenso Zeit und Hoffnung waren beide ihr entschwunden.

Weich und immer weicher sprachen die inneren Stimmen ihr jetzt zu, innezuhalten auf dem Wege, der abwärts führte. Die Entdeckung, die ihr Herz zum ersten Male mit Mißtrauen gegen ihre Schwester erfüllt hatte, die Nachricht über ihres Gatten Tod, welche hinterdrein folgte, die Pein, Mrs. Lecounts triumphieren zu sehen, die ihr durch und durch ging, hatten das Ihrige gethan. Die Reue, die ihr eheliches Leben verbittert hatte, war in dumpfe Verzweiflung übergegangen. Es war zu spät, durch ein Bekenntniß die Vergangenheit zu entsühnen, zu spät, dem jämmerlichen Ehegatten die tief innersten Geheimnisse zu offenbaren, welche in dem Herzen des elenden Weibes einst geschlummert hatten. Unschuldig —— selbst im Gedanken —— an dem schändlichen Anschlag, den Mrs. Lecount ihr beigemessen hatte, —— war sie doch schuldig, weil sie wußte, wie gebrochen seine Gesundheit war, als sie ihn heirathete, schuldig, weil sie, als er ihr das Combe-Raven-Vermögen verschrieb, wußte, daß ein augenblicklicher widriger, obschon anderen Menschen ganz unschädlicher Zwischenfall sein Leben in Gefahr bringen und ihre Erlösung bewerkstelligen könne. Sein Tod hatte ihr Das gesagt, hatte ihr deutlich gesagt, was sie bei seinen Lebzeiten sich gescheut hatte, sich offen zu gestehen. Wo blieb ihr eine Zuflucht vor der dumpfen Marter dieses inneren Vorwurfs, vor dem traurigen Verzweifeln an der Menschheit, selbst an Nora, vor der öden Einsamkeit ihres freudelosen Lebens? Nur eine Zuflucht blieb ihr. Sie wandte sich zu dem unablässigen Vorhaben, das sie in ihr Verderben hinein trieb, und rief dasselbe an mit dem tollen Muthe der Verzweiflung:

—— Führe du mich weiter!

Tag für Tag hatte sie ihren Geist auf das eine sie beschäftigende Ziel gerichtet, nachdem sie den Brief des Advocaten erhalten hatte. Tag für Tag hatte sie sich abgemüht, um das erste Erforderniß ihrer Stellung zu überwinden, ein Mittel zu finden, um den geheimen Zusatzartikel zu entdecken. Dies Mal hatte sie von Hauptmann Wragge Nichts zu erwarten. Langjährige Uebung hatte den alten Milizsoldaten zum Meister in der Kunst des Verschwindens gemacht. Der Pflug des »moralischen Landwirths« hinterließ keine Furchen, [So nannte sich bekanntlich der in Frage stehende Schwindler selbst. Der Hauptmann gibt uns durch diesen an sich unverständlichen Ausdruck eine Probe von der Geheimsprache, welche sich alle Gauner bei einem gewissen Grade der Ausbildung ihres sauberen Handwerks allmählich zu schaffen pflegen. Ave - Lallemant hat in seinem Band I, S. 40 angeführten »Deutschen Gaunerthum«, und zwar in den 1862 erschienenen Schlußbänden (llI u. IV) auch die Gaunersprache erschöpfend behandelt.] —— keine Spur war von ihm zu finden! Mr. Loscombe war zu vorsichtig, um sich zu einem thätigen Einschreiten irgend welcher Art herzugeben; er blieb ruhig bei seiner Meinung stehen und überließ das Uebrige seiner Clientin, —— er wünschte Nichts zu wissen ehe nicht der Geheimartikel in seinen Händen war. Magdalenens Interessen waren jetzt einzig und allein ihrer eigenen Kraft anvertraut. Wagen oder nicht wagen, für was sie sich auch entschied: sie mußte es jetzt selbst auf sich nehmen.

Diese Aussicht hatte sie keines wegs niedergeschlagen gemacht In ihrer Vereinsamung hatte sie die verschiedenen Wege berechnet, welche sie versuchsweise einschlagen könnte. In ihrer Vereinsamung hatte sie sich entschlossen, —— den Versuch zu machen. ——

—— Die Zeit ist da, sprach sie zu sich selber, als sie beim Feuer saß. Ich muß zuerst Louisen ausforschen.

Sie las die auf ihrem Schooße umherliegenden Münzen zusammen und legte sie in ein kleines Häufchen auf den Tisch, stand auf und zog die Klingel. Die Wirthin erschien.

—— Ist mein Mädchen unten? frug Magdalene.

—— Ja, gnädige Frau. Es ist bei seinem Thee.

—— Wenn sie fertig ist, so sagen Sie ihr, sie solle zu mir heraufkommen. —— Warten Sie einen Augenblick. Sie werden Ihr Geld auf dem Tische finden, —— das Geld, das ich Ihnen für die letzte Woche schuldig bin. Können Sie es finden? Oder wollen Sie lieber ein Licht haben?

—— Es ist ziemlich dunkel, gnädige Frau.

Magdalene steckte ein Licht an.

—— Wie lange voraus muß ich kündigen, frug sie, als sie das Licht auf den Tisch setzte, ehe ich wegziehe?

—— Eine Woche ist die gewöhnliche Kündigung. Ich hoffe doch, Sie haben sich über die Wohnung nicht zu beschweren, gnädige Frau?

—— Durchaus nicht. Ich thue die Frage nur, weil ich vielleicht eher ausziehen muß, als ich vermuthet hatte. Ist das Geld richtig?

—— Ganz richtig, gnädige Frau. Hier ist die Quittung.

—— Ich danke. —— Vergessen Sie nicht, mir Louisen heraufzuschicken, sobald sie mit ihrem Thee fertig ist.

Die Wirthin ging hinaus. Sobald Magdalene wieder allein war, löschte sie das Licht wieder aus und zog einen leeren Stuhl neben den ihrigen ans Kaminfeuer. Als dies geschehen war, nahm sie ihren früheren Platz wieder ein und wartete, bis Louise erschien. Es war keine Unsicherheit an ihr zu bemerken, als sie da saß und gleichgültig ins Feuer sah.

—— Eine schwache Aussicht, dachte sie bei sich selbst, aber so schwach sie ist, ich muß es damit versuchen.

Zehn Minuten später wurde von außen Louisens schwaches Klopfen leise hörbar. Sie war erstaunt, beim Eintritt in das Zimmer kein anderes Licht zu finden, als den Lichtschein vom Kamin her.

—— Wollen Sie Lichter haben, gnädige Frau? frug sie ehrerbietig.

—— Wir werden die Lichter haben, wenn Du sie für Dich selber haben willst, Versetzte Magdalene, sonst nicht. Ich habe Dir Etwas zu sagen. Wenn ich es Dir gesagt habe, soll es bei Dir stehen, ob wir im Dunkeln oder bei Licht zusammensitzen.

Louise wartete an der Thür und hörte in stummem Erstaunen auf diese seltsamen Worte.

—— Komm her, sprach Magdalene und deutete auf den leeren Stuhl, komm her und setze Dich zu mir.

Louise kam näher und entfernte furchtsam den Stuhl aus seiner Stelle neben ihrer Herrin Magdalene zog ihn augenblicklich wieder zurück.

—— Nein! sprach sie. Komm nur näher, komm nur ganz nahe zu mir.

Nach einem augenblicklichen Zögern gehorchte ihr Louise.

—— Ich bat Dich, Dich nahe zu mir zu setzen, fuhr Magdalene fort, weil ich mit Dir ganz auf dem Fuße der Gleichheit sprechen will. Was auch für Unterschiede einst zwischen uns gewesen sein mögen, jetzt sind sie zu Ende. Ich bin eine verlassene Frau, lediglich auf mich selbst angewiesen, ohne Rang oder Stellung in der Welt. Du mögest Dich als meine Freundin ansehen, oder auch nicht. Als Herrin und Dienerin muß die Verbindung zwischen uns jetzt zu Ende kommen.

—— Ach, gnädige Frau, sagen Sie das nicht! bat Louise mit schwacher Stimme.

Magdalene aber fuhr traurig und fest fort.

—— Als Du zuerst zu mir kamst, begann sie wieder, dachte ich, ich könnte Dich nicht gern haben. Ich habe gelernt, Dich gern zu haben, habe gelernt, Dir dankbar zu sein. Von Anfang bis zuletzt bist Du immerdar treu und gut gegen mich gewesen. Das Geringste, was ich zum Entgelt thun kann, ist, daß ich Deinen künftigen Aussichten nicht im Wege stehe.

—— Schicken Sie mich nicht fort, gnädige Frau, sprach Louise flehentlich. Wenn Sie mir dann und wann ein wenig Geld geben können, so will ich auf meinen Lohn warten, —— wahrhaftig, das will ich.

Magdalene ergriff ihre Hand und fuhr fort so traurig und fest, wie zuvor.

—— Mein künftiges Leben ist lauter Dunkelheit, lauter Ungewißheit, sagte sie. Der nächste Schritt, den ich thue, kann zu meinem Glück, kann zu meinem Unheil führen. Kann ich von Dir verlangen, daß Du eine solche Aussicht mit mir theilest? Du bist eine ausgezeichnete Dienerin, Du kannst eine andere Stelle bekommen, eine weit bessere Stelle als bei mir. Du kannst Dich auf mich berufen und, wenn das Zeugniß, das ich geben kann, nicht für ausreichend befunden wird, so magst Du dich auf die Herrschaft beziehen, der Du vor mir gedient hast....

In dem Augenblicke, als die Erwähnung von der letzten Dienstherrschaft des Mädchens Magdalenen über die Lippen kam, riß Louise ihre Hand weg und fuhr von ihrem Stuhle auf gerade in die Höhe. Es trat eine Pause von der Dauer eines Augenblickes ein. Beide, Herrin und Dienerin waren in demselben Grade verwundert.

Magdalene war die Erste, die sich faßte.

—— Wird es zu dunkel? fragte sie bedeutsam. Willst Du gehen, nachgerade die Lichter anzuzünden?

Louise zog sich in den dunkeln Winkel des Zimmers zurück.

—— Sie beargwöhnen mich, gnädige Frau, antwortete sie aus ihrer Dunkelheit hervor mit athemlosem Flüstern. Wer hat es Ihnen gesagt? Wer hat es Ihnen gesagt? Wie bekamen Sie es heraus....?

Sie stockte und brach in Thränen aus.

—— Ich verdiene Ihren Argwohn, sprach sie, indem sie sich zu beruhigen strebte. Ihnen gegenüber kann ich es nicht leugnen. Sie haben mich so Freundlich und lieb behandelt, Sie haben mich Sie so lieben gelehrt! Verzeihen Sie, Mrs. Vanstone —— ich bin eine Elende: ich habe Sie getäuscht! ——

—— Komm her und setze Dich wieder zu mir, sagte Magdalene Komm — sonst stehe ich selber auf und hole Dich zu mir zurück.

Louise kehrte langsam auf ihren Platz zurück. So düster das Kaminfeuer leuchtete, sie schien es dennoch zu fürchten. Sie hielt ihr Taschentuch vors Gesicht und bog sich von ihrer Herrin weg, als sie sich wieder auf den Stuhl setzte.

—— Du bist im Irrthume, wenn Du glaubst, es habe Dich Jemand mir verrathen, sagte Magdalena. Alles, was ich von Dir weiß, ist, was Dein Aussehen und Dein Wesen mir erzählt haben. Du hast irgend einen geheimen Kummer auf Deiner Seele lasten, seitdem Du überhaupt in meinen Diensten bist. Ich bekenne, daß ich in der Absicht gesprochen habe, mehr von Dir und Deinem vergangenen Leben zu erfahren, als es bis jetzt der Fall war, nicht weil ich neugierig bin, sondern weil ich ebenfalls meinen geheimen Kummer habe. Bist Du ein unglückliches Weib, wie ich selbst? Wenn Du es bist, so will ich Dich in mein Vertrauen ziehen. Wenn Du mir Nichts zu erzählen hast, —— wenn Du lieber Dein Geheimniß bewahren willst, dann will ich Dir nicht böse sein. Ich sage nur, wir wollen uns gegenseitig austauschen. Ich will Dich nicht fragen, wie Du mich hintergangen hast. Ich will nur daran denken, daß Du, so lange ich Dich bei mir habe, eine brave, treue und brauchbare Dienerin gewesen bist, und will auch jeder neuen Herrschaft, welche Du zu mir schicken willst, dasselbe sagen.

Sie wartete auf eine Antwort. Einen Augenblick, aber nur einen Augenblick zögerte Louise. Der Charakter des Mädchens war schwach, aber nicht schlecht. Sie war ihrer Herrin auch richtig zugethan und sprach nun mit einem Muthe, den Magdalene nicht von ihr erwartet hätte.

—— Wenn Sie mich fortschicken gnädige Frau, sagte sie, so werde ich mein Zeugniß nicht eher von Ihnen fordern, als bis ich Ihnen die Wahrheit gesagt habe: ich werde Ihre Liebe und Güte nicht dadurch vergelten, daß ich Sie zum zweiten Male täusche. —— Sagte Ihnen Ihr Herr Gemahl jemals, unter welchen Umständen er mich in Dienst nahm?

—— Nein, ich fragte ihn niemals darnach, und er sagte es mir auch nicht.

—— Er nahm mich auf Grund eines Zeugnisses in Dienst, gnädige Frau. ——

—— So?

—— Das Zeugniß war ein falsches.

Magdalene fuhr überrascht zurück. Das Bekenntniß, das sie hörte, hatte sie nicht erwartet.

—— Weigerte sich Deine Herrin, Dir ein Zeugniß zu geben? frug sie. Wie?

Louise sank auf ihre Kniee und verbarg ihr Gesicht im Schooße ihrer Herrin.

—— Fragen Sie mich nicht weiter! sagte sie. Ich bin ein elendes, entwürdigtes Geschöpf. Ich bin nicht werth, in demselben Zimmer mit Ihnen zu sein!

Magdalene beugte sich über sie und flüsterte eine Frage in ihr Ohr. Louise gab ihr aus dieselbe Art ein trauriges Wort der Erwiderung zurück.

—— Hat er Dich verlassen? frug Magdalene, nachdem sie einen Augenblick gewartet und nachgedacht hatte.

—— Nein.

—— heiß!

— Liebst Du ihn? —— Heiß!

—— Um Gottes Barmherzigkeit willen, kniee nur nicht vor mir! rief sie leidenschaftlich aus. Wenn es ein entwürdigtes Weib in dieser Stube gibt, so bin ich dies Weib, aber nicht Du!

Sie hob das Mädchen mit Gewalt von seinen Knieen auf und setzte es wieder auf den Stuhl. Beide warteten eine Weile in Schweigen versunken. Magdalene setzte sich dann wieder, indem sie ihre Hand auf Louisens Schulter legte und blickte mit einer unbeschreiblichen Bitterkeit inneren Kummers in das erlöschende Feuer.

—— Ach, dachte sie, was gibt es doch für glückliche Frauen in der Welt! Frauen, die ihre Männer lieben! Männer, welche sich nicht schämen, ihre Kinder zu besitzen!

—— Bist Du nun ruhiger? frug sie, indem sie sich noch einmal an Louisen wandte. Kannst Du mir antworten, wenn ich Dich noch Etwas frage? —— Wo ist das Kind?

—— Das Kind ist in die Ziehe gegeben.

—— Trägt der Vater zum Unterhalte desselben bei?

—— Er thut Alles, was er vermag, gnädige Frau.

—— Was ist er? Ist er Bedienten? Ist er Kaufmann?

—— Sein Vater ist ein Zimmermeister selbst arbeitet auf dem Bauhofe seines Vaters.

—— Wenn er Arbeit hat, warum hat er Dich nicht geheirathet?

—— Sein Vater ist daran schuld, nicht er. Sein Vater hat kein Mitleid mit uns. Er würde von Haus und Herd gejagt werden, wenn er mich heirathete.

—— Kann er nicht anderswo Arbeit bekommen?

—— Es ist schwer, in London Arbeit zu bekommen, gnädige Frau. Es sind so Viele in London, sie nehmen einander das Brod vom Munde weg. Wenn wir nur das Geld dazu gehabt hätten, auszuwandern, so würde er mich schon längst geheirathet haben.

—— Würde er Dich heirathen, wenn Du jetzt das Geld hättest?

—— Das weiß ich gewiß, gnädige Frau. Er könnte in Australien vollauf zu thun bekommen und doppelt und dreifach den Verdienst haben, den er hier hat. Er läßt es sich sauer werden, ich lasse es mir sauer werden, um ein wenig Geld dazu zu sparen —— ich lege bei Seite, was ich mir für mein Kind am Munde absparen kann. Aber es ist so wenig! Wenn wir auch noch Jahre lang leben, wir haben doch Nichts zu hoffen. Ich weiß, ich habe auf alle Fälle Unrecht gethan, ich weiß, daß ich nicht verdiene, glücklich zu werden. Aber wie hätte ich mein Kind darben lassen sollen? —— Ich war gezwungen, unter fremde Leute zu gehen. Meine Herrin war hart gegen mich, und meine Gesundheit litt, als ich versuchte, von meiner Nadel zu leben. Ich würde sonst nimmermehr einen Menschen durch ein gefälschtes Zeugniß getäuscht haben, wenn mir eine andere Wahl übrig geblieben wäre. Ich stand allein und hilflos da, gnädige Frau, und ich kann Sie nur anflehen, mir zu vergeben!

—— Bitte bessere Frauen darum, als ich bin; sprach Magdalene düster. Ich bin nur Werth, Mitgefühl für Dich haben zu dürfen, und das habe ich aus Herzensgrunde. Ich an Deiner Stelle würde ebenso wie Du mit einem falschen Zeugniß in Dienst gegangen sein. —— Sprich nicht mehr von der Vergangenheit: Du weißt nicht, wie sehr Du mir wehe thust, indem Du davon redest. Sprich von der Zukunft. Ich denke, ich kann Dir helfen, ohne Dir Schaden zu thun. Ich denke, Du kannst mir auch helfen und mir zum Entgelt den allergrößten Dienst leisten. Warte ein wenig und Du sollst hören, was ich meine. Denke Dir ein Mal, Du seiest verheirathet wie viel würde es Dir und Deinem Manne kosten, auszuwandern?

Louise nannte die Kosten einer Segelschiffsüberfahrt nach Australien für Mann und Frau. Sie sagte es in leisem hoffnungslosen Tone. So mäßig die Summe war, so erschien sie doch als ein unerreichbares Vermögen in ihren Augen.

Magdalene fuhr aus ihrem Stuhle in die Höhe und ergriff das Mädchen noch ein Mal bei der Hand.

—— Louise! sagte sie mit ernstem Tone. Wenn ich Dir das Geld gebe, was willst Du mir dafür thun?

Das Anerbieten schien Louisen in sprachloses Erstaunen zu versetzen. Sie zitterte heftig und sagte Nichts. Magdalene wiederholte ihre Worte.

—— Ach, gnädige Frau, meinen Sie es im Ernste? sagte das Mädchen. Meinen Sie es wirklich im Ernste?

—— Ja wohl, versetzte Magdalene, ich meine es im Ernste. Was willst Du für mich thun?

—— Thun? wiederholte Louise. Ach, was gibt es wohl in der Welt, was ich nicht dafür thäte!

Sie versuchte, Magdalenen die Hand zu küssen, aber diese ließ es nicht zu. Sie zog entschlossen, fast rauh, ihre Hand weg.

—— Ich lege Ihnen keine Verpflichtung zum Dank auf, sprach sie. Wir dienen uns einfach gegenseitig. —— Das ist Alles. Bleibe ruhig sitzen und laß mich nachdenken.

Die nächsten zehn Minuten war es still im Zimmer. Als diese Frist verstrichen war, nahm Magdalene ihre Uhr heraus und hielt sie nahe an das Kamingitter. Es war gerade Licht genug, um ihr die Stunde zu zeigen. Es war nahezu sechs Uhr.

—— Bist Du ruhig genug, um hinuntergehen und Etwas bestellen zu können. frug sie, indem sie von ihrem Stuhle aufstand und wieder mit Louisen sprach. Es ist eine einfache Bestellung —— es ist nur, dem Burschen zu sagen, daß ich eine Droschke brauche, so schnell er nur eine beschaffen kann. Ich muß sofort ausfahren. Du sollst erfahren, warum so spät am Abend. Ich habe Dir noch viel mehr zu sagen, aber es ist jetzt keine Zeit dazu, es jetzt zu thun. Wenn ich fort bin, bringe Deine Arbeit herauf und warte, bis ich wiederkomme. Ich werde vor Schlafenszeit wieder zurückkommen.

Ohne ein anderes Wort der Erklärung zündete sie rasch ein Licht an und zog sich in das Schlafzimmer zurück, um Hut und Shawl zu holen.



Kapiteltrenner

Zweites Capitel.

Zwischen neun und zehn Uhr an demselben Abende hörte Louise, welche ängstlich wartete, das langersehnte Klopfen an der Hausthür. [Es hätte längst erwähnt werden sollen, daß die Londoner Häuser nicht Klingeln, sondern Klopfer an den äußeren Straßenthüren haben, wie es im Mittelalter auch in deutschen Städten üblich war. W.] Sie lief sofort hinunter und ließ ihre Herrin herein.

Magdalenens Angesicht war mit Röthe übergossen. Sie zeigte nach ihrer Rückkehr noch mehr Aufregung, als da, wo sie das Haus verließ.

—— Behalte Platz am Tische, sprach sie zu Louisen im Tone der Ungeduld, leg aber Deine Arbeit weg. Du sollst aufmerksam auf Das achten, was ich Dir eben sagen will.

Louise gehorchte Magdalene setzte sich ihr am Tische gegenüber und rückte die Lichter so, daß sie das Gesicht ihres Mädchens unmittelbar und deutlich vor Augen hatte.

—— Hast Du eine ehrbare ältere Frau bemerkt, begann sie plötzlich, welche in den letzten vierzehn Tagen ein oder zwei Mal hier war, um mich zu besuchen?

—— Ja, gnädige Frau; ich glaube, ich habe sie das zweite Mal, als sie kam, selber hereingelassen. Eine ältliche Person, Namens Attwood?

—— Richtig, das ist die Person, die ich meine. Mrs. Attwood ist Mr. Loscombe’s Haushälterin, nicht die Haushälterin in seiner Privatwohnung, sondern die auf seiner Expedition in Lincoln’s Inn. Ich versprach ihr, einen Abend in dieser Woche sie auf eine Tasse Thee zu besuchen, und das habe ich heute Abend gethan. Es ist sonderbar von mir, nicht wahr, daß ich zu einer Frau in der Stellung Von Mrs. Attwood ans diesem vertrauten Fuße stehe?

Louise gab wenigstens in Worten keine Antwort. Ihr Gesicht that es statt ihrer, —— sie konnte sich kaum enthalten, es sonderbar zu finden.

—— Ich hatte einen guten Grund, um mit Mrs. Attwood Freund zu sein, fuhr Magdalene fort. Sie ist eine Wittwe mit einer zahlreichen Familie von Töchtern. Ihre Töchter stehen alle in Diensten. Eine davon ist Unterhausmagd in Diensten des Admiral Bartram zu St. Crux in der Marsch. Ich bekam das von Mrs. Attwoods Herrn heraus, und sobald ich zu der Entdeckung gelangt war, beschloß ich insgeheim Mrs. Attwoods Bekanntschaft zu machen. Noch sonderbarer, nicht wahr?

Louise begann sich ein wenig unheimlich zu fühlen. Die Art und Weise ihrer Herrschaft war im Widerspruch mit ihren Worten, sie deutete offenbar auf eine Ueberraschung hin, welche noch kommen sollte.

—— Was für einen Reiz Mrs. Attwood in meiner Gesellschaft findet, fuhr Magdalene fort, kann ich nicht sagen. Ich kann Ihnen nur soviel mittheilen, sie hat bessere Zeiten gesehen, sie ist eine gebildete Person und mag vielleicht aus diesem Grunde meine Gesellschaft gern haben. Auf jeden Fall hat sie meinen Annäherungen bereitwillig entgegenkommen wollen. Was für Reiz ich an der Gesellschaft dieser guten Frau finde, ist bald gesagt. Ich bin äußerst neugierig —— räthselhaft neugierig, wirst Du denken —— auf den gegenwärtigen Gang der häuslichen Verhältnisse zu St. Crux in der Marsch. Mrs. Attwoods Tochter ist ein gutes Mädchen und schreibt stets an ihre Mutter. Ihre Mutter ist stolz auf diese Briefe und stolz auf das Mädchen und gar zu gern bereit, über ihre Tochter und die Stelle ihrer Tochter zu plaudern. Das ist der Reiz, den Mrs. Attwoods Gesellschaft für mich hat. Hast Du mich bis jetzt verstanden?

Ja, Louise hatte es verstanden. Magdalene fuhr fort.

—— Dank Mrs. Attwood und deren Tochter, sprach sie, kenne ich bereits einige merkwürdige Einzelheiten über den Haushalt zu St. Crux. Die Zungen der Dienstleute und die Briefe der Dienstleute sind —— wie ich Dir nicht erst zu sagen brauche —— öfterer mit ihren Herren und Herrinnen beschäftigt, als ihre Herrschaften glauben. Die einzige Herrin zu St. Crux ist die Haushälterin. Aber es ist auch ein Herr da, — Admiral Bartram. Er scheint ein wunderlicher alter Herr zu sein, dessen Schrullen und Launen seine Dienstboten ebenso ergötzen, als seine Freunde. Eine von seinen seltsamen Launen —— und die einzige, welche wir nothwendiger Weise uns merken müssen —— ist, daß er, so lange er zur See war, Männer genug um sich hatte, um jetzt, wo er am Ende ist, sich nun nur noch von Frauen bedienen zu lassen.

Der einzige Mann im Hause ist ein alter Matrose, der sein Leben lang immer bei seinem Herrn gewesen ist —— er ist eine Art von Versorgter zu St. Crux und hat wenig oder gar Nichts mit der Arbeit im Hause zu schaffen. Die anderen Dienstboten im Hause sind alle Frauenzimmer, und statt sich bei Tische von einem Lakaien bedienen zu lassen, hat der Admiral ein Stubenmädchen. Das jetzige Stubenmädchen auf St. Crux wird bald heirathen, und sobald sein Herr sich allein behelfen kann, geht es ab. Diese Entdeckungen machte ich bereits vor einigen Tagen. Als ich aber heute Abend Mrs. Attwood besuchte, hatte sie unterdessen bereits einen neuen Brief von ihrer Tochter erhalten, und jener Brief hat mir dazu verholfen, noch mehr herauszubekommen. Die Haushälterin weiß sich nicht zu rathen und zu helfen, um ein neues Mädchen zu finden. Ihr Herr besteht auf Jugend und hübschem Aussehen —— alles Andere überläßt er seiner Haushälterin, dies aber will er haben. Alle Anfragen in der Nachbarschaft sind erfolglos gewesen, um diejenige Art von Stubenmädchen aufzutreiben, welche der Admiral braucht. Wenn in den nächsten vierzehn Tagen oder drei Wochen Nichts ausgerichtet werden kann, will die Haushälterin eine Anzeige in der TIMES machen und selbst nach London kommen um die Bewerberinnen in Augenschein zu nehmen und ihre Zeugnisse aufs Strengste zu prüfen.

Louise sah ihre Herrin aufmerksamer denn zuvor an. Der Ausdruck von Verlegenheit wich aus ihrem Gesichte, und ein Schatten von Mißvergnügen zeigte sich anstatt dessen auf demselben.

—— Behalte im Sinne, was ich gesagt habe, fuhr Magdalene fort, und warte noch einen Augenblick, während ich Dich Einiges frage. Denke ja nicht, daß Du mich schon jetzt verständest, ich versichere Dich, Du verstehst noch noch nicht. —— Hast Du immer in Dienst gestanden als Kammerjungfer?

—— Nein, gnädige Frau.

—— Hast Du auch einmal als Stubenmädchen gedient?

—— Ja, gnädige Frau.

—— Was waren Deine Obliegenheiten außer der Bedienung bei Tische.

—— Ich hatte Besuche hereinzuführen.

—— Gut, was sonst noch?

—— Ich hatte nach dem Eß- und Trinkgeschirr zusehen und hatte das ganze Tischzeug unter mir. Ich hatte auf jede Klinge! zu hören, außer in den Schlafzimmern. Es waren manchmal noch andere kleine Dienste und Aemtchen zu besorgen...

—— Aber Deine regelmäßigen Besorgungen waren nur die, welche Du eben hergezählt hast?

—— Ja, gnädige Frau.

—— Wie lange ist’s her, daß Du als Stubenmädchen dientest?

—— Ein, zwei Jahr oder drüber, gnädige Frau.

—— Ich vermuthe, daß Du in der Zeit nicht verlernt hast, bei Tische zu bedienen, das Eßgeschirr zu reinigen und was das Uebrige ist?

Bei dieser Frage schweifte Louisens Aufmerksamkeit, welche während der Fragen Magdalenens immer mehr und mehr abgenommen hatte, ganz ab. Ihre aufs Neue sich regenden Besorgnisse gewannen die Oberhand über ihre bescheidene Zurückhaltung und sogar ihre Demuth. Anstatt ihrer Herrin zu antworten, that sie plötzlich und verwirrt selber eine Frage.

—— Ich bitte Sie um Verzeihung, gnädige Frau, sagte sie. Aber denken Sie etwa mich für die Stelle eines Stubenmädchens zu St. Crux vorzuschlagen?

—— Dich? versetzte Magdalene Gewiß und wahrhaftig nicht! Hast Du vergessen, was ich Dir in diesem Zimmer ehe ich ausging, gesagt habe? Ich meine, Du heirathest und ziehst mit Mann und Kind nach Australien. Du hast nicht gewartet, wie ich Dir gesagt habe, bis ich mich erst ausgesprochen hatte. Du hast vorschnell Deine Schlüsse daraus gezogen, und zwar falsche gezogen. —— Ich fragte Dich eben Etwas, Du hast aber noch nicht darauf geantwortet: ich fragte Dich, ob Du Deinen Stubenmädchen dienst noch im Kopfe und in der Uebung hättest?

—— Ach nein, gnädige Frau!

Bis dahin hatte Louise ein wenig unsicher geantwortet. Jetzt gab sie zuversichtlich und rasch ihren Bescheid.

—— Könntest Du einem andern Dienstmädchen diesen Dienst beibringen? frug Magdalene.

—— Ja wohl, gnädige Frau, —— sehr leicht, wenn dies Mädchen nur aufgeweckt ist und Merks hat.

—— Könntest Du mir den Dienst beibringen?

Louise fuhr zusammen und wechselte die Farbe.

—— Ihnen, gnädige Frau? rief sie aus, halb ungläubig, halb beunruhigt.

—— Ja, sprach Magdalene. Könntest Du mich für die Stelle eines Stubenmädchens auf St. Crux geschickt machen?

So deutlich diese Worte waren, schien doch die Verwirrung, welche sie in Louisens Geist hervorbrachten, sie schlechterdings unfähig zu machen, den Vorschlag ihrer Herrin zu verstehen.

—— Ihnen, gnädige Frau! wiederholte sie, wie geistesabwesend.

—— Ich werde Dich vielleicht dies mein außerordentliches Vorhaben zu verstehen lehren, sprach Magdalene, wenn ich Dir offen mittheile, welches das Ziel desselben ist. —— Erinnerst Du Dich an das, was ich Dir von Mr. Vanstone’s Testament gesagt habe, als Du aus Schottland hierher kamst, um bei mir zu sein?

—— Ja, gnädige Frau. Sie sagten mir, daß Sie ganz und gar aus dem Testamente gestrichen worden seien. Ich bin gewiß, das andere Mädchen würde niemals eine von den Zeugen geworden sein, wenn es gewußt hätte...

—— Laß das jetzt sein. Ich habe Nichts gegen das andere Mädchen —— ich habe gegen Niemand Etwas, außer gegen Mrs. Lecount —— Laß mich fortfahren mit dem, was ich sagen wollte. Es ist durchaus noch nicht ausgemacht, —— daß Mrs. Lecount mir das Unglück zufügen kann, das sie in der That in der Absicht hatte mir zuzufügen. Es ist eine Aussicht, daß mein Rechtsanwalt, Mr. Loscombe, in den Stand gesetzt wird, mir das von Rechtswegen Zukommende trotz des Testamentes zu sichern. Die Aussicht beruht darauf, daß ich einen Brief entdecke, welcher, wie Mr. Loscombe glaubt und wie ich selber glaube, in Admiral Bartrams Händen ist und geheim gehalten wird. Ich habe nicht die geringste Hoffnung, zu dem Briefe zu gelangen wenn ich den Versuch unter meinem eigenen Namen und in eigener Person mache. Mrs. Lecount hat des Admirals Herz gegen mich verhärtet, und Mr. Vanstone hat ihm aufgegeben, das Geheimniß vor mir zu bewahren. Wenn ich an ihn schriebe, würde er meinen Brief nicht beantworten. Wenn ich in sein Haus käme, würde die Thür vor mir zugeschlagen werden. Ich muß mir als Fremde Eingang verschaffen auf St. Crux, —— muß in einer Stellung sein, wo ich, ohne Verdacht zu erwecken, mich im Hause umsehen kann, —— muß dort sein und viel Zeit vor mir haben. Alle Umstände sind zu meinem Gunsten, wenn ich als Dienerin in das Haus Einlaß finde, und als Dienerin gedenke ich in der That dahin zu gehen.

—— Aber Sie sind eine Dame, gnädige Frau, warf Louise ein in der größten Verwirrung. Die Dienstmädchen auf St. Crux würden Sie entdecken.

—— Ich fürchte mich vor ihrer Entdeckung durchaus nicht, sprach Magdalene. Ich weiß, wie man es machen muß, um anderer Leute Rollen zu spielen, weiß Das weit besser, als Du denkst. Ueberlaß mir nur, die Möglichkeit der Entdeckung ins Auge zu fassen: das ist mein Wagniß. Jetzt wollen wir von Nichts als von dem, was Dich angeht sprechen. Entscheide Dich noch nicht, ob Du mir den Beistand leisten willst, wie ich ihn brauche, oder nicht. Warte und höre erst, worin der Beistand besteht. Du bist schnell und geschickt mit der Nabel. Kannst Du mir die Art von Kleid machen, wie es sich für ein Dienstmädchen schickt, und kannst Du eines meiner besten seidenen Kleider ändern, daß es für Dich selber paßt, Alles in Zeit von einer Woche?

—— Ich glaube, ich könnte es in acht Tagen fertig bekommen, gnädige Frau. Aber warum soll ich es tragen...?

—— Warte noch ein Wenig, und Du wirst gleich sehen. Ich werde der Wirthin morgen kündigen. In der Zeit, wo Du die Kleider« machst, kann ich die Obliegenheiten eines Stubenmädchens lernen. Wenn das Hausmädchen das Essen herausgebracht hat und Du und ich allein im Zimmer sind, will ich Dich bedienen anstatt Du mich. —— Es ist mein voller Ernst, unterbrich mich nicht! —— Was ich außerdem lernen kann, ohne Dich abzuhalten, will ich bei jeder Gelegenheit sorgfältig üben. Wenn die acht Tage um und die Kleider fertig sind, wollen wir diesen Ort verlassen und eine andere Wohnung nehmen, Du als die Herrin, ich als die Dienerin.

— Man wird mich entdecken, gnädige Frau, fiel Louise ein und zitterte bei der geöffneten Aussicht. Ich bin ja keine Dame.

—— Aber ich bin eine, sprach Magdalene mit Bitterkeit. Soll ich Dir sagen, was eine Dame ist? —— Eine Dame ist ein Weib, das eine seidenes Kleid an und das Gefühl ihrer eigenen Wichtigkeit in sich hat. Ich will Dir das Kleid anziehen und das Gefühl in Deine Brust flößen. Du sprichst ein reines Englisch, Du bist von Natur ruhig und zurückhaltend: kurz, wenn Du nur Deine Furchtsamkeit bemeistern kannst, so habe ich nicht die geringste Angst für Dich. Es wird in der neuen Wohnung Zeit genug für Dich sein, um Deine Rolle zu üben, und für mich, die meinige zu üben. Es wird Zeit genug sein, um noch ein paar Anzüge zu machen, ein zweites Kleid für mich und ein Hochzeitskleid, das ich Dir zu schenken gedenke, für Dich selbst. Ich werde die Zeitung jeden Tag zugeschickt erhalten. Sobald die Anzeige erscheint, werde ich sie beantworten unter einem Namen, der mir gerade zur Hand ist: in Deinem Namen, wenn Du mir ihn gern überlassen willst —— und wenn die Haushälterin mich nach meinem Zeugniß fragt, so werde ich mich auf Dich beziehen. Sie wird Dich in der Rolle als Herrin sehen und mich in der der Dienerin, es kann ihr kein Verdacht beikommen, wenn Du nicht selbst ihn beibringst. Wenn Du nur den Muth hast, meinen Weisungen zu folgen und zu sagen, was ich Dir vorsagen werde, so wird die Unterredung in zehn Minuten zu Ende sein.

—— Sie erschrecken mich, gnädige Frau, sagte Louise noch immer zitternd. Sie rauben mir vor Ueberraschung den Athem. Muth! Wo soll ich Muth herbekommen?

—— Wo ich ihn für Dich in Bereitschaft halte, sagte Magdalene, in dem Ueberfahrtsgeld für Australien. Schau auf die neue Aussicht, die Dir einen Gatten gibt und Dich zu Deinem Kinde zurückführt —— und Du wirst daraus Deinen Muth schöpfen.

Louisens düsteres Gesicht klärte sich auf, Louisens schwaches Herz schlug lebendig. Ein Funken von ihrer Herrin Geist flackerte auf in ihrem Auge, wie sie der goldigen Zukunft gedachte.

—— Wenn Du meinen Vorschlag annimmst, fuhr Magdalene fort, so kannst Du sofort in der Kirche ein für alle Mal aufgeboten werden. Ich verspreche Dir das Geld an dem Tage, wo die Anzeige in der Zeitung erscheint. Das Wagniß, daß die Haushälterin mich verwirft, ist ganz meine Sache, nicht Deine. Mein gutes Aussehen ist traurig genug verschwunden, ich weiß es wohl. Aber ich denke, ich kann noch immer meinen Platz behaupten gegenüber den anderen Dienstmädchen; ich denke, ich kann noch immer aussehen, wie das Stubenmädchen, das Admiral Bartram braucht. Du hast bei der Sache gar Nichts zu fürchten; ich würde es gesagt haben, wenn dies der Fall gewesen wäre. Die einzige Gefahr ist, daß ich selbst auf St. Crux entdeckt werde, —— und das geht allein nur mich an. Während ich in des Admirals Hause sein werde, wirst Du heirathen, und das Schiff wird Dich Deinem neuen Leben zuführen.

Louisens Gesicht, das bald voll Hoffnung strahlte, bald sich vor Furcht verdüsterte, zeigte deutliche Spuren des Kampfes, den ihr die Entscheidung kostete. Sie suchte Zeit zu gewinnen, sie versuchte verlegen einige Worte des Dankes zu stammeln: aber ihre Herrin hieß sie schweigen.

—— Du bist mir keinen Dank schuldig, sagte Magdalene. Ich sage Dir nochmals, wir leisten einander nur gegenseitig Beistand. Ich habe sehr wenig Geld; aber es reicht für Deinen Zweck hin, und ich gebe es gern und von freien Stücken. Ich habe ein elendes Leben geführt, ich habe bewirkt, daß sich Andere meinetwegen unglücklich fühlten. Ich kann auch Dich nicht anders glücklich machen, als dadurch, daß ich Dich zu einem Betruge verleite. Ja, ja, es ist nicht Deine Schuld Schlechtere Frauen, als Du bist, werden mir, wenn Du ablehnst, Beistand leisten. Entscheide Dich, wie Du willst; —— aber scheue Dich nicht, das Geld zu nehmen. Wenn es mir glückt, werde ich es nicht brauchen. Wenn es mir mißglückt...

Sie hielt inne, stand plötzlich von ihrem Stuhle aus und verbarg ihr Angesicht vor Louisen, indem sie zum Kamine ging.

—— Wenn es mir mißglückt —— begann sie wieder, indem sie gleichgültig ihren Fuß an dem Gitter wärmte, so kann alles Geld in der Welt mir Nichts helfen. Laß den Grund bei Seite, laß mich aus dem Spiele, denke nur an Dich selbst. Ich werde das Geständniß, das Du mir abgelegt hast, mir nicht zu Nutze machen gegen Deinen Willen. Thue, was Du selbst fürs Beste hältst. Aber denke an das Eine: mein Geist ist entschlossen, Nichts, was Du sagen oder thun kannst, wird mich umstimmen.

Ihr plötzliches Weggehen vom Tische, der veränderte Ton ihrer Stimme, indem sie die letzten Worte sprach, schienen Louisen aufs Neue zaudern zu machen. Sie schlug ihre Hände auf dem Schooße zusammen und rang und wandt sie heftig.

—— Dies ist sehr plötzlich über mich gekommen, gnädige Frau, sprach das Mädchen Ich bin sehr versucht, Ja zu sagen. Und doch fürchte ich beinahe...

—— Beschlafe es, unterbrach sie Magdalene, indem sie ihr Gesicht unverwandt gegen das Feuer zu hielt, und sage mir, wenn Du morgen früh in mein Zimmer kommst, zu was Du Dich entschlossen hast. Ich brauche heute Abend keine Hilfe, ich kleide mich selbst aus. Du bist nicht so stark als ich; Du bist müde, möchte ich sagen. Bleibe nicht meinetwegen auf. Gute Nacht, Louise, träume süß!

Ihre Stimme sank tiefer und tiefer, als sie diese freundlichen Worte sprach. Sie seufzte tief und legte, indem sie ihren Arm auf das Kaminsims stützte, ihr Haupt auf denselben mit einer rücksichtslosen Mattigkeit, die kläglich mit anzusehen war. Louise hatte nicht das Zimmer verlassen, wie sie vermuthete, Louise kam leise an sie heran und küßte ihr die Hand. Magdalene zuckte zusammen; aber sie machte dies Mal keinen Versuch, ihre Hand wegzuziehen. Das Gefühl ihrer schrecklichen Vereinsamung überkam sie, als sie die Berührung von den Lippen ihrer Dienerin fühlte! Ihr stolzes Herz brach; ihre Augen füllten sich mit brennenden Thränen.

—— Mache mir das Herz nicht schwer! sprach sie mit schwacher Stimme. Die Zeit der Freundlichkeit ist nun vorbei. Es überwältigt mich jetzt nur. Gute Nacht!

Der Morgen kam, und die bejahende Antwort, welche Magdalene vorausgesetzt hatte, kam mit ihm. An dem selben Tage empfing die Wirthin die Kündigung der Wohnung für nächste Woche, und Louisens Nadel flog rasch durch das Zeug, das der Anzug des Stubenmädchens werden sollte.



Kapiteltrenner

Zwölftes Buch.

Zwischenscene in Briefen.

I.

Miss Garth an Mr. Pendril.

Westmorlandpalast
den 3. Januar 1848.

Lieber Mr. Pendril!

Ich schreibe, wie Sie so freundlich waren zu wünschen, um Ihnen zu berichten, wie es mit Nora’s Befinden steht, und Ihnen zu sagen, welche Aussichten zum Besser werden ich in dem Stande ihrer Ansicht über ihre Schwester wahrnehme.

Ich kann nicht sagen, daß sie sich still ergibt in das Schweigen, das Magdalene beharrlich unterhält: ich kenne ihren treuen Charakter zu gut, als daß ich das sagen könnte. Ich kann Ihnen nur sagen, daß sie in neuen Hoffnungen von dem schweren Druck des Kummers und der Angst Trost findet. Ich bezweifle, daß sie sich das bereits selbst klar gemacht hat; aber ich sehe die Folgen, obschon sie sich derselben vielleicht selber nicht bewußt ist. Ich sehe, wie ihr Herz sich einem andern Interesse und einer neuen Liebe öffnet. Sie hat mir noch kein Wort davon gesagt ——, noch habe ich ein Wort darüber fallen lassen. Aber so gewiß ich weiß, daß Mr. George Bartrams Besuche bei der Familie am Portlandsplatze immer häufiger geworden sind, so gewiß kann ich Ihnen die Versicherung geben, daß Nora unter ihrer Angst einen Trost gefunden hat, welcher nicht von mir herrührt, und eine Hoffnung auf die Zukunft, welche ich ihr nicht eingeflößt habe.

Es ist wohl unnöthig, erst noch zu bemerken, daß ich Ihnen Dies im strengsten Vertrauen mittheile. Gott mag wissen, ob die glückliche Aussicht, die mir jetzt ihren Aufgang zu nehmen scheint, im Verlauf der Zeit zunehmen wird, oder nicht. Je öfterer ich Mr. George Bartram sehe —— und er hat mich mehr denn ein Mal besucht ——, desto mehr nimmt mein Wohlwollen für ihn zu. Nach meinem armen Verstande halte ich ihn für eine Ehrenmann in des Wortes höchstem und eigenstem Sinne. Wenn ich es erleben könnte, Nora als seine Gattin zu sehen, so würde ich beinahe fühlen, daß ich lange genug gelebt habe. Aber wer kann in die Zukunft schauen? Wir haben zu viel gelitten, so daß ich mich scheue, Hoffnung zu hegen.

Haben Sie Etwas von der Magdalene gehört? Ich weiß nicht, woher und wie es kommt ——, aber seitdem ich von ihres Mannes Tode gehört, scheint meine alte Zärtlichkeit für sie mir hartnäckiger denn je anzuhängen.

Immerdar

Ihre getreue

Harriet Garth



Kapiteltrenner

II.

Mr. Pendril an Miss Garth.

Searle-Street,
den 4. Januar 1848.

Liebe Miss Garth!

Von Mrs. Noël Vanstone selbst habe ich Nichts gehört. Aber ich habe erfahren, seitdem ich Sie sprach, daß der Bericht von der Lage, in welche sie durch den Tod ihres Mannes gekommen ist, als zuverlässig betrachtet werden kann. Kein Vermächtniß irgend einer Art ist ihr hinterlassen worden. Ihr Name ist nicht ein einziges Mal in ihres Mannes Testament erwähnt.

Bei dem Stande unserer Kenntniß von der Sache können wir uns nicht verhehlen, daß dieser Umstand uns neue Schwierigkeiten zu bereiten droht, vielleicht sogar neuen Kummer. Mrs. Noël Vanstone ist nicht die Frau, welche sich dem gänzlichen Umsturz all ihrer Pläne und all ihrer Hoffnungen fügen wird, ohne einen verzweifelten Widerstand zu leisten. Gerade die Thatsache, daß seit dem Tode ihres Gatten durchaus Nichts wieder von ihr gehört worden ist, bereitet mich im Geiste anf ein neues bevorstehendes Unheil vor. In ihrer Lage und mit ihrem Charakter muß ich, je ruhiger sie ist, desto bestimmter ein für alle Mal für die Zukunft mißtrauen Es ist ganz unmöglich zu sagen, zu welchen gewaltsamen Schritten ihre gegenwärtige Noth sie treiben mag. Es ist unmöglich, uns vor einem öffentlichen Aergerniß sicher zu fühlen, das sie dies Mal geben kann und das ihre unschuldige Schwester ebenso sehr berühren dürfte, als sie selber. Ich weiß, Sie werden den Beweggrund nicht mißdeuten, der mich veranlaßt hat, diese Zeilen zu schreiben. Ich weiß, Sie werden nicht denken, daß ich unbedacht genug bin, Ihnen unnöthige Unruhe zu verursachen. Mein aufrichtiger Wunsch, jene glückliche Aussicht verwirklicht zu sehen, auf die Sie in Ihrem Briefe hindeuten, hat mich veranlaßt, weit weniger zurückhaltend als ich sonst wohl gewagt haben würde, an Sie zu schreiben. Ich ersuche Sie aufs Dringendste Ihren Einfluß bei jeder Gelegenheit, wo Sie denselben füglich ausüben können, dahin geltend zu machen, daß die aufblühende Neigung unterstützt und außer Bereich etwaiger kommender Ereignisse gestellt werde, sobald Sie eben in der Lage sind, Dies zu thun. Wenn ich Ihnen sage, daß das Vermögen, welches man Mrs Noël Vanstone geraubt hat, ganz und gar dem Admiral Bartram vermocht worden ist, und wenn ich hinzufüge, daß Mr. George Bartram seines Oheims muthmaßlicher Erbe ist, so werden Sie wohl —— denke ich —— zugeben, daß ich Ihnen nicht ohne guten Grund einen Wink gebe.

Ihr ganz getreuer

William Pendril.



Kapiteltrenner

III.

Admiral Bartram an Mrs. Drake.
(Haushälterin auf St. Crux.)

St. Crux,
den 10. Januar 1848.

Werthe Mrs. Drake!

Ich habe Ihren-Brief aus London erhalten, welcher besagt, daß Sie endlich ein neues Stubenmädchen für mich gefunden haben, und daß das Mädchen bereit ist, mit Ihnen nach St. Crux zurückzukehren, sobald Ihre anderen Geschäfte in der Stadt Ihnen zurückzukommen erlauben.

Diese Anordnung muß allsogleich geändert werden aus einem Grunde, den es mich von Herzen schmerzt, niederschreiben zu müssen.

Die Krankheit meiner Nichte, Mrs. Girdlestone, welche anfänglich so leicht zu sein schien, daß sie Niemand von uns beunruhigte, selbst den Arzt mit eingeschlossen, —— ist zu einem traurigen Ende gekommen. Ich erhielt heute früh« die erschütternde Nachricht von ihrem Ableben. Ihr Gemahl soll vor Schmerz dem Wahnsinn nahe sein. Mr. George ist bereits zu seinem Schwager gereist, um die letzten traurigen Pflichten zu erfüllen, und ich muß ihm folgen, ehe das Begräbniß stattfindet. Wir haben vor, Mr. Girdlestone dann mit wegzunehmen und zu versuchen, was der Wechsel des Orts und neue Scenen für Eindruck auf ihn hervorbringen. Unter diesen traurigen Umständen muß ich vier bis sechs Wochen wenigstens von St. Crux wegbleiben —— Das Haus wird zugeschlossen bleiben, und das neue Mädchen wird vor meiner Rückkehr nicht gebraucht werden.

Sie werden daher dem Mädchen nach Empfang dieses Briefes sagen, daß ein Todesfall in der Familie eine augenblickliche Veränderung in unserer Einrichtung bewirkt hat. Wenn sie bereit ist zu warten, so können Sie dieselbe ruhig in Dienst nehmen, um binnen sechs Wochen hier anzuziehen. Ich werde dann zurück sein, wenn Mr. George es nicht ist. Wenn sie sich weigert, so zahlen Sie ihr eine Entschädigung, wie es billig ist, und seien Sie dann fertig mit ihr.

Ihr

Arthur Bartram.



Kapiteltrenner

IV.

Mrs. Drake an Admiral Bartram.

Den 11. Januar.

Hochgeehrter Herr!

Ich hoffe morgen mit meinen Geschäften zu Ende und in St. Crux zurück zu sein, schreibe aber, um Ihnen Besorgnisse zu ersparen, im Fall ich aufgehalten werde.

Dasjenige Frauenzimmer, das ich in Dienst genommen —— Louise heißt es —— ist bereit seine Zeit abzuwarten; seine gegenwärtige Herrin, welche für dessen Fortkommen besorgt ist, will während der Zwischenzeit für dasselbe sorgen. Sie ist einverstanden, daß sie in sechs Wochen von heute an gerechnet, als am fünfundzwanzigsten Februar, ihren neuen Dienst antritt.

Indem ich bei dem traurigen Verlust, der Ihre Familie heimgesucht hat, den Ausdruck meines achtungsvollsten Beileides zu genehmigen bitte, verharre ich,

Hochgeehrter Herr,

Ihre ergebene Dienerin,

Sophie Drake.



Kapiteltrenner

Dreizehntes Buch.

Auf St. Crux.

Erstes Capitel.

—— Dies ist das Zimmer, wo Du schlafen wirst. Leg Dich zeitig nieder und komm dann wieder in mein Zimmer herunter. Der Admiral ist zurück, und Du wirst ihn heute zum ersten Male bei Tisch zu bedienen haben.

Mit diesen Worten machte Mrs. Drake, die Haushälterin, die Thür zu, und das neue Stubenmädchen war auf seinem Schlafzimmer zu St. Crux allein.

Dieser Tag war der ereignißvolle fünfundzwanzigste —— Februar. In knapp vier Monaten von der Zeit an, wo Mrs. Lecount die Weisung ihres Herrn seinem Testamentsvollstrecker in die Hand gegeben hatte, war gerade die Fügung von Umständen, der vorzubeugen dessen erster und vornehmster Zweck gewesen war, jetzt eingetreten. Mr. Noël Vanstones Wittwe und Admiral Bartrams geheimer Artikel waren unter ein und demselben Dache. Soweit hatten sich die Verhältnisse ohne alle Ausnahme zu Gunsten Magdalenens gestaltet. Soweit war der Weg, der sie nach St. Crux geführt hatte, ohne Hindernisse gewesen. Louise, deren Namen sie jetzt angenommen hatte, war vor drei Tagen mit ihrem Manne und ihrem Kinde nach Australien abgesegelt. Sie war das einzige lebende Wesen, dem Magdalene ihr Geheimniß anvertraut hatte, und sie war jetzt nicht mehr in Sieht der englischen Küste. Das Mädchen war bis zuletzt aufmerksam, pünktlich und auf das Interesse seiner Herrin aufrichtig bedacht gewesen. Sie hatte die Pein ihrer Unterredung mit der Haushälterin überstanden und keine von den Weisungen vergessen, durch die sie darauf vorbereitet war. Sie hatte selbst vorgeschlagen, den durch den Todesfall in der Familie des Admirals verursachten Aufschub sich zu nutze zu machen, indem sie mit dem äußerst wichtigen Unterricht in den häuslichen Verrichtungen fortfuhr, von deren vollkommener Aneignung das Gelingen des kühnen Wagnisses ihrer Herrin abhing. Dank der so gewonnenen Zeit hatte Magdalene, als Louisens Hochzeit vorbei und der Tag der Abreise gekommen war, bis auf die kleinste Einzelheit Alles gelernt und sich zu eigen gemacht, was ihre frühere Jungfer ihr lehren konnte. An dem Tage, wo sie über die Schwelle von St. Crux schritt, begann sie ihr verzweifeltes Wagstück, ausgerüstet mit rascher Geistesgegenwart unter allen Anforderungen, die ihr späteres Leben ihr gelehrt hatte, noch mehr gerüstet durch die angelernte Fähigkeit, die sie besaß, zur Annahme von Rollen, die nicht ihre eigenen waren, am meisten aber gerüstet durch ihre acht Wochen hindurch täglich fortgesetzte Vertrautheit mit den praktischen Erfordernissen der Stellung, welche sie auszufüllen übernommen hatte.

Sobald sie nach dem Weggang von Mrs. Drake allein war, packte sie ihren Koffer aus und zog sich für den Abend an.

Sie zog ein lavendelfarbenes Taffetkleid an, halber Traueranzug um Mrs. Girdlestone, wie es nach den Weisungen des Admirals für alle Mädchen im Hause vorgeschrieben war, dazu eine weiße Musselinschürze, eine hübsche weiße Mütze und ein Kragen mit Bändern wie das Kleid.

In dieser Dienstbotentracht, in dem einfachen glatten Kleide, das bis an den Hals hinauf ging, in dem hübschen kleinen weißen Häubchen hinten auf dem Kopfe, in dieser für alle Männeraugen, nur nicht für die Leinwandkenner einfachen Tracht, welche aber die bescheidenste und reizendste ist, die ein Weib tragen kann, entzogen sich die traurigen Veränderungen, welche innere Leiden in ihrer Schönheit hervorgebracht hatten, beinahe gänzlich der Wahrnehmung. In dem Abendanzuge einer Dame, mit ausgeschnittenem Kleide, mit ihrer in steifen Seidenstoff eher gewappneten, denn gekleideten Gestalt würde sie der Admiral in seinem Staatszimmer unbeachtet gelassen haben. In dem Abendanzuge eines Dienstmädchens konnte kein Verehrer des Schönen sie ein einzig Mal anschauen, ohne gar bald wieder den Blick auf sie zu lenken und sie zum zweiten Male anzusehen.

Als sie die Treppe herunterstieg, um nach der Stube der Haushälterin zu gehen, kam sie an den Thüren zu zwei langen Corridors vorüber, in welche sich lange Reihen von Zimmern öffneten, der eine Corridor im zweiten, der andere im ersten Stock des Hauses.

—— Viele Zimmer! dachte sie, als sie die Thüren erblickte. Eine saure Arbeit für mich, hier zu suchen, was ich zu finden im Sinne habe!

Als sie das Erdgeschoß erreichte, begegnete ihr ein wettergebräunter alter Mann, der stehen blieb und sie mit anscheinend großem Interesse ansah. Es war derselbe Mann, den Hauptmann Wragge in dem Hintergarten auf St. Crux mit dem Schnitzen eines Schiffsmodells beschäftigt gesehen hatte. In der ganzen Nachbarschaft war er weit und breit als »des Admirals Bootsmann« bekannt. Er hieß Mazey. Sechzig Jahre hatten ihre Geschichte tüchtiger Arbeit zu Wasser und tüchtigen Trinkens zu Lande auf des Veteranen dunkles runzliges Gesicht geschrieben. Sechzig Jahre hatten seine Treue ersprobt und sein leckes altes Gerippe am Ende der Reise in seines Herrn Hause in sichern Port geführt.

Da Magdalene niemand Anderes erblickte, den sie fragen konnte, ersuchte sie den Alten, ihr den Weg zu zeigen, welcher auf das Zimmer der Haushälterin führte.

—— Ich will ihn Dir zeigen, mein Täubchen, sprach der alte Mazey, indem er mit der lauten und hohlen Stimme redete, welche den Schwerhörigen eigen zu sein pflegt. Du bist das neue Mädchen, he? Weiß Gott, ein schön gewachsenes Dirnchen! Seine Gnaden der Admiral haben ein Stubenmädchen gern mit sauberm Steuerbord und Bug. Du wirst ihm recht sein, wirst ihm recht sein.

—— Du darfst nicht darauf achten, was Mr. Mazey zu Dir sagt, bemerkte die Haushälterin, die ihre Thür aufmachte, als der alte Matrose mit jenen Worten Magdalenens Lob verkündigte. Er hat die Erlaubniß zu reden, wie es ihm gefällt, und er ist sehr langweilig und derb in seinen Gewohnheiten; aber er meints nicht böse.

Mit dieser Entschuldigung des Veteranen führte Mrs. Drake Magdalenen erst zu dem Speiseschranke und dann in die Wäschekammer, indem sie dieselbe mit aller sich ziemenden Förmlichkeit in ihre häuslichen Gebiete einführte. Als diese Feierlichkeit vorüber war, wurde das neue Stubenmädchen mit herausgenommen, und ihr das Speisezimmer gezeigt, das auf den Corridor im ersten Stock führte. Hier wurde sie angewiesen, zu decken und den Tisch vorzurichten für eine einzige Person —— da Mr. George Bartram noch nicht mit seinem Oheim auf St. Crux zurückgekehrt war. Mrs. Drakes scharfe Augen beobachteten Magdalenen aufmerksam, wie sie diese ihre erste Obliegenheit verrichtete, und sie mußte sich, als die Tafel fertig war, überzeugt fühlen, daß das neue Mädchen sich auf seinen Dienst vollkommen verstand.

Eine Stunde später wurde die Suppenterrine auf den Tisch gestellt, und Magdalene stand allein hinter des Admirals leerem Stuhle, ihres Herrn erster Aeußerung gewärtig, wenn er ins Speisezimmer treten würde.

Eine große Glocke erschallte in den unteren Räumen, schnelle schleifende Schritte raschelten auf den Steinen des Corridors draußen, die Thür ging plötzlich auf, und ein großer, hagerer alter Herr mit scharfem Auge, verbissenen Lippen, lärmend unruhigen Bewegungen trat ins Zimmer mit zwei stattlichen Labrado-Hunden hinter sich und nahm seinen Platz an der Tafel in heftiger Eile ein. Die Hunde folgten ihm und setzten sich mit der äußersten Gemessenheit und Ruhe links und rechts neben seinen Stuhl.

Dies war Admiral Bartram, und dies waren seine Gesellschafter bei seinem einsamen Mahl.

—— Ei, ei, ei! Das ist gewiß das neue Stubenmädchen! begann er, indem er Magdalenen scharf, aber durchaus nicht unfreundlich ansah. Wie ist Dein Name, liebes Kind? —— Louise also? Ich werde Dich Lucie rufen, wenn Dirs recht ist. Nimm den Deckel ab, meine Gute —— ich bin heute eine oder zwei Minuten zu spät gekommen; sei Du deßwegen morgen nicht unpünktlich; ich bin gewöhnlich genau auf den Schlag da, wie ein Uhrwerk —— Wie ist Dir die Reise bekommen? Hat Dich mein Federwagen bei der Fahrt von dem Haltepunkt bis hierher sehr umhergestoßen? —— Eine capitale Suppe das! heiß wie Feuer —— erinnert mich an die Suppe, die wir in Westindien Anno Drei gewöhnlich hatten. —— Hast Du Deine halbe Trauer an? Stell Dich her und laß mich sehen! — Ach ja, recht hübsch und nett und fein. —— Arme Mrs. Girdlestone! Ach, liebe, liebe, liebe, arme Mrs. Girdlestone! —— Du fürchtest Dich doch nicht vor Hunden, Lucie? —— Wie? Was? Du hast Hunde gern? Das ist recht! Sei immer freundlich gegen diese armen einfältigen Thiere. Diese beiden Hunde speisen täglich bei mir, ausgenommen, wenn Gesellschaft da ist. Der Hund mit der schwarzen Nase da ist Brutus, und der mit der weißen Nase ist Cassius. —— Hast Du je gehört, wer Brutus und Cassius waren? —— Alte Römer? Richtig, Du gutes Kind. Vergiß nicht Dein Buch und Deine Nadel; Du sollst auch ein Mal einen guten Ehemann haben. —— Nimm die Suppe weg, mein Kind, nimm die Suppe weg.

Dies war der Mann, dessen Geheimniß zu erhaschen jetzt das einzige Dichten und Trachten Magdalenens war! Das war der Mann, dessen Name den ihrigen in Noël Vanstones Testament ersetzt hatte!

Der Fisch und der Braten folgten, und das Geplauder des Admirals hatte seinen Fortgang, bald als Selbstgespräch, bald zum Stubenmädchen gewandt, bald an die Hunde gerichtet, so vertraulich und unzusammenhängend, wie immer. Magdalene bemerkte mit einigem Erstaunen, daß die Gesellschafter des Admirals bis jetzt keinen Bissen Von dem Teller ihres Herrn erhalten hatten. Die beiden prächtigen Thiere saßen auf ihre Pfoten gekauert, mit ihren großen Köpfen über dem Tische, den Fortgang der Mahlzeit mit der größten Aufmerksamkeit beobachtend, aber ersichtlich ohne Erwartung, Etwas davon zu erhalten. Der Braten wurde entfernt, der Teller des Admirals gewechselt, und Magdalelte nahm die silbernen Deckel von den zwei Schüsseln auf beiden Seiten der Tafel ab. Als sie die erste der duftigen Schüsseln ihrem Herrn reichte, gaben die Hunde plötzlich ein athemloses persönliches Interesse an den Dingen zn erkennen. Brutus lief der Speichel aus dem Rachen, und die Zunge des Cassius, welche vor unaussprechlicher Erwartung zum Vorschein kam, bewegte sich zwischen den ungeheuren Kinnbacken hin und her.

Der Admiral langte sich selbst reichlich aus der Schüssel zu, schickte Magdalenen an den Nebentisch, um ihm etwas Brod zu holen, und als er dachte, daß ihr Auge nicht auf ihn gerichtet sei, schob er heimlich den ganzen Inhalt seines Tellers in Brutus Rachen. Cassius winselte leise, als sein glücklicher Kamerad dies würzige Zwischengericht mit einem Schluck hinunterschlang.

—— Ruhig, du dummer Kerl, flüsterte ihm der Admiral zu, du kommst das nächste Mal dran!

Magdalene reichte die zweite Schüssel. Noch ein Mal langte sich der Admiral reichlich zu, noch ein Wink schickte er sie an das Seitentischchen, noch ein Mal schob er den ganzen Inhalt des Tellers in die Kehle des Hundes, indem er dies Mal Cassius erwählte, wie es sich für ihn als aufmerksamen Herrn und als Unparteiischen Mann geziemte Als der nächste Gang folgte, der in einem einfachen Pudding und in einem ungesunden Cream bestand, wurde Magdalenens Vermuthung über die Thätigkeit der Hunde bei der Tafel bestätigt. Während der Herr den einfachen Pudding zu sich nahm, verschlangen die Hunde den kunstvollen Cream. Der Admiral fürchtete offenbar, auf der einen Seite seiner Köchin zu nahe zu treten und auf der andern sich selbst Schaden zu thun, und Brutus und Cassius waren die beiden abgerichteten Mitschuldigen, welche ihm jeden Tag halfen, über diese Schwierigkeiten hinwegzukommen.

—— Sehr gut, sehr gut! sagte der alte Herr mit dem offenbarsten Doppelsinne. Sage der Köchin, mein Kind, ein capitaler Cream!

Als Magdalene nun Wein und Nachtisch auf die Tafel gestellt hatte, war sie im Begriff, sich zurückzuziehen. Ehe sie das Zimmer Verlassen konnte, rief sie ihr Herr zurück ins Zimmer.

—— Halt, halt! sagte der Admiral. Du kennst noch nicht die Sitte des Hauses, Lucie. Stell noch ein Glas hierher, zu meiner Rechten, das größte, das du finden kannst. Ich habe einen dritten Hund, der beim Nachtisch hereinkommt, einen trunkenen alten Seehund, welcher zu Land und zu Wasser mein Schicksal getheilt hat wohl fünfzig Jahre und drüber. —— Ja, ja; das ist die Art Gläser, die wir brauchen. Du bist ein gutes Kind. —— Du bist ein hübsches, gescheidtes Kind. Ruhig, mein Schatz, Du brauchst Dich nicht zu fürchten!

Ein plötzliches Pochen außen an der Thüy worauf ein mächtiges Anschlagen von Seiten der beiden Hunde erfolgte, hatte Magdalenen erschreckt.

Herein! rief der Admiral.

Die Thür ging auf, Brutus und Cassius wedelten fröhlich mit den Schwänzen, und der alte Mazey marschierte in gestreckter Haltung rechts vom Stuhle seines Herrn auf.

Der Veteran stand da mit weit gespreizten Beinen und sorgfältig gewahrtem Gleichgewicht, als ob das Speisezimmer eine Cajüte und das Haus ein seine Straße ziehendes Schiff auf hoher See gewesen wäre.

Der Admiral füllte das große Glas mit Portwein, füllte sein eigenes Glas mit Rothwein und erhob es an seine Lippen.

Gott segne die Königin, Mazey! sprach der Admiral.

—— Gott segne die Königin, Euer Gnaden, sprach der alte Mazey, indem er seinen Portwein hinunterwarf, wie die Hunde die Tunke.

—— Wie ist der Wind, Mazey?

—— West und bei Nord, Euer Gnaden.

—— Guten Abend, Mazey.

—— Guten Abend, Euer Gnaden.

Als diese feierliche Nachtischhandlung dergestalt beendigt war, machte der alte Mazey einen Diener und schritt wieder zum Zimmer hinaus. Brutus und Cassius streckten sich auf ihren Bauch, um die Pilze und feinen Saucen in der Alles ausgleichenden Hitze des Feuers zu verdauen.

—— Für Das, was uns bescheeret worden, mache der Herr uns dankbar im Herzen, sprach der Admiral. —— Gehe hinunter, gutes Kind, und nimm Dein Abendbrod ein. Eine leichte Speise, Lucie, wenn Du meinen Rath hören willst, eine leichte Speise, sonst wirst Du den Alp bekommen. Frühzeitig zu Bett, meine Liebe, und frühzeitig auf, das macht ein Stubenmädchen gesund und wohlhabend und gescheidt. Das ist die Weisheit Deiner Vorgängerinnen, —— Du mußt nicht darüber lachen. —— Gute Nacht.

Mit diesen Worten wurde Magdalene entlassen, und so endete ihre Bekanntschaft des ersten Tages mit Admiral Bartram.

Nach dem Frühstück am nächsten Morgen enthielten die Anweisungen für das neue Stubenmädchen unter Andern einen merkwürdigen Befehl, der für sie in ihrer Lage ganz besonders von Interesse war. Während der Abwesenheit des alten Herrn vom Hause, welche diesen Tag über wegen Geschäften an Ort und Stelle, die ihn nach Ossory führten, stattfand, erhielt sie die Weisung, sich mit dem ganzen bewohnten Theil des Hauses bekannt zu machen und die Lage der verschiedenen Zimmer kennen zu lernen, um dann zu wissen, wohin die Klingeln sie riefen, wenn sie dieselben hörte. Mrs. Drake wurde mit der Pflicht betraut, die Entdeckungsreise des neuen Ankömmlings zu leiten, wenn sie nicht etwa anderweitig beschäftigt wäre, in welch letzterem Falle auch eine von den untergeordneten Dienstboten ebenfalls berechtigt sein sollte, Magdalenen als Führerin zu dienen.

Nachmittags fuhr der Admiral nach Ossory, und Magdalene stellte sich im Zimmer von Mrs. Drake ein, um im Hause herumgeführt zu werden. Mrs. Drake war zufällig anderweitig beschäftigt und wies sie an das erste Hausmädchen. Das erste Hausmädchen war zufällig in derselben Lage, als Mrs. Drake und verwies sie an die unteren Hausmägde. Die unteren Hansmägde erklärten, sie seien alle behindert und hätten keinen Augenblick Zeit übrig; sie schlugen in nicht eben sehr höflicher Art und Weise den alten Mazey vor, der Nichts auf Gottes Welt zu thun habe und das Haus so gut, oder noch besser kenne, als das ABC. Magdalene nahm den Wink mit geheimer Empörung und Verachtung hin, welche zu verbergen ihr einen harten Kampf kostete. Sie hatte den Abend vorher gemerkt und wußte nun ganz bestimmt, daß alle Dienstmädchen im Hause Merkwürdigerweise mit derselben mürrischen Einhelligkeit des Mißtrauens sie schon mit scheelen Augen unter sich sahen. Mrs. Drake war, wie sie sich mit eigenen Augen überzeugt hatte, diesen Morgen wirklich mit ihren Abrechnungen beschäftigt. Allein von allen den Mädchen unter ihr, die sich entschuldigten, hatte keines vorgegeben, mehr als gewöhnlich beschäftigt zu sein. Ihre Blicke sagten deutlich:

—— Wir können Dich nicht leiden und mögen Dich darum auch nicht im Hause herumführen.

Sie fand sich nicht nach den ihr gegebenen dürftigen Winken, sondern nach dem Klange der knarrenden und zitternden Stimme des Veteranen zum alten Mazey, wie er in seiner Abgeschiedenheit einen Vers aus dem unsterblichen Seemannsliede: »Tom Bowling« sang. Gerade als sie die steinernen Gänge im Erdgeschoß des Hauses dahin schritt, ungewiß, wohin sie sich zunächst wenden sollte, hörte sie die tonlose Stimme des Alten in der Ferne die folgenden Worte singen:

Sein’ Gestalt war von der männlichsten Schö———ö—önheit
Sein Herz war mild und sanft;
Treulich that hienieden Tom seine Pflichten,
Aber jetzt ist er gangen fo———o—o——o—ort,
Aber jetzt ist er ga—a———a-angen fort!

Magdalene ging in der Richtung der zitternden Stimme und befand sich alsbald in einem kleinen Zimmer, das nach dem Hinterhof ging. Da saß der alte Mazey mit seiner Brille weit unten auf der Nase, mit seinen knorrigen alten Händen am Takelwerk seines Schiffsmodells herumfahrend. Da lagen auch wieder Brutus und Cassius und verdauten am Feuer und schnarchten, als ob sie sich ganz wohlig dabei fühlten. Da hing Lord Nelson an der einen Wand in grellen Wasserfarben und dort an der andern eine Abbildung von Admiral Bartrams letztem Flaggenschiff unter vollen Segeln auf einer See, die wie Schiefer aussah, darüber ein Himmel in der Farbe des Lachses, um die Täuschung vollkommen zu machen.

—— Was, sie wollen Dich nicht im Hause herumweisen, wirklich? sagte der alte Mazey. Dann will ich es thun! Das erste Hausmädchen ist ein sauertöpfiges Ding, ja, mein Kind, wie es je eines gab. Du bist zu jung und gutaussehend, als daß Du ihnen gefallen könntest —— Das ist es nur.

Er stand anf, nahm seine Brille ab und schürte das Feuer ein wenig.

—— Sie ist schlank wie eine Pappel, sagte der alte Mazey in schläfrigem Selbstgespräch vor sich hin und betrachtete Magdalenens Gestalt.

—— Sie ist kerzengerade, wie eine Pappel, und Seine Gnaden der Admiral sagt es auch!

—— Komm mit, mein Kind, fuhr er fort und wandte sich wieder zu Magdalenen. Ich will Dir erst Deine Compaßgegenden lehren. Wenn Du Deinen Compaß hast, mag es drüber oder drunter gehen, so wirst Du auch eine glatte Fahrt haben durchs ganze Haus.

Er ging nach der Thür voraus, blieb stehen und ging, plötzlich seines Schiffes im verjüngten Maßstabe gedenkend, wieder zurück, um sein Schifflein in einen leeren Wandschrank zu stellen, —— schritt wieder nach der Thür voraus, blieb abermals stehen, erinnerte sich, daß einige von den Zimmern etwas kalt waren, und polterte nun fluchend und brummend umher und suchte seinen Hut. Magdalene setzte sich ruhig nieder, um auf ihn zu warten. Sie verglich mit dankbarem Herzen seine Behandlung mit derjenigen, welche sie von Seiten der Frauenzimmer erfahren hatte.

Man mag sich so fest, als man wolle, dessen erwehren, mag sich so stolz, als man will, darüber hinwegsetzen: alle grundsätzliche Unfreundlichkeit —— gleichviel wie wenig man darauf zu geben hat —— hat einen bittern Stachel in sich, der uns bis aufs Leben trifft.

Magdalene erfuhr an sich den Grad, in dem sie die kleine Bosheit der Mägde gefühlt hatte, nur an dem Eindruck, welchen hinterher die rauhe Freundlichkeit des Matrosen auf sie machte. Der stumme Willkommen der Hunde, als die Bewegungen im Zimmer sie aus ihrem Schlafe erweckt hatten, rührte sie noch mehr. Brutus schob seine mächtige Schnauze zutraulich in ihre Hand, und Cassius legte ihr eine seiner Vorderpfoten freundschaftlich auf den Schooß. Ihr Herz empfand Heimweh, als sie die beiden Thiere streichelte und liebkoste. Es war ihr, als ob es erst gestern geschehen sei, wo sie und die Hunde auf Combe-Raven zusammen im Garten sich getummelt und sie die Sommermorgen auf dem schattigen grünen Rondel vor dem Hause fröhlich hinweg gespielt hatte. ——

Der alte Mazey fand endlich seinen Hut, und sie brachen nun mit den Hunden hinter sich zu ihrer Entdeckungsreise auf.

Indem sie das Erdgeschoß des Hauses verließen, welches ganz und gar von Gesindestuben eingenommen war, stiegen sie ins erste Stock hinauf und traten in den langen Corridor, mit welchem Magdalene sich bereits den Abend vorher bekannt gemacht hatte.

—— Stell Dich ’mal mit dem Rücken hierher, sagte der alte Mazey und zeigte auf die lange Wand, welche in unregelmäßigen Zwischenräumen von Fenstern unterbrochen wurde, die aus einen Hofgarten und Fischteich hinaus gingen, und auf die rechte Seite des Ganges, wo Magdalene jetzt stand. ——

—— Stell Dich ’mal mit dem Rücken gegen diese Wand, sagte der alte Veteran, und sieh geradeaus. Was siehst Du da?

—— Die andere Wand des Ganges, sagte Magdalene.

—— So, so? Was denn noch?

—— Die Thüren, welche in die Zimmer führen.

—— Was sonst noch?

—— Weiter sehe ich Nichts.

Der alte Mazey kicherte, blinzelte und drohte Magdalenen mit seinem knorrigen Zeigefinger bedeutungsvoll.

—— Du siehst eine von den Gegenden des Compasses, mein Kind. —— Wennst Du Deinen Rücken gegen diese Wand gekehrt hast und wennst Du geradeaus siehst, so siehst Du Norden. [Der alte Mazey spricht im Original Noathe statt North. W.]

—— Wennst Du Dich jemals hier verlaufen solltest, so stell Dich mit dem Rücken gegen die Wand, sieh geradeaus und sage zu Dir:

—— Ich sehe nach Norden!

—— So machst Du’s, wenn Du ein gutes Kind bist und nicht vergissest, was man Dir gesagt hat!

Nachdem der alte Mazey diese vorläufige Belehrung gespendet, öffnete er die Thür linker Hand auf dem Gange. Sie führte in das Speisezimmer, mit dem Magdalene bereits vertraut war. Das zweite Zimmer war für die Bibliothek hergerichtet, und das dritte als ein Morgenzimmer.

Die vierte und fünfte Thür, beide zu ausgeräumten und unbewohnten Zimmern führend und beide verschlossen, brachten sie an das Ende des nördlichen Flügels des Hauses und an den Eingang zu einem zweiten und kürzeren Gange, welcher im rechten Winkel auf den ersten stieß.

Hier kam der alte Mazey, welcher während der Besichtigung der Zimmer seine Zeit hübsch gleichmäßig in Plaudereien von Seiner Gnaden dem Admiral und Signalpfiffen für die Hunde getheilt hatte, mit aller möglichen Schnelligkeit auf die Gegenden des Compasses zurück und wies Magdalenen mit schauerlichem Ernst an, sich abermals mit dem Rücken an die Wand zu stellen. Sie versuchte«diese Anstellung abzukürzen, indem sie ganz richtig angab, daß ihre gegenwärtige Stellung, wie sie wüßte, nach Osten wäre.

—— Sprich Du doch nicht von Osten, mein Kind, sagte Mazey, indem er unerschütterlich nach seinem eigenen Lehrplane fortfuhr, —— bis Du erst Osten kennst. Stell Dich mit dem Rücken gegen die Wand und sieh geradeaus. Was siehst Du?...

Und so ging der Unterricht durch Frage und Antwort fort.

Als das Ende erreicht war, war Magdalenens Lehrmeister befriedigt. Er lachte und blinzelte wieder wie vorher.

—— Jetzt kannst Du von Osten sprechen, mein Kind, sagte der Veteran, denn jetzt kennst Du ihn.

Der östliche Flügel brachte sie nur einige Fuß vorwärts und endigte in einen Vorsaal mit einer hohen Thür, die ihnen, als sie vorwärts gingen, entgegenstand. Die Thür führte sie in ein großes, hohes Wohnzimmer, das wie die übrigen Zimmer, mit kostbaren altmodischen Möbeln ausgestattet war. Aber durch Dieses Zimmer schreitend schob Magdalenens Führer eine schwere Schiebethür gegenüber der Eingangsthür hinweg.

—— Deck Deine Schürze auf den Kopf, sagte Mazey. Wir kommen jetzt in die Banquethalle. Der Boden ist verteufelt kalt, und die Feuchtigkeit steckt an dem Orte fest wie Rußflocken in einem Meiler. Seine Gnaden der Admiral nennt es die nordwestliche Durchfahrt. Ich habe auch einen Namen dafür. Ich nenne es: Satans Knochenkälter. [ Dachte der alte Trinker dabei zugleich an die Kelter?]

Magdalene ging durch den Vorsaal und befand sich in in der alten Banquethalle von St. Crux.

Zu ihrer Linken sah sie eine Reihe hoher Fenster mit tiefen Nischen, auf eine Wandfläche von mehr als hundert Fuß Länge vertheilt. Rechts von ihr hing in einer langen Reihe von einem Ende zum andern an der gegenüberliegenden Wand eine abscheuliche Sammlung schauriger nachgedunkelter alter Bilder in morschen Rahmen, Schlachtscenen zu Wasser und zu Lande darstellend. Unter den Gemälden in der Mitte der Wand gähnte der gräuliche Schlund eines Kamins mit einem hohen Mantel von schwarzem Marmor. Das einzige Möbel, wenn man es Möbel nennen kann, —— das man in der öden Leerheit des Raumes weit und breit zu sehen bekam, war ein hagerer aIter Dreifuß von merkwürdiger getriebener Arbeit, der ganz allein inmitten der Halle dastand und ein weites rundes Becken trug, das tief mit der Asche eines erloschenen Kohlenfeuers angefüllt war. Die hohe Decke, einstmals schön geschnitzt und vergoldet, war von Schmutz und Spinneweben entstellt, die nackten Wände an jedem Ende des Gemaches waren von Feuchtigkeit fleckig, und die Kälte des Marmorbodens drang durch den schmalen Streifen einer Matte, die gleichlaufend mit den Fenstern, als Fußpfad für Diejenigen gelegt war, welche die Wildniß des Raumes betraten. Man hätte keinen bessern Namen dafür erfinden können, als der ihm vom alten Mazey gegebene war. »Knochenkälter« war in der That die genaue Beschreibung in zwei Worten von der Banquethalle zu St. Crux.

—— Steckt Ihr niemals Feuer an diesem abscheulichen Orte an? frug Magdalene.

——Es kommt ganz darauf an, auf welcher Seite des »Knochenkälter« Seine Gnaden der Admiral wohnt —— sagte der alte Mazey. Seine Gnaden liebt sein Quartier manchmal auf die eine, manchmal auf die andere Seite des Hauses zu verlegen. Wenn er im Norden des Knochenkälters wohnt, woher Du just kommen bist, so verschwenden wir unsere Kohlen hier nicht. Wohnt er aber südwärts des Knochenkälters, wohin wir demnächst uns wenden, so stecken wir das Feuer in dem Kamin und die Kohlen auf dem Becken an. Jede Nacht, wenn wir das thun, wird die Feuchtigkeit über uns Herr, jeden Morgen kommen wir wieder und werden der Feuchtigkeit Herr.

Mit dieser merkwürdigen Erklärung gings der alte Mazey an das untere Ende der Halle voran, machte noch mehrere Thüren auf und führte Magdalenen durch eine neue Folge von Zimmern, vier an der Zahl, alle von mäßiger Größe und allesamt in derselben Weise ausgestattet, als die Gemächer in dem nördlichen Flügel. Sie sah zu den Fenstern hinaus und erblickte die vernachlässigten Gartenanlagen von St. Crux, die von Unkraut und Brombeersträuchern überwuchert waren. Hier und da in nicht großer Entfernung in den Fluren wandte sich die sanftgebogene Linie eines der kleinen Rinnsale, wie sie der Gegend eigenthümlich waren, im Sonnenschein glitzernd, durch einzelne Blößen des Baumschlags und Brombeergesträuchs. Die weitere Ferne über dem flachen Lande im Osten war hier und da mit kleinen Dörfern besäet, von dem Netzwerk der »Hinterwasser« durchschnitten und wieder durchschnitten und plötzlich durch die lange gerade Linie des Seedammes abgeschlossen, welcher die schutzlose Küste von Essex gegen das Hereinbrechen des Meeres sicher stellt.

—— Haben wir noch mehr Zimmer zu sehen? frug Magdalene, nachdem sie nach den Gärten sich umgesehen hatte, und schaute sich nach einer andern Thür um.

—— Nein, keine weiter, mein Kind, wir sind hier auf den Grund gekommen, und wir können uns nun wenden und wieder umkehren, sprach der alte Mazey. Es ist noch eine andere Seite vom Hause, genau südlich von Dir, wie Du jetzt stehst, die uns bald auf den Kopf fällt. Du mußt in den Garten gehen, wenn Du sie sehen willst, sie ist an der andern Seite dieser Wand hier durch eine Ziegelsteinmauer von uns getrennt. Die Mönche wohnten genau südlich von uns, mein Kind, hunderte von Jahren, bevor Seine Gnaden der Admiral geboren wurde, oder auch nur an ihn gedacht wurde, und eine schöne Zeit dazu hatten sie, wie ich gehört habe. Sie sangen alle Morgen in der Kirche —— und jeden Nachmittag, da tranken sie Grog in dem Obstgarten. Sie schliefen ihre Grogräuschchen auf den besten Federbetten aus und wurden von der Nachbarschaft dick und fett, Jahr auf, Jahr ein. Glückliche Bettler, glückliche Bettler! ——

Dergestalt die Mönche anredend und offenbar bedauernd, daß er selbst nicht in jenen guten alten Zeiten gelebt hatte, führte sie der Alte wieder durch die Zimmer zurück. Auf dem Rückwege durch »Satans Knochenkälter« ging Magdalene voran.

— Sie ist so schlank wie eine Pappel, murmelte der alte Mazey vor sich hin, indem er hinter seiner jugendlichen Gefährtin drein humpelte und sein ehrwürdiges Haupt wohlgefällig hin- und herwiegte.

—— Ich war nie wählerisch, welchem Volke sie angehörten, aber ich habe sie immer gern schlank und schön gewachsen gehabt und werde sie auch immer schlank und schön gewachsen gern haben bis an mein letztes Stündlein.

—— Sind noch mehr Zimmer oben im zweiten Stock zu sehen? frug Magdalene, als sie zu dem Punkte zurückkehrten, von wo sie ausgegangen waren.

Der ihr von der Natur gegebene helle klare Ton der Stimme hatte sich für das schwere Gehör des alten Seemannes bisher ziemlich leicht verständlich gemacht. Zu ihrem Erstaunen wurde er plötzlich stocktaub gegen ihre letzte Frage.

—— Weißt Du Deine Compaßgegenden noch? frug er. Wenn Du sie nicht mehr weißt, so stelle Dich wieder mit dem Rücken gegen die Wand, und wir wollen sie noch Mal durchgehen, von Norden angefangen.

Magdalene versicherte ihm, daß sie sich jetzt mit alle Gegenden, Norden mitgerechnet, ganz vertraut fühlte, und wiederholte sodann ihre Frage in lauterem Tone. Der Alte wich ihr eigensinnig wieder aus und wurde noch tauber als zuvor.

—— Ja, mein Kind, sagte er. Du hast Recht, es ist kalt in diesen Räumen und, wenn, ich nicht zu meinem Feuer zurückkehre, wird mein Feuer ausgehen, nicht wahr? —— Wennst Du in Deinen Compaßgegenden nicht mehr sicher bist, so komme nur zu mir, und ich will Dich denn wieder zurecht weisen.

Er blinzelte ihr freundlich zu, pfiff den Hunden und humpelte ab. Magdalene hörte ihn über seinen Erfolg vergnüglich kichern, den er gehabt hatte, als es galt, ihrer Neugierde betreffs des zweiten Stockes auszuweichen.

—— Ich weiß, wie ich sie zu nehmen habe! sprach der alte Mazey für sich mit hohem Selbstbewußtsein. Groß oder klein, einheimisch oder fremd, Liebste oder Frau: ich weiß schon mit ihnen fertig zu werden!

Sich selbst überlassen machte Magdalene von der trefflichen Art des Seemanns seine Leute zu behandeln, für sich ihre besondere Nutzanwendung, indem sie sofort die Treppe hinaufging, um auf eigene Hand im zweiten Stock ihre Nachforschungen anzustellen er mit Steinen ausgelegte Gang war hier ganz genau ebenso, wie der im ersten Stock, nur mit dem Unterschiede, daß noch mehr Thüren sich auf denselben öffneten. Sie machte aufs Geradewohl die beiden nächsten Thüren eine nach der andern auf und entdeckte, daß beide Zimmer Schlafstuben waren. Die Besorgniß, von einem der Dienstmädchen in einem Theil des Hauses, mit welchem sie Nichts zu schaffen hatte, überrascht zu werden, verbot ihr, ihre Forschungen in dem Stockwerk der Schlafgemächer nicht gleich zu weit zu treiben. Sie eilte rasch ans Ende des Ganges, um zu sehen, wo er endigte, entdeckte, daß er in eine Rumpelkammer auslief, welche der Lage des Vorsaales eine Treppe tiefer entsprach, und wandte ihre Schritte augenblicklich wieder zurück.

Auf dem Rückwege bemerkte sie einen Gegenstand, der vorher ihrer Aufmerksamkeit entgangen war. Es war ein niederes Rollbett, das gleichlaufend mit der Wand dicht an einer der Thüren auf der Seite der Kammern stand. Trotz dieser seiner wunderlichen und unbehaglichen Stellung war das Bett offenbar Nachts von einem Schläfer benutzt, die Bettwäsche war darauf, und der Zipfel einer dicken rothen Fischermütze guckte unter dem Kopfkissen hervor. Sie wagte die Thür zu öffnen, an welche das Bett gerückt war, und befand sich, wie sie aus gewissen Zeichen und Merkmalen richtig geschlossen hatte, im Schlafgemach des Admirals. Eine Durchsicht des Zimmers von der Dauer eines Augenblicks war Alles, was sie zu wagen das Herz hatte, und sie kehrte darauf, die Thüre leise schließend, in die Küchengegend zurück.

Das Rollbett und die seltsame Stellung desselben blieben ihr den ganzen Nachmittag in Sinn und Gedanken. Wer konnte in aller Welt darin schlafen? Die Erinnerung an die rothe Fischermütze und die Kenntniß, welche sie bereits von Mazeys wahrer Hundetreue gegen seinen Herrn erlangt hatte, verhalfen ihr zu dem Schlusse, daß nur der alte Seemann der Insasse des Rollbettes sein könnte. Aber warum sollte er, da es doch Kammern vollauf und genug gab, jene kalte und trostlose Lage in der Nacht einnehmen? Warum sollte er als Wache vor seines Herrn Thüre schlafen? Gab es für die Nacht irgend eine Gefahr im Hause, vor welcher der Admiral sich fürchtete? —— Die Frage schien lächerlich, und doch nöthigte die Stellung des Bettes sie ihr immer wieder unwiderstehlich auf.

Angereizt durch ihre unbezwingliche Neugierde über diesen Punkt, wagte Magdalene eine Frage an die Haushälterin. Sie bekannte, auf dem Gange im zweiten Stock von einem Ende zum andern gewandert zu sein, nur um zu sehen, ob er eben solang sei, als der im ersten Stock und erwähnte, mit Erstaunen die seltsame Stellung des Rollbettes bemerkt zu haben. Mrs Drake antwortete auf ihre versteckte Frage kurz und scharf.

—— Ich will es einem jungen Mädchen, wie Du, nicht zu hoch anrechnen, sprach die alte Dame, daß es ein wenig neugierig ist, wenn es zum ersten Male in ein seltsames Haus wie dieses ist, kommt. Aber merke Dir für die Zukunft, daß Deine Arbeit nicht indem Stockwerk mit den Kammern ist. Mr. Mazey schläft in dem Bette, das Du bemerkt hast. Es ist seine Gewohnheit in der Nacht, vor seines Herrn Thüre zu schlafen.

Nach dieser magern Erklärung schlossen sich Mrs. Drakes Lippen und thaten sich nicht wieder auf.

Später am Tage fand Magdalene eine Gelegenheit, sich an den alten Mazey selbst zu wenden. Sie fand den Alten bei sehr guter Laune, wie er seine Pfeife schmauchte und sich an seinem Feuer einen Zinnkrug mit Ale wärmte.

—— Mr. Mazey, frug sie kühnlich, warum stellt Ihr Euer Bett in jenen kalten Gang hinaus?

—— Was, Du bist oben gewesen, Du junger Gelbschnabel? sagte der alte Mazey und sah von seinem Krug mit einem Seitenblicke auf.

Magdalene lächelte und nickte.

—— Macht, hin, sagt es mir, sprach sie schmeichelnd, warum schlaft Ihr vor des Admirals Thür?

—— Warum scheitelst Du Dein Haar mitten über der Stirn, mein Kind, frug der alte Mazey, mit einem zweiten Seitenblick.

—— Nun ich denke, weil ich gewohnt bin, es zu thun, antwortete Magdalene.

—— So, so? sagte der Alte. Also darum, he? Gut, mein Kind, der Grund, warum Du Dein Haar in der Mitte scheitelst, ist der nämliche, warum ich vor des Admirals Thür schlafe.

—— Ich weiß schon, mit ihnen fertig zu werden! schmunzelte der alte Mazey, indem er wieder in sein Selbstgespräch verfiel und sein Ale mit großem Triumph rührte. Lang oder kurz, fremd oder einheimisch, Liebste oder Frau: ich weiß mit’s Frauenzimmer fertig zu werden!

Magdalenens dritter und letzter Versuch, das Geheimniß des Rollbettes zu lösen, wurde gemacht, als sie den Admiral bei Tische bediente. Die Fragen des alten Herrn gaben ihr Gelegenheit, ohne den geringsten Schein von Anmaßung oder Mißachtung auf den Gegenstand zurückzukommen. Allein derselbe erwies sich auf seine Art gerade so verschlossen, wie der alte Mazey und Mrs. Drake auf ihre Art gewesen waren.

—— Das geht Dich Nichts an, mein Kind, sagte der Admiral etwas derb. Sei nicht neugierig. Guck in Dein Altes Testament, wenn Du hinunter gehst und siehe, was in dem Paradiesgarten durch Neugierde angerichtet worden ist. —— Sei ein gutes Mädchen und mach es nicht, wie Deine Mutter Eva.

Als Magdalene spät am Abend am Ende des Ganges des zweiten Stockwerks vorbeikam, indem sie allein auf ihr Zimmerlein hinaufgehen wollte, blieb sie stehen und lauschte. Ein Schrank stand am Eingange des Corridors, um denselben den Blicken der auf der Treppe vorbeikommenden Personen zu verbergen. Das Schnarchen, das sie auf der andern Seite des Schrankes hörte, ermuthigte sie, um denselben herum zu schlüpfen und ein paar Schritte vorwärts zu schreiten. Indem sie das Licht ihres Leuchters mit der Hand verhüllte, wagte sie sich dicht an die Thür des Admirals heran und sah zu ihrem Erstaunen, daß das Bett, seit sie es am Tage gesehen hatte, so gerückt worden war, daß es quer vor der Thür stand und Jedwedem, der in des Admirals Zimmer eindringen wollte, den Weg versperrte. Nach dieser Entdeckung war der alte Mazey selbst, wie er wacker schnarchend dalag, die rothe Fischermütze tief in die Augen gedrückt und das Deckbett bis an die Nase herausgezogen, —— ein Gegenstand von im Vergleich mit seinem Bett geringerer Wichtigkeit für sie. Daß der Alte wirklich als Wache vor seines Herren Thür schlief und daß er und der Admiral und die Haushälterin in das Geheimniß dieser räthselhaften Maßregel eingeweiht waren, war nun außer allem Zweifel.

—— Ein seltsames Ende, dachte Magdalene, indem sie über ihre Entdeckung auf ihrem Wege nach ihrem Schlafgemach hinauf nachgrübelte. Ein seltsames Ende für einen seltsamen Tag!



Kapiteltrenner

Zweites Capitel.

Die erste Woche verging, es verging die zweite Woche, und Magdalene war allem Anscheine nach der Entdeckung des »geheimen Artikels« noch um keinen Schritt näher, als an dem Tage, wo sie ihren Dienst auf St. Crux antrat.

Aber diese vierzehn Tage, so leer an Ereignissen sie auch waren, waren doch nicht eine verlorene Zeit. Ihre Erfahrungen hatten sie bereits in einem wichtigen Punkte befriedigt, hatten ihr gezeigt, daß sie dem eingewurzelten Mißtrauen der anderen Dienstmädchen Trotz bieten konnte, die Zeit hatte die Frauenzimmer an ihre Gegenwart im Hause gewöhnt, ohne jedoch das dunkle Gefühl zu erschüttern, das eine Jede von ihnen hatte, daß nämlich der neue Ankömmling nicht ihres Gleichen sei. Alles, was Magdalene zu ihrem eigenen Schutze thun konnte, war, das in einem dunklen Gefühl sich aussprechende weibliche Mißtrauen gegen sie auf die lediglich ablehnende Art zu beschränken, in welcher sich dasselbe von Anfang an geäußert hatte; und dies setzte sie denn auch durch.

Einen Tag wie den andern belauerten sie die Frauenzimmer mit der unermüdlichen Wachsamkeit der Bosheit und des Mißtrauens, und einen Tag wie den andern wurden sie auch nicht durch die Spur einer Entdeckung für ihre Anstrengungen belohnt. Schweigsam, verständig und fleißig, immer eingedenk seiner selbst und seiner Stellung that das neue Stubenmädchen seine Arbeit. Ihre einzigen Ruhe und Erholungsstündchen waren die im Laufe des Tages bei dem alten Mazey und seinen Hunden verlebten Augenblicke und die kostbare Ruhe der Nacht, während der sie in der Stilleinsamkeit ihres Kämmerleins vor jeder Beobachtung sicher war. Dank dem Ueberflusse von Schlafzimmern auf St. Crux hatte jedes Dienstmädchen die Wahl, wenn es ihm gefiel, in einer eigenen Kammer zu schlafen. ——

In der Nacht allein auf ihrem Zimmer konnte Magdalene wagen, wieder sie selber zu sein, konnte von der Vergangenheit träumen und aus ihren Träumen erwachen, ohne neugierigen Augen zu begegnen, die hätten sehen können, daß sie in Thränen war, konnte über die Zukunft sinnen, ohne von einem Flüstern in Winkeln aufgeschreckt zu werden, das sie sofort mit dem Verdachte zeichnete, »sie führe Etwas im Schilde«

Soweit durch die vollkommene Sicherheit ihrer Stellung im Hause befriedigt, zog sie sodann noch einen zweiten Nutzen aus ihrer Lage, welcher ihrem Geiste allen Zweifel betreffs der Mrs. Lecount benahm.

Theilweise aus dem gelegentlichen Geplauder der Mägde bei Tische in der Gesindestube, theils aus einer angestrichenen Stelle in einer schweizerischen Zeitung, welche sie eines Morgens auf dem Lehnstuhle des Admirals aufgeschlagen gefunden hatte, erhielt sie die willkommene Gewißheit, daß diesmal keine Gefahr zu fürchten war von einem Erscheinen der Haushälterin auf der Scene. Lecount hatte, wie es sich herausstellte, nach dem Tage, wo ihr Herr starb, noch eine Woche oder drüber auf St. Crux gewohnt und dann England verlassen, um an ihrem Geburtsorte von den Zinsen ihres Vermächtnisses in ehrenvoller und behäbiger Zurückgezogenheit zu leben. Die Stelle in der schweizerischen Zeitung schilderte die Ausführung dieses löblichen Vorsatzes. Mrs. Lecount hatte sich nicht nur in Zürich zur Ruhe gesetzt, sondern —— wohlweislich der Ungewißheit des Lebens eingedenk bereits die wohlthätigen Zwecke festgestellt, zu welchen ihr Vermögen nach ihrem Tode angewendet werden sollte. Die eine, Hälfte desselben war zur Gründung eines »Lecount-Freitisches« für arme Studenten an der Universität Genf bestimmt, die andere Hälfte sollte vom Stadtrathe zu Zürich zum Unterhalt und zur Erziehung einer gewissen Anzahl von Waisenkindern weiblichen Geschlechts, gebürtig aus der Stadt, verwendet werden, welche in späteren Jahren zu Dienstmädchen angelernt werden sollten. Die schweizerischen Blätter erwähnten dieser menschenfreundlichen Stiftungen in Ausdrücken des ausbündigsten Lobes. Zürich wurde um den Besitz eines solchen Ausbundes von Gemeinsinn beglückwünscht, und Wilhelm Tell in seiner Eigenschaft als Befreier der Schweiz nicht eben zu seinem Vortheil mit Mrs. Lecount verglichen.

Die dritte Woche begann, und erst jetzt erhielt Magdalene Gelegenheit, ihren ersten weiteren Schritt zur Entdeckung des Geheimartikels zu thun.

Sie erfuhr vom alten Mazey, daß es seines Herrn Gewohnheit sei, in den Winter- und Frühjahrsmonaten die Zimmer im nördlichen Flügel zu bewohnen und während des Sommers und Herbstes die Nordpolfahrt durch »Satans Knochenkälter« zu bestehen und in den östlichen Gemächern, welche auf den Garten hinausgingen, zu wohnen. Wie nun einmal die Banquethalle wegen der unzureichenden Geldmittel des Admirals in ihrem feuchten und wüsten Zustande blieb und das Innere von St. Crux dergestalt unbequem in zwei getrennte Wohnungen getheilt war, so konnte füglich keine passendere Anordnung als diese getroffen werden. Dann und wann kamen —— wie Magdalene ebenfalls von ihrem Gewährsmanne herauslockte —— Tage im Winter und Sommer, wo der Admiral, um den Zustand der Gemächer, welche er zur Zeit unbewohnt ließ, besorgt wurde und wo er es sich nicht nehmen ließ, in eigener Person die Möbel, die Bilder und die Bücher zu untersuchen. Bei solchen Gelegenheiten wurde im Sommer wie im Winter ein paar Tage vorher in dem großen Kamin ein helles Feuer angezündet und wurden die Kohlen auf der Dreifußpfanne angesteckt, um die Banquethalle so warm zu machen, als die Umstände es zuließen. Sobald dann die Besorgnisse des alten Herrn wieder beruhigt waren, wurden die Zimmer wieder verschlossen, und »Satans Knochenkälter« war wieder auf Wochen und abermals Wochen hinaus der Feuchtigkeit, der Verödung und dem Verfalle preisgegeben. Der letzte dieser zeitweiligen Wanderzüge hatte erst wenige Tage vorher stattgefunden, der Admiral hatte sich vergewissert, daß die Zimmer im östlichen Flügel durch die Abwesenheit ihres Bewohners nicht schlechter geworden, und man konnte nun mit Bestimmtheit darauf rechnen, daß er in dem nördlichen Flügel auf Wochen, und vielleicht wenn die Jahreszeit streng war, auf Monate hinaus festsitzen werde.

So geringfügig diese Einzelheiten auch an sich sein mochten, so hatten sie doch für Magdalenen eine ernste Bedeutung; sie verhalfen ihr dazu, das Gebiet ihrer Nachforschungen schärfer zu begrenzen. Indem sie annahm, daß der Admiral wahrscheinlich alle seine wichtigen Urkunden bequem zur Hand zu haben wünschte, konnte sie sich überzeugt halten, daß der Geheimartikel in einem oder dem andern Zimmer des nördlichen Flügels aufbewahrt wurde.

Aber in welchem Zimmer? ——

Diese Frage war nicht leicht zu beantworten.

Von den vier— wohnbaren Zimmern, welche am Tage alle dem Admiral zur Verfügung standen, das heißt, das Speisezimmer, die Bibliothek, das Morgenzimmer und das Gastzimmer, das auf den Vorsaal hinausging, schien die Bibliothek dasjenige Gemach zu sein, in welchem er, wenn er ja einem den Vorzug gab, den größten Theil seiner Zeit zubrachte.

In diesem Zimmer war ein Tisch mit Schubkästen, die verschlossen waren; ferner waren da ein italienischer Schrank mit Thüren, die verschlossen waren, außerdem fünf Wandschränke unter den Bücherständern, von denen auch jeder verschlossen war. Es waren auch in den anderen Zimmern ähnlich verwahrte Verschlüsse, und in allen oder manchen von diesen konnten Papiere aufbewahrt sein.

Sie war wohl auf seinen Ruf erschienen und hatte ihn bald in dem einen, bald in dem andern Zimmer Schränke aufschließen und Schränke zuschließen sehen, am öftersten in der Bibliothek. Sie hatte gelegentlich bemerkt, wie sein Gesicht ärgerlich und ungeduldig war, wenn er sich von einem offenen Schranke oder Schubkasten nach ihr umsah und seine Befehle ertheilte, und schloß daraus, daß irgend Etwas in Beziehung auf diese seine Papiere und Besitzstücke —— mochte es nun der Geheimartikel sein oder nicht —— ihn von Zeit zu Zeit reizbar und Verdrießlich machte. Sie hatte ihn mehr als ein Mal Etwas in einem der Zimmer verschließen, dann herauskommen und in ein anderes gehen, daselbst einige Minuten bleiben, dann ins erste Zimmer mit den Schlüsseln in der Hand zurückkehren und hastig die Schlösser mustern und probieren hören. Diese krankhafte Aengstlichkeit betreffs seiner Schlüssel und Schränke konnte die Folge der angeborenen Unruhe seines Charakters, wie sie durch die zweck- und ziellose Muße eines Lebens ohne Amt und Beschäftigung, eines Lebens, das ohne eine regelmäßige Arbeit für irgend eine gewisse Stunde des Tages sich zwischen Kleinigkeiten hin- und hertrieb, bei einem von früh auf an Thätigkeit sehr gewohnten Manne nur noch verstärkt werden mußte, sein. Auf der andern Seite war es ebenso wahrscheinlich, daß dieses Kommen und Gehen, dies Auf- und Zuschließen dem Vorhandensein einer geheimen anvertrauten Sorge zuzuschreiben war, welche unerwarteter und ungebetener Weise in das Leben des alten Herrn, das bisher so frei dahin floß, eingetreten war, und welche ihn nun durch ein drückendes Gefühl quälte, das ihm in seinen späteren Lebensjahren ganz neu war. Die eine von diesen Erklärungen konnte für sein Benehmen einen gerade so guten Grund anführen, als die andere. Welches nun aber die richtigere Erklärung war, das war Magdalenen unmöglich, wie die Dinge jetzt standen, anzugeben.

Zu der einen gewissen Entdeckung, welche sie machte, gelangte sie durch die Beobachtung seines Treibens am ersten Tage. Der Admiral war ein peinlich sorgfältiger Mann in der Bewährung seiner Schlüssel.

Alle kleineren Schlüssel trug er an einem Ringe in der Brusttasche seines Rockes. Die größeren schloß er zusammen ein, meistens aber nicht regelmäßig in einen der Schubkästen des Tisches im Bibliothekzimmmer. Manchmal ließ er sie des Nachts auf diese Weise verwahrt, manchmal nahm er sie in einem kleinen Korbe mit sich hinauf in die Kammer. Er hatte keine regelmäßige Zeiten, um sie dort zu lassen oder mit fort zunehmen.

Er hatte. keinen erkennbaren Grund dafür, daß er dieselben bald in dem Tischkasten in der Bibliothek bewahrte, bald an einem andern Orte verschloß. Die ihm zur Gewohnheit gewordene Laune und der Eigensinn, die sich in seinen Handlungen aussprachen, machten in den gegebenen Fällen jede Bemühung zu Schanden, dieselben auf feste Regeln zurückzuführen, und spotteten aller Versuche, dieselben etwa gar vorausberechnen zu wollen.

Die Hoffnung, durch künstliche Schlingen, die ihm während seines Geplauders gelegt wurden, eine sichere Unterlage und einen gewissen Anhalt für weitere Maßregeln zu gewinnen, erwies sich von Anbeginn als eitel.

In der Stellung, in welcher sich Magdalene ihm gegenüber befand, würden alle Versuche dieser Art schon jedem Manne gegenüber im höchsten Grade mißlich und gefährlich gewesen sein. Dem Admiral gegenüber waren sie schlechterdings unmöglich. Sein Hang, von einem Gegenstand auf den andern überzuspringen, seine Gewohnheit, seine Zunge immerfort gehen zu lassen, so lange nur Jemand, gleichviel wer, im Bereiche seiner Stimme war, sein komischer Mangel an Würde und Zurückhaltung gegenüber seinen Dienstboten, waren auf den ersten Anblick vielversprechend, in der Wirklichkeit kam aber rein gar Nichts dabei heraus. Magdalene mochte so arglos, so ehrerbietig, als sie wollte, Miene machen, ihres Herrn Beispiel und seine offenbare Vorliebe für sie zu benutzen: der alte Herr bemerkte sofort ihr Herausgehen aus ihrer Stellung und wies sie auch sofort wieder dahin zurück; freilich in einer so gut gelaunten Art, daß man ihm darob nicht böse sein konnte; aber doch mit so unzweideutiger Festigkeit der Absicht, daß ein Ausweichen nicht möglich war. So widersinnig es auch klingen mag: der Admiral war zu vertraulich, als daß man ihm zu nahe kommen konnte; er hielt die zwischen ihm und feinen Dienstboten bestehende Kluft wirksamer inne, als wenn er der stolzeste Mann in England gewesen wäre. Die genau berechnete Zurückhaltung eines Obern gegenüber einem Untergebenen kann gelegentlich wohl einmal nachlassen, niemals aber die genau berechnete Vertraulichkeit.

Die Zeit rückte langsam vorwärts. Die vierte Woche kam heran, und Magdalene hatte noch keine neuen Entdeckungen gemacht. Die Aussicht war im höchsten Grade niederschlagend. Sogar in dem glücklichen Falle auf den sie sich jedoch allem Anscheine nach keine Rechnung machen durfte —— in dem Falle, daß sie ein Mittel entdeckte, in den Besitz von des Admirals Schlüsselbund zu gelangen, konnte sie nicht darauf rechnen, dieselben, ohne Verdacht zu erwecken, länger als wenige Stunden in ihren Händen zu behalten, Stunden noch obendrein, welche sie sich durchaus nicht ordentlich zu nutze machen konnte, da sie nicht wußte, wo sie ihre Nachforschungen beginnen sollte. Der Geheimartikel konnte in einem von den etlichen zwanzig Verschlüssen für Papiere, die in vier verschiedene Zimmer vertheilt waren, verwahrt sein. Und welches war das Zimmer, in das man mit der größten Wahrscheinlichkeit sehen, welcher Verschluß versprach das Meiste, mit dem man also beginnen konnte, welche Lage unter den Haufen Papieren konnte das eine Papier, das man so nöthig brauchte, füglich einnehmen? —— Sie war nicht im Stande sich diese Frage zu beantworten. Auf allen Seiten durch unberechenbare Ungewißheit gehemmt, —— verurtheilt zu dem Loose, blindlings umher zu tappen in der unmittelbaren Nähe des erwünschten Zieles und Gegenstandes, harrte sie auf den glücklichen Zufall, der niemals kam, auf das Ereigniß, das niemals eintrat, mit einer Geduld, welche bereits in die dumpfe Ergebung der Verzweiflung überzugehen drohte.

Nacht für Nacht blickte sie zurück auf die entschwundenen Tage; aber kein Ereigniß war ihr erinnerlich, das einen vor den andern ausgezeichnet hätte. Die einzigen Unterbrechungen in der trübseligen Einförmigkeit des Lebens auf St. Crux wurden durch die sehr bezeichnenden Vergehen des alten Mazey und der Hunde hervorgebracht.

In gewissen Zwischenräumen brach bei Brutus und Cassius die angeborene Wildheit ihrer Naturen wieder hervor. Die bescheidene Bequemlichkeit des Lebens im Hause, die würzigen Genüsse der Leckergerichte, das wohlige Verdauen auf den Decken vor dem Herde: Alles verlor seinen Reiz für sie, und die Köter verließen undankbar das Haus, um in der Außenwelt, auf Kurzweil und Abenteuer auszuziehen.

Bei diesen Gelegenheiten wurde die stehende Redensart nach Tische, das einsilbige Frage- und Antwortspiel zwischen dem alten Mazey und seinem Herrn, in einem Punkte ein wenig anders.

—— Gott erhalte die Königin, Mazey!

und

—— Wie geht der Wind, Mazey?

Diese bekannten Aussprüche erhielten einen Nachsatz:

—— Wo sind die Hunde, Mazey?

—— Hinaus ins Freie, Euer Gnaden, daß der Satan sie bei der Leine nähme! war des Veteranen nie fehlende Antwort.

Der Admiral seufzte dann alle Mal und schüttelte wohl auch ernst sein altes graues Haupt bei solcher Nachricht, als ob Brutus und Cassius schier seine Söhne gewesen wären, welche ihn lieblos behandelt hätten. Nach Verlauf von zwei bis drei Tagen kamen die Hunde stets zurück, abgetrieben, schmutzig und gründlich über sich zerknirscht Für den ganzen folgenden Tag wurden sie zur Strafe unweigerlich angebunden. Den dritten Tag wurden sie rein gescheuert und feierlich wieder in den Speisesaal und die menschliche Gesellschaft zugelassen. Dort erhielt die Zucht durch die zarte Vermittlung der Tunkschüssel wieder die Oberhand über sie, und die verlorenen Sohne des Admirals ließen, wenn sie die Deckel abheben sahen, wieder so reichlich Speichel fließen, wie je zuvor.

Der alte Mazey seinerseits erwies sich manchmal ebenso unrühmlich zu Ausschreitungen geneigt, als die Hunde. In Zwischenräumen brach auch bei ihm die ursprüngliche Wildheit seiner Natur aus, auch er verlor allen Geschmack für die bequeme Häuslichkeit und verließ undankbar das Haus. Er verschwand gewöhnlich Nachmittags und kehrte in der Nacht so betrunken heim, als Branntwein nur machen konnte. Er war nachgerade ein zu seetüchtiges Schiff geworden, als daß er bei diesen Gelegenheiten Schadennehmen konnte. Seine steif und morsch gewordenen alten Beine mochten manchmal wunderliche Kreuz- und Querfahrten machen, um vorwärts zu kommen; aber sie versagten ihm nie den Dienst; seine schlechten alten Augen sahen vielleicht Alles doppelt; aber sie ließen ihn doch den Heimweg finden.

Die Dienstmädchen konnten sich die größte Mühe geben, wie sie wollten: sie konnten ihm doch niemals einreden, daß er betrunken sei; er wies jedes mal die Anschuldigung mit Unwillen zurück. Er ließ den Gedanken nicht einmal sich selber insgeheim beikommen, ehe er nicht eine unfehlbare Probe seiner Erfindung an sich vorgenommen hatte.

Es war bei diesen Fällen starker Bacchushuldigungen seine Gewohnheit, eigensinnig auf seine Stube im Erdgeschoß zu humpeln, das Schiffsmodell von Kaminrücken zu nehmen und zu sehen, ob er mit der nie zu Stande gebrachten Arbeit des Aufsetzens des Takelwerks zu Rande käme. Wenn er die kleinen Rahe zerbrochen und die zarten Taue zerrissen hatte, dann —— aber nicht eher —— gab der Alte die Thatsachen, wie sie lagen, auf Grund des Augenbeweises zu.

—— Ei, ei! pflegte er vertraulich zu sich selber zu sagen. Die Frauenzimmer haben Recht, —— wieder betrunken, Mazey, —— wieder betrunken!

War er zu dieser Entdeckung gelangt, so war er so schlau, in den unteren Räumen des Hauses zu warten, bis der Admiral in seinem Schlafzimmer war, stieg dann in Pantoffeln, die kein Geräusch machten, hinauf auf seinen Posten. Zu vorsichtig, als daß er versucht hätte, in sein Rollbett zu steigen, wodurch er nur Gefahr gelaufen wäre, gegen seines Herrn Thür zu fallen, ging er immer bedächtig den Gang auf und nieder. Mehr denn einmal hatte Magdalene um den Schrank herumgeschaut und den alten Matrosen sehr unruhig seine Wache halten und sich noch einmal auf seinen Posten an Bord des Schiffes zurückversetzen sehen.

—— Das ist doch ein merkwürdig lebhaftes Fahrzeug auf der See, pflegte er halblaut zu Murmeln, wenn seine Beine ihn im Zickzack den Gang hinunter trugen oder ihn für einen Augenblick nach seiner eigenen Anweisung mit dem Rücken gegen die Wand die Compaßgegenden studieren ließen.

—— Eine dreckige Nacht, merke ich, pflegte er dann wohl weiter zu brummen, indem er sich abermals in Bewegung setzte So dunkel wie Deine Tasche, und der Wind kommt uns wieder aus demselben Loche entgegen...

Den nächsten Tag wurde der alte Mazey, wie die Hunde, zur Strafe unten gelassen. Den zweit folgenden Tag wurde er aber wie die Hunde wieder zu seinen Vorrechten gelassen, und die stehende Redensart nach Tische wurde aufs Neue verändert. Beim Eintritt ins Zimmer blieb der alte Seemann sogleich stehen und brachte in folgender kurzen, aber bündigen Redewendung mit dem Rücken gegen die Thür seine Entschuldigung vor.

—— Mit Verlaub, Euer Gnaden, ich schäme mich vor mir selber.

So begann die Entschuldigung, und so endigte sie zugleich.

—— Das darf nicht wieder vorkommen, Mazey, pflegte der Admiral zu antworten.

—— Soll nicht wieder vorkommen, Euer Gnaden.

—— Schon gut. Komm her und trink Dein Glas Wein. Gott erhalte die Königin, Mazey.

Der Alte goß seinen Portwein hinunter, und das Zwiegespräch endigte wie gewöhnlich.

So gingen die Tage hin, ohne daß Zwischenfälle von größerer Wichtigkeit als die eben geschilderten vorkamen, um das Einerlei zu unterbrechen, und schon war das Ende der vierten Woche nahe. Am letzten Tage kam Etwas vor. An diesem Tage begann das lang hinausgeschobene Versprechen der Zukunft endlich wider Erwarten in Erfüllung zu gehen. Während Magdalene im Speisezimmer wie gewöhnlich den Tisch deckte, sah Mrs. Drake herein und sagte ihr, heute den Tisch zum ersten Male für zwei Personen zu decken. Der Admiral hatte einen Brief von seinem Neffen erhalten. Auf den Abend bei guter Zeit wurde Mr. George Bartram auf St. Crux zurückerwartet.



Kapiteltrenner

Drittes Capitel.

Nachdem Magdalene das zweite Gedeck gelegt hatte, wartete sie mit Ungeduld und Spannung auf das Zeichen mit der Klingel.

Die Rückkehr Mr. Bartrams konnte aller Wahrscheinlichkeit nach in dem Leben des Hauses eine Veränderung hervorbringen, aber eine wieartige Veränderung? Gleichviel wie gering sie auch sei, konnte Etwas zu verhoffen sein. Der Neffe konnte vielleicht Einflüssen zugänglich sein, für welche der Oheim unempfindlich war. Auf jeden Fall würden die Beiden bei Tische von ihren Angelegenheiten sprechen, und durch dies Gespräch, das Tag für Tag in ihrer Gegenwart statt fand, konnte früher oder später der Weg zur Entdeckung, der jetzt schlechterdings in Dunkel gehüllt war, sich offenbaren.

Endlich ertönte die Klingel, die Thür ging auf, und die beiden Herren traten zusammen ins Zimmer.

Magdalene ward durch George Bartrams Aehnlichkeit mit ihrem Vater nach dem Bilde auf Combe-Raven, das Andreas Vanstone in seinen jüngeren Jahren darstellte, gerade so betroffen, wie ihre Schwester. Das helle Haar und die blühende Gesichtsfarbe, die glänzenden blauen Augen und die ritterliche schlanke Gestalt, die ihr auf dem Bilde wohlbekannt waren, wurden ihr ins Gedächtniß zurückgeführt, als der Neffe seinem Oheim durchs Zimmer folgte und seinen Platz bei Tische einnahm. Sie war auf diese plötzliche Erinnerung an die zerrissenen Familienbande nicht vorbereitet. Ihre Aufmerksamkeit schweifte ab, als sie jenen Eindruck zu verbergen suchte, und sie beging bei der Bedienung zum ersten Mal, seit sie ins Hans gekommen, ein Versehen.

Ein nicht unzarter Berweis des Admirals, halb im Scherz, halb im Ernst, gab ihr Zeit, sich zu fassen. Sie sah George Bartram noch einmal an. Der Eindruck, den er auf sie hervorbrachte, machte ihre Neugier Augenblicks rege. Sein Gesicht und Wesen sprachen deutlich Verlegenheit und Zerstreutheit aus. Er sah öfters auf seinen Teller, dann auf seinen Oheim, und Magdalenen sah er außer einer flüchtigen Musterung des neuen Zimmermädchens, als der Admiral mit ihr sprach, gar nicht an. Eine gewisse Ungewißheit machte ihn ersichtlich unaufmerksam, irgend ein Druck lag auf seinem sonst so offenen Wesen. Was war das für ein Druck? —— Sollten irgendwelche persönliche Mittheilungen nach und nach während des Tischgesprächs zu Tage kommen?

Nein. Ein Gang mit Gerichten folgte nach dem andern, aber Nichts von der Art einer persönlichen Mittheilung fand statt.

Die Unterhaltung schwankte in Unterbrechungen und und geringfügigen häuslichen Gesprächsstoffen auf der andern Seite hin und her. Innere und auswärtige Politik wechselten ab mit der kleinen Hausgeschichte von St. Crux. Die Häupter der Staatsumwälzung welche Philipp vom französischen Throne stieß, gingen in dem Tischgespräch friedlich selbander mit dem alten Mazey oder den Rüben. Der Nachtisch wurde hereingebracht, der alte Seemann trat ein, trank seinen Toast als guter Unterthan, machte seinen Diener ver »Junker George« und ging wieder hinaus. Magdalene folgte ihm nach den Gesindestuben, nachdem sie in dem Gespräch vom Anfang bis zum Ende Nichts gehört hatte, was für ihren Plan irgendwie fördersam gewesen wäre. Sie mußte sich gewaltsam zusammennehmen, um nicht gleich am ersten Tage Muth und Geduld zu verlieren. Sie konnten morgen nicht wieder, konnten doch wahrlich morgen nicht wieder anfangen von der französischen Revolution und den Hunden! Die Zeit konnte Wunder thun, und die Zeit gehörte ihr ganz und gar.

Als Onkel und Neffe bei ihrem Weine endlich allein waren, zogen sie ihre Lehnstühle an die beiden Ecken des Kamins, und nun begann in Magdalenens Abwesenheit gerade die Unterhaltung, auf die sie so gespannt gewesen war.

—— Rothwein, George? fragte der Admiral, indem er die Flasche über den Tisch hinüber schob. Du siehst niedergeschlagen aus.

—— Ich bin ein wenig in Angst und Sorge, Sir, versetzte George, indem er sein Glas leer ließ und geradeaus ins Feuer starrte.

—— Freut mich, Dies zu vernehmen, fuhr der Admiral fort. Ich bin mehr als bloß ein wenig in Angst und Sorge, das kannst Du mir aufs Wort glauben. Da stehen wir nun bei den letzten Tagen des März —— und es ist noch rein gar Nichts geschehen! Deine Frist läuft am dritten Mai ab, und Du sitzest nun da, als ob Du noch Jahre vor Dir hättest, um einzulenken.

George lächelte und schenkte sich gleichgültig etwas Wein ein.

—— Soll ich es denn wirklich und wahrhaftig glauben, Sir, frug er, daß es Dir Ernst ist mit dem, was Du mir im November sagtest? —— Bist Du in der That entschlossen, mich an eine unbegreifliche Bedingung zu binden?

—— Ich nenne sie nicht unbegreiflich, sagte der Admiral in gereiztem Tone.

— Wirklich nicht, Sir? —— Ich soll Dein Gut ohne Vorbehalt erben, wie Du es großmüthig von Anfang an festgestellt hast. Aber von dem Vermögen, das Dir der arme Noël hinterließ, soll ich keinen Heller bekommen, wenn ich nicht innerhalb einer gewissen Zeit verheirathet bin. Das Haus und die Ländereien sollen Dank Deiner Freundlichkeit unter allen Umständen mein Eigenthum werden. Aber das Geld, mit welchem ich erst Beides in einen bessern Stand setzen könnte, soll mir willkürlich vorenthalten werden, wenn ich nicht am dritten Tage des Mai Ehemann bin. Mein Wissen ist freilich schlimm genug eitel Stückwerk, kann ich wohl sagen; aber ein unbegreiflicheres Verfahren ist mir noch niemals zu Ohren gekommen!

Noël— Nur nicht gebrummt und gemurrt, George! Sag Deinen Spruch nur heraus. Wir verstehen keine Sticheleien, wir von Ihrer Majestät Flotte!

—— Ich denke nicht daran, Dich zu beleidigen, Sir. Aber ich glaube, es ist ein wenig hart, mich so durch einen Wechsel Deines Verfahrens, der mir an Deinem Charakter ganz neu und fremd ist, in Erstaunen zu setzen, um dann, wenn ich natürlich um eine Erklärung bitte, Dich kalt abzuwenden und mich im Dunkeln herum tappen zu lassen. Wenn Du und Vetter Noël zu einem geheimen Abkommen unter einander gelangt seid, ehe er seinen letzten Willen aufsetzte, warum sagst Du mir es da nicht? Warum da ein Geheimniß zwischen uns stellen, wo keines von nöthen ist?

—— Ich wills aber nicht haben, George, rief der Admiral mit dem Nußknacker ärgerlich auf dem Tische trommelnd. Du versuchst mich wie einen Dachs anzubohren, aber ich will nicht angebohrt sein. [Bei der Jagd auf Dachse wird das in seinem Bau aufgespürte Wild, wenn man mit Spaten und Hacke dessen »Bau« von oben herab aufgegraben und das Thier in seinem »Kessel« oder an einem andern Teile seiner unterirdischen Wohnung aufgefunden hat, und nur im Stande ist, dasselbe durch die Dächsel festhalten zu lassen, mittelst Ladestöcken oder besonderen Stäben, die am unteren Ende eingekerbt sind, beim Fell gefaßt, das Letztere angedreht oder angebohrt und das Thier so herausgezogen W.] Ich will jede Bedingung stellen, die mir beliebt, und will Niemandem darüber Rede stehen, bis es mir gefällt. Es ist gerade schlimm genug, Sorgen und Verantwortungen auf meinen unglücklichen Schultern tragen zu müssen, um die ich nie ein Glied gerührt habe —— es gebt Dich Nichts an, was das für Sorgen sind, sie sind meine, nicht Deine Sache —— ohne daß ich die Kreuz und Quer gefragt werde, als ob ich ein Zeuge vor den Schranken des Gerichts wäre!

—— Das ist ein hübscher Gesell! fuhr der Admiral fort, indem er seinen Neffen in der Rothglühhitze der Aufregung anredete aber sich dabei im Mangel eines bessern »Umstandes« an die Hunde auf der Kamindecke wandte —— das ist ein hübscher Bursche! Er wird ersucht, bei zwei ungewöhnlich netten Dingen zuzugreifen, einem Vermögen und einer Frau, er erhält sechs Monate Zeit, um sich die Frau zu nehmen —— auf Ihrer Majestät Flotte hätten wir eine in sechs Tagen mit Sack und Pack uns angeschafft —— er hat ein volles Dutzend allerliebster Mädchen, wie ich ganz gewiß weiß, in dem einen und in dem andern Theile des Landes, bei denen er mir anzuklopfen braucht: und was thut er? —— Da sitzt er Monate auf Monate mit übereinander geschlagenen Beinen müßig da, läßt die Mädchen schmachten und quält seinen Oheim um den Grund, das Warum? zu erfahren! Ich bedaure die armen unglücklichen Frauenzimmer. Die Männer sind aus Fleisch und Blut gemacht und noch obendrein viel Blut meiner Zeit. Jetzt sind es lauter Drahtpuppen.

—— Ich wiederhole nur, Sir, ich bedaure, Dich beleidigt zu haben, sagte George.

—— Ach was! Du brauchst mich nicht so kläglich anzusehen, wenn dies der Fall ist, gab der Admiral zurück.

Mach Dich über Deinen Wein, dann will ich Dir vergeben. —— Auf Dein Wohl, George! —— Freue mich recht, Dich wieder auf St. Crux zu sehen! —— Sieh mal den Teller mit Blättergebacknem an! Die Köchin hat ihn ’rauf geschickt zu Ehren Deiner Rückkehr. Wir können sie unmöglich vor den Kopf stoßen und können uns auch nicht den Geschmack am Wein verderben. —— Hier!

Der Admiral schob in rascher Folge vier Stück von dem Blättergebackenen in die weiten Rachen der Hunde.

—— Ich bedaure, George, fuhr der alte err mit düsterem Ernst fort, ich beklage wirklich, daß Du nicht auf eins dieser hübschen Mädchen Dein Auge geworfen hast. »Du weißt nicht, was für einen Verlust Du Dir dadurch zuziehst, weißt auch nicht, welche Sorge und Bekümmerniß Du mir selber verursachst, und Alles nur durch dies Dein recht kaltes, nicht warmes Verhalten in dieser Sache.

—— Wenn Du mir nur erlauben wolltest, mich auszusprechen, Sir, so würdest Du mein Benehmen in einem ganz andern Lichte schauen. Ich bin ja bereit, schon morgen zu heirathen, wenn —— ja nun —— die Dame mich haben will.

—— Alle Wetter! Also hast Du doch Deine Augen auf eine Dame geworfen? Warum um Gottes Willen konntest Du mir das nicht eher sagen? —— Nimm mir’s nicht übel, —— wahrlich, ich vergebe Dir Alles, was Du willst, jetzt wo ich weiß, daß Du Dich an ein Frauenzimmer herangemacht hast. —— Schenk Dir wieder ein. —— Hier ist ein volles Glas auf das Wohl Deiner Dame! —— Wer ist sie denn übrigens?

—— Ich will es Dir gleich sagen, Admiral. Als wir unser Gespräch begannen, erwähnte ich, daß ich ein wenig besorgt wäre....

—— Sie ist keine aus meinem vollen Dutzend hübscher Mädchen? Aha, Monsieur George, ich sehe es Dir schon an den Augen an! Warum bist Du besorgt, he?

—— Ich fürchte, Du wirst meine Wahl nicht billigen, Sir.

—— Schlag mir nicht auf den Busch! Wie zum Henker kann ich sagen, ob ich mißbillige oder nicht, wenn Du mir nicht sagst, wer sie ist?

—— Sie ist die älteste Tochter von Andreas Vanstone auf Combe-Raven.

—— Wer?!!

—— Miss Vanstone, Sir.

Der Admiral setzte sein Glas Wein unberührt wieder nieder.

—— Du hattest Recht, George, sagte er. Ich mißbillige Deine Wahl, mißbillige sie strengstens.

—— Ist es das Unglück ihrer Geburt, Sir, das Du an ihr auszusetzen hast?

—— Gott behüte! Das Unglück ihrer Geburt ist nicht ihr Fehler, das arme Kind. Du weißt so gut als ich; George, was ich daran auszusetzen habe.

—— Du hast an ihr auszusetzen, daß sie eine solche Schwester hat?

—— Ganz gewiß! Der freidenkendste Mann auf Gottes Erdboden müßte sich gegen ihre Schwester verwahren.

—— Es ist hart, Sir, Miss Vanstone für ihrer Schwester Fehler büßen zu lassen.

—— Fehler nennst Du es? —— Du hast ein sehr verläßliches Gedächtnis George, wo es sich um Deine Interessen handelt!

—— Nenne es Vergehen, wenn Du willst, Sir, —— ich sage noch einmal, es ist hart für Miss Vanstone. Miss Vanstones Leben ist rein und makellos Von Anfang bis Ende hat sie ihr Loos mit solcher Geduld, solcher Sanftmuth, solchem Muth ertragen, wie unter Tausenden an ihrer Stelle nicht an den Tag gelegt hätten. Frage nur Miss Garth, die sie von Kindheit auf gekannt hat. Frage Mrs. Tyrrel, die den Tag segnet, wo sie in ihr Haus gekommen.

—— Frage Du doch Gott und alle Welt! —— Nimm es mir nicht übel, George; aber Du machst es auch darnach, um die Geduld eines Heiligen auf die Probe zu stellen. Mein guter Junge, ich stelle Miss Vanstones Tugenden gar nicht in Abrede. Will ja, wenn Du willst, zugeben, daß sie das beste Weib ist, das je eine Haube getragen hat. Darum handelt es sich ja nicht...

—— Erlaube, Admiral, darum handelt es sich erst recht wenn sie nicht meine Frau soll werden.

—— Höre mich zu Ende, George, sieh es nur von meinem Gesichtspunkte an, wie Du es bisher von dem Deinigen gethan hast. —— Was hat Dein Vetter Noël gethan? —— Dein Vetter Noël, der arme Kerl, fiel einem der erbärmlichsten Anschläge zum Opfer, von dem ich je gehört habe, und der Hauptanstifter dieses Anschlages war Miss Vanstones unselige Schwester. Dieselbe hat ihn auf die schändlichste Weise betrogen, und sobald sie sein Testament mit ihrem hübschen Vermächtniß in der Tasche hatte, hielt sie bereits das Gift in Bereitschaft, um ihm nach dem Leben zu trachten. Das ist die Wahrheit, wir wissen es von Mrs. Lecount, welche das Fläschchen auf deren Zimmer eingeschlossen gefunden hat. Wenn Du nun Miss Vanstone heirathest, so machst Du dieses elende Weib zu Deiner Schwägerin. Sie wird ein Mitglied unserer Familie. All das Unheil, das sie angerichtet hat, all das Unheil, das sie vielleicht noch anrichten wird, —— der Teufel, von dem sie besessen zu sein scheint, mag wissen, wie weit sie es noch treiben wird —— wird unser Unheil. Guter Gott, George, denke, was das für eine Lage ist! Bedenke, was für Pech Du anrührst, wenn Du dieses Weib zu Deiner Schwägerin machst!

—— Du hast nun Deine Ansicht von der Frage abgegeben, Admiral, fiel George rasch und entschlossen ein; laß mich nun auch die meinige abgeben. —— Ein gewisser Eindruck ist auf mich von einem jungen Fräulein gemacht worden, mit welchem ich unter sehr interessanten Nebenumständen zusammengekommen. Ich handle nicht jählings auf diesen Eindruck hin, wie ich gethan haben würde, wenn ich ein paar Jahr jünger gewesen wäre ——, sondern warte ab und stelle ihn erst aus die Probe. Jedes mal, wenn ich dies junge Fräulein sehe, wird der Eindruck stärker: ihre Schönheit wächst, ihr Charakter verklärt sich in meinen Augen. Wenn ich fern von ihr bin, fühle ich mich unruhig und unglücklich. Wenn ich bei ihr bin, werde ich der glücklichste Mann auf Erden. Alles, was ich von Denen, welche sie am Besten kennen, höre, bestätigt nur noch mehr die hohe Meinung, welche ich mir von ihr gebildet habe. Der einzige Nachtheil, den ich entdecke, ist durch ein Unglück verursacht worden, für das sie nicht kann, das Unglück, eine Schwester zu haben, die ihrer äußerst unwürdig ist. Macht denn diese Entdeckung —— eine höchst unangenehme Entdeckung, ich gebe es zu —— macht sie denn all die guten Eigenschaften in Miss Vanstone zu Nichte, um derentwillen ich sie liebe und anbete? ——— Nichts von der Art, es macht nur jene guten Eigenschaften in meinen Augen durch den Gegensatz noch um so werthvoller. Wenn ich mit einer Schattenseite zu kämpfen haben soll —— und wer erwartet etwas Anderes auf dieser Welt? —— so will ich tausend Mal lieber die Schattenseite bei meiner Gattin Schwester haben, denn an ihr selbst. Meiner Gattin Schwester ist für mein Glück nicht wesentlich, wohl aber ist es meine Frau! Nach meiner Meinung, Sir, hat Mrs. Noël Vanstone bereits gerade genug Unglück angerichtet. Ich sehe daher die Nothwendigkeit nicht ein, sie noch mehr Unglück anrichten zu lassen, dadurch, daß man mich ihrethalben um eine gute Ehefrau bringen will. Ob ich nun Recht habe oder Unrecht: Dies ist mein Gesichtspunkt. Ich wünsche Dich nicht mit Fragen, welche Gefühlssache sind, zu behelligen Alles, was ich Dir zu sagen wünsche, ist, daß ich jetzo alt genug bin, um zu wissen, was ich will —— und daß mein Wille feststeht. Wenn meine Verheirathung wesentlich ist für die Ausführung Deiner Pläne über meine Zukunft, so gibt es nur ein Weib auf Gottes Welt, das ich heirathen kann ——, und dies Weib ist Miss Vanstone.

Diesen klaren Worten gegenüber ließ sich Nichts einwenden. Admiral Bartram stand, ohne ein Wort zu sagen, von seinem Stuhle auf und schritt in ersichtlicher Bewegtheit im Zimmer aus und ab.

Die Lage war eine ausbündig ernste. Mrs. Girdlestone’s Tod hatte bereits einen von den beiden in dem Geheimartikel vorgesehenen Plänen zu Nichte gemacht. Wenn der dritte Mai kam und George unverheirathet traf, so würde auch der zweite und letzte Plan seinerseits scheitern. In weniger denn vierzehn Tagen mußten die Aufgebote in der Kirche zu Ossory erfolgen, sonst würde die Zeit nicht mehr langen, um einer in dem Geheimartikel erstellten Bedingung gerecht zu werden. So hartnäckig der Admiral von Haus ans war, so lebhaft er auch die Einwendungen fühlte, die sich gegen die beabsichtigte Verbindung seines Neffen geltend machen ließen ——: er mußte, wie er so das Zimmer mit seinen Schritten maß, doch wider seinen Willen zurückweichen und auf der andern Seite die Thatsachen unwandelbar sich ins Angesicht starren sehen.

—— Bist Du schon mit Miss Vanstone versprochen? frug er plötzlich.

—— Nein, Sir, versetzte George sich dachte, es sei gegenüber Deiner fortwährenden Freundlichkeit gegen mich meine Schuldigkeit, zuvor erst mit Dir darüber zu sprechen.

—— Sehr verbunden, natürlich. Und Du hast es bis auf den letzten Augenblick verschoben, wie Du alles Andere verschobst, —— mit mir zu reden. Denkst Du, Miss Vanstone wird Ja sagen, wenn Du sie fragst?

George zögerte.

—— Der Teufel hole Deine Bescheidenheit! polterte der Admiral. Jetzt ist doch wahrlich nicht Zeit dazu, bescheiden zu sein. Jetzt ist es Zeit, sich auszusprechen. Will sie Dich, oder will sie Dich nicht?

—— Ich meine, sie will mich, Sir.

—— Der Admiral lachte sardonisch und machte wieder einen Gang durch das Zimmer. Plötzlich blieb er stehen, steckte seine Hände in die Tasche und stand in einer Ecke tief in Gedanken versunken da. Nach Verlauf von wenigen Minuten klärte sich sein Gesicht ein wenig auf, ein neuer Gedanke dämmerte in ihm auf und machte sein Angesicht strahlen. Er ging jählings zu George hin und legte seinem Neffen freundlich die Hand auf die Schulter.

—— Du thust Unrecht, George, sagte er, aber es ist zu spät, Dich zurecht zu weisen. Am Sechszehnten des nächsten Monats müssen die Aufgebote in der Kirche zu Ossory erfolgen, sonst verlierst Du das Geld. Hast Du Miss Vanstone die Lage erzählt, in der Du Dich befindest? Oder hast Du das auch bis auf die elfte Stunde verschoben, wie alles Andere?

—— Die Lage ist so außerordentlich, Sir, und es konnte leicht zu vielen Mißverständnissen über meine Beweggründe führen, daß ich mich nicht entschließen konnte, darauf anzuspielen. Ich weiß kaum, ob ich es ihr überhaupt sagen kann.

—— Versuchs einmal damit, daß Du es ihren Freunden sagst. Laß es diese Leute wissen, daß es sich um Geld und Gut handelt, und dieselben werden schon, wenn Du es auch nicht kannst, deren Bedenken überwinden. —— Aber das ist es nicht, was ich Dir zu sagen hatte. Wie lange denkst Du diesmal hier zu bleiben?

— Ich dachte ein paar Tagen hier zu bleiben und dann...

— Und dann nach London zu gehen, um Deinen Antrag zu machen, nicht wahr? Wird eine Woche Dir denn Zeit genug geben, um Deine Gelegenheit bei Miss Vanstone zu ersehen, eine Woche von den vierzehn Tagen oder der Frist, die Du nur noch vor Dir hast?

—— Ich will eine Woche hier bleiben, Admiral, mit Vergnügen, wenn Du es wünschest.

—— Ich wünsche es nicht. Ich will, daß Du Dein Gepäck schnürst und morgen gehst.

George sah seinen Oheim in stummem Erstaunen an.

—— Du fandest einige Briefe vor, die für Dich bereit lagen, als Du hierher kamst, fuhr der Admiral fort. War einer von jenen Briefen etwa von meinem alten Freunde, Sir Franklin Brock?

— Ja, Sir.

—— War es eine Einladung für Dich, daß Du kommen und einen Besuch auf dem »Meierhof« machen möchtest?

—— Ja, Sir.

—— Sollst Du gleich abreisen?

—— Sogleich, wenn ich es möglich machen könnte.

—— Sehr gut, Ich will, daß Du es möglich machst. Ich will, daß Du Dich morgen nach dem »Meierhofe« aufmachst.

George sah nach dem Feuer zurück und seufzte ungeduldig.

—— Ich verstehe Dich jetzt, Admiral, sprach er. Du mißverstehst mich ganz und gar. Meine Neigung für Miss Vanstone wird auf diese Art und Weise nun und nimmermehr erschüttert.

Admiral Bartrain nahm seinen Quarterdeck-Gang wieder auf und schritt abermals das Zimmer auf und ab.

—— Ein gutes Wort verdient ein anderes, George, sagte der alte Herr. Wenn ich mich bereit finde, meinerseits Zugeständnisse zu machen, so ist das Mindeste, was Du thun kannst, mir auf halbem Wege entgegen zu kommen und Deinerseits Zugeständnisse zu machen.

—— Dessen will ich mich auch nicht weigern, Sir.

—— Sehr gut. Nun höre meinen Vorschlag. Schenk mir ein aufmerksames Ohr, George, ein aufmerksames Ohr kann jedermann mit Fug und Recht beanspruchen. Ich will vor allen Dingen gerecht sein. Ich will mir nicht die Mühe nehmen, in Abrede zu stellen, daß Du im Ernste glaubst, Miss Vanstone sei auf Gottes Welt das einzige Weib, das Dich glücklich machen könnte. Ich frage gar nicht darnach. Wonach ich frage, ist aber, ob Du wirklich Dein Herz in dieser Angelegenheit so gut kennst, als Du wohl denken magst. Du kannst nun ’mal nicht leugnen, George, daß Du Dein Leben lang in eine hübsche Anzahl Frauenzimmer verliebt gewesen bist? Unter Anderen warst Du auch einmal in Miss Brock verliebt. Vor nicht länger denn heuer vor einem Jahre war zwischen Dir und der jungen Dame gelind gesagt eine ausbündig »dicke« Freundschaft. Und auch ganz mit Recht! Miss Brock ist eine aus dem ganzen Dutzend hübscher Kinder, das ich bei dem ersten Glase Wein, das wir tranken, erwähnte.

—— Du verwechselst jetzt ein leichtes Hof machen mit einer ernsten Neigung, Sir, sagte George. Du bist durchaus im Irrthume, gewiß und wahrhaftig, Du irrst Dich!

—— Das ist wahrscheinlich genug; ich mache nicht den Anspruch darauf, unfehlbar zu sein; das überlasse ich jüngeren Leuten, als ich bin. Aber zufällig habe ich Dich, George, von der Zeit an gekannt, wo Du nicht größer warst, als mein altes Fernrohr, und ich will diese Deine »ernste Neigung« auf die Probe stellen. Wenn Du mich überzeugen kannst, daß Dein ganzes Denken und Sinnen auf Miss Vanstone gerichtet ist, wie Du Dir denkst —— so muß ich mich der Nothwendigkeit fügen und meine Einwendungen für mich behalten. Allein erst muß ich diese Ueberzeugung haben. Gehe also morgen nach dem »Meierhofe« und bleib eine Woche in Miss Brocks Gesellschaft. Gib dem reizenden Mägdelein eine hübsche Gelegenheit, die alte Flamme, wenn sie es überhaupt vermag, wieder anzuzünden und komm dann nach St. Crux zurück und laß mich das Ergebniß wissen. Sagst Du mir dann als Mann von Ehre, daß Deine Neigung für Miss Vanstone unerschütterlich dieselbe geblieben ist, so wirst Du mich von dem Augenblick an das letzte Mal Einwendungen machen gehört haben. Was ich auch innerlich dawider haben werde, ich will Dir Nichts weiter sagen, Nichts thun, was Deinen Wünschen zuwider wäre. —— Das ist mein Vorschlag. Vielleicht sieht er in Deinen Augen aus wie eines alten Mannes kindische Laune. Aber der alte Mann will Dich nicht länger quälen, George, und es wird vielleicht eine angenehme Erinnerung für Dich sein, wenn Du dereinst selber Kinder hast, —— daran zu denken, wie Du einst ihm in seinen alten Tagen entgegengekommen bist.

Er kam wieder an das Kamin zurück, als er diese Worte gesprochen hatte, und legte abermals seinem Neffen die Hand auf die Schulter. George ergriff die Hand und drückte sie leidenschaftlich. Im zärtlichsten und besten Sinne des Wortes war sein Oheim wie ein Vater gegen ihn gewesen. ——

—— Ich will thun, was Du von mir verlangst, Sir, antwortete er, wenn Du es ernstlich wünschest. Aber es ist nur meine Schuldigkeit Dir zu sagen, daß die Probe sich ganz unnütz erweisen wird. Wenn Du es jedoch lieber siehst, daß ich die acht Tage auf dem »Hofe« zubringe, als daß ich hier bin, so will ich auf den Hof gehen.

—— Ich danke Dir, George, sagte der Admiral derb. Ich erwartete dies von Dir, und Du hast mich in meinen Erwartungen nicht betrogen.

—— Wenn Miss Brock uns aus dieser Tinte nicht heraushilft, dachte der schlaue alte Herr, als er wieder seinen Platz bei Tische einnahm, so ist meines Neffen Wetterwendischer Kopf urplötzlich beständig geworden!

—— Wir wollen die Sache für heute Abend als abgemacht ansehen, George, fuhr er laut fort, und von etwas Anderem reden. Diese Familiensorgen machen die Blume meines alten Rothweins nicht besser. Die Flasche steht bei Dir. —— Was machen die Theater in London? Wir haben zu meiner Zeit in der Marine die Theater immer gepflegt. Wir pflegten zugleich auf ein gutes Trauerspiel zu halten und, wenn das Stück aus war, auf einen Dudelsack, um uns wieder aufzuheitern. ...

Und so floß die Unterhaltung für die noch übrigen Stunden des Abends in dem gewöhnlichen Geleise hin, Admiral Bartram kam auf den verbotenen Gesprächsstoff erst wieder zurück, als er und sein Neffe sich gute Nacht wünschten.

—— Du vergißt es doch nicht morgen, George?

—— Gewiß nicht, Sir. Ich will den leichten Wagen nehmen und nach dem Frühstück selber hinüber fahren.

Den Tag darauf vor Mittag hatte Mr. George Bartram das Haus verlassen, und die letzte Aussicht zu Gunsten Magdalenens hatte es mit ihm verlassen.



Kapiteltrenner

Viertes Capitel.

Als die Glocke die Dienerschaft auf St. Crux an dem Tage, wo George Bartram wegfuhr, wie gewöhnlich zum Essen rief, wurde bemerkt, daß der Platz des neuen Stubenmädchens bei Tische leer blieb. Eine von den Untermägden wurde nach ihrem Zimmer geschickt, um nach ihr zu sehen, und kehrte mit der Nachricht zurück, daß »Louise« sich ein: wenig unwohl fühle und sich deshalb für heute bei Tische entschuldigen lasse. Hierüber wurde die höhere Entscheidung der Haushälterin eingeholt, und Mrs. Drake ging sofort hinauf, um sich in eigener Person von der Wahrheit jener Aussage zu überzeugen. Ihr erster forschender Blick belehrte sie, daß das Leiden des Stubenmädchens, was auch die Ursache desselben sein möchte, gewiß nicht ein vorgeschütztes sei, um einer nichtigen oder aus bloßem Eigensinn herrührenden Laune Vorschub zu leisten. Sie weigerte sich in bescheidenen Ausdrücken, eins von den Mitteln zu nehmen, welche die Haushälterin ihr Vorschlag, und bat lediglich um die Erlaubniß, die Wirksamkeit eines Ganges in der frischen Luft erproben zu dürfen.

—— Ich bin an mehr Thätigkeit gewöhnt gewesen, Madame, als ich hier habe, sprach sie. Kann ich in den Garten gehen und zusehen, wie die Luft mir bekommen wird?

—— Gewiß Kannst Du allein gehen oder soll ich Jemanden mitschicken?

—— Ich will allein gehen, wenn Sie erlauben, Madame.

—— Sehr gut. Nimm Deinen Hut und Deinen Shawl und halte Dich, wenn Du hinaus kommst auf der Ostseite des Gartens. Der Admiral geht manchmal auf der Nordseite desselben spazieren und könnte sich wundern, Dich dort zu sehen. Komm auf mein Zimmer, wenn Du Luft und Bewegung genug gehabt hast, und laß mich sehen, wie es Dir geht.

Wenige Minuten später war Magdalene im östlichen Theile des Gartens. Die Luft war klar und sonnig; aber der kalte Schatten des Hauses lag auf dem Gartenwege und machte die Mittagsluft kühl. Sie schritt auf die Ruinen des alten Klosters zu, welche auf der Südseite des neuen Anbaues der Besitzung lagen. Hier waren einsame offene Zwischenräume, um frei aufzuathmen hier stahl sich die bleiche Märzensonne durch die öden und wüsten Lücken des Gemäuers und berührte sie traulich und hold wie ein Versprechen, daß es bald Frühling werde.

Sie stieg drei oder vier geborstene steinerne Stufen hinan und setzte sich auf einige Trümmer dabei mitten in die Sonne. Die Stelle, welche sie gewählt hatte, war einst der Eingang zur Kirche gewesen. In Jahrhunderten, die längst entschwunden waren, war der Strom menschlicher Leiden Tag für Tag über den Platz, weg, wo sie jetzt saß, nach dem Beichtstuhl gewallt. —— Unter all den armen Frauen, welche diese alten Steine in der vergangenen Zeit betreten hatten, war kein ärmeres Wesen, als dasjenige, dessen Füße jetzt auf ihnen ruhten. —— Die Hände zitterten, als sie dieselben neben sich legte, um sich auf dem Steinsitze zu erhalten. Sie legte sie in den Schooß, auch da zitterten sie noch. Sie hielt sie gerade vor sich hin und schaute sie verwundert an: auch jetzt zitterten sie.

—— Wie eine alte Frau! sagte sie mit schwacher Stimme und ließ sie wieder neben sich sinken.

Zum ersten Mal war diesen Morgen die grausame Entdeckung über sie gekommen, die Entdeckung, daß ihr die Kräfte versagten zu einer Zeit, wo sie dieselben am nöthigsten brauchte! Sie hatte die Ueberraschung von Mr. Bartrams unerwarteter Abreise mit einer solchen Erschütterung an sich gefühlt, als wäre ihr das ärgste Unglück widerfahren. Dieser einzige Strich durch ihre Hoffnungen, der zu anderen Zeiten nur dazu gedient haben würde, die, Widerstandskraft in ihr aufs Neue anzuspannen, hatte sie mit einem so lähmenden Entsetzen betroffen, hatte sie mit einer solchen panischen Verzweiflung darnieder gestreckt, als ob sie bereits von Dem, was ihrem Unglück die Krone aufsetzen würde, die Verbannung von St. Crux, ereilt worden wäre. Aus einem solchen Wechselfalle wie dieser konnte sie nur eine Lehre ziehen. In die geringe Spanne Zeit von wenig mehr als einem einzigen Jahr hatte sie die Leiden und Schmerzen eines ganzen Lebens zusammengedrängt. Die gottgesegneten Geschenke der Gesundheit und Kraft, welche ihr von der Natur mit verschwenderischer Hand verliehen waren, verloren ihren Zauber, nachdem sie dieselben lange ungestraft mißbraucht hatte.

Sie schaute auf zu dem fernen matten Blau des Himmelsgewölbes. Sie vernahm das fröhliche Zwitschern der Vögel in dem Epheu, welcher die Ruinen umschlang. Ach, über die kalte Ferne der Himmelskörper! Ach, über die grausame Lust der Vögel! Ach, über den einsamen Jammer, hier zu sitzen und sich alt und schwach und aufgerieben zu fühlen in der schönsten Zeit der Jugend!

Sie stand auf mit einer letzten entschlossenen Anstrengung und versuchte, die hysterischen Leiden, welche ihr Herz bedrängten, nieder zu kämpfen, indem sie eine Bewegung machte und die Gegenstände ringsum betrachtete. Rasch und immer rascher ging sie in dem Sonnenscheine auf und ab. Die Bewegung that ihr wohl wegen der Erschöpfung, die sie darnach fühlte. Sie hielt die ihr in die Augen tretenden Thränen gewaltsam und verzweifelt zurück, sie rang mit dem Schmerz, der sich an ihre Sohlen geheftet hatte, und riß sich los von ihm. Allmählich begann sich ihr Geist wieder zu lichten. Die verzweifelte Furcht vor sich selbst stand ihr weniger lebhaft vor der Seele. Noch hatten ihre Jugend und ihre Kraft Etwas zuzusetzen, es war noch Spannkraft übrig, noch ungebrochen wenn auch schon schwer verletzt.

Sie dehnte allmählich die Grenzen ihres Ganges aus, erlangte allmählich den Gebrauch ihrer Sinne wieder und sah, was um sie vorging.

Am westlichen Ende waren die Ueberbleibsel des Klosters in einem weniger beschädigten Zustande, als am östlichen. An gewissen Stellen, wo die stattlichen alten Wände noch standen, waren in einer frühem Zeit Ausbesserungen vorgenommen worden. Dächer von rothen Ziegeln waren über die alten Zellen hinweggelegt worden, hölzerne Thüren waren eingehängt, und die alten Klosterräume waren dazu nutzbar gemacht worden, als Rumpelkammern für St. Crux zu dienen. Kein Schloß verwahrte eine von den Thüren. Magdalene hatte dieselben nur aufzustoßen, um das Tageslicht in das unordentliche Innere zu werfen. Sie beschloß, die Schuppen einen nach dem andern zu durchsuchen, nicht aus Neugierde, nicht in der Meinung, irgendwelche Entdeckungen zu machen: ihr einziger Zweck war, die leere Zeit auszufüllen und die Gedanken zurückzuhalten, damit sie ihr nicht wieder in den Sinn kämen und sie schwach machten.

Der erste Schuppen, den sie öffnete, enthielt die Gartengeräthe, groß und klein. Der zweite war mit Stücken zerbrochener Möbel, leerer Bilderrahmen von wurmstichigem Holze, zerbrochenen Krügen, Koffern ohne Deckel und Büchern, die aus ihren Schalen gerissen waren, angefüllt. Als sich Magdalene wandte, um den Schuppen zu verlassen, und vorher bloß einen flüchtigen Blick auf das darin enthaltene Gerümpel geworfen hatte, stieß ihr Fuß an Etwas aus dem Boden, welches gegen ein Stückchen Porcellan, das dabei lag, anklirrte Sie blieb stehen und bemerkte, daß der klirrende Gegenstand ein verrosteter Schlüssel war.

Sie nahm den Schlüssel in die Höhe und sah ihn an. Sie ging an die Luft und betrachtete ihn ein Weilchen. Es lagen in den Schuppen wahrscheinlich noch mehr solcher alter vergessener Schlüssel unter dem Gerümpel umher. Wie, wenn sie alle, die sie finden konnte, aufläse und sie einen nach dem andern an den Schlössern der Schränke und Schubkästen versuchte, die ihr jetzt verschlossen waren? War Aussicht genug, daß einer von ihnen passen könnte, um ihr bei dem Versuche sich als nützlich zu erweisen? Wenn die Schlösser aus St. Crux so altmodisch als die Möbel selber, wenn keine schlauen Sicherheitsmaßregeln neuester Erfindung zu bekämpfen waren, so war ohne alle Frage Aussicht genug. Wer konnte sagen, ob gerade der Schlüssel da in ihrer Hand nicht die verlorene Gegenpart von einem der Schlüssel an dem Bunde des Admirals war? Bei dem Mangel an allen anderen Mitteln, um zu ihrem Zwecke zu gelangen, war das Wagniß wohl werth, versucht zu werden. Ein Strahl des alten Geistes flammte in ihren müden Augen auf, als sie sich wandte und wieder in den Schuppen trat.

In einer halben Stunde war sie mit der Zeit zu Ende, welche sie sich in der Luft zuzubringen gestatten konnte. In dieser Zeit hatte sie die Schuppen vom ersten bis zum letzten durchsucht und noch fünf Schlüssel gefunden.

—— Fünf Aussichten mehr! dachte sie bei sich, als sie die Schlüssel an sich nahm und hastig nach dem Hause zurückkehrte.

Nachdem sie sich erst auf der Stube der Haushälterin angesagt, ging sie hinauf, um Hut und Shawl abzulegen und zugleich die Gelegenheit zu benutzen, die Schlüssel in ihrer Kammer zu verbergen, bis es Nacht wäre. Sie waren dick mit Rost und Schmutz überzogen, allein sie getraute sich nicht, dieselben zu reinigen, bis die Schlafenszeit sie in der Stille ihres Kämmerleins vor den Späheraugen der Dienstmädchen sicherte.

Als die Essenszeit sie wie gewöhnlich mit dem Admiral in unmittelbare Nähe brachte, war sie sofort über eine Umwandlung an ihm betroffen. Zum ersten Male, so lange sie ihn kannte, war der alte Herr schweigsam und niedergeschlagen. Er aß weniger als gewöhnlich und sprach kaum fünf Worte mit ihr von Anfang des Essens bis zuletzt. Irgend ein unwillkommner Gegenstand zum Nachsinnen hatte sich ersichtlich in seiner Seele festgesetzt und blieb dort sitzen, trotz der Anstrengungen, ihn abzuschütteln. In verschiedenen Zeiten während des Abends war sie mit immer größerer Spannung verlänglich, was wohl dieser Gegenstand sein könnte.

Endlich erreichten die langsam sich dahin schleppenden Stunden ihr Ende, und die Schlafenszeit kam heran. Ehe Magdalene in dieser Nacht schlafen ging, hatte sie die Schlüssel von allen Unreinigkeiten befreit und die Bärte geölt, um sie leicht in die Schlösser gehen zu lassen. Die letzte Schwierigkeit, die noch blieb, war, die Zeit zu wählen, wann der Versuch mit der geringsten Gefahr, unterbrochen und entdeckt zu werden, gemacht werden könnte. Nachdem sie in der Nacht die Frage sorgfältig überlegt hatte, konnte sie sich nur entschließen zu warten und sich von den Ereignissen des nächsten Tages bestimmen zu lassen. Der Morgen kam, und zum ersten Male rechtfertigten die Ereignisse auf St. Crux das Vertrauen, das sie ans dasselbe gesetzt hatte. Der Morgen kam, und die einzige übrigbleibende Schwierigkeit, die sie in Verlegenheit brachte, wurde unerwarteter Weise durch keine geringere Person, als den Admiral selbst hinweggeräumt. Zu männiglich Erstaunen im Hause zeigte er beim Frühstück an, daß er in einer Stunde nach London abzureisen sich bereitet habe, daß er die Nacht in der »Stadt« zubringen werde und daß man ihn erst am nächsten Tage zur Essenszeit auf St. Crux zurückerwarten könne. Er ließ sich weder gegenüber der Haushälterin, noch gegen sonst Jemand auf weitere Erklärungen darüber ein. Allein es lag auf der Hand, daß sein Geschäft in London für ihn von keiner geringen Wichtigkeit war. Er verzehrte sein Frühstück in jäher Eile und stand ungeduldig zum Einsteigen bereit, noch ehe der Wagen vorfuhr.

Erfahrung hatte Magdalenen gelehrt, vorsichtig zu sein. Sie wartete ein wenig nach Admiral Bartrams Abreise, ehe sie ihren Versuch mit den Schlüsseln machte. Es war gut, daß sie Dies that. Mrs. Drake machte sich des Admirals Abwesenheit zunutze, um den Zustand der Zimmer des ersten Stockes in Augenschein zu nehmen. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung befriedigten sie keineswegs, Besen und Bürsten wurden in Bewegung gesetzt, und die Mägde gingen, so lange es Tag war, unausgesetzt in den Stuben aus und ein.

Der Abend verging, und immer bot sich die sichere Gelegenheit, welche Magdalene erspäht noch nicht dar. Abermals kam die Schlafenszeit und fand sie zwischen die beiden Aussichten gestellt, entweder sich den unsichern Zufällen des nächsten Morgens zu vertrauen, oder die Schlüssel kühnlich in der Todtenstille der Nacht zu versuchen. In früheren Zeiten würde sie die Wahl ohne Zaudern getroffen haben. Jetzt zögerte sie, aber noch hielt sie das Wrack ihres alten Muthes aufrecht, und sie beschloß das Wagniß in der Nacht zu machen.

Man ging aus St. Crux frühzeitig zu Bett. Wenn sie auf ihrem Zimmer bis halb zwölf Uhr wartete, war es lange genug.

Zu dieser Zeit stahl sie sich auf die Treppe hinaus mit den Schlüsseln in ihrer Tasche und dem Leuchter in der Hand.

Als sie an dem Eingange zu dem Corridor auf dem Stockwerk mit den Kammern vorüberkam, blieb sie stehen und lauschte. Kein Geräusch wie Schnarchen, kein Schlürfen unsicherer Schritte war auf der andern Seite des Schrankes zu hören. Mißtrauisch schaute sie um ihn herum. Der steinerne Corridor war verödet und das Rollbett leer. Ihre eigenen Augen hatten den alten Mazey gesehen, wie er vor länger denn einer Stunde mit einem Lichte in der Hand nach den oberen Zimmern ging. Hatte er sich seines Herrn Abwesenheit zunutze gemacht, um den ungewohnten Genuß zu haben, einmal wieder in einem Zimmer zu schlafen? Als dieser Gedanke ihr kam, drang gerade ein Ton vom entfernten Ende des Ganges zu ihrem Ohr. Sie ging leise darauf zu und hörte durch die Thür des letzten und entferntesten der Gastzimmer das mächtige Schnarchen des Alten in dem Gemache. Die Entdeckung war überraschend in mehr als einer Hinsicht. Sie machte das undurchdringliche Geheimniß des Rollbettes noch dunkler. Denn sie zeigte offenbar, daß der alte Mazey nicht aus eigenem halbwilden Gelüsten seine Nächte auf dem Gange zubrachte, sondern jene seltsame und unbequeme Lagerstatt lediglich und allein um seines Herrn willen einnahm.

Es war keine Zeit vorhanden, um bei den Betrachtungen zu verweilen, welche dieser Schluß an die Hand gab. Magdalene lenkte ihre Schritte längs des Ganges zurück und stieg in das erste Stockwerk hinunter. Indem sie an den Thüren, die ihr am Nächsten waren, vorüberkam, versuchte sie zuerst das Bibliothekszimmer. Auf der Treppe und in den Corridors hatte ihr Herz in unsäglich raschen Pulsen gepocht; sobald sie sich jedoch in den vier Wänden des Zimmers befand und die Thür nach der geistesstillen Außenseite geschlossen hatte, kehrte das Gefühl der Sicherheit wieder.

Das erste Schloß, das sie versuchte, war das des Tischkastens. Keiner von den Schlüsseln paßte dazu. Ihr nächster Versuch wurde mit dem Schranke gemacht. Sollte auch der zweite Versuch scheitern, wie der erste? —— Nein! —— Einer der Schlüssel paßte, einer von den Schlüsseln schloß nach einigem ruhigen Probieren das Schloß auf. —— Sie sah begierig hinein. Es waren oben offene Fächer und ein großer Schubkasten darunter. Die Fächer waren angefüllt mit Stücken seltener Mineralien, die sauber mit Zetteln beklebt und geordnet waren. Der Schubkasten war in Abtheilungen eingerichtet. Zwei von den Abtheilungen enthielten Papiere. In der ersten entdeckte sie Nichts als eine Sammlung von bezahlten Rechnungen. In der zweiten fand sie einen Haufen Geschäftspapiere, allein die vergilbte Schrift zeigte ihr schon deutlich genug an, daß der Geheimartikel nicht dabei war. Sie schloß die Thüren des Schrankes wieder zu, und nachdem sie dies mit einiger Schwierigkeit bewerkstelligt hatte, verschritt sie dazu, die Schlüssel an den Schubkästen des Bücherschrankes zu versuchen, ehe sie ihre Nachforschungen in den anderen Zimmern begann.

Der Bücherschrank mit seinen Fächern war unzugänglich. Die Schubkästen und Schränke in allen andern Zimmern waren ebenfalls unzugänglich. Einen nach dem Andern versuchte sie dieselben in ruhiger Reihenfolge. Es war vergebens. Der Erfolg, welchen sie bei dem Schranke in der Bibliothek zu ihren Gunsten gehabt hatte, war eben der erste und der letzte, den sie auf diese Weise haben sollte.

Sie ging auf ihr Zimmer zurück Sie sah Nichts als ihren eigenen Schatten; sie hörte Nichts als ihren eigenen schleichenden Schritt in der Mitternachtsstille des Hauses. Nachdem sie gedankenlos die Schlüssel in ihrem früheren Versteck verwahrt hatte, sah sie nach ihrem Bette und wandte sich mit schaudernder Unlust davon ab. Die warnende Erinnerung an Das, was sie heute früh im Garten gelitten hatte, stand ihr lebhaft gegenwärtig vor der Seele.

—— Eine andere Aussicht versucht! dachte sie bei sich, und eine andere Aussicht verloren! Ich werde wieder zusammenbrechen, wenn ich darüber nachdenke, wenn ich wachend in der Dunkelheit daliege.

Sie hatte unter den vielen Kleinigkeiten«, die in ihrer Rolle als Dienstmädchen nöthig waren, ein Arbeitskästchen mit nach St. Crux gebracht. Sie öffnete nun das Kästchen und ging entschlossen ans Werk. Ihr Mangel an Uebung mit der Nadel kam dem Zwecke, den sie im Auge hatte, zu Hilfe: derselbe nöthigte sie, ihrer Beschäftigung die vollste Aufmerksamkeit zu schenken, er lenkte ihre Gedanken von denjenigen beiden Gegenständen gewaltsam ab, welche sie jetzt am Meisten fürchtete: von sich und der Zukunft.

Am nächsten Tage kam der Admiral, wie er angeordnet hatte, zurück. Sein Besuch in London hatte seine Laune nicht verbessert. Der Schatten eines unverwindlichen Zweifels lag noch immer düster auf seiner Stirn, und seine unermüdliche Zunge war noch immer Merkwürdigerweise still, als Magdalene ihn bei seinem einsamen Mahle bediente. In dieser Nacht ertönte das Schnarchen wieder hinter dem Schranke, und der alte Mazey war wieder in seinem unbehaglichen Rollbett.

Es vergingen wieder drei Tage, April kam. Am Zweiten dieses Monats erschien Mr. George Bartram wieder auf St. Crux, indem er ebenso unerwartet zurückkehrte, als er eine Woche zuvor weggegangen war.

Er kam zu einer Nachmittagsstunde zurück und hatte im Bibliothekszimmer eine Unterredung mit seinem Oheim. Als die Unterredung vorüber war, verließ er wieder das Haus und wurde von dem Reitknecht nach der Eisenbahn gefahren, um noch den letzten Zug, der den Abend nach London ging, zu erreichen. Der Knecht bemerkte unterwegs, wie Mr. George dem Anscheine nach lieber denn je St. Crux verließ. Er bemerkte auch bei seiner Rückkehr, daß der Admiral ihm ein tüchtiges Donnerwetter machte, weil er die Pferde zu sehr übernommen habe, ein Zeichen von übler Laune bei seinem Herrn, das, wie er angab, in seiner ganzen Erfahrung ganz ohne Beispiel war. Magdalene hatte in ihrem Dienstsache gleicherweise unter des alten Herrn Reizbarkeit zu leiden gehabt: er war unzufrieden gewesen mit Allem, was sie in dem Speisezimmer vornahm, und hatte alle Gerichte schlecht befunden, eins nach dem andern, von der Hammelbrühe bis zum gerösteten Käse herunter.

Die nächsten beiden Tage vergingen wie gewöhnlich. Am dritten Tage fiel Etwas vor.

Auf den ersten Schein war es allerdings nichts weiter als ein Zug der Klingel im Besuchszimmer. In Wahrheit aber war dies der Vorbote der nahenden Entscheidung, der furchtbare Vorbote des Endes.

Es war Magdalenens Sache, der Klingel Folge zu leisten. Als sie an die Zimmerthür kam, pochte sie wie gewöhnlich an. Es erfolgte aber keine Antwort. Nachdem sie wieder gepocht und wieder keine Antwort erhalten hatte, trat sie in das Zimmer und erhielt sofort einen Strom kalter Luft gerade ins Gesicht. Die schwere Falzthür in der gegenüberliegenden Wand war zurückgestoßen, und die Nordpolaratmosphäre von »Satans Knochenkälter« ergoß sich ungehindert in das leere Zimmer.

Sie wartete an der Thür, ungewiß, was sie zunächst thun sollte; es war gewiß die Klingel des Besuchszimmers gewesen, welche erschallt war, und keine andere. Sie wartete und sah durch die offene Thür auf der andern Seite in die Wildniß der verödeten Halle hinaus.

Ein wenig Nachdenken gab ihr den Rath an die Hand, daß sie am besten thun würde, wenn sie wieder hinunter ginge und dort wartete, bis zum zweiten Male geschellt würde. Als sie sich wandte, um das Zimmer verlassen, sah sie zufällig nochmals zurück, und gerade in diesem Augenblick sah sie die Thür in der gegenüberliegenden Wand der Banquethalle sich öffnen, die Thür, welche in das erste von den Zimmern im östlichen Flügel führte. Ein großer Mann trat heraus in einem großen Ueberrock und im Hut und nähert sich rasch dem Besuchszimmer. Sein Gang verrieth ihn, während er selbst noch zu fern war, um seine Züge zu erkennen. Ehe er halb durch die Halle geschritten war, hatte Magdalene ihn erkannt: es war Admiral Bartram.

Der Admiral sah nicht nur erzürnt, sondern auch überrascht aus, als er sein Stubenmädchen in dem Besuchszimmer auf sich warten sah. Er frug barsch und mißtrauisch, was sie hier wolle? Magdalene versetzte, daß sie hierhergekommen sei, weil geschellt worden sei. Sein Gesicht hellte sich ein wenig auf, als er die Erklärung hörte.

—— Ja, ja es ist richtig, sagte er, ich klingelte und vergaß es dann wieder.

Er schob, während er sprach, die Schiebethür wieder an ihren Platz.

—— Kohlen! begann er dann wieder mit ungeduldiger Stimme und zeigte auf den leeren Behälter. Ich klingelte nach Kohlen.

Magdalene ging in die Küche zurück. Nachdem sie den Befehl des Admirals derjenigen von den Mägden, deren Verrichtung das Feuermachen war, ausgerichtet hatte, kehrte sie in die Speisekammer zurück und setzte sich, leise die Thüre zumachend, nieder, um allein zu sein und nachzudenken.

Es war ihre Meinung in dem Besuchszimmer gewesen, und es war noch immer ihre Meinung, daß sie jetzt zufällig den Admiral Bartram aus einem Besuche der östlichen Zimmer ertappt habe, welchen er aus irgend einem dringenden Grunde geheim zu halten wünschte.

Tag und Nacht von dem einen Gedanken abgehetzt, der sie beherrschte, setzte sie sich über alle logischen Schwierigkeiten mit einem Schwunge hinweg und verband sofort den Verdacht einer geheimen Maßregel des Admirals mit dem verwandten Verdacht, welcher ihn als den Bewahrer des geheimen Artikels betrachtete. Bis zu dieser Zeit war es ihr fester Glaube gewesen, daß er seine wichtigen Papiere in einem oder dem andern der ineinanderlaufenden Zimmer bewahrte, welche er für diese Zeit gerade inne hatte.

—— Warum, fragte sie sich selbst mit einem plötzlichen Mißtrauen gegen den Schluß, der bisher ihrem Geiste genügt hatte, warum könnte er sie nicht auch ebensogut in anderen Zimmern aufbewahren?

Der Gedanke an die noch immer an ihrem Versteck auf ihrem Zimmer aufbewahrten Schlüssel bestärkte sie nur in ihrer Meinung von der Richtigkeit dieser neuen Ansicht. Mit einer unwichtigen Ausnahme hatten jene Schlüssel alle nicht gepaßt, als sie dieselben in den inneren auf der Nordseite des Hauses probierte.

Konnte sie nicht bei den Schränken und Schubkästen in den östlichen Zimmern mehr Glück haben, bei welchen sie nie den Versuch gemacht oder auch nur daran gedacht hatte, die Schlüssel zu probieren?

Wenn eine auch noch so kleine Aussicht war, dieselben besser zu benutzen als bisher, so war es damit zu versuchen. Wenn nur eine auch doch so ferne Möglichkeit war, daß der Geheimartikel in einem von den verschlossenen Behältnissen im östlichen Flügel verwahrt wurde, so mußte dieselbe versucht werden.

Aber wann? —— Ihre eigene Erfahrung beantwortete die Frage.

Zu der Zeit, wo kein Späherauge wach war und keine widrigen Zwischenfälle zu fürchten standen, wenn das Haus ruhig war, in der Stille der Nacht.

Sie wußte genug von ihrem veränderten Wesen, um den ankränkelnden Einfluß des Aufschubs zu fürchten. Sie entschloß sich, das Wagniß noch diese Nacht zu beginnen.

Sie beging noch weitere Versehen, als die Essenszeit kam; die tadelnden Bemerkungen des Admirals über ihre Bedienung bei Tische waren schärfer denn je. Seine härtesten Worte thaten ihr nicht weh, sie hörte sie kaum, ihr Geist war für alles Andere abgestorben, nur nicht für das Gefühl der bevorstehenden Probe. Der Abend, welcher ihr in der Nacht ihres ersten Versuches langsam vergangen war, verstrich diesmal schnell. Als es Schlafenszeit war, war sie erstaunt, daß es schon so weit war.

Sie wartete diesmal länger, als das vorige Mal. Der Admiral war ja zu Hause; er konnte seinen Sinn ändern und wieder heruntergehen, nachdem er auf sein Zimmer hinaufgegangen war; er konnte etwas in dem Bibliothekzimmer vergessen haben und umkehren, um es zu holen. Mitternacht schlug es an der Uhr in der Gesindestube, als sie sich aus ihrem Zimmer wagte, wieder die Schlüssel in der Tasche, wieder das Licht in der Hand.

Auf der ersten Stufe, die sie mit ihrem Fuße betrat, ergriff sie plötzlich ein Zaudern, das sich ihrer ganz und gar bemächtigte, eine unerklärliche Angst vor einer unbekannten Gefahr. Sie wartete und ging mit sich zu Rathe. Sie war vor keinem Opfer zurückgebebt, sie hatte keiner Furcht nachgegeben, um die List durchzuführen, durch die sie sich auf St. Crux Einlaß verschafft hatte, und jetzt, wo die lange Reihe von Hindernissen, die sich ihr beim Anfang entgegen gethürmt hatten, Dank ihrer Ausdauer, überwunden waren, jetzt, wo lediglich durch ihre Entschlossenheit der Ausgangspunkt gewonnen war, zögerte sie vorwärts zu gehen.

—— Ich bebte vor Nichts zurück, um hierher zu gelangen, sprach sie zu sich selbst. Welcher Wahnsinn ergreift mich auf einmal, jetzt zurückzubeben?

Jeder Puls in ihr wurde bei dem Gedanken aufgeregt, die Scham belebte sie, befeuerte sie aufs Neue vorwärts zu gehen.

Sie stieg die Treppe vom dritten Stock in den zweiten herab, ohne sich einen Augenblick Zeit zu gönnen so nahe ihrem Zimmer. Eine Minute später hatte sie das Ende des Corridors erreicht, hatte den Vorsaal überschritten und war in das Besuchszimmer getreten. Erst als ihre Hand auf dem schweren Messinggriff der Schiebethür ruhte, erst in dem Augenblicke und, ehe sie die Thür zurückschob, hielt sie um Athem zu schöpfen. Die Banquethalle war dicht auf der andern Seite der hölzernen Scheidewand, dicht vor welcher sie eben stand: ihre erregte Einbildungskraft machte sie schon glauben, als fühlte sie den Todtenhauch der Kälte über sich gehen.

Sie schob die Schiebethür ein paar Zoll auf und hielt in plötzlichem Schrecken inne. Als der Admiral sie in ihrer Gegenwart heute geschlossen hatte, hatte sie kein Geräusch gehört. Als der alte Mazey sie öffnete, um ihr die Zimmer des östlichen Flügels zu zeigen, hörte sie kein Geräusch. Jetzt in der nächtlichen Stille bemerkte sie zum ersten Male, daß die Thür einen dumpfen, rauschenden Klang von sich gab, wie Windessausen.

Sie ermuthigte sich selbst und schob sie noch weiter zurück, halbwegs in die Höhle in der Wand, die dazu bestimmt war, sie aufzunehmen, hinein. Sie schritt muthig durch die Oeffnung und hatte nun plötzlich die Banquethalle als Nachtbild vor sich.

Der Mond kam hinter dem Südende des Hauses hervor. Seine bleichen Strahlen schienen durch die näheren Fenster herein und lagen in langen Streifen schrägen Lichtes auf dem Marmorboden der Bauquethalle. Die schwarzen Schatten der Zwischenwände zwischen jedem Fenster, die da abwechselten mit den Lichtstreifein erhöhten den matten Glanz des Mondlichtes auf den Steinfließen. Nach dem unteren Ende zu verschwamm die Halle geheimnißvoll in Finsterniß, die Decke wurde unsichtbar, das gähnende Kamin, der überhängende Mantel desselben, die lange Reihe Schlachtenbilder darüber wurden alle von der Nacht verschlungen. Nur ein einziger Gegenstand war zu unterscheiden außer den glitzernden Fenstern und dem Mondscheinbestrahlten Boden. Mitten in dem letzten und fernsten der Lichtstreifen erhob sich der Dreifuß auf seinen hageren schwarzen Füßen wie ein vom Monde ins Leben gerufenes Ungeheuer aufsteigend durch das Licht und sich nach oben in dem Schatten der Halle verlierend. Fern und nah, alle Töne schlummerten da, gebunden von der stehenden Kälte. Die milde Ruhe der Nacht war hier erschrecklich. Die tiefen Gründe der Finsterniß bargen noch unermeßlichere Tiefen des Schweigens.

Sie stand in dem Eingange unbeweglich, angestrengt spähend und lauschend. Sie sah nach Etwas, das sich bebewegte, sie lauschte auf irgend einen sich erhebenden Ton und spähete und lauschte vergeblich. Ein heftiges unablässiges Zittern rann ihr durch die Glieder von Kopf bis zu Fuße. Das Zittern der Furcht oder das Zittern vor Frost? Der bloße Zweifel stachelte ihren Willen zur Entschlossenheit auf.

—— Jetzt, dachte sie, indem sie in dem Eingange einen Schritt vorwärts that, —— jetzt oder nie! Ich will die Streifen des Mondlichts dreimal abzählen und über die Halle schreiten.

—— Eins —— zwei —— drei —— vier —— fünf —— Eins ——
zwei —— drei —— vier —— fünf —— Eins —— zwei —— drei ——

vier —— fünf.

Als die letzte Zahl bei ihrem drittmaligem Zählen über ihre Lippen gekommen war, schritt sie über die Halle weg. Nach Nichts mehr sich umsehend, auf Nichts lauschend, in der einen Hand das Licht, mit der andern Hand unwillkürlich die Falten ihres Kleides umklammernd, eilte sie wie ein Geist die ganze Länge des geisterhaften Raumes durch. Sie erreichte die Thür des ersten der östlichen Zimmer, öffnete sie und stürzte hinein. Der plötzliche Trost, einen Zufluchtsort zu finden, der plötzliche Eintritt in eine neue Luft überwältigten sie einen Augenblick. Sie hatte nur noch Zeit das Licht sicher aus einen Tisch zu stellen, ehe sie schwindelig und athemlos in den nächsten Stuhl sank.

Allmählich fühlte sie, wie die Ruhe ihre Aufregung beschwichtigte In wenigen Minuten wurde sie sich des freudigen Gefühls bewußt, sich den Weg zu den östlichen Zimmern gebahnt zu haben. In wenigen Minuten war sie stark genug, um sich vom Stuhl zu erheben, die Schlüssel aus ihrer Tasche zu nehmen und sich umzublicken.

Der erste Gegenstand von Hausgeräth im Zimmer, der ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, war ein runder Schreibeschrank von geschnitztem Eichenholz, dann ein schwerer Tisch mit einem Schubkasten Sie versuchte erst den Schreibeschrank, er sah noch am Ehesten wie ein Aufbewahrungsort für Papiere aus. Drei von den Schlüsseln hatten die Größe für das Schloß, aber keiner von ihnen schloß es. Der Schrank war unnahbar. Sie ließ ihn und wartete einen Augenblick, um das Licht zu passen, ehe sie den Schubkasten daran vornahm.

In dem Augenblicke, wo sie ihre Hand nach dem Lichte erhob, hörte sie die Stille der Banquethalle durch einen schrecklichen Ton, einen schwachen und nur einen Augenblick dauernden Ton, wie das ferne Rauschen des Windes unterbrechen.

Hatte sich die Schiebethür im Besuchszimmer bewegt?

In welcher Weise hatte sie sich bewegt? Hatte eine unbekannte Hand sie in ihre Nische geschoben, weiter als sie dieselbe geschoben hatte oder sie zugeschoben und verschlossen? Der Schrecken, die ganze Nacht ausgeschlossen zu sein durch irgend eine unerkennbar wirkende Macht von dem Leben des Hauses war stärker in ihr als der Schrecken, einen Blick über die Banquethalle hinweg zu thun. Sie machte verzweifelt eine Bewegung nach der Thür zu. Sie war leise hinter ihr zugefallen, aber sie war nicht verschlossen. Sie stieß sie auf und blickte hinaus.

Der Anblick, der ihren Augen begegnete, machte sie vor Entsetzen starr und fesselte ihren Fuß an den Boden.

Dicht an dem ersten der Fenster, vom Besuchszimmer an gerechnet, und im vollen Scheine desselben sah sie eine einsame Gestalt.... Es stand unbeweglich da, sich aus dem fernsten Streifen des Mondlichts vom Boden abhebend. Als sie hinschaute, verschwand es plötzlich. Einen Augenblick später sah sie es wieder im zweiten Mondlicht, verlor es wieder, sah es wieder, sah es im dritten Streifen, verlor es abermals und sah es im vierten. Von einem Augenblick zum andern näherte es sich, bald geheimnißvoll im Schatten verloren, bald wieder plötzlich in dem Lichte sichtbar, bis es den fünften und nächsten Streifen des Mondlichts erreichte. Dort hielt es an und schwebte langsam zur Seite nach der Mitte der Halle. Beim Dreifuß hielt es an und stand hörbar in der Stille schauernd mit seinen Händen über die kalte Asche erhoben, indem es that, als wärmte es sich die Hände. Es wandte sich wieder zurück, bewegte sich in dem Wege des Mondlichts hernieder, hielt beim fünften Fenster an, wandte sich noch einmal und kam durch den Schatten langsam gerade aus die Stelle zu, wo Magdalene stand.

Ihre Stimme war nicht mehr in ihrer Macht, ihr Wille gehorchte ihr nicht mehr. Jeder Sinn in ihr außer dem Gesicht war gelähmt. Ihre Augen vom Schrecken gebannt, sahen unverwandt geradeaus, wie sie vom Anfang an geschaut hatten. Da stand sie in der Thür, der Gestalt gerade im Wege, welche näher und immer näher Schritt für Schritt durch den Schatten auf sie zukam.

Es kam dicht heran. Die Fesseln des Schreckens, die sie hielten, zerrissen plötzlich, als er nur noch aus Armeslänge von ihr war. Sie fuhr zurück. Das Licht des Leuchters siel voll auf sein Gesicht und zeigte ihr —— Admiral Bartram.

Ein langer grauer Schlafrock war um ihn geschlagen. Sein Haupt war unbedeckt, seine Füße baarfuß. In seiner Linken trug er sein kleines Schlüsselkörbchen. Er ging langsam an Magdalenen vorbei, seine Lippen flüsterten ohne Unterlaß, seine Augen starrten gerade vor sich hin mit dem gläsernen Ausdruck des Todes. Seine Augen sagten ihr die schreckliche Wahrheit: Er wandelte im Schlafe.

Der, Schrecken, ihn so zu sehen, war nicht zu vergleichen mit dem, den sie empfunden hatte, als ihre Augen ihn zuerst erschauten, eine Erscheinung im Mondlichte, ein Gespenst in der Geisterhalle. Diesmal konnte sie gegen die Erschütterung ankämpfen, sie konnte die Tiefe ihrer Furcht ergründen.

Er ging an ihr vorüber und blieb in der Mitte des Zimmers stehen. Magdalene wagte sich so nahe heran, daß sie seine Stimme verstehen konnte, wie er vor sich hin murmelte. Sie rückte noch näher und hörte den Namen ihres verstorbenen Gatten deutlich von den Lippen des Nachtwandlers fallen.

—— Noël! sagte er in den leisen, eintönigen Lauten eines Träumers, der im Schlafe spricht, mein guter Kerl, Noël, nimm es wieder zurück! Es plagt mich bei Tage und bei Nacht. Ich weiß nicht, wo es sicher ist, ich weiß nicht, wo es sicher ist, ich weiß nicht, wohin ich es legen soll. Nimm es zurück, Noël, —— nimm es zurück!

Als ihm diese Worte entschlüpften ging er an einen Schrank. Er setzte sich auf den davorstehenden Stuhl und suchte in dem Körbchen unter seinen Schlüsseln. Magdalene folgte ihm leise und stand hinter seinem Stuhle, wartend mit dem Lichte in ihrer Hand. Er fand den Schlüssel und schloß den Schrank auf. Ohne einen Augenblick zu schwanken zog er einen Kasten auf, den zweiten in einer Reihe, der einzige Gegenstand in dem Kasten war ein zusammengebrochener Brief. Er entfernte ihn und legte ihn vor sich auf den Tisch nieder.

—— Nimm ihn wieder zurück, Noël! wiederholte er geistesabwesend, nimm ihn zurück!

Magdalene sah ihm über die Schulter und las folgende Zeilen in der Handschrift ihres Gatten, an der Spitze des Briefes:

In Deinen Händen zu bewahren und erst am Tage meines Ablebens zu erbrechen.

Noël Vanstone.

Sie sah diese Worte deutlich mit dem Namen des Admirals und der Adresse des Admirals darunter.

Der Geheimartikel im Bereiche ihrer Hand! Der Artikel doch noch aufgespürt bis zu seinem Versteck!

Sie that einen Schritt vorwärts, um sich hinter seinem Stuhle herumzuschleichen und den Brief vom Tische wegzuhaschen In dem Augenblick, als sie sich rührte, nahm er ihn noch einmal in die Hand, verschloß den Schrank, stand auf, wandte sich und stand ihr gegenüber. Im Drange des Augenblicks streckte sie ihre Hand nach der Hand aus, in der er den Brief hielt. Das gelbe Licht der Kerze fiel voll auf ihn. Der fürchterliche Scheintod auf seinem Angesichte, das Geheimniß des schlafenden Leibes, der da in unwillkürlichem Gehorsam gegen die träumende Seele sich bewegt, erschreckte sie. Ihre Hand zitterte und sank wieder an ihrer Seite nieder.

Er ließ den Schlüssel des Schrankes in das Körbchen fallen und schritt über das Zimmer nach dem Schreibeschranke, in der einen Hand das Körbchen, in der andern Hand den Brief. Magdalene stellte das Licht hinter sich auf den Tisch und beobachtete ihn.

Wie er den Schubkasten geöffnet hatte, so machte er auch den Schreibschrank auf. Abermals streckte Magdalene ihre Hand aus, abermals bebte sie vor dem Geheimniß und dem Schreckniß seines Schlafes zurück. Er steckte den Brief in einen Schubkasten hinten in dem Schranke und schloß die schwere eichene Klappe wieder zu.

—— Ja! sprach er. Es ist hier sicherer, wie Du sagst, Noël, —— sicherer hier.

Also sprach er. So gaben einmal ums andere Mal die Worte, welche ihn bloß verriethen, die Enthüllung über den Verstorbenen, als ob er leibhaft dastünde und im Traume spräche.

Hatte er den Schreibeschrank verschlossen? Magdalene hatte das Schloß nicht gehen hören. Als er sich langsam wegbewegte, nochmals gegen die Mitte des Zimmers zu wandelnd, versuchte sie die Klappe Ja, —— verschlossen. Als sie die Entdeckung gemacht, wandte sie sich um, und schaute nach, um zu sehen, was er zunächst thäte. Er verließ das Zimmer wieder, mit seinem Schlüsselkörbchen in der Hand. Als ihr erster Blick auf ihn fiel, war er gerade im Begriff, die Schwelle der Thür zu überschreiten.

Ein unnennbarer Zauber erfaßte sie, eine geheime Anziehungskraft zog sie ihm nach wider ihren Willen. Sie nahm das Licht und folgte ihm unwillkürlich, als ob sie ebenfalls im Schlafe wandelte. Eines hinter dem Andern in langsamem und geräuschlosem Schritt gingen sie über die Banquethalle. Eines hinter dem andern gingen sie durch das Besuchszimmer und über den Corridor und die Treppe hinauf. Sie folgte ihm bis zu seiner Thür. Er ging hinein und schloß sie leise hinter sich zu. Sie blieb stehen und sah auf das Rollbett hin. Es war am Fuße bei Seite gerückt, in eine kleine Entfernung von der Kammerthürr. Wer hatte es fortgerückt? Sie hielt das Licht nahe und sah auf die Polster mit plötzlicher Neugier und plötzlichem Zweifel.

Das Rollbett war leer.

Die Entdeckung erschreckte sie für den Augenblick, aber nur für den Augenblick. So leicht daraus die Folgerungen hergeleitet werden konnten, so vermochte sie doch dieselben nicht zu ziehen. Ihr Geist, langsam den Gebrauch seiner Fähigkeiten wiedererlangend, war noch unter dem Einfluß der früheren und tieferen Eindrücke Ihr Geist folgte dem Admiral in sein Zimmer, wie ihr Leib ihm über die Banquethalle gefolgt war.

Hatte er sich wieder in sein Bett gelegt? Schlief er noch?

Sie horchte an der Thür. Kein Laut war in dem Zimmer zu vernehmen. Sie versuchte die Thür und da sie dieselbe unverschlossen fand, öffnete sie die Thür auf ein paar Zoll-weit und lauschte wieder. Dasselbe Heben und Senken seines Athems traf augenblicklich ihr Ohr. Er schlief noch.

Sie ging in das Zimmer und näherte sich, die Hand vor das Kerzenlicht haltend, dem Bette, um nach ihm zu sehen. Der Traum war vorbei, der Schlaf des alten Herrn war tief und ruhig, seine Lippen waren still, seine Hand lag in bewegungsloser Ruhe auf dem Deckbette. Er lag mit dem Gesichte nach der rechten Seite des Bettes zu. Ein kleiner Tisch stand da nahe zur Hand. Vier Gegenstände standen darauf, sein Licht, seine Schwefelhölzchen, sein gewöhnlicher Nachttrunk von Limonade und sein Schlüsselkörbchen.

Der Gedanke, sich diese Nacht in den Besitz, seiner Schlüssel zu setzen —— falls sich eine Gelegenheit böte, wo der Korb nicht in seiner Hand war, war ihr erst in den Sinn gekommen, als sie ihn in sein Zimmer gehen sah. Sie hatte ihn für den Augenblick wieder verloren, als sie die Überraschende Entdeckung machte, das Rollbett leer zu finden. Sie nahm ihn wieder auf, in dem Augenblicke, wo der Tisch ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war unnöthig, mit dem Suchen des einen nöthigen Schlüssels unter den Uebrigen Zeit zu verlieren, sie kannte den einen Schlüssel nicht genau genug, um ihn sogleich wieder zu erkennen. Sie nahm darum alle Schlüssel in dem Körbchen, wie sie lagen, vom Tische und schloß, indem sie das Zimmer verließ, leise die Thür wieder hinter sich zu.

Das Rollbett drängte sich, wie sie daran vorbeikam, abermals ihrer Aufmerksamkeit auf und nöthigte sie zum Nachdenken. Nach einem augenblicklichen Besinnen rückte sie den Fuß des Bettes wieder in seine gewöhnliche Stellung quer vor die Thür. Ob er nun im Hause oder außer dem Hause war, der Alte konnte jeden Augenblick auf seinen verlassenen Posten zurückkehren. Wenn er das Bett von seinem gewöhnlichen Platze weggerückt sah, konnte er seinen Herrn wecken,und der Verlust der Schlüssel konnte entdeckt werden. Als sie die Treppe herunterstieg, war die Furcht, plötzlich mit dem alten Mazey zusammenzustoßen so lebhaft vor ihrem Geiste, daß sie das kleine Körbchen dicht an ihrer Seite trug, halb verborgen in den Falten ihres Kleides.

Auf der Treppe fiel Nichts vor, auf dem Corridor fiel Nichts vor, das Haus war so schweigsam und so verödet wie immer. Sie schritt diesmal ohne Zaudern über die Banquethalle hinweg; die Ereignisse der Nacht hatten ihren Geist gegen alle Schrecken ihrer Einbildung stark gemacht.

—— Jetzt habe ich es! flüsterte sie vor sich hin in einem unverhaltbaren Ausbruch von Freude, als sie in das erste der östlichen Zimmer trat und ihr Licht oben auf den alten Schreibeschrank setzte.

Sogar jetzt noch war eine Geduldprobe für sie zu überstehen. Einige Minuten vergingen, Minuten, welche Stunden schienen, ehe sie den rechten Schlüssel fand und die Klappe des Pultes öffnen konnte. Endlich zog sie das innere Schubfach auf. Endlich hatte sie den Brief in ihrer Hand!

Es war versiegelt gewesen, aber das Siegel war erbrochen. Sie öffnete ihn auf der Stelle, um sich zu überzeugen, daß sie wirklich den Geheimartikel besäße, ehe sie das Zimmer verließ.

Der Schluß des Briefes war das Erste, das sie vornahm. Der Brief kam oben auf der dritten Seite zu Ende und war mit Noël Vanstone unterzeichnet. Unter dem Namen waren folgende Zeilen Von der Hand des Admirals hinzugefügt:

Dieser Brief wurde von mir zu gleicher Zeit als das Testament meines Freundes Noël Vanstone in Empfang genommen. Ein den Fall meines Todes und, wenn ich in Bezug darauf keine anderen Anordnungen treffe. bitte ich meinen Neffen und meine Testamentsvollstrecker zu beherzigen, daß ich die in diesem Testamente an mich gestellten Wünsche als schlechterdings bindend für mich anerkenne.

Arthur Everard Bartam.

Sie ließ diese Zeilen ungelesen. Sie bemerkte eben nur, daß sie nicht von der Hand Noël Vanstones waren, und wandte sich, indem sie dieselben sofort überschlug, weil sie für den im Auge habenden Zweck nicht wesentlich waren, zu den ersten Sätzen der ersten Seite.

Sie las folgende Worte:

Lieber Admiral Bartram!

Wenn Du mein Testament eröffnest, in welchen Du zu meinem alleinigen Testamentsvollstrecker ernannt bist, so, wirst Du finden, daß ich den ganzen Rest meines Grundbesitzes nach Auszahlung eines Vermächtnisses von fünf Tausend Pfund Dir vererbt habe. Es ist der Zweck dieses meines Briefes, Dir vertraulich mitzutheilen, welches die Absicht ist, aus der ich das Vermögen, das nun mehr in Deine Hände gegeben ist, gerade Dir hinterlassen habe.

Siehe dies große Vermächtniß, bitte ich, nur als ein unter gewissen Bedingungen ....

Sie war mit athemloser Spannung und Theilnahme so weit gekommen: da wurde ihre Aufmerksamkeit plötzlich unterbrochen. Etwas —— sie war zu sehr vertieft, als daß sie hätte wissen können was es war —— war zwischen sie und den Brief getreten. War es ein Geräusch? Sie sah über ihre Schulter nach der Thür hinter sich und lauschte. Es war Nichts zu hören, Nichts zu sehen. Sie wandte sich zu dem Briefe zurück.

Die Schrift war eng und zusammengedrängt. In ihrer ungeduldigen Spannung, noch mehr zu lesen, vermochte sie die verlorene Stelle nicht wieder zu finden. Ihre Augen, unwillkürlich von einem Tintenfleck angezogen, erblickten einen Satz weiter unten auf der Seite, als wo sie aufgehört hatte. Die ersten drei Worte, die sie sah, reizten ihre Aufmerksamkeit aufs Neue: es waren die ersten Worte, die sie in dem Briefe gefunden, die sich unmittelbar auf George Bartram bezogen. In der plötzlichen Aufregung über diese Entdeckung las sie eifrig das Uebrige von dem Satze, ehe sie einen zweiten Versuch machte, die verlorene Stelle wieder aufzusuchen ——

.... Wenn Dein Neffe diese Bedingungen zu erfüllen unterläßt, d. h. wenn er, ob er nun Junggesell oder Wittwer zur Zeit meines Ablebens sei, unterliegt, sich ganz in der Art und Weise, wie ich ihm vorgeschrieben habe, innerhalb sechs Kalendermonaten von jener Zeit an zu verheirathen, so ist es mein Wille, das er die Erbschaft nicht erhalte... [S. Seite 355f., S. 357ff. w.]

Sie hatte bis zu diesem Punkte gelesen, bis zu diesem letztere Worte und nicht weiter, da kam plötzlich eine fremde Hand hinter ihr zwischen dem Brief und ihren Augen vor und faßte sie in einem Augenblicke fest am Handgelenk. Sie wandte sich mit einem Schrei des Entsetzens um und —— fand sich Angesicht zu Angesicht dem alten Mazey gegenüber.

Die Augen des Alten waren von Blut unterlaufen, seine Hand schwer, seine Filzpantoffeln unordentlich über seine Füße gezogen, und sein Leib auf seinen weit gespreizten Beinen hin und herschwankend. Wenn er in dieser Nacht seine Verfassung durch das unfehlbare Beweismittel des Modellschiffes auf die Probe gestellt hätte, so hätte er unvermeidlich in der gewöhnlichen Weise folgendes Urteil über sich fällen müssen:

—— Wieder einmal betrunken, Mazey, wieder betrunken!

—— Du junge Isebel! sagte der alte Matrose, auf der einen Seite seines Gesichtes Verlegenheit, auf der andern Unwillen ausdrückend. Das nächste Mal, daß Du wieder nachtwandelst in der Gegend von Satan’s Knochenkälter, so thue erst Deine scharfen Augen hübsch auf und überzeuge Dich, daß Niemand anderes in dem Garten draußen nachtwandelt. Laß es fahren, Du Isebel! Laß es fahren!

Indem er mit der einen Hand Magdalenens Arm festhielt, nahm er ihr mit der andern den Brief weg, legte ihn in das offene Fach und verschloß das Pult. Sie leistete ihm weder Widerstand, noch brachte sie ein Wort hinaus. Ihre Kraft und Willensstärke war dahin, ihre Widerstandsfähigkeit war geknickt. Die Schrecken dieser entsetzlichen Nacht, die einander dicht in immer neuen Erschütterungen folgten, hatten sie endlich gebrochen. Sie gab so unterwürfig nach, sie zitterte so angstvoll, als das schwächste Weib unter der Sonne. ——

Der alte Mazey ließ ihren Arm los und zeigte mit der Feierlichkeit eines Trunkenboldes auf einen Stuhl in einer Ecke weiter ins Zimmer hinein. Sie setzte sich immer noch, ohne ein Wort herauszubringen. Der Alte gab sich, indem er dabei gewaltig schnaufte, einen festen Halt, indem er sich mit beiden Ellenbogen quer gegen das obere Ende des Pultes stemmte, und redete aus dieser erhabenen Stellung Magdalenen abermals an.

—— Nun, mach fort und laß Dich einschließen! sprach der alte Mazey, sein altes ehrwürdiges Haupt mit richterlichem Ernste schüttelnd. Morgen früh wird es eine Untersuchung geben, und ich bin —— Gott sei es geklagt —— der Zeuge! Ich bin der Zeuge Du junge Dirne, Du hast einen Einbruch begangen, ja, das ist es, was Du begangen hast. Seine Gnaden des Admirals Schlüssel gestohlen, seine Gnaden des Admirals Körbchen entwendet und seine Gnaden des Admirals Briefe erbrochen. Einbruch! Einbruch! Mach fort und laß Dich einschließen!

Er gewann langsam mit Hilfe seiner Hände wieder eine aufrechte Stellung, unterstützt durch den festen Rückenhalt, den ihm dabei das Pult leistete, und verfiel in ein weinerliches Selbstgespräch.

—— Wer hätte das gedacht? sagte der alte Mazey, indem ihm vor Vaterzärtlichkeit das Wasser in die Augen trat. Betrachte das Aeußere von ihr, und sie ist so schlank, wie eine Pappel, betrachte das Innere von ihr, und sie ist so mißgestaltet, wie die Sünde! Und doch so ein hübsch gewachsenes Ding. Wie jammerschade, wie jammerschade!

—— Schlag mich nur nicht! sagte Magdalene mit schwacher Stimme, als der alte Mazey gegen den Stuhl heran schwankte und sie wieder beim Handgelenk faßte. Ich bin vor Schreck halb todt, Mr. Mazey, ich bin wahrlich vor Schreck halb todt.

—— Ich Dich schlagen? wiederholte der Alte. Ich bin viel zu verliebt in Dich —— und ich alter grauer Mann sollte mich darob ’was schämen —— als daß ich Dich schlagen konnte. Wenn ich Dich bei Deinem Handgelenk loslasse, willst Du aber auch gerade vor mir hergehen, daß ich Dich den ganzen Weg über sehen kann? Willste ein gutes Mädchen sein und gerade nach Deiner Thüre zugehen?

Magdalene gab das ihr abverlangte Versprechen, gab es mit einem ängstlichen Verlangen, sich endlich wieder in ihr Zimmer flüchten zu können. Sie stand auf und versuchte das Licht vom Pult zu nehmen, aber des alten Mazey Hand war schneller als sie.

—— Laß einmal das Licht stehen, sagte der Alte, indem er in augenblicklicher Vergessenheit seiner verantwortlichen Stellung blinzelte. Du bist ein wenig flinker auf den Beinen als ich, mein Kind, und Du könntest mich in der Patsche lassen, wenn ich nicht selbst das Licht trüge.

Sie kehrten zu dem bewohnten Theile des Hauses zurück. Hinter Magdalenen drein schwankend, in der einen Hand das Schlüsselkörbchen, in der andern den Leuchter verglich der alte Mazey ihre Gestalt den ganzen Weg entlang über »Satans Knochenkälter« hinweg bis zu ihrer Kammerthür höchst kläglich mit der Schlankheit der Pappel und ihren Sinn mit der Mißgestalt der Sünde. An jenem Bestimmungsorte angelangt, weigerte er sich aufs Bestimmteste ihr den Leuchter zu geben, bevor er sie nicht richtig in der Stube drin sah. Als die Bedingungen erfüllt worden waren, trat er mit der einen Hand das Licht ab, mit der andern that er einen Griff nach dem Schlüssel, zog ihn von der Innenseite des Schlosses und schloß augenblicklich die Thür Magdalene hörte ihn draußen über seine eigene Geschicklichkeit kichern und mit unendlichen Schwierigkeiten den Schlüssel wieder ins Schloß stecken. Endlich hatte er die Thür verwahrt und athmete, sich verschnaufend, tief auf.

—— Da ist sie nun sicher und fest! hörte ihn Magdalene in bedauerndem Selbstgespräche sagen. Ein so hübsches Mädchen, als ich jemals vor Augen gekriegt habe. Wie jammerschade, wie jammerschade! ...

Die letzten Töne seiner Stimme verklangen in der Entfernung, und sie war nunmehr allein auf ihrem Zimmer.

Sich am Geländer festhaltend begab sich der alte Mazey hinunter in den Corridor des zweiten Stockes, auf welchem fortwährend ein Nachtlicht brannte. Er näherte sich dem Rollbette und betrachtete, indem er sich gegen die gegenüberstehende Wand stürzte, dasselbe aufmerksam. Eine fortgesetzte Betrachtung seiner Lagerstatt verfehlte sichtbar ihn zu befriedigen. Er schüttelte bedenklich den Kopf, und indem er aus der Seitentasche seines Ueberrocks ein Paar alte geflickte Pantoffeln hervorholte, betrachtete er diese mit sehr zweifelhafter Miene.

—— Ich bin diese Nacht ganz weg, murmelte er vor sich hin. Ich bin ganz irre im Kopfe, ja, so ist es, ganz irre im Kopfe!

Die alten geflickten Pantoffeln und die aufsteigenden Zweifel des Alten standen zufällig in dem engen Verhältnisse von Ursache und Wirkung zu einander. Die Pantoffeln gehörten dem Admiral, der seine besondere unbegreifliche Vorliebe für das Paar hatte, nachdem es lange schon untauglich geworden war. Diesen Nachmittag bei guter Zeit hatte der alte Mazey die Pantoffeln zu dem Schuhmacher im Dorfe getragen, um sie sogleich wieder auszubessern, ehe der Herr den andern Morgen darnach fragte. Er hatte den Fortgang und die Vollendung der Arbeit aufmerksam Übermacht, bis der Abend kam, wo er und der Schuhmacher sich in die Dorfschenke begaben, um einander eins zuzutrinken. Sie hatten diese gesellschaftliche Verrichtung bis tief in die Nacht hinein fortgesetzt und waren in nothwendiger Folge beiderseits vollständig betrunken auseinander gegangen.

Wenn dies Trinkgelage zu keinem andern Ergebniß als jenen nächtlichen Wanderungen in dem Garten von St. Crux geführt hätte, wodurch der alte Mazey das Licht in den östlichen Zimmern erblickte, so würde ihm sein Gedächtniß ohne Frage dasselbe im Lichte einer der preis würdigsten Großthaten seines Lebens gezeigt haben Allein noch eine andere Folge hatte sich daraus ergeben, die der alte Matrose jetzt durch den Branntweindunst, der sein Gehirn umnebelte, dunkel wahrnahm. Er hatte einen Fehler gegen die Mannszucht begangen und einen Vertrauensbruch. In deutlicheren Worten: er hatte feinen Posten verlassen.

Der einzige Schutz wider Admiral Bartrams angeborene Neigung zum Nachtwandeln war die Wache, welche sein treuer alter Diener vor der Thür hielt. Keine Bitten und Vorstellungen hatten Ersteren je dazu vermocht, sich den gewöhnlichen in solchen Fällen üblichen Vorsichtsmaßregeln zu fügen: er weigerte sich aufs Bestimmteste sich einschließen zu lassen. Er kannte nicht einmal selber seine Neigung, im Schlafe zu wandeln, wenn ein Traum ihn aufregte. Immer und immer wieder war der alte Mazey aufgewacht über den Versuchen seines Herrn, das Rollbett im Schlafe zurückzuschieben oder darüber hinwegzuschreiten, immer und immer wieder hatte, wenn er dann den andern Morgen das Geschehene gemeldet hatte, der Admiral sich geweigert, ihm Glauben zu schenken. Als der alte Matrose jetzt in zerstreuter Betrachtung die Thür seines Herrn anstarrte, traten ihm diese vergangenen Dinge wieder dämmerhaft vor die Seele und nöthigten ihn, die ernste Frage sich vorzulegen, ob der Admiral während der ersten Stunden der Nacht sein Zimmer verlassen gehabt habe? Wenn durch einen unglücklichen Zufall das Schlafwandeln über ihn gekommen war, zwangen die Pantoffeln in der Hand den alten Mazey zu dem erschreckenden Schluß, der daraus folgte, —— daß nämlich sein Herr in der kalten Nacht baarfuß über die steinernen Treppen und Gänge aus St. Crux gegangen war.

—— Der Himmel gebe, daß er ruhig gewesen ist, murmelte der alte Mazey, trotz seiner Derbheit und trotz seiner Trunkenheit niedergeschmettert durch den bloßen Gedanken an diese Möglichkeit. —— Wenn Seine Gnaden heute Nacht gewandelt ist, so wird es sein Tod sein!

Er raffte sich für den Augenblick gewaltsam zusammen, stark in seiner hündischen Treue gegen seinen Herrn, wenn er auch in sonst Nichts weiter stark war —— und kämpfte die Betäubung des Weines nieder. Er sah mit festeren Blicken und hellerm Geiste auf das Rollbett Magdalenens Vorsicht, es wieder in seine gewöhnliche Lage zu bringen, stellte es ihm natürlich im Lichte eines Bettes dar, das nicht von der Stelle gerückt worden war. Dann untersuchte er genau die Bettdecke Nicht die kleinste Spur von Eindrücken, wie sie nothwendig zu sehen sein mußten, wenn Jemand darüber hinweg gestiegen wäre, war zu schauen. Es lag also der klare Beweis vor ihm, der endlich sogar seinen verwirrten Augen einleuchtende Beweis, daß der Admiral nicht einen Augenblick sein Zimmer verlassen hatte.

—— Ich will morgen ein Gelübde thun! murmelte der alte Mazey in einer Anwandlung von dankbarer Ueberschwenglichkeit.

Den nächsten Augenblick wirbelten die Dämpfe des Branntweins wieder heimtückisch über sein armes Gehirn hinweg, und der Alte, zu seinem alten Mittel zurückkehrend, schritt den Gang im Zickzack wie gewöhnlich auf und ab und hielt wie gewöhnlich Wacht auf dem Deck seines eingebildeten Schiffes.

Bald nach Sonnenaufgang hörte plötzlich Magdalene das Rasseln der Schlüssel im Schlosse der Thür. Die Thür ging auf, und der alte Mazey erschien auf der Schwelle. Das erste Fieber seiner Betrunkenheit hatte sich mit der Zeit abgekühlt zur milden Wärme reumüthiger Zerknirschung. Er athmete schwerer denn je und ließ von Zeit zu Zeit ein leises Gemurmel hören. Dabei schüttelte er fortwährend sein ehrwürdiges Haupt über seine eigenen Missethaten.

—— Wie stehts nun mit Dir, Du junger Landhaifisch im Unterrocke! frug der Alte. Ist Dein Gewissen still genug gewesen, um Dich einschlafen zu lassen?

—— Ich habe gar nicht geschlafen, sagte Magdalene, indem sie sich vor ihm, ungewiß, was er wohl zunächst thun würde, scheu zurückzog. Ich habe keine Erinnerung von dem, was sich zugetragen, seit Du die Thür zugeschlossen hast, ich glaube, ich bin ohnmächtig gewesen. —— Setzt mich nicht wieder in Schrecken, Mr. Mazey! Ich befinde mich kläglich schwach und unwohl. Was hast Du Vor?

—— Ich habe vor, ’was Ernsthaftes zu sagen, versetzte der alte Mazey mit undurchdringlicher Feierlichkeit. Es ist mir in den Sinn gekommen, hierher zu gehen und mich in der letzten Stunde oder darüber auszusprechen und zu offenbaren. Merke wohl auf meine Worte, junges Frauenzimmer. Ich bin eben im Begriff, mich selbst in Ungnade zu stürzen.

Magdalene zog sich weiter und weiter zurück und schaute auf ihn mit wachsender Unruhe.

—— Ich kenne meine Pflichten gegen Seine Gnaden den Admiral, fuhr der alte Mazey fort, indem er mit der Hand traurig nach der Gegend von seines Herrn Zimmer hinwies. Aber ich mags versuchen, so sehr ich nur will, mag mich im Leibe zerreißen, ich kann’s meiner Seelen nicht übers Herz bringen, gegen Dich, Du junges, schlimmes Ding, als Zeuge aufzutreten. Ich konnte Dich leiden wegen Deines Wuchses, namentlich so um Brust und Taille herum; gleich sowie Du ins Haus kamst, und ich kann mir wahrlich nicht helfen, ich habe Dich gern wegen Deines Wuchses, obgleich Du einen Einbruch begangen hast und obgleich Du so mißgestalt wie die Sünde bist. Ich habe auf schön gebaute Mädels mein Leben lang die Augen der Nachsicht geworfen, und es ist zu spät am Tage, um nun erst die Augen der Strenge auf sie zu richten. Ich bin sieben und siebenzig oder acht und siebenzig, ich weiß es nicht genau. Ich bin ein verwittertes Wrack, die Rippen über und über leck, und meine Pumpen sind zerbrochen, und die Wasser des Todes stürzen herein mit Macht, so schnell sie können. Ich bin ein so elender Sünder, als Du nur in einem Orte in dieser Himmelsgegend finden kannst, Thomas Nagle, den Schuster, allein ausgenommen. Der ist doch noch schlimmer, als ich; denn er ist jünger, denn ich und sollte es besser wissen. Aber das Lange und Kurze davon ist, ich werde in meine Gruft fahren mit einem Auge voll Nachsicht für schön gebaute Mädchen. Desto schändlicher von mir, Du junge Isebel! [Isebel, englisch Jezabel, heißt bekanntlich das böse Weib Ahabs, des Königs zu Samaria, welches ihren Gatten anstiftete, dem Naboth nach dem Leben zu trachten, ihn fälschlich anzuklagen und vom Volke als Gotteslästerer steinigen zu lassen, Alles nur, um dessen schönen Weinberg zu Iesreel bei dem Palaste Ahabs zu gewinnen. S. I. Könige 21. —— Isebel ist dann Schimpfwort geworden für ein böses, arg Verlockendes Weib. W.] desto schändlicher von mir!

Des Alten ungehorsame Augen begannen wider seinen Willen nach ihr zu schielen, als er seine Ansprache mit diesen Worten schloß. Die letzten Reste herben Ernstes auf seinem Gesichte verschwanden bis auf einen trübseligen Zug um seine Mundwinkel herum. Magdalene näherte sich ihm wieder und versuchte das Wort zu ergreifen. Er wehrte ihr aber feierlich mit einem abermaligen traurigen Hände winken.

—— Keine Annäherungen! sagte der alte Mazey: ich bin schon schlecht genug auch ohne Das. Es ist meine Schuldigkeit, Seiner Gnaden dem Admiral meine Meldung zu machen, und ich will sie machen. Aber wenn Du lieber aus dem Hause entwischen willst, ehe der Einbruch gemeldet ist und das peinliche Verhör beginnt, so will ich mich selber in Ungnade stürzen und Dich gehen lassen. Es ist heute früh Markt zu Ossory, und Dawkes wird Dich mitnehmen, wenn ich es ihm sage. Ich kenne meine Pflicht. Meine Pflicht ist, Dich unter Schloß und Riegel zu halten und erst den verdammten Dawkes aufzusuchen. Aber ich kanns meiner Seelen nicht übers Herze bringen, gegen ein schmuckes Mädchen wie Du hart zu sein. Es liegt mir nun einmal im Blute und läßt sich nicht heraustreiben. Desto schändlicher von mir!

Der so sonderbar und unverhofft ihr gemachte Vorschlag setzte Magdalenen vollständig in Erstaunen. Sie war von den Ereignissen dieser Nacht zu sehr erschüttert worden, als daß sie im Stande gewesen wäre, über irgend Etwas einen augenblicklichen Entschluß zu fassen.

—— Ihr seid sehr gut gegen mich, Mr. Mazey, sprach sie. Kann ich es mir nicht erst einen Augenblick überlegen?

—— Ja, Das kannst Du, versetzte der Alte, indem er sich sofort wandte und das Zimmer verließ.

—— Sie find alle von einem Schlage, fuhr der alte Mazey fort, indem er immer noch über das schwache Geschlecht sich Gedanken machte. Was man ihnen auch jemals anbieten mag, immer verlangen sie noch mehr. Groß und klein, einheimisch oder fremd, Liebste oder Ehefrauen, sie sind alle von einem Schlage!

Sich selbst überlassen, kam Magdalene viel schneller und leichter zu einem Entschlusse, als sie gedacht hatte.

Wenn sie im Hause blieb, so hatte sie nur zwei Wege vor sich, entweder daß sie dem alten Mazey aufgab, unter dem Einfluße eines Rausches nnd der damit zusammenhängenden Sinnestäuschungen zu reden, oder daß sie sich in die Umstände fügte. Obgleich der alte Seemann daran schuld war, daß sie in dem Augenblicke, wo sie schon am Ziele war, ihren Erfolg verfehlte, so machte es ihr doch seine Achtung vor ihr in jenem Augenblicke schon in dem bloßen Gedanken unmöglich, sich auf seine Kosten zu vertheidigen, selbst vorausgesetzt —— was doch im höchsten Grade unwahrscheinlich war —— daß ihrer Vertheidigung Glauben geschenkt würde. Im zweiten der beiden Fälle (d. h. wenn sie also den Umständen nachgab) konnte nur eine einzige Folge erwartet werden, sofortige Entlassung und vielleicht noch obendrein Entlarvung. Welchen Zweck erreichte sie, wenn sie dieser Demüthigung sich unterzog, wenn sie das Haus verließ und öffentlich beschimpft in den Augen der Mägde dastand, die sie vom ersten Anfange an gehaßt und beargwöhnt hatten? Der unglückliche Zufall, der ihr buchstäblich den Geheimartikel aus den Händen gerissen hatte, als sie ihn bereits fest zu besitzen glaubte, war nicht wieder gut zu machen. Der einzige zu Tage liegende Trost bei dem Mißgeschick, mit anderen Worten die Entdeckung, daß der Geheimartikel denn wirklich doch vorhanden war und daß George Bartrams Verheirathung in einer gegebenen Zeit einer der darin enthaltenen Punkte war, konnte erst dann in seinem wahren Lichte geschätzt werden, wenn man ihn dem erfahrenen Geschäftsblick des Mr. Loscombe unterbreitete. Jeder Grund, den sie in sich fand, war für sie eine Veranlassung mehr, heimlich das Haus zu verlassen, so lange sie noch freie Hand hatte. Sie sah in den Gang hinaus und rief leise den alten Mazey, daß er zurückkäme.

—— Ich nehme Euer Anerbieten mit Dank an, Mr. Mazey, sagte sie. Ihr wißt nicht, welchen harten Schlag Ihr mir zufügtet, als Ihr mir jenen Brief aus der Hand nahmt. Aber Ihr thatet Eure Pflicht —— und ich kann Euch nur dankbar sein, daß Ihr mich heute früh entfliehen laßt, so hart Ihr auch heute Nacht gegen mich gewesen seid. Ich bin nicht ein solch schlimmes Mädchen, als Ihr von mir denkt, wahrlich nicht.

Der alte Mazey wies diesen Gegenstand zurück mit einer abermaligen traurigen Handbewegung.

—— Laß es gut sein, sprach der Alte, laß es gut sein! Bei einem Sünder, wie ich bin, macht es keinen Unterschied. Wenn Du auch fünfzig Mal schlechter wärst, als Du bist, so würde ich Dich doch ganz ebenso laufen lassen. Nimm Deinen Hut und Dein Umschlagetuch und komm fort. Ich bin mir selber ein Greuel und für Andere eine Warnung: Das bin ich. Kein Gepäck höre Du! Laß all Dein Zeug zurück, auf daß es, wo’s nöthig, Seiner Gnaden dem Admiral überliefert werden kann. Ich kann dann mit Deinen Koffern hart genug sein, Du junge Isebel, wenn ich auch mit Dir nicht hart sein kann.

Mit diesen Worten ging der alte Mazey voran aus dem Zimmer.

—— Je weniger ich von ihr sehe, desto besser, Insonderheit um Brust und Taille herum; sprach er zu sich selbst, als er mit Hilfe des Geländers die Treppe hinunter humpelte.

Das Wägelchen stand im Hintergarten, als sie die unteren Gegenden des Hauses erreichten und Dawkes (der Dienstmann des Amtmannes des Gutes) machte eben den letzten Riemen am Geschirr des Pferdes fest. Der Reif des Frühmorgens sah noch ganz weiß aus im Schatten. Die funkelnden Steinchen des Reifes glitzerten hell auf den zottigen Pelzen des Brutus und Cassius, wie sie sich auf dem Hofe umhertrieben und mit dampfenden Schnautzen und langsam wedelnden Schwänzen auf das Fortfahren des Wagens warteten. Der alte Mazey ging allein hinaus und brauchte seinen Einfluß auf Dawkes. Dieser riß vor blöder Verwunderung die Augen auf und legte für seine Reisegefährtin ein Lederkissen auf den Sitz. Zusammenschauernd in der scharfen Morgenluft wartete Magdalene während der Vorbereitungen zur Abfahrt, indem sie sich nur einer traurigen Gedankenverwirrung und einer grausamen Beängstigung im Herzen bewußt war. Sie zitterte ebenso hilflos, wie in der Nacht, als jetzt der Alte seine Augen der Nachsicht zum letzten Male auf sie warf und ihr einen Abschiedskuß auf die Wangen drückte. In der nächsten Minute fühlte sie, wie er ihr in den Wagen half und sie auf die Schulter pochte. Dann hörte sie ihn in vertraulichem Flüstern ihr zuraunen, daß sie, ob sie nun sitze oder stehe, allemal so schlank wie eine Puppe! sei. Dann war eine Pause, in der Nichts gesprochen wurde und Nichts geschah, darauf nahm der Kutscher die Zügel in die Hand und stieg auf seinen Platz.

Sie erhob sich im Augenblicke der Abfahrt und sah sich um. Der letzte Gegenstand, den sie auf St. Crux sah, war der alte Mazey, wie er im Hofgarten, neben sich seine Kameraden im Guten und im Bösen, die Hunde, seinen Kopf schüttelte, und diese mit den Schweifen wedelnd, schier damit Tact hielten. Die letzten Worte, welche sie hörte, waren das Lebewohl, das der Alte ihrem Liebreiz nachrief.

—— Einbruch oder nicht Einbruch, sagte der alte Mazey, sie ist ein schöngebautes Mädchen, wenn ich jemals ein schönes gesehen habe. Wie jammerschade, wie jammerschade!



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Vierzehntes Buch

Zwischenscene in Briefen.

I.

George Bartram an Admiral Bartram.

London,
den 3. April 1848.

Lieber Oheim!

Nur eine eilige Zeile, um Dich von einem augenblicklichen Hinderniß in Kenntniß zu setzen, an das Keiner von uns gedacht hat, als wir von einander auf St. Crux Abschied nahmen. Während ich die ersten Tage der Woche auf dem »Meierhofe« unnütz hinbrachte, müssen die Tyrrels ihre Anordnungen getroffen haben, London zu verlassen. Soeben komme ich von Portlandsplatze. Das Haus ist zugeschlossen, und die Familie —— Miss Vanstone natürlich mitgerechnet —— verließ gestern England, um die Saison in Paris zuzubringen.

Laß Dich, ich bitte, dies kleine Hinderniß sogleich im Anfange ja nicht beirren. Es ist von keiner großen Bedeutung. Ich habe die Adresse der Wohnung, wo die Tyrrels eingezogen sind, und ich denke ihnen mit dem heutigen Nachtzug nachreisen. Ich werde in Paris schon meine Gelegenheit wahrnehmen, gerade so schnell, als in London selbst. Verlaß Dich darauf, daß das Gras nicht unter meinen Füßen wachsen soll. Ich werde doch einmal in meinem Leben die Zeit bei der Stirnlocke fassen, als ob ich der ungestümste Mann in England wäre, und sei versichert, den Augenblick. sowie ich den Erfolg weiß, sollst Du ihn ebenfalls erfahren.

herzlich
Dein getreuer

George Bartram.



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II.

George Bartram an Miss Garth.

Paris, den 13. April.

Liebe Miss Garth!

Ich habe soeben mit schwerem Herzen an meinen Oheim geschrieben, und ich denke, es ist gegenüber Ihrer freundlichen Theilnahme an mir meine Schuldigkeit, daß ich nicht unterlasse, den nächsten Brief an Sie zu richten.

Sie werden meine Enttäuschung mit mir fühlen, glaube ich, wenn ich Ihnen in den kürzesten und deutlichsten Worten sage, daß Miss Vanstone mich zurückgewiesen hat. —— ——

Meine Eitelkeit hat mich vielleicht beklagenswerther Weise verblendet; allein ich bekenne, daß ich einen ganz andern Erfolg erwartet hätte. Meine Eitelkeit verblendet mich vielleicht noch; denn ich muß Ihnen gestehen, daß ich der Meinung bin, Miss Vanstone hat mich nur mit schwerem Herzen zurückgewiesen. Der Grund, den sie für ihren Entschluß angab, Ersterer ohne Zweifel in ihren Augen ein stichhaltiger Grund —— schien mir weder damals, noch scheint er mir jetzt hinreichend zu sein. Sie sprach in der angenehmsten und freundlichsten Art und Weise; allein sie erklärte fest, daß »die Mißverhältnisse ihrer Familie« ihr als ehrlich denkenden Jungfrau keine andere Wahl ließen, als ihrerseits an meine eigene Wohlfahrt zu denken, da ich selber nicht daran gedacht habe, und dankbar meinen Antrag von der Hand zu weisen.

Sie war so schmerzlich aufgeregt, daß ich nicht wagen konnte, so für meine Angelegenheit zu sprechen, wie ich es wohl unter anderen Verhältnissen gethan haben würde. Bei dem ersten Versuche, den ich machte, um auf die Personen zu kommen, ersuchte sie mich, sie zu schonen und verließ plötzlich das Zimmer. Ich bin noch ungewiß, ob ich die Familienmißverhältnisse, welche diese Kluft zwischen uns aufgerissen haben sollen, dieselben sind, um derentwillen nur ihre Eltern anzuklagen sein würden, oder ob sie darauf deuten will, daß sie eine Frau, wie Mrs. Noël Vanstone, zur Schwester hat. In welchem von diesen Umständen das Hinderniß liegt: nach meiner Ansicht gibt es hier kein Hinderniß. Kann denn dasselbe durch Nichts entfernt werden? Gibt es keine Hoffnung? Verzeihen Sie, daß ich solche Fragen thue. Ich kann meine bittere Enttäuschung unmöglich in mir bergen und allein tragen. —— Weder sie, noch Sie, noch irgend Jemand außer mir können wissen, wie ich sie liebe. ——

Immerdar
Ihr Getreuer,

George Bartram.

NS. Ich werde in ein oder zwei Tagen nach England zurück gehen, indem ich auf dem Wege nach St. Crux über London reise. Es sind Familienangelegenheiten in Verbindung mit dem leidigen Geld, welche mich mit äußerst geringem Vergnügen auf meine nächste Unterredung mit meinem Oheim blicken lassen. Wenn Sie Ihren Brief an Long’s Hotel richten, so wird er mich sicherlich treffen.



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III.

Miss Garth an George Bartram.

Westmorland-House, den 16. April.

Lieber Mr. Bartram!

Sie hatten ganz Recht, wenn Sie vermutheten, daß Ihr Brief mich betrüben würde. Wenn Sie zugleich vermuthet hätten, daß derselbe mich zugleich unwillig machen würde, so würden Sie ebenfalls das Richtige getroffen haben. Ich habe keine Geduld mit dem Stolze und der Verkehrtheit der jungen Frauenzimmer von heutzutage.

Ich habe Nachricht von Nora Es ist ein langer Brief, welcher die Einzelheiten ganz ausführlich darstellt. Ich will nun das ganze Vertrauen auf Ihre Ehre und Verschwiegenheit setzen, welches ich in der That für Sie in mir trage. Um Ihretwillen und um Noras willen will ich Sie wissen lassen, welches der Gewissenszweifel ist, der schuld daran ist, daß Dieselbe in ihrem Stolze und Wahne Sie verschmäht. Ich bin alt genug, um mich aussprechen zu können, und das kann ich Ihnen sagen, wäre sie nur gescheidt genug gewesen, sich bloß von ihren eigenen Wünschen leiten zu lassen, so würde sie gar zu gern Ja gesagt haben.

Die eigentliche Ursache von all dem Unheil ist niemand Geringeres, denn Ihr würdiger Oheim —— Admiral Bartram.

Es scheint, daß der Admiral sich in den Kopf gesetzt hatte —— vermuthlich in Ihrer Abwesenheit von St. Crux —— sich selber nach London aufzumachen und seiner eigenen Neugierde betreffs Noras nachzugehen, indem er unter dem Vorwande, seine alte Freundschaft mit den Tyrrels zu erneuern, auf Portlandsplatz einen Besuch machte. Er kam zur Zeit des zweiten Frühstücks und sah Nora Nach Allem, was ich höre, erhielt er ersichtlich von ihr einen bessern Eindruck, als er erwartete oder wohl gar wünschte, als er in das Haus kam.

Soweit ist dies bloße Vermuthung, aber es ist unglücklicherweise ganz ausgemacht, daß er und Mrs. Tyrrel nach dem Frühstück eine Unterredung unter vier Augen miteinander hatten. Ihr Name wurde nicht genannt, aber als die Rede auf Nora kam, dachten natürlich Beide an Sie. Der Admiral, der ihr selbst volle Gerechtigkeit widerfahren ließ, erklärte sich von Mitleid ergriffen über ihr hartes Lebensloos. Der ärgerliche Wandel ihrer Schwester dürfte —— wie er fürchtete —— ihrer Zukunft allezeit im Wege stehen. Wer könnte sie heirathen, ohne es erst zur Bedingung zu machen, daß sie und ihre Schwester für immer geschiedene Leute wären? Und selbst dann noch würde das Hinderniß bleiben, das ernste Hinderniß für die Familie ihres Gatten, mit einer solchen Frau wie Mrs. Noël Vanstone verschwägert zu sein. Es sei sehr traurig, es sei nicht des armen Mädchens Schuld, aber es sei nichtsdestoweniger wahr, daß ihre Schwester der Stein des Anstoßes für ihr ganzes Leben bleiben würde. —— So sprach er etwa, nicht eigentlich übelwollend gegen Nora, aber mit einem hartnäckigen Glauben an seine eigenen Vorurtheile, der wie Uebelwollen aussah und den Leute von mehr Gefühl als klarem Verstande nur zu geneigt sind, bitter zu empfinden.

Zum Unglück ist Mrs. Tyrrel von solcher Art. Sie ist eine vortreffliche Frau mit warmer Empfindung, von lebhaftem Charakter, aber sehr wenig Urtheil, Nora aufs herzlichste zugethan und für deren Wohl über alle Maßen bedacht. Nach Allem, was ich erfahre hat sie dem Admiral übel genommen und als selbstsüchtig und eitel im höchsten Grade ausgelegt, daß er seine Meinung ihr so gerade ins Gesicht sagte, und dann, als er fort war, dies als einen ihr gegebenen Wink betrachtet, die Besuche seines Neffen nicht weiter zu befördern, gedeutet, —— und das sei ein schreiendes Unrecht, gegenüber, der Herrin des Hauses in ihren eignen vier Wänden. Dies war schon thöricht genug, aber das noch Thörichtere sollte erst noch kommen.

Sobald Ihr Oheim fort war, ließ Mrs Tyrrel unkluger- und tactloserweise Nora kommen, wiederholte ihr die eben stattgefundene Unterredung und machte sie auf den Empfang aufmerksam, den sie von dem Manne zu erwarten habe, der in der Stellung eines Vaters zu Ihr stehe, falls sie einen Heiratsantrag von Ihnen annähme. Wenn ich Ihnen sage, daß Noras treue Anhänglichkeit an ihre Schwester noch unerschüttert fortbesteht und daß unter ihrer edlen Ergebung in die unglücklichen Verhältnisse ihres Lebens ein leicht verletzliches Feingefühl gegenüber Beschimpfungen jeder Art, das tief in ihrem Wesen liegt, verborgen ist, so werden Sie den wahren Beweggrund verstehen, warum dieselbe Sie verworfen hat, was Sie so natürlich und gerechtermaßen verletzen mußte. Es sind alle Drei in dieser Angelegenheit gleichmäßig anzuklagen. Ihr Oheim hatte Unrecht, daß er so unumwunden und unüberlegt seine Einwände aussprach. Mrs. Tyrrel hatte Unrecht, daß sie sich von ihrer Leidenschaft hinreißen ließ, sich selber für beleidigt anzusehen, da kein Mensch an eine Beleidigung gedacht hatte. Und Nora hatte Unrecht, daß sie einen falschen Stolz und einen hoffnungslosen Glauben an ihre Schwester, den füglich kein Dritter theilen kann, über die höheren Anforderungen stellte, die eine Neigung, die das Glück und die Wohlfahrt ihres ganzen Lebens hätte sichern können, an sie hatte.

Allein das Unheil ist nun einmal angerichtet. Die nächste Frage ist, kann der Schaden wieder gut gemacht werden?

Ich hoffe und glaube es allerdings. Mein Rath ist der: nehmen Sie das Nein als keine Antwort. Lassen Sie ihr Zeit, darüber nachzudenken, was sie gethan hat, und es im Stillen, was ich meinestheils gewiß glaube; zu bereuen. Haben Sie. Vertrauen auf meinen Einfluß über sie, um Ihre Angelegenheit in Ihrem Interesse zu betreiben bei jeglicher Gelegenheit, die ich finden kann, warten Sie ruhig den rechten Augenblick ab und fragen Sie wieder bei ihr an. Die Männer, welche gewohnt sind, selber aus Ueberlegung zu handeln, sind viel zu rasch beider Hand, zu denken, daß die Frauen ebenfalls aus Ueberlegnng handeln. Die Frauen sind weit entfernt davon. Sie handeln nach den Eingebungen des Augenblicks und bedauern es hinterher in neun Fällen unter zehn bitterlich. Inzwischen müssen Sie Ihre Interessen selber fördern, indem Sie Ihren Oheim bearbeiten, seine Meinung zu ändern oder wenigstens das Zugeständniß zu machen, seine Meinung für sich zu behalten. Mrs. Tyrrel hat sich voreilig der Ueberzeugung hingegeben, daß der von ihm angerichtete Schade ein mit Willen geschehener sei, was soviel sagen will, als ob er, als er ins Haus kam, schon im hellsehenden Geiste vorausgewußt hätte, was sie thun würde, wenn er fort wäre. Meine Erklärung der Sache ist eine viel einfachere. Ich glaube, daß die Kenntniß von Ihrer Neigung natürlich seine Neugier rege machte, den Gegenstand derselben kennen zu lernen, und daß Mrs. Tyrrels tactlose Lobeserhebungen über Nora ihn reizten, seinerseits mit seinen Einwürfen offen herauszutreten. Auf jeden Fall ist Ihnen Ihr Verfahren ebenso deutlich vorgezeichnet. Gebrauchen Sie Ihren Einfluß auf Ihren Oheim, um ihn zu überreden, die Sache wieder ins Gleiche zu bringen, vertrauen Sie meinem festen Entschlusse Nora als Ihre Gattin zu sehen, ehe sechs Monate ins Land gehen, und betrachten Sie stets als Ihre Freundin und mütterliche Beratherin

Ihre ergebene

Harriet Garth



Kapiteltrenner

IV.

Mrs. Drake an George Bartram.

St Crux, den 17. April.

Sir.

Ich richte diese Zeilen an das Hotel, in welchem Sie zu London zu wohnen pflegen, in der Hoffnung, daß Sie bald genug ans dem Auslande zurückkehren mögen, um meinen Brief sonder Verzug zu erhalten.

Ich bedaure melden zu müssen, daß einige unangenehme Vorfälle auf St. Crux sich zugetragen haben, seit Sie fort sind, und daß mein hochverehrter Brodherr, der Admiral, gut nicht mehr wie früher wohl auf ist. Aus diesen beiden Gründen nehme ich mir die Freiheit, auf eigne Hand an Sie zu schreiben: denn ich denke, Ihre Gegenwart ist in dem Hause sehr nöthig.

In den ersten Tagen des Monats ereignete sich ein sehr bedauerlicher Umstand. Unser neues Stubenmädchen wurde von Mr. Mazey in einer späten Stunde der Nacht mit seines Herrn Schlüsselkörbchen in den Händen betroffen, wie es in Privaturkunden herumstöberte, die in der östlichen Bücherstube aufbewahrt werden. Das Mädchen entfernte sich den andern Morgen heimlich aus dem Hause, ehe noch Jemand von uns auf war, und hat seitdem Nichts wieder von sich hören lassen. Dies Ereigniß hat meinen Herrn höchlich aufgeregt und beunruhigt, und um das Unglück vollständig zu machen, wurde der Admiral gerade an dem Tage, wo das gewissenlose Benehmen des Mädchens entdeckt wurde, von den ersten Anzeichen eines heftigen Erkältungsfiebers ergriffen. Er wußte selbst nicht, noch sonst Jemand, wo er sich die Erkältung zugezogen hatte. Der Arzt wurde geholt und hielt das Fieber auch nieder bis vorgestern, wo es wieder ausbrach unter Umständen, welche Sie beklagen werden, sowie es mich schmerzt, sie niederschreiben zu müssen.

An dem bereits erwähnten Tage, nämlich am Fünfzehnten des Monats benachrichtigte mich mein Herr selber, daß er durch einen den Morgen aus dem Auslande von Ihnen empfangenen Brief, der ihm schlechte Nachrichten gebracht habe, im höchsten Grade beunruhigt werde. Er sagte mir nicht, was das für Nachrichten seien, aber ich habe ihn noch nie zuvor in allen den langen Jahren, die ich in seinen Diensten verlebt habe, so unglücklich und aufgeregt gesehen, und so ganz außer sich, als er mir an jenem Tage vorkam. In der Nacht schien seine Unruhe zuzunehmen. Er war in einem aufgeregten Zustande, daß er den Ton von Mr. Mazeys schwerem Athem draußen nicht ertragen konnte und dem alten Manne die gemessene Weisung gab, sich diese Nacht in einer der Kammern zur Ruhe zu begeben.

Mr. Mazey sah sich natürlich zu seinem Bedauern genöthigt zu gehorchen. Unser einziges Mittel, um den Admiral zu verhindern, im Schlafe sein Zimmer zu verlassen, war somit zu Nichte gemacht, und so kamen wir, Mr. Mazey und ich, überein, daß wir abwechselnd die Nacht bei ihm wachen wollten, indem wir in einem der an unseres Herrn Kammer anstoßenden Zimmer bei halboffener Thüre Wache hielten. Wir konnten auf nichts Besseres verfallen, da wir wußten, daß er es nicht leiden würde, wenn wir ihn einschlössen zumal wir, auch wenn wir hätten wagen wollen, ihn ohne seine Erlaubniß einzuschließen, den Thürschlüssel nicht in den Händen hatten. Ich hielt die Wache in den ersten beiden Stunden, und dann nahm Mr. Mazey meine Stelle ein. Nachdem ich ein wenig auf meinem Zimmer gewesen war, fiel mir ein, daß ja der alte Mann schwerhörig war und daß, wenn seine Augen in der Nacht schwierig würden, man vollends sich nicht darauf verlassen konnte, daß seine Ohren ihn, wenn etwas verfiel, benachrichtigten. Ich fuhr wieder in meine Kleider und ging zu Mr. Mazey zurück. Er war weder eingeschlafen, noch munter, er war in einem Mittelzustande. Mein Geist ahnte das Schlimmste, und ich ging in das Zimmer des Admirals. Die Thür war offen, —— das Bett war leer.

Mr. Mazey und ich gingen sofort die Treppe hinunter. Wir sahen in alle Zimmer im nördlichen Flügel, eins nach dem andern, und fanden keine Spur von ihm. Ich dachte sodann an das Besuchszimmer und ging, weil ich am schnellsten von uns Beiden auf den Füßen war, dorthin voran. In dem Augenblick wo ich um die scharfe Ecke des Ganges herum kam, sah ich meinen Herrn durch die offene Zimmerthür im Schlafwandeln auf mich zukommen, die Schlüssel in der Hand. Da befiel mich die Furcht und hat mich nicht wieder verlassen, sein Traum möchte ihn durch die Banquethalle in den östlichen Flügel geführt haben. Wir unterließen es, ihn aufzuwecken und folgten ihm nach, bis er selber in seine Kammer zurückging. Den nächsten Morgen kamen, es ist traurig zu sagen, alle schlimmen Anzeichen wieder zum Vorscheine, und keines von den angewandten Mitteln hat gefruchtet, um die Krankheit zu überwältigen. Nach dem Rathe des Arztes vermieden wir es dem Admiral zusagen, was vorgefallen war. Er ist immer noch in dem Wahne, daß er die Nacht wie gewöhnlich auf seinem Zimmer zugebracht habe.

Ich bin mit Fleiß auf alle Einzelheiten dieses unseligen Zwischenfalles eingegangen, weil weder Mr. Mazey noch ich selber uns von Schuld frei sprechen wollen, wenn wir Tadel verdient haben. Wir haben Beide gethan, was wir fürs Beste hielten, und bitten Sie Beide flehentlich, Sie wollen unsere verantwortliche Stellung erwägen und je eher je lieber nach St. Crux kommen. Unser verehrter Herr ist sehr schwer zu behandeln, und der Arzt meint, wie wir selber, daß Ihre Anwesenheit im Hause vonnöthen ist.

Ich verbleibe, Sir, mit Mr. Mazeys und meinen eigenen achtungsvollsten Grüßen

Ihre ergebene Dienerin,

Sophia Drake.



Kapiteltrenner

V.

George Bartram an Miss Garth.

St. Crux, den 22. April.

Liebe Miss Garth.

Entschuldigen Sie mich, daß ich Ihnen nicht eher für Ihren freundlichen Trostbrief gedankt habe. Wir sind auf St. Crux in trauriger Unruhe. Jede kleine Aufregung, welche ich über meines armen Oheims unselige Dazwischenkunft auf Portlandplatz gefühlt habe, ist ganz und gar aus meinem Herzen entschwunden über das Unglück seiner schweren Krankheit. Er leidet an einem heftigen Fieber infolge einer Erkältung, und es haben sich Anzeichen gemeldet, die bei seinem Alter das Schlimmste fürchten lassen. Ein Arzt aus London ist jetzt im Hause. Sie sollen binnen wenigen Tagen mehr erfahren. Mittlerweile betrachten Sie mich als Ihren aufrichtig dankbaren und herzlich ergebenen

Getreuer

George Bartram.



Kapiteltrenner

VI.

Mr. Loscombe an Mrs. Noël Vanstone.

Lincoln’s Inn-Fields,
den 6. Mai.

Hochgeehrte Frau.

Ich habe unerwarteterweise einige Nachrichten erhalten, welche von der höchsten Wichtigkeit für Ihre Interessen sind. Die Nachricht von Admiral Bartrams Tode traf heute bei mir ein. Er verschied in seinem Hause am Vierten dieses Monats.

Dies Ereigniß bringt sofort die Erwägungen zur Geltung, die ich Ihnen früher betreffs Ihrer Entdeckungen auf St. Crux vorgelegt hatte. Das klügste Verfahren, das wir nunmehr befolgen können, ist, sofort mit den Testamentsvollstreckern des verstorbenen Herrn in Briefwechsel zu treten, indem wir uns zuerst durch Vermittlung des Rechtsbeistandes des Admirals an sie wenden.

Ich habe heute an den in Frage kommenden Anwalt geschrieben. Mein Brief benachrichtigt ihn einfach, daß wir vor Kurzem von dem Vorhandensein eines Geheimartikels in Kenntniß gesetzt worden seien, der dem verstorbenen Herrn im Gebrauche des ihm durch Mr. Noël Vanstone’s Testament vermachten Vemögens die Hände gebunden habe. Mein Brief nimmt an, daß das Papier unter den Briefschaften des Admirals leicht aufgefunden werden könne, und erwähnt, daß ich der von Mrs. Noël Vanstone zugezogene Rechtsanwalt bin, welcher Mittheilungen an sie in Empfang zu nehmen habe. Meine Absicht dabei ist, daß nunmehr nach dem Geheimartikel für den nur zu wahrscheinlichen Fall, daß die Testamentsvollstrecker denselben noch nicht vorgefunden haben, eine Nachsuchung vorgenommen werde, und zwar ehe die gewöhnlichen Maßregeln getroffen werden, um das Vermögen des Admirals zu verwalten. Wir werden mit gerichtlichen Maßregeln drohen, wenn wir finden, daß wir unsere Absicht nicht erreichen. Allein ich setze nicht voraus, daß es dazu kommen wird. Admiral Bartrams Testamentsvollstrecker müssen Männer von hoher Stellung und Geburt sein, und sie werden Ihnen und sich selber in der Sache nur nützen, wenn sie den Artikel suchen.

Unter diesen Umständen werden Sie natürlich fragen: — was sind unsere Aussichten, wenn die Urkunde aufgefunden wird?

Unsere Aussichten haben eine Licht- und eine Schattenseite. Lassen Sie uns einmal zuerst die Lichtseite vornehmen.

Was wissen wir in diesem Augenblicke?

Wir wissen einmal, daß der Geheimartikel in Wirklichkeit vorhanden ist, zweitens, daß ein Vorbehalt darin ist bezüglich der Verheirathung Mr. George Bartrams in einer gegebenen Frist. Drittens, daß die Frist —— sechs Monate vom Todestage Ihres Gatten— am Dritten dieses Monats abgelaufen. Viertens, daß Mr. George Bartram —— wie ich in Ermangelung jeder sichern Mittheilung ans Ihrem Munde durch Nachforschungen herausbekommen habe, im gegenwärtigen Augenblicke noch unverheirathet ist. Es folgt daraus der Schluß: daß der im Geheimartikel vorgesehene Zweck in diesem Falle vereitelt ist.

Wenn keine anderen Vorkehrungen in dem Testamente getroffen sind, oder, sollten sie auch wirklich darin getroffen sein, sich als schließlich vereitelt erweisen, so halte ich es für unmöglich —— namentlich wenn ein Beweismittel dafür erbracht werden kann, daß der Admiral selbst das Testament als bindend für sich erklärt hat, ich halte es für unmöglich, sage ich, daß die Testamentsvollstrecker über Ihres Gatten Vermögen dergestalt verfügen können, als wenn es vor dem Gesetze ein Theil von Admiral Bartrams Nachlaßmasse wäre. Das Vermächtniß ist ausdrücklich ihm hinterlassen worden unter dem Vermerk, daß er es zu gewissen bestimmten Zwecken verwende, und diese Zwecke sind eben vereitelt worden. Was soll nun mit dem Gelde geschehen? Es war dem Admiral selbst nicht vermacht, wie der Erblasser selbst deutlich erklärt hat, und der Zweck, zu welchem es hinterlassen wurde, ist nicht aufgeführt worden, kann nicht aufgeführt werden. Ich glaube —— wenn der hier vorausgesetzte Umstand wirklich eintritt, —— daß das Geld wieder an den Erblasser zurückfällt. In diesem Falle theilt es das Gesetz, das sich desselben nothwendigerweise annimmt, in zwei gleiche heile. Die eine fällt an Mr. Noël Vanstone’s kinderlose Wittwe, in die andere Hälfte theilt sich Mr. Noël Vanstone’s nächste Verwandtschaft.

Sie werden ohne Zweifel das naheliegende Hinderniß eines Ausganges zu unseren Gunsten selbst herausfinden, wie ich denselben hier dargestellt habe. Sie werden sehen, daß der Ausgang zu seiner Verwirklichung nicht einer, sondern einer Kette von Fügungen bedarf, welche gerade so kommen müssen, wie wir sie uns selbst wünschen. Ich gebe die Stärke dieser Hindernisse gern zu, aber ich kann Ihnen zugleich sagen, daß jene eben erwähnten Fügungen durchaus nicht so unwahrscheinlich sind, als sie auf den ersten Anblick scheinen möchten.

Wir haben allen Grund, zu glauben, daß der Geheimartikel eben sowenig, als das Testament selbst aus der Feder eines ordentlichen Rechtsanwalts erflossen ist. Dies ist ein Umstand zu unseren Gunsten, das ist an sich genug, um die Richtigkeit aller oder mehrerer Punkte zu bezweifeln, die wir vielleicht noch nicht kennen. Eine andere Aussicht, auf die wir rechnen können, findet sich, vermuthe ich, in einer seltsamen Handschrift, die unter der Unterschrift der dritten Seite des Briefes stand, die Sie sahen, die Sie aber unglücklicherweise versäumten zu lesen. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind diese Zeilen von Admiral Bartram, und die Stelle, welche sie einnahmen, hängt gewiß mit der Annahme zusammen, daß sie die wichtige Frage berühren, ob er sich selbst durch den Geheimartikel für gebunden erachtet.

Ich will durchaus nicht falsche Hoffnungen in Ihnen erwecken, ich möchte nur Ihnen den Eindruck verschaffen, daß wir einen Rechtsstreit vor uns haben, der sich wohl der Mühe verlohnt.

Was die Schattenseite der Aussicht betrifft, so brauche ich nicht besonders dabei zu verweilen. Nach dem, was ich bereits geschrieben habe, werden Sie begreifen, daß der Beweis einer haltbaren Bedingung in dem Testamente, die wir nicht kennen, die aber der Admiral in aller Form zur Ausführung gebracht hat, oder welche von seinen Stellvertretern noch jetzt ausgeführt werden kann, für unsere Hoffnungen allerdings ein harter Schlag sein würde. Das Vermächtniß würde in diesem Falle nun zu dem von Ihrem Gatten ausgedachten Zwecke oder zu mehr Zwecken verwendet werden, und von dem Augenblicke an würden Sie keinen Anspruch weiter haben.

Ich habe nur noch hinzuzufügen, daß, so bald ich von des verstorbenen Admirals Sachwalter höre, Sie das Ergebniß erfahren sollen.

Genehmigen Sie, verehrte Frau, die Versicherung meiner treuesten Ergebenheit als

Ihr gehorsamer

John Loscombe.



Kapiteltrenner

VII.

George Bartram an Miss Garth.

St. Crux,
den 15. Mai.

Liebe Miss Garth.

Ich muß Sie mit einem weiteren Briefe behelligen, einestheils, um Ihnen für den freundlichen Ausdruck Ihrer Theilnahme gegen mich bei dem Verluste, der mich betroffen hat, zu danken, anderntheils, um Sie von einem auffallenden Ersuchen, das an meines Oheims Testamentsvollstrecker gestellt wurde, in Kenntniß zu setzen, eines Ersuchens, welches Sie und Miss Vanstone vielleicht Beide gleichmäßig anziehen wird, da Mrs. Noël Vanstone damit in unmittelbarem Zusammenhange steht.

Da ich meine Unkenntniß in allen Rechtssachen nur zu wohl selber kenne, so lege ich eine Abschrift des Ersuchens bei, anstatt zu versuchen, dasselbe zu umschreiben. Sie werden es auffallend finden, daß über die Art und Weise, auf welche die beregte Entdeckung von einem der Geheimnisse meines Oheims, von Personen, die ihm ganz fern stehen, gemacht worden ist.

Als die Testamentsvollstrecker mit den Umständen bekannt gemacht wurden, wandten sie sich an mich. Ich konnte ihnen keine sichere Aufklärung geben, denn mein Oheim zog mich in Geschäftssachen nie zu Rathe. Allein ich hielt es für Ehrensache, ihnen zu sagen, daß der Admiral während der letzten sechs Monate seines Lebens gelegentlich Ausdrücke der Ungeduld in meinem Beisein habe fallen lassen, die mich zu der Annahme berechtigten, daß er durch eine geheime Sorge irgend einer Art gequält werde. Ich erwähnte auch, daß er mir eine sehr seltsame Bedingung auferlegt habe, eine Bedingung, welche trotz seiner Versicherungen des Gegentheils nach meiner Ueberzeugung nicht aus seinem Kopfe kam. Ich sollte nämlich in einer gegebenen Frist, die nunmehr abgelaufen ist, heirathen, wenn ich nicht einer gewissen Summe Geldes verlustig gehen wollte, welche, wie ich glaube, dem Betrage nach der ihm in meines Cousins Testament vermachten Summe gleich ist. Die Testamentsvollstrecker waren mit mir eins darüber, daß diese Umstände einer sonst unglaublichen Geschichte einige Wahrscheinlichkeit verliehen, und entschieden sich, daß eine Nachsuchung nach dem Geheimartikel angestellt werden sollte, da bis dahin Nichts, was einem solchen Artikel ähnlich sähe, unter den Papieren meines Oheims aufgefunden worden wäre.

Die Nachforschung, keine Kleinigkeit in einem Hause wie dieses, ist jetzt bereits seit einer Woche im vollsten Gange. Sie wird von beiden Testamentsvollstreckern und dem Sachwalter meines Oheims geleitet, welcher Letztere ebenso persönlich als seinem Berufe nach mit Mr. Loscombe bekannt ist (Mrs. Noël Vanstone’s Advocat), und welcher auf ausdrückliches Ersuchen von Mr. Loscombe selbst zu diesem Geschäft zugezogen worden ist. Bis zu dieser Stunde ist gar noch Nichts aufgefunden worden. Tausende und aber Tausende von Briefen sind durchgesehen worden, und keiner derselben hat die entfernteste Aehnlichkeit mit einem solchen Briefe, wie wir ihn suchen.

Eine Woche noch, dann werden wir mit dem Suchen zu Ende sein. Nur auf mein ausdrückliches Begehren wird überhaupt die Untersuchung so weit ausgedehnt. Allein da die Großmuth des Admirals mich zum alleinigen Erben von seiner ganzen Verlassenschaft gemacht hat, so sehe ich es als meine Schuldigkeit an, den Interessen Anderer, so feindlich sie auch meinen eigenen Interessen sein mögen, vollkommen gerecht zu werden.

Von dieser Ansicht geleitet, habe ich auch nicht gezögert, dem Advocaten eine angeborene Eigenthümlichkeit meines armen Oheims zu offenbaren, welche wir auf sein ausdrückliches Ersuchen allezeit geheim gehalten haben, ich meine seine Anlage zum Nachtwandeln. Ich theilte mit, daß er ungefähr die Woche vor seinem Tode von der Haushälterin und seinem alten Diener nachtwandelnd betroffen worden sei und daß der Theil des Hauses, in dem er gesehen wurde, und der Schlüsselbund, den er in Händen trug, auf die Vermuthung geführt habe, da er damals von einem der Zimmer im östlichen Flügel kam und daß er vielleicht einige Möbel in einem derselben aufgeschlossen habe. Ich überraschte den Advocatem welcher mit den außerordentlichen von Nachtwandlern ausgeführten Handlungen gänzlich unbekannt zu sein schien, durch die Mittheilung, daß mein Oheim sich im Hause zurecht finden konnte, Thüren auf- und zuschloß, Gegenstände aller Art von einem Platze an einen andern legte, ganz ebenso gut im Schlafe, wie im wachenden Zustande. Und ich erklärte, daß, so lange ich bei mir den leisesten Zweifel hegte, ob er in der fraglichen Nacht nicht von dem Geheimartikel geträumt und seinen Traum ausgeführt habe, ich nicht eher ruhen werde, bis die Zimmer im östlichen Flügel wieder durchsucht wären.

Von Rechtswegen muß ich freilich hinzusehen, daß mein Gedanke sich auch nicht auf die kleinste thatsächliche Grundlage stützen kann. Während der letzten Zeit seiner gefährlichen Krankheit war mein armer Oheim gänzlich unfähig, von irgend Etwas zu reden. Von der Zeit meiner Ankunft auf St. Crux in der Mitte des vorigen Monats bis zur Zeit seines Todes kam nicht ein einziges Wort über seine Lippen, das sich in der entferntesten Art und Weise aus den Geheimartikel bezogen hätte.

Hier also steht die Sache im Augenblicke still. Wenn Sie es für gerechtfertigt halten, den Inhalt dieses Briefes Miss Vanstone mitzutheilen, so bitte ich, ihr zu sagen, daß es meine Schuld nicht sein werde, wenn ihrer Schwester Behauptung, so, gewagt dieselbe auch den Testamentsvollstreckern meines Oheims erscheinen möge, nicht in bester Form geprüft worden.

Genehmigen Sie, verehrte Miss Garth, .die Versicherung meiner unwandelbaren Ergebenheit als

Ihr gehorsamer .

George Bartram.

NS. Sobald alle Geschäftsangelegenheiten aufs Reine gebracht sein werden, gehe ich auf einige Monate außer Landes, um den Trost einer Ortsveränderung zu versuchen. Das Haus wird zugeschlossen und der Sorge von Mrs. Drake anvertraut werden. Ich habe nicht vergessen, daß Sie mir früher sagten, daß Sie gern einmal St. Crux sehen möchten, wenn Sie Sich in der Nähe davon befanden. Wenn Sie einmal in Essex sind in der Zeit, wo ich in der Ferne bin, so habe ich Anstalten getroffen, daß Sie gute Aufnahme finden sollen, indem ich Mrs. Drake angewiesen habe, Ihnen und Ihren Freunden mein Haus und meinen Hof ganz und gar zu Ihrer Verfügung zu stellen.



Kapiteltrenner

VIII.

Mr. Loscombe an Mrs. Noël Vanstone.

Lincoln’s Inn - Fields
den 24. Mai.

Verehrte Frau!

Nachdem ganzer vierzehn- Tage nachgesucht worden —— unter einer Leitung, die, wie ich mich verpflichtet halte, zuzugestehen, mit der gewissenhaftesten und unermüdlichsten Sorgfalt gehandhabt wurde —— ist unter den auf St. Crux vom verstorbenen Admiral Bartram hinterlassenen Papieren eine solche Urkunde wie der Geheimartikel nicht aufgefunden worden.

Unter diesen Umständen haben sich die Testamentsvollstrecker entschieden, nach der einzig denkbaren Richtschnur, die sie für ihre Handlungsweise haben, vorzugehen, nach dem Testamente des Admirals. Diese Urkunde, die vor einigen Jahren aufgesetzt wurde, vermacht das ganze bewegliche und unbewegliche Vermögen [both real and Personal.], d. h. alle seine Liegenschaften, die er zur Zeit seines Ablebens besitzt, sowie all sein baares Geld, das er besitzt, seinem Neffen. Das Testament ist deutlich, und die Folge ist unausbleiblich Ihres Gatten Vermögen ist von dem Augenblick an für Sie verloren. Mr. George Bartram erbt es gesetzlich, wie er das Haus und die Grundstücke von St. Crux gesetzlich erbt.

Ich enthalte mich aller Bemerkungen über diesen Ausgang der Verhandlungen. Der Geheimartikel muß vernichtet worden oder an einem Versteck verborgen sein, das selbst nach den geduldigsten und ausgedehntesten Nachforschungen nicht aufzufinden ist. Es ist für uns Beide unnütz, uns über den Gegenstand den Kopf zu zerbrechen. Ich will Ihre Enttäuschung nicht noch vermehren durch irgendwelche Anspielungen auf die Zeit und das Geld, das ich bei dem mißglückten Versuche, Ihren Interessen förderlich zu sein, verloren habe. Ich will nur aussprechen, daß mein näheres Verhältniß zu der Sache, sowohl was meine Person, als was meinen Beruf anbetrifft, von diesem Augenblicke an als beendigt angesehen werden muß.

Ihr gehorsamer Diener,

John Loscombe.



Kapiteltrenner

IX.

Mrs. Ruddock (Inhaberin eines Logishauses) an
Mr. Loscombe.

Parkterasse,
St. John’s Wood,
den 2. Juni.

Mein Herr!

Da ich auf Anweisung der Mrs. Noël Vanstone Briefe für Sie, welche an Sie gerichtet waren, auf die Post geschafft habe und niemand Anderes kenne, an das ich mich wenden könnte, so erlauben Sie mir, Ihnen die Frage vorzulegen, ob Sie mit Jemand von der Familie derselben bekannt sind; denn ich halte es für recht, daß dieselben angeregt werden sollten, einige Schritte betreffs ihrer zu thun.

Mrs. Vanstone kam zuerst im vergangenen November zu mir, wo sie und ihre Dienerin Zimmer bei mir inne hatten. Bei jener Gelegenheit und auch bei dieser hat sie mir keinen Anlaß gegeben, über sie zu klagen. Sie hat sich wie eine Dame betragen und mich richtig bezahlt. Ich schreibe als Hausmutter im Gefühle meiner verantwortlichen Stellung, ich schreibe nicht ans eigennützigen Gründen.

Nachdem Mrs. Vanstone, welche jetzt ganz allein dasteht, mir richtig gekündigt hat, wird sie mich morgen verlassen. Sie hat mir nicht verhohlen, daß ihre Umstände sich sehr zu ihren Ungunsten verändert haben und daß sie eben deshalb mein Haus verlasse. Das ist Alles, was sie mir sagte, ich weiß nicht, wo sie hingeht, noch was sie zunächst zu thun vor hat. Aber ich habe allen Grund zu glauben, daß sie alle Spuren hinter sich zu vernichten wünscht, wenn sie diese Wohnung verlassen haben wird; denn ich fand sie gestern in Thränen, wie sie Briefe verbrannte, die ohne Zweifel von ihren Freunden waren. In Ansehen und Benehmen hat sie sich in der letzten Woche zum Erschrecken verändert. Ich glaube, es besteht eine schreckliche Verwirrung in ihrem Geiste, und ich fürchte nach Dem, was ich von ihr sehe, daß sie auf dem Punkte steht, in eine schwere Krankheit zu verfallen. Es ist sehr traurig, ein so junges Wesen so jämmerlich verlassen und verwaist zu sehen, wie sie jetzt ist.

Entschuldigen Sie, daß ich Sie mit diesem Briefe behellige; aber es war mir eine Gewissenssache, ihn zu schreiben. Wenn Sie Jemand von ihren Verwandten kennen, so seien Sie so gütig und setzen Sie denselben in Kenntniß, daß keine Zeit zu verlieren ist Wenn sie den morgenden Tag verlieren, werden sie die letzte Möglichkeit verlieren, sie ausfindig zu machen.

Ihre ganz ergebene Dienerin,

Katharina Ruddock.



Kapiteltrenner

X.

Mr. Loscombe an Abs. Ruddock.

Lincoln’s Inn - Fields,
den 2. Juni.

Geehrte Frau!

Meine einzige Beziehung zu Mrs. Noël Vanstone war eine geschäftliche, und diese ist nun beendigt. Ich bin mit Niemandem von ihrer Familie bekannt und kann es nicht auf mich nehmen, mich für meine Person weder mit ihren gegenwärtigen, noch mit ihren ferneren Schritten zu befassen.

Indem ich meine Unfähigkeit, Ihnen irgendwie Beistand zu leisten, bedanke, verbleibe ich

Ihr gehorsamer Diener,

John Loscombe



Kapiteltrenner

Fünfzehntes Buch

Das Ende. In Aarons Anbau.

Erstes Capitel.

Am siebenten Juni erhielten die Reeder des Kauffahrteischiffes DELIVERANCE die Nachricht, daß das Schiff Plymouth berührt habe, um Passagiere ans Land zu setzen, und dann die Heimreise nach dem Hafen von London fortgesetzt habe. Fünf Tage später war das Fahrzeug in dem Flusse und wurde in die Ostindischen Werften geschleppt.

Nachdem Capitain Kirke am Lande das Geschäft, für das er mit seiner Person haftete, abgemacht hatte, traf er brieflich die nöthigen Anordnungen, um seines Schwagers Pfarrhaus in Suffolk am Siebzehnten des Monats zu suchen. Wie gewöhnlich in solchen Fällen erhielt er nun eine Liste von Aufträgen, welche er am Tage vor seiner Abfahrt von London für seine Schwester zu besorgen hatte. Einer von diesen Aufträgen führte ihn in die Nähe von Camden-Town. Er fuhr von der Werfte dahin und machte sich, als er den Wagen fortgeschickt hatte, auf, in der Richtung nach Süden gegen New-Road wieder zurück zu gehen.

Er war nicht gut mit der Gegend bekannt, und seine Aufmerksamkeit schweift wie er so seines Weges fürbaß ging, immer weiter und weiter ab. Seine Gedanken, angeregt durch die Aussicht auf das Wiedersehen der Schwester, waren zurückgewandert bis zu dem Abend, wo er von ihr ging und das Haus zu Fuße verließ. Der Zauber, der damals so stark auf ihn gewirkt hatte, hatte während aller späteren Ereignisse seine Macht über ihn behauptet. Das Gesicht, das ihn auf der einsamen Landstraße verfolgt hatte, hatte ihn auch auf der einsamen See verfolgt. Das holde Weib, das ihm wie ein Traumbild bis an die Thür seiner Schwester gefolgt, war ihm —— ein Theil seiner Gedanken, ein Theil seines Geistes —— bis auf den Deck seines Schiffes gefolgt. Durch Sturm und Windstille auf der Fahrt hinaus, durch Sturm und Windstille auf der Fahrt nach heim war sie bei ihm gewesen. In dem unentwirrbaren Gewühl des Londoner Straßenlebens war sie jetzt bei ihm. Er wußte, was die erste Frage sein würde, wenn er seine Schwester und deren Knaben gesehen haben würde.

—— Ich will sehen, ob ich von etwas Anderem sprechen kann; dachte er; aber wenn Lieschen und ich allein sind, so wird es doch herauskommen wider meinen Willen. ——

Die Notwendigkeit, seine Schritte jetzt solange anzuhalten, bis eine Wagenreihe an einem Uebergange vorüber war, weckte ihn aus seinen Träumereien auf. Er sah sich in einer augenblicklichen Verwirrung um. Die Straße war ihm fremd, er hatte sich verirrt.

Der erste Fußgänger, den er fragte, schien eben nicht viel Zeit zu verlieren zu haben, um ihn ordentlich zurechtzuweisen. Indem er ihn eilig bedeutete, auf die andere Seite der Straße zu gehen, die erste Straße rechts, an welche er käme, einzuschlagen und dann wieder nachzufragen, eilte derselbe ohne Weiteres hinweg und wartete nicht einmal den Dank ab.

Kirke folgte seinen Andeutungen und schlug die Straße zur rechten Hand ein. Die Straße war kurz und eng, die Häuser auf beiden Seiten waren von der geringern Art. Er sah auf, als er an der Ecke vorüberkam um zu sehen, wie die Gegend hieße. Sie hieß »Aarons Anbau«.

Tief unten auf der Seite des »Anbaues«, längs der er selber ging, war ein kleiner Haufe müßiger Leute, der um zwei Wagen herum stand, die beide vor der Thür ein und desselben Hauses vorgefahren waren. Kirke näherte sich dem Haufen, um irgend einen höflichen Mann unter demselben, welcher dies Mal so viel Zeit hätte, ihm Rede zu stehen, nach dem Wege zu fragen. Als er zu den Droschken kam, fand er eine Frau, welche sich mit den Kutschern herumstritt, und hörte so viel, daß er daraus abnahm, wie man aus Versehen nach zwei Droschken geschickt hatte, während nur eine gebraucht wurde.

Die Hausthür stand offen, und als er nun daran vorüberkam, übersah er ohne Mühe die ganze Flur über die Köpfe der Leute hinweg, die vor ihm standen.

Der Anblick, den seine Augen da hatten, hätte doch ja vor den Augen der Vorübergehenden verborgen bleiben sollen. Er sah ein zerlumptes Mädchen mit einem erschrockenen Gesicht bei einem alten Stuhle stehen, der in die Mitte der Flur gerückt war, und eine Frau auf dem Stuhle halten, welche zu schwach und hilflos war, um sich selbst aufrecht zu erhalten, eine Frau, offenbar im letzten Grade der Krankheit, die, als der Streit vor der Thür beendigt war, in einer der Droschken fortgeschafft werden sollte. Ihr Haupt sank in Ohnmacht, als er den ersten Blick auf sie warf, und ein alter Shawl, der es bedeckte, war nach vorn gefallen, so daß er den obern Theil ihres Gesichtes verbarg. Ehe er wieder wegsehen konnte, erhob das Mädchen das sie unterstützte, den Kopf und legte den Shawl wieder zurecht. Diese Bewegung ließ ihr Gesicht einen Augenblick nur frei sehen, ehe ihr Haupt wieder auf die Brust zurücksank. In dem Augenblick aber erkannte er das Weib, dessen Schönheit die ihn unablässig verfolgende Erinnerung seines Lebens war, dessen Bild in seinen Gedanken kaum fünf Minuten vorher gelebt hatte! ——

Die Erschütterung der doppelten Wahrnehmung, des Wiedererkennens des Gesichtes und des Anblickes der damit vor gegangenen schrecklichen Veränderung, machte ihn sprachlos und starr. Die stete Geistesgegenwart, die ihm in allen Lebenslagen zur Seite gestanden, ließ ihn zum ersten Male im Stich. Die ärmliche Straße, der zerlumpte Pöbelhaufe um die Thür schwammen vor seinen Augen. Er fuhr zurück und faßte, um sich zu ermuntern, nach dem kalten Eisengeländer vor dem nächsten Hause hinter sich.

—— Wohin schaffen sie denn die Frau? hörte er ein Weib dicht neben sich fragen.

—— In das Krankenhaus, wenn man dieselbe aufnehmen. will, war die Antwort, und in das Armenhaus, wenn man nicht will.

Diese fürchterliche Antwort machte ihn wieder aufspringen. Er bahnte sich seinen Weg durch die Menge und trat ins Haus.

Das Mißverständniß auf der Straße außen war ausgeglichen worden, und eine von den Droschken war weggefahren. Als er über die Schwelle der Thür schritt, stand er den Leuten gerade gegenüber, welche sie wegschafften. Der Kutscher, der geblieben war, befand sich auf der einen Seite des Stuhles, und das Weib, das mit den beiden Kutschern sich herumgestritten hatte, auf der andern Seite. Sie hoben sie eben in die Höhe, als Kirke’s hohe Gestalt die Thür verdunkelte.

—— Was macht Ihr da mit der Dame? frug er.

Der Kutscher sah auf mit der unverschämten Antwort in den Blicken, ehe sein Mund dieselbe aussprach. Aber das Weib, schneller als er, sah die unterdrückte Regung in Kirke’s Angesicht und ließ den Stuhl einen Augenblick los.

—— Kennen Sie dieselbe vielleicht, Sir? frug das Weib hastig. Sind Sie einer von ihren Verwandten?

—— Ja, sagte Kirke ohne Zaudern.

—— Es ist nicht meine Schuld, Sir, bat das Weib unter dem Blicke, den er auf sie heftete, zusammenschreckend. Ich würde ruhig gewartet haben, bis ihre Verwandten sie gefunden hätten, wahrlich, das ist wahr!

Kirke antwortete nicht. Er drehte sich um und sprach mit dem Kutscher.

—— Gehen Sie hinaus, sagte er, und schließen Sie die Thür hinter sich zu. Ich will Ihnen sofort Ihr Geld schicken.

—— Aus welchem Zimmer des Hauses nahmt Ihr sie, als Ihr sie hier herunter brachtet? fuhr er fort, wieder zu dem Weibe gewandt.

—— Aus dem ersten Stock nach hinten, Sir.

—— Zeigt mir den Weg dahin.

Er beugte sich nieder und hob Magdalene auf seine Arme. Ihr Haupt ruhte sanft an der Brust des Seemanns, ihre Augen sahen verwundert in das Gesicht des Seemanns. Sie lächelte und flüsterte ihm wie geistesabwesend zu. Ihr Geist war zu alten Zeiten daheim gewandert, und ihre ersten gebrochenen Worte zeigten, daß sie sich wieder als Kind auf den Armen ihres Vaters dachte.

—— Armer Papa, sagte sie sanft, warum siehst Du so traurig aus? Armer Papa!

Das Weib ging in das Hinterzimmer des ersten Stocks voraus. Es war sehr klein und ärmlich ausstaffiert. Aber das kleine Bett war sauber, und die wenigen Sachen in der Stube waren ordentlich gehalten. Kirke legte sie zärtlich auf das Bett. Sie faßte eine von seinen Händen mit ihren brennenden Fingern.

—— Mach die Mamma nicht traurig über mich, sagte sie. Schicke Nora.

Kirke versuchte sanft seine Hand loszumachen, aber sie hielt sie nur noch fester. Er setzte sich an das Bett, um zu warten, bis es ihr gefiele, ihn loszulassen. Das Weib stand in einer Ecke des Zimmers und sah auf sie und weinte. Kirke beobachtete sie aufmerksam.

—— Sprecht, sagte er nach einer Pause, mit leiser ruhiger Stimme. Sprecht in ihrem Beisein und sagt mir die Wahrheit.

Mit vielen Worten, unter vielem Schluchzen sprach das Weib.

Sie hatte ihr erstes Stockwerk vor vierzehn Tagen an die Dame vermiethet. Die Dame hatte die Miethe von einer Woche bezahlt und sich Gray genannt. Sie war in den ersten drei Tagen von früh bis Abends aus gewesen und war jedes Mal mit kläglich müden und enttäuschten Blicken wiedergekommen. Das Weib im Hause hatte geargwöhnt, daß sie davongegangen und sich unter einem angenommenen Namen vor ihren Freunden verberge, und daß sie an den drei Tagen, an denen sie so lange abwesend war und wo sie so niedergeschlagen aussah beim Zurückkommen, vergeblich versucht habe, Geld zu bekommen oder eine Stellung zu finden. Wie das auch sein möge, am vierten Tage sei sie krank geworden, abwechselnd mit Frost- und Fieberanfällen. Am fünften Tage war sie noch schlimmer, und am sechsten war sie bald zu schläfrig, bald zu aufgeregt, als daß sie mit sich sprechen ließ. er Apotheker, der in jenem Stadtviertel als Arzt thätig war, war gekommen und hatte sie angesehen und gesagt, daß es ein böses Fieber sei. Er hatte einen »salzigen Trank« zurückgelassen, den das Weib im Hause aus seiner Tasche bezahlt und ohne Erfolg angewendet habe. Sie hatte den einzigen Koffer, den die Dame bei sich gehabt, durchsucht und nur einiges nothwendiges Leinenzeug, keine Kleider, keinen Schmuck, nicht ein Stück von einem Briefe, welches nützlich sein könnte, um ihre Verwandten zu entdecken, aufgefunden. —— Zwischen dem Wagniß, sie unter diesen Umständen zu behalten, und der Grausamkeit, eine kranke Frau auf die Straße zu setzen, hätte die Wirthin selbst nicht geschwankt. Sie würde sie gern bei sich behalten haben, wenn Aussicht auf die Genesung bei der Dame dagewesen und wenn zu verhoffen gewesen wäre, daß ihre Verwandten sich ihrer annahmen. Allein vor noch nicht einer halben Stunde sei ihr Mann, der sie verlassen habe und der nie in ihr Haus käme, außer um ihr das Geld zu nehmen, gekommen, um ihr wie gewöhnlich die paar sauer erworbenen Pfennige wegzunehmen. Sie sei genöthigt gewesen, ihm zu sagen, daß für das erste Stock kein Zins eingegangen sei und daß wahrscheinlich keiner eher eingehen werde, als bis die Dame wiederhergestellt oder ihre Verwandten sie aufgefunden hätten. Als er Das gehört habe, habe er ohne Erbarmen darauf bestanden, daß die Dame Knall und Fall gehen solle. War doch das Krankenhaus da, um sie aufzunehmen, und wenn dasselbe ihr seine Thür verschließen würde, so war es mit dem Armenhaus zunächst zu versuchen Wenn sie nicht binnen einer Stunde außer dem Hause todte, so drohte er zurückzukommen und sie selber fortzuschaffen. Sein Weib wußte zu gut, daß er roh genug war, um auch wirklich nach seinen Worten zu handeln, und so war ihr nichts Anderes übrig geblieben, als eben so zu handeln, wie sie gethan, um der Dame selber willen.

Das Weib erzählte seine ergreifende Geschichte mit allem Anschein, als ob es selbst aufrichtig sich dessen schäme. Gegen den Schluß zu fühlte Kirke das Umklammern der brennenden Finger um seine Hand nachlassen. Er sah wieder auf das Bett zurück. Ihre müden Augen fielen zu, und mit ihrem Gesicht immer noch zu dem Seemanne gewandt, sank sie in Schlummer.

—— Ist Jemand in dem vorderen Zimmer? frug Kirke flüsternd. Kommen Sie herein, ich habe Ihnen Etwas zu sagen.

Das Weib folgte ihm durch die Verbindungsthür zwischen den beiden Zimmern.

—— Wie viel ist sie Ihnen schuldig? frug er weiter.

Die Wirthin nannte die Summe. Kirke legte dieselbe vor sie auf den Tisch.

—— Wo ist Ihr Mann? war seine nächste Frage.

—— Er wartet in dem Gasthofe, bis die Stunde um ist.

—— Sie können ihm das Geld mitnehmen, oder auch nicht, wie Sie es für gut finden, sagte Kirke ruhig. Ich habe Ihnen, so weit Ihr Mann in Frage kommt, nur Eines zu sagen. Wenn Sie wünschen, daß ich ihm alle Knochen im Leibe zerbreche, so lassen Sie ihn in das Haus kommen, so lange ich noch darin bin. —— Halt! Ich habe noch Etwas zu sagen. Wissen Sie von einem Arzte in der Nähe, auf den man sich verlassen könnte?

—— In der Nähe nicht, Sir. Aber ich kenne einen eine halbe Stunde Weges von uns.

—— Nehmen Sie die Droschke vor der Thür, und wenn Sie ihn zu Hause finden, so bringen Sie ihn gleich darin mit her. Sagen Sie ihm, ich warte hier, um seine Meinung zu hören über einen sehr schweren Fall. Er soll gut bezahlt werden und Sie ebenfalls. Machen Sie schnell!

Das Weib verließ das Zimmer. Kirke setzte sich nieder, um ihre Rückkehr zu erwarten. Er hielt die Hände vors Gesicht und suchte sich die seltsame und rührende Lage klar zu machen, in die ein Augenblick ihn gebracht hatte.

Versteckt in den schmutzigen Nebengassen von London unter einem falschen Namen, verstoßen, ohne Freunde und Helfer, dem Mitleid fremder Leute preisgegeben infolge einer Krankheit, die sie darnieder geworfen an Leib und Seele, so mußte er sie wiedersehen, die Frau, die seinem Geiste eine neue Welt der Schönheit erschlossen hatte, die Frau, die durch einen Blick die Liebe in ihm entzündet hatte! Was für ein entsetzliches Mißgeschick hatte sie so grausam getroffen, sie so tief gebeugt! Welche geheimnißvolle Macht hatte ihn in der Stunde ihrer höchsten Noth an den Zufluchtsort ihrer Armuth und Verzweiflung geführt?

—— Wenn es bestimmt ist, daß ich sie noch im Leben wiedersehen soll, so werde ich sie wiedersehen.

Diese Worte kamen ihm wieder bei, jene merkwürdigen Worte, die er beim Abschied zu seiner Schwester gesagt hatte. Mit diesem Gedanken in seiner Seele war er gegangen, wohin ihn seine Pflicht gerufen. Monde auf Monde waren vergangen, Tausende und aber Tausende von Meilen, die sich über die nie rastenden Gewässer hingezogen, waren während desselben durchmessen worden. Und durch diesen Zeitraum und über die Wellen des Weltmeeres hinweg, Tag für Tag und Nacht für Nacht, wie die Winde des Himmels wehten und das wackere Schiff sich vor ihnen her arbeitete, war er der Bestimmung, die seiner harrte, näher gerückt, er war blindlings und willenlos auf das Zusammentreffen auf der Schwelle dieser elenden Thür hingetrieben. —— ——

—— Was hat mich hierher gebracht! sagte er flüsternd. Die Gnade des Zufalls? Nein! Die Gnade des Höchsten!

Er wartete nicht achtend des Ortes, nicht achtend der Zeit, bis der Klang Von Schritten auf der Treppe plötzlich zwischen ihn und seine Gedanken trat. Die Thür ging auf, und der Arzt wurde ins Zimmer geführt.

—— Dr. Merrick! sagte die Wirthin indem sie einen Stuhl für ihn hinstellte.

—— Mr. Merrick, sagte der Fremde, ruhig lächelnd, indem er den Stuhl nahm. Ich bin kein Arzt, ich bin Wundarzt mit unbeschränkter Praxis.

Ob Arzt oder Wundarzt, es war Etwas in seinem Gesicht und seiner Art und Weise, was Kirke auf den ersten Blick sagte, daß dies der rechte Mann sei.

Nach wenigen einleitenden Worten von beiden Seiten schickte Mr. Merrick die Wirthin in die Kammer, um nachzusehen, ob seine Patientin wach sei oder schlafe. Die Frau kam wieder und sagte, sie sei »so zwischen Beidem mitten drin, wieder aufgeregt und in Fieberhitze«. Der Arzt ging sogleich in die Kammer, indem er der Frau ihm zu folgen und die Thür hinter sich zuzumachen hieß.

Eine lange Zeit verging, ehe er wieder in das Vorderzimmer trat. Als er wieder erschien, sprach sein Gesicht statt seiner, ehe eine Frage gestellt werden konnte.

—— Ist es eine ernste Krankheit, sagte Kirke, indem er seine Stimme senkte und die Augen auf das Gesicht des Arztes heftete.

—— Es ist eine gefährliche Krankheit, sagte Mr. Merrick mit Nachdruck auf dem Worte.

Er zog seinen Stuhl näher zu Kirke hin und sah ihn aufmerksam an.

—— Darf ich Ihnen einige Fragen verlegen; welche nicht rein medicinischer Art sind? frug er.

Kirke nickte.

—— Können Sie mir sagen, was sie für ein Leben gehabt, ehe sie in dies Haus gekommen und erkrankt ist.

—— Ich kann es unmöglich wissen. Ich bin eben nach langer Abwesenheit nach England zurückgekehrt.

—— Wußten Sie, daß sie hierher kam?

—— Ich erfuhr es nur zufällig.

—— Hat sie keine weiblichen Verwandten? Keine Mutter? Keine Schwester? Niemand außer Ihnen, der sich ihrer annehmen könnte?

—— Niemand, bevor ich ihre Verwandten ausfindig gemacht, Niemand außer mir selbst.

Mr. Merrick versank in Schweigen. Er sah Kirke noch aufmerksamer an und dachte:

—— Sonderbar. Er ist hier allein und hat für sie zu sorgen, und ist dies Alles, was er weiß?

Kirke sah den Zweifel auf dessen Angesicht und ging unmittelbar auf diesen Punkt los, ehe noch ein Wort weiter zwischen ihnen gesprochen wurde.

—— Ich sehe, daß meine Stellung hier Sie überrascht, sagte er ruhig. Wollen Sie dieselbe einfach als die Stellung eines Verwandten, die Stellung ihres Bruders oder ihres Vaters ansehen, bis ihre Verwandten ausfindig gemacht werden?

Seine Stimme zitterte, und er legte ergriffen seine Hand auf den Arm des Arztes.

—— Ich habe dies Vertrauen für mich beansprucht, sprach er, und Gott ist mein Zeuge, ich werde desselben nicht unwerth sein!

Das arme müde Haupt lag, als er diese Worte sprach, wieder an seiner Brust, und die fiebernden Finger klammerten sich wieder um seine Hand.

—— Ich glaube Ihnen, sagte der Arzt mit Wärme. Ich halte Sie für einen rechtschaffenen Mann. —— Um Ihnen und mir selber Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, lassen Sie mich Ihnen sagen, daß die, eben Von mir gethanen Fragen nicht von bloßer Neugier eingegeben wurden. Keine gewöhnliche Ursache kommt hier in Frage, um zu erklären, wodurch mein Kranker auf das Siechlager geworfen wurde. Sie hat irgend welche schreckliche und geistige Leiden durchzumachen gehabt und ist unter der Last derselben zusammengebrochen. Es würde mir von Nutzen gewesen sein, wenn ich erfahren hätte, welcher Art jene Leiden waren und auch, wie lange oder wie kurze Zeit verging, ehe sie ihnen erlag. In dieser Hoffnung sprach ich.

—— Als Sie mir sagten, daß es eine gefährliche Krankheit sei, sprach Kirke, meinten Sie da Gefahr für ihren Geist oder für ihr Leben?

—— Für Beides, versetzte Mr. Merrick Ihr ganzes Nervensystem ist zerrüttet, alle gewöhnlichen Verrichtungen ihres Gehirns sind in dem Zustande völliger Erschöpfung. Ich kann Ihnen von der Art der Krankheit keine deutlichere Erklärung geben, als diese, das Fieber, welches die Leute im Hause erschreckt, ist lediglich die Folge davon. Die Ursache ist, was ich Ihnen gesagt habe. Sie kann auf dem Bette Wochen auf Wochen liegen, indem sie abwechselnd aus einem Zustande des Phantasierens in einen der Ruhe übergeht. Sie dürfen sich keine Sorge machen, wenn ihr Schlaf weit über die natürliche Zeit hinaus dauert. Jener Schlaf ist ein besseres Heilmittel, als ich verordnen kann, und Nichts darf ihn stören. Alles, was unsere Kunst thun kann, ist, sie zu überwachen, ihr mit Reizmitteln zu helfen und abzuwarten, was die Natur thun wird.

—— Muß sie hier bleiben? Ist keine Hoffnung, daß wir im Stande sind, sie an einen bessern Ort zu bringen?

—— Für den Augenblick keine Hoffnung. Sie ist bereits gestört worden, wie ich höre, und sie befindet sich darum auch schon schlechter. Selbst wenn sie besser wird, wenn sie wieder zu sich selber kommt, würde es ein gefährliches Beginnen sein, sie zu früh zu bewegen, die geringste Aufregung oder Beunruhigung würde gefährlich für sie sein. Sie müssen aus dieser Wohnung machen, was zu machen ist. Die Wirthin hat meine Weisungen, und ich will eine gute Wärterin zu ihrer Beihilfe senden. Es läßt sich nicht mehr thun. So weit ihr Leben in eines Menschen Hand gegeben ist, ist dasselbe in Ihre Hände eben so gut, als in die Meinigen gegeben. Alles kommt auf die Pflege an, die sie unter Ihrer Einleitung in diesem Hause hat.

Mit diesen Worten zum Abschied stand er auf und verließ das Zimmer.

So allein gelassen, schritt Kirke an die Verbindungsthür, und leise daran pochend sagte er der Wirthin, daß er mit ihr sprechen wolle.

Er war nach seiner Unterredung mit dem Arzte viel gefaßter, hatte sein früheres entschlossenes Wesen schon mehr wiedergefunden, als vor der Unterredung. Ein Mann, der in der künstlichen gesellschaftlichen Atmosphäre lebte, die dieser Mann niemals geathmet hatte, würde die weltliche Seite der Lage schmerzlich empfunden haben, deren Neuheit und Sonderbarkeit, die ernste unmittelbare Schwierigkeit, die sie ihm auferlegte, die zahllosen Mißdeutungen in der Zukunft, zu welchen sie Anlaß geben konnte. Kirke dachte mit keinem Gedanken an die Lage. Er sah Nichts als die Pflicht, die sie ihm auferlegte, die Pflicht, die ihm die Abschiedsworte des Arztes klar vor die Seele gestellt hatten. Alles hing ab von der Pflege, die sie unter seiner Aufsicht in diesem Hause fand. Das war seine Aufgabe, und er handelte sofort, ohne sich zu bedenken, darnach, gerade wie er in einem dringenden Falle an Bord seines Schiffes mit Frauen und Kindern verfahren wäre. Er frug die Wirthin in kurzen, scharfen Sätzen. Die einzige Veränderung bei ihm lag in dem leiseren Tone seiner Stimme und in dem ängstlichen Blicke, den er von Zeit zu Zeit auf das Zimmer warf, in dem sie lag.

—— Verstehen Sie, was der Arzt zu Ihnen gesagt hat?

—— Ja, Sir.

—— Das Haus muß ruhig sein. Wer wohnt in dem Hause?

—— Nur ich und meine Tochter, Sir, wir wohnen in den Erdgeschoßzimmern. Die Zeiten sind schlecht gewesen seit Mariä Verkündigung. Beide Zimmer hier über diesem stehen leer.

—— Ich werde sie beide nehmen und die beiden Zimmer hier unten ebenso. Kennen Sie einen thätigen, raschen, zuverlässigen Mann, der Gänge für mich besorgen kann?

—— Ja, Sir. Soll ich gehen...?

—— Lassen Sie Ihre Tochter gehen. Sie dürfen das Haus nicht verlassen, bevor die Wartefrau kommt. Schicken sie den Boten nicht herauf. Menschen von dieser Classe treten zu schwer auf: ich will hinuntergehen und ihn an der Thür empfangen.

Er ging hinunter, als der Bote kam, und schickte ihn zuerst nach Feder, Tinte und Papier. Der zweite Auftrag des Mannes war, daß er eine Person suchen mußte, welche das Geräusch vorbeirollender Wagenräder auf der Straße durch Ausstreuen von Lohe vor dem Hause dämpfen konnte. Als dies ausgeführt war, erhielt der Bote zwei Briefe, um sie zur Post zu schaffen. Der erste war an Kirke’s Schwager gerichtet. Er erzählte demselben in kurzen deutlichen Worten, was vorgefallen war, und überließ es ihm, die Nachricht seiner Frau beizubringen, wie er es für gut fände. Der zweite Brief war an den Wirth des Hotels in Aldborough gerichtet. Magdalenens angenommener Name auf Northsteinvilla war der einzige Name, unter dem sie Kirke kannte, und die einzige Möglichkeit, ihre Verwandten zu ermitteln, die ihm einfiel, war, daß er ihre vermeintlichen Verwandten, Oheim und Tante, mittelst Nachforschungen von Aldborough aus ausfindig machte.

Gegen Ende des Nachmittags kam eine anständige Frau in den mittleren Jahren ins Haus mit einem Briefe von Mr. Merrick Sie war dem Arzt bekannt als eine zuverlässige und gewissenhafte Person, welche seine eigene Frau gepflegt hatte, und sie würde, schrieb er, bisweilen durch eine Dame unterstützt, welche zu einer religiösen Schwesterschaft in dem Stadtviertel gehöre, und deren wärmstes Mitgefühl in dem beregten Falle lebendig geworden sei. Gegen acht Uhr des Abends werde der Arzt selber vorkommen und nachsehen, daß der Kranken Nichts abgehe.

Die Ankunft der Wärterin und der Trost, daß sie zuverlässig sei, gaben endlich Kirke Luft, an sich selber zu denken. Sein Gepäck lag fertig gepackt da, für seine für den andern Tag beabsichtigte Reise nach Suffolk. Es war nur nöthig, dasselbe von dem Gasthofe nach der Wohnung in Aarons Anbau schaffen zu lassen. Er hielt auf seinem Wege nach dem Gasthofe nur ein Mal an, um in einen Spielzeugladen in einem der großen Durchgänge zu schauen. Die Kinderschiffe in dem Fenster erinnerten ihn an seinen Neffen.

’— Mein kleiner Namensvetter wird sehr betrübt sein, wenn er mich morgen nicht sieht, dachte er. Ich muß es bei dem Knaben wieder gut wachsen, indem ich ihm Etwas von seinem Oheim sende. Er ging in den Laden und kaufte eins von den Schiffen. Es wurde in seiner Gegenwart in eine Kiste gelegt, verpackt und mit Adresse versehen. Er legte eine Karte auf das Verdeck des Kinderschiffleins, ehe der Deckel der Kiste zugenagelt wurde, worauf die Worte standen:

Ein Schiff für den kleinen Seemann und vom großen Seemann einen herzlichen Gruß dazu.

—— Kinder haben es gern, wenn man an sie schreibt, beste Frau, sagte er wie zur Entschuldigung zu der Dame hinter dem Ladentische. Schicken Sie die Kiste, so schnell sie können, —— es liegt mir daran, daß der Knabe sie morgen bekommt.

Gegen die Abenddämmerung hin kam er mit seinem Gepäck nach Aarons Anbau zurück. Er zog seine Stiefeln in der Flur aus und trug feinen Koffer selber hinauf, indem er, als er am ersten Stock vorbeikam anhielt, um seine Nachfragen anzustellen. Mr. Merrick war gerade da und konnte ihm Rede stehen.

—— Sie war munter und redete irre, sagte er, ein paar Minuten vorher. Allein wir sind so glücklich gewesen, sie zur Ruhe zu bringen, und sie schläft jetzt.

—— Sind ihr keine Worte entschlüpft, Sir, welche dazu verhelfen könnten, ihre Verwandten ausfindig zu machen?

Der Arzt schüttelte mit dem Kopfe.

—— Wochen und Wochen können noch vergehen, sagte er, und die Geschichte des armen Kindes kann immer noch ein verschlossenes Geheimniß für uns alle sein. Wir können nur abwarten.

So endigte der Tag, der erste von den vielen, die da kommen sollten.



Kapiteltrenner

Zweites Capitel.

Das warme Sonnenlicht des Juli sanft durch einen grünen Fenstervorhang scheinend,.. ein offenes Fenster mit frischen Blumen, die auf dem Gesims standen,.. ein fremdes Bett in einem fremden Zimmer,.. eine riesige Gestalt weiblichen Geschlechts, wie ein Traumgebilde von Mrs. Wragge aufragend an der einen Seite des Bettes und versuchend, in die Hände zu schlagen,.. eine andere Frau —— eine Fremde —— diese Hände festhaltend, ehe sie Geräusch machen konnten,.. eine milde klagende Stimme —— wieder wie ein Traum von Mrs. Wragge, die das Schweigen mit folgenden Worten brach...

—— Sie kennt mich, werthe Frau, sie kennt mich, wenn ich mich nicht freuen kann, so wird es mein Tod sein!

Das waren die ersten Seufzer, die ersten Töne, für welche nach sechs Wochen der Bewußtlosigkeit Magdalene plötzlich und wunderbar erwachte.

Nach einem Weilchen wurden die sichtbaren Dinge wieder düsterer, und die Töne sanken in Schweigen. Schlaf, der barmherzige Bruder, Umfaßte sie und lullte sie ein zur Ruhe.

Einen Tag weiter, und schon waren die Erscheinungen deutlicher, die Töne lauter. Noch einen weiter, und sie hörte eine Männerstimme durch die Thür herein fragen nach Kunde von dem Krankenzimmer. Die Stimme war ihr fremd, sie war immer noch aus Vorsicht leise und von demselben ruhigen Tone. Sie frug nach ihr am Morgen, wenn sie erwachte, am Mittag, wenn sie Speise zu sich nahm, des Abends, ehe sie sich wieder zur Ruhe zurecht legte.

—— Wer ist so besorgt um mich?

Das war der erste Gedanke, den ihr Geist stark genug war zu fassen.

—— Wer ist so besorgt um mich? ——

Noch wenige Tage weiterhin, und sie konnte mit der Wärterin an ihrem Bette reden, sie konnte auf die Fragen eines ältlichen Herrn antworten, der weit mehr von ihr wußte, als sie selbst von sich wußte, und welcher ihr sagte, daß es Mr. Merrick, der Arzt sei. Sie konnte, gestützt von Kissen, im Bette aufsitzen, sich darüber wundernd, was mit ihr geschehen war und wo sie war. Sie konnte eine wachsende Neugier empfinden ob jener ruhigen Stimme, welche von draußen durch die Thür herein immer nach ihr fragte, Morgens, Mittags und Abends.

Noch einen Tag Aufschub, und Mr. Merrick frug sie, ob sie stark genug sei, eine alte Freundin zu sehen. Eine demüthige Stimme, welche sich von hoch oben herab vernehmen ließ, sagte:

—— Ich bins nur.

Der Stimme folgte die fabelhafte leibliche Erscheinung von Mrs. Wragge mit ganz verschobener Haube und nur einem Schuh (der andere befand sich im nächsten Zimmer).

—— Ach, seht her, seht her! schrie Mrs. Wragge in voller Ausgelassenheit und sank mit einem Krach, der das Haus erschütterte, an Magdalenens Bette aus die Kniee. Gott stärke sie, sie ist wahrlich schon wohlauf genug, um über mich zu lachen. »Hurrah, Jungens, Hurrah....« Ich bitte Sie um Entschuldigung, Doctor, mein Benehmen ist nicht fein, ich weiß es wohl. Es ist mein Kopf, Sir; ich bin’s nicht. Ich muß mir irgendwie Luft machen, sonst würde mir der Kopf bersten...

Kein zusammenhängender Satz,um auf irgend eine Frage zu antworten, konnte aus Mrs. Wragge den Morgen herausgebracht werden. Sie erhob sich von einem Gipfel der Sprachverwirrung auf den andern und endigte ihren Besuch unter dem Bette, indem sie blindlings nach ihrem zweiten Schuh herumsuchte.

Der Morgen kam, und Mr. Merrick versprach, daß sie den Tag darauf auch einen alten Freund sehen sollte. Am Abend, als die fragende Stimme sich nach ihr wie gewöhnlich erkundigte und die Thür ein paar Zoll weit geöffnet wurde, um die Antwort zu geben, antwortete sie mit schwacher Stimme selbst für sich:

—— Ich befinde mich besser, ich danke Ihnen.

Es trat eine augenblickliche Stille ein, und dann gerade, als die Thür wieder geschlossen wurde, sank jene Stimme zu einem Flüstern herab und sagte feurig:

—— Gott sei Dank!

Wer war er? Sie hatte Alle gefragt, und Niemand wollte es ihr sagen. Wer war er nur?...

Der nächste Tag kam, und sie hörte ihre Thür leise öffnen. Rasche Schritte trippelten ins Zimmer, eine kleine flinke Gestalt näherte sich dem Bette. War es wieder ein Traum? Nein! Da war er mit seiner immergrünen Wirklichkeit, mit dem weich von den Lippen strömenden Redeflusse, mit dem zuckenden Zuge von Humor, der in seinen verschiedenfarbenen Augen flackerte, da war er, kecker, aufschwatzender, anständiger, als je, in einem Anzuge von glänzendem Schwarz mit fleckenloser weißer Binde und einer fröhlich hervorsprossenden Krause, der nie erröthende, der unverwüstliche, der unveränderliche Wragge!

—— Kein Wort, mein liebes Kind! sagte der Hauptmann und setzte sich in seiner alten vertraulichen Art bequem an ihrem Bette zurecht. Ich werde das Sprechen allein übernehmen, und ich denke, daß eine für diesen Zweck geeignetere Person unmöglich aufzufinden sein dürfte. Ich bin wirklich erfreut, aufrichtig erfreut, wenn ich ein so augenscheinlich hier unabwendbares Wort gebrauchen darf, Dich wiederzusehen und zu sehen, wie es Dir besser geht. Ich habe oft an Dich gedacht, ich habe Dich oft vermißt, ich habe oft zu mir selbst gesagt... doch gleichviel, was ich gesagt habe... Man mache die Bühne frei und lasse den Vorhang fallen über die Vergangenheit. Dum vivimus, vivamus! [So lange wir das Leben haben, laßt es uns genießen.] Verzeih den Zopf einer lateinischen Redewendung, mein Kind und sage mir, wie ich aussehe? Bin ich oder bin ich nicht das Bild eines wohlhabenden Mannes?

Magdalene versuchte ihm zu antworten. Die Wortsindfluth des Hauptmanns kam aber augenblicklich wieder hereingestürzt.

—— Strenge Dich nicht selber an, sagte er. Ich will alle Deine Fragen an Deiner Statt stellen. —— Wo ich gesteckt habe? —— Warum ich so merkwürdig wohl aussehe? Und wie in aller Welt ich meinen Weg zu diesem Hause gefunden habe? —— Liebes Kind, ich bin, seitdem wir uns zuletzt gesehen, damit beschäftigt gewesen, meine alten Berufsgewohnheiten allmählich zu ändern. Ich bin von der moralischen Bewirthschaftung zur medicinischen Bewirthschaftung übergegangen. Früher machte ich meine Rechnung auf das Mitgefühl des Publikums, jetzt mache ich sie auf den Magen des Publikums. Magen und Mitgefühl, Mitgefühl und Magen —— sieh Beiden fest ins Gesicht, wenn Du über die Fünfzig hinaus bist, und Du wirst zugeben, daß sie beinahe auf Eins hinauskommen. Wie dem auch sein mag, hier stehe ich, so unglaublich es auch scheinen mag, endlich als ein vermögender Mann. Die Gründer meines Vermögens sind drei an der Zahl. Ihre Namen sind: Aloe,, Scammonium (Windenharz) und Gummigutti. Mit einem Worte, ich lebe von einer Pillensorte. Ich legte mir, wie Du Dich erinnerst, durch meine Geschäftsbeziehungen zu Dir einiges Geld zurück. Ich legte noch Etwas dazu in Folge des glücklichen Ablebens — requiescat in peace! [ Friede ihrer Seele!] —— der Verwandten von Mrs. Wragge, von welcher, wie ich Dir früher erzählte, meine Frau einmal Etwas zu erwarten hatte. Sehr gut. Was denkst Du nun wohl, das ich that? Ich Verwandte mein ganzes Capital mit einem kühnen Wurfe zu Ankündigungen und kaufte meine Spezereien und meine Pillenschachteln auf Borg. Der Erfolg liegt jetzt vor Deinen Augen. Hier stehe ich, eine große finanzielle Thatsache. Hier stehe ich in Kleidern, die wirklich bezahlt sind, mit einem Guthaben im Buche des Banquiers, mit meinem Diener in Livree und meinem Gig vor der Thür, zahlungsfähig, Glück machend, beliebt —— und alles Das Dank einer gewissen Pille.

Magdalene lächelte. Das Gesicht des Hauptmanns nahm einen Ausdruck von schalkhaftem Ernst an, er fah aus, als gäbe es auch eine ernste Seite der Frage und als wollte er dieselbe zunächst hervorheben.

—— Es gibt hier nichts zu lachen für das Publikum, mein Kind, sagte er. Die Leute können meiner und meiner Pillen nicht entrathen, sie müssen uns nehmen. Es gibt keine einzige Form in der ganzen Mannigfaltigkeit der Ankündigungem die ein Mensch erlassen kann, die ich nicht in diesem Augenblick dem unglücklichen Publikum gegenüber anwendete. Leih Dir die letzte neue Novelle, und siehe, ich bin bereits darinnen auf dem Umschlage des Buches. Laß Dir das letzte neue Musikstück holen: in dem Augenblicke, wo Du die Blätter aufschlägst, falle ich daraus Dir entgegen. Nimm einen Cab: ich fliege roth zum Fenster herein. Kaufe eine Büchse Zahnpulver im Kräutergewölbe, ich springe Dir auf der Verpackung blau in die Augen. Zeige Dich im Theater, ich flattere gelb auf Dich hernieder. Die bloßen Titel meiner Anzeigen sind ganz unwiderstehlich. Laß mich nur einige ans der Ausgabe von letzter Woche anführen:

Titel mit Sprichwort:
Eine Pille zu rechter Zeit
schützet oft vor Schmerz und Leid.


Gemüthlicher Titel:
Entschuldigen Sie. wie stehts mit Ihrem Magen?

Patriotischer Titel:
Welches sind die drei Merkmale einen wahren Engländers?
—— sein Herd. seine Heimath und seine —— Pille.


Titel in Gestalt eines Kindergesprächs:
—— Mamma, mir ist nicht wohl.
—— Was fehlt Dir, mein Püppchen?
—— Ich mochte eine kleine Pille.


Titel in Gestalt einer geschichtlichen Anekdote:
Neue Entdeckung in den Quellen der englischen
Geschichte. Als die Prinzen [d. h. die Söhne Eduards.] im Tower erstickt wurden, sammelte ihr treuer Diener alle von ihnen hinterlassenen kleinen Besitzstücke. Unter diesen rührenden Kleinigkeiten, die den armen Kindern theuer waren, fand er eine zinnerene Büchse. Sie enthielt die Pille jener Zeit. Ist es erst nöthig zu sagen. wir weit jene Pille unter ihrer modernen Nachfolgerin stund. welche Prinz und Bauer. einer so gut als der Andere, erhalten kann?


Und so weiter und so weiter.

—— Der Ort, wo meine Pille gemacht wird, ist an sich eine Ankündigung. Ich habe einen von den größten Läden in London inne. Hinter einem Ladentische, welcher für das Publikum durch schimmernde Wände von Tafelglas sichtbar ist, stehen vierundzwanzig junge Leute mit weißen Schürzen, welche die Pille anfertigen. Hinter einem andern Tische sind vierundzwanzig junge Leute in weißen Cravatten beschäftigt, die Schachteln zu machen. Im Hintergrunde des Ladens sind drei ältere Comtoiristen thätig, die umfänglichen Geldgeschäfte, welche mit der Pille gemacht werden, in drei ungeheure Bücher einzutragen. Ueber der Thür steht mein Name mit Bildniß und Namenszug, vergrößert in kolossalen Verhältnissen und umgeben von dem Motto des Geschäfts in fließenden Buchstaben:

Nieder mit den Doktoren!

—— Sogar Mrs. Wragge trägt ihr Scherflein zu dieser wunderbaren Unternehmung bei. Sie ist »die berühmte Frau«, welche ich aus unbeschreiblichen Schmerzen von jeder Beschwerde unter der Sonne geheilt habe. Ihr Bildniß ist auf allen Umschlägen gestochen mit folgender Unterschrift darunter:

Ehe diese Kranke die Pille nahm, hätte man sie wie eine Feder wegblasen können. Sehe man sie dafür jetzt an!!!

—— Endlich aber kommt das Beste, mein liebes Kind. Die Pille ist die Ursache, daß ich mich zu diesem Hause gefunden habe. Meine Obliegenheit bei dem bereits erwähnten wunderbaren Unternehmen ist, das Vereinigte Königreich in einem Gig zu durchstreifen und aller Orten Agenturen zu errichten. Während ich nun eine dieser Agenturen gründete, hörte ich von einem gewissen Freunde, der eben erst nach einer langen Seereise in England gelandet war. Ich bekam seine Adresse in London, er wohnte in diesem Hause. Ich besuchte ihn sofort und war betroffen durch die Nachricht von Deiner Krankheit. —— Das ist in kurzen Worten die Geschichte von meiner wirklich bestehenden Verbindung mit britischer Arzneikunde, und so kommt es, daß Du in gegenwärtigem Augenblicke auf diesem leibhaften Stuhle sitzen siehst Deinen wie immer aufrichtig ergebenen Freund und Oheim, Horatio Wragge.

In diesen Worten brachte der Hauptmann seine Darstellung, soweit sie ihn selber anging, zum Abschluß. Er sah immer aufmerksamer auf Magdalene, je näher er dem Schlusse kam. Gab es eine geheime Bedeutung, die sich an seine letzten Worte knüpfte, die nicht gleich offen am Tage lag? Allerdings Sein Besuch im Krankenzimmer hatte einen tieferen Zweck, und diesem Zweck war er nun nahe gekommen.

Als Hauptmann Wragge die Umstände schilderte, unter denen er mit Magdalenens gegenwärtiger Lage bekannt geworden sei, hatte er mit seiner gewöhnlichen Geschicklichkeit einen weiten Bogen geschlagen um die äußersten Grenzen der Wahrheit. Der Hauptmann hatte, angereizt durch den Umstand, daß ein öffentlicher Scandal in Verbindung mit Noël Vanstones Verheirathung oder mit seinem Tode, der in den Zeitungen angekündigt worden, ausgeblieben war, sich bei seinen Streifzügen in den östlichen Marken des Landes vor ungefähr vierzehn Tagen nach Aldborough zurück gewagt, um daselbst eine Agentur für den Verkauf seiner wunderthätigen Pille zu errichten. Niemand hatte ihn erkannt außer der Wirthin des Hotels, welche sofort darauf bestand, daß er ins Haus trete und Kirkes Brief an ihren Mann lese. Denselben Abend schon war Hauptmann Wragge in London und schloß sich mit dem Seemann auf dem Zimmer des zweiten Stockes in Aaron’s Straßenhäusern ein.

Die ernste Natur der Lage, die nicht wegzuleugnende Gewißheit, daß Kirke vergeblich sich abmühen werde, Magdalenens Familie ausfindig zu machen, wenn er nicht vorher wußte, wer sie eigentlich war, hatte den Hauptmann entschieden, wenigstens einen Theil der Wahrheit zu enthüllen. Indem er sich weigerte, auf Einzelheiten einzugehen, aus Familienrücksichten welche Magdalene bei ihrer Wiederherstellung nach Gefallen erklären könne, setzte er Kirke durch die Mittheilung in Erstaunen, daß die verlassene Frau, die er gerettet und welche er bis zu dieser Stunde immer nur als Miss Bygrave gekannt hatte, keine andere als die jüngere Tochter von Andreas Vanstone war. Die Entdeckung von Seiten Kirkes, daß er dem Vater mit dem jungen Offizier in Canada genau bekannt gewesen, war natürlich auf die Enthüllung von Magdalenens wahrem Namen gefolgt. Ein vierzehn Tage später, als die Genesung der Kranken dem Arzte die ernste Schwierigkeit bereitete, den Fragen Stand halten zu müssen, welche Magdalene sicherlich an ihn richten würde, war wie gewöhnlich der Scharfsinn des Hauptmanns auf ein Auskunfsmittel verfallen.

—— Die Wahrheit können Sie ihr nicht sagen, sprach er, ohne schmerzliche Erinnerungen an ihren Aldborougher Aufenthalt zu erwecken, auf die ich nicht näher eingehen darf. Geben Sie gerade jetzt noch nicht zu, daß Mr. Kirke sie nur als Miss Bygrave von Nordsteinvilla kannte, als er sie in diesem Hause fand. Erzählen Sie ihr dreist, daß er gewußt habe, wer sie sei und daß er das Gefühl hatte —— das er haben mußte —— als ob er ein angestammtes Recht darauf habe, ihr Beistand zu leisten, so wahr er seines Vaters Sohn sei.

—— Ich selber bin, wie ich Ihnen bereits mitgetheilt, fuhr der Hauptmann an seiner alten Behauptung wirklicher Blutsverwandtschaft festhaltend fort, ein weitläuftiger Verwandter der Combe-Ravener Familie, und falls niemand Anderes zur Hand ist, um Ihnen über diese Schwierigkeit hinweg zu helfen, so stehe ich Ihnen mit Vergnügen zu Diensten.

Es war allerdings niemand Anderes zur Hand, und der Fall war dringend. Wenn fremde Personen die Verantwortung über sich genommen hätten, so hätten sie unwissentlich die Wunden früherer Erinnerungen wieder aufreißen können, deren Erneuerung vielleicht ihr Tod gewesen wäre. Nähere Verwandte konnten, falls sie zu früh am Bette erschienen, denselben beklagenswerthen Erfolg haben. Die Wahl lag so: es galt entweder, sie durch Unbeantwortet lassen ihrer Fragen zu reizen und zu beunruhigen, oder sich dem Hauptmann Wragge zu vertrauen. Nach der Ansicht des letzteren war das zweite Uebel das kleinere. Darum saß jetzt der Hauptmann an dem Bette Magdalenens, indem er den ihm anvertrauten Auftrag ausführte.

Ob sie wohl die Frage that, auf welche leicht und unvermerkt bei ihr hinzuarbeiten Hauptmann Wragges heimliche Absicht bei seinen einleitenden Worten war?

Allerdings Sobald sein Schweigen ihr die Möglichkeit gab, zu Worte zu kommen, that sie die Frage.

—— Wer war derjenige Ihrer Freunde, der mit im Hause wohnte?

—— Du solltest ihn eigentlich eben so gut als ich kennen, sprach der Hauptmann. Er ist der Sohn von einem Kriegskameraden Deines seligen Vaters von Canada aus, als derselbe mit seinem Regiment in Amerika stand. Deine Wangen brauchen nicht roth zu werden. Wenn sie es doch werden, gehe ich fort.

Sie war überrascht, aber nicht aufgeregt. Hauptmann Wragge hatte damit angefangen, sie für eine ferne Vergangenheit zu interessieren, die sie nur vom Hörensagen kannte, ehe er sich auf das heikle Gebiet ihrer eigenen Lebenserinnerungen wagte.

Einen Augenblick später ging sie zu ihrer nächsten Frage über:

—— Wie war sein Name?

—— Kirke, fuhr der Hauptmann fort. Hörtest Du nie von seinem Vater, Major Kirke, Commandant des Regiments in Canada? —— Hörtest Du nie davon, daß dieser Major Deinem Vater aus einer großen Verlegenheit half, wie nur der beste Kamerad und Freund es thun kann?

Ja. Sie hatte eine dunkle Erinnerung, daß sie Etwas über ihren Vater und einen Offizier gehört hatte, welcher sehr gut gegen ihn gehandelt habe, als er noch ein junger Mann war. Aber sie konnte nicht so lange rückwärts in die Vergangenheit blicken. ——

—— War Mr. Kirke arm?

Selbst Hauptmann Wragges Scharfsinn wurde durch diese Frage in Verlegenheit gesetzt. Er gab auf gut Glück die Antwort:

—— Nein, sagte er, nicht arm.

Ihre nächste Frage zeigte an, was sie gedacht hatte.

—— Wenn Mr. Kirke nicht arm war, wie kam es, daß er in einem solchen Hause wohnte?

—— Sie hat mich in die Falle gelockt, dachte der Hauptmann. Es gibt nur einen Weg, um wieder herauszukommen: ich muß ihr eine zweite Gabe Wahrheit verabreichen.

—— Mr. Kirke entdeckte Dich hier durch einen Zufall, fuhr er laut fort, wie Du krank und nicht eben gut verpflegt warest. Es war Jemand nöthig, der sich Deiner annahm, so lange Du nicht im Stande warst, allein fertig zu werden. Warum nicht Mr. Kirke? Er war der Sohn von Deines Vaters altem Freunde, was beinahe eben soviel heißt, als Dein eigener alter Freund. Wer hatte eher das Recht, nach einem ordentlichen Arzt zu schicken und eine ordentliche Wärterin anzunehmen, —— wenn ich selber nicht zur Stelle war, um Dich mit meiner wunderthätigen Pille zu curiren? —— Gemach, gemach, Du darfst den Schooß meines pikfeinen schwarzen Rockes nicht so geradezu fassen.

Er legte ihre Hand wieder aufs Bett, aber sie ließ sich auf diese Art nicht irre machen. Sie bestand darauf, noch eine Frage zu thun.

Wie kam es, daß Mr. Kirke sie kannte?

Sie selber hatte ihn nie gesehen, hatte in ihrem Leben nicht von ihm gehört.

—— Sehr möglich, sprach der Hauptmann. Ist denn aber das ein Grund, wenn Du ihn nicht gesehen hast; daß er Dich nicht gesehen haben kann.

—— Wann sah er mich?

Hauptmann Wragge verkorkte seine Wahrheitsgaben sofort wieder, ohne einen Augenblick zu zögern.

—— Vor einiger Zeit, mein Kind. Wann? Kann ich Dir nicht genau sagen.

—— Nur ein einzig Mal?

Hauptmann Wragge ersah sofort seine Gelegenheit zu einer neuen Gabe Wahrheit.

—— Ja, sprach er, nur ein Mal.

Sie dachte ein wenig nach. Die nächste Frage enthielt den gleichzeitigen Ausdruck zweier Gedanken und kostete ihr daher einige Anstrengung.

—— Er sah mich nur einmal, sagte sie, und ersah mich vor einiger Zeit. —— Wie kam es, daß er sich meiner gleich erinnerte, als er mich hier fand?

—— Aha! sagte der Hauptmann. Jetzt hast Du den Nagel ans den Kopf getroffen. Du kannst unmöglich mehr erstaunt sein als ich darüber, daß er sich Deiner erinnert hat. Laß Dir einen guten Rath geben, mein Kind. Wenn Du wohl genug bist, um aufzustehen und Mr. Kirke zu empfangen, so sieh zu, wie diese Deine schlaue Frage für seine Ohren klingt, und besteht darauf, daß er Dir selber antwortet.

Indem der Hauptmann sich auf diese gescheite Art aus der Klemme half, machte er sich plötzlich wieder auf die Beine und nahm seinen Hut.

—— Warten Sie noch! bat sie. Ich will Sie fragen...

—— Kein Wort mehr, sagte der Hauptmann. Ich habe Dir für eines ganzen Tag genug zu denken gegeben. Meine Zeit ist um, und mein Gig wartet draußen. Ich bin unterwegs, um die Umgegend wie gewöhnlich zu bereisen. Ich bin unterwegs, um das Feld der Magenbeschwerden des Publikums mit der dreifachen Pflugschaar von Aloe, Scammonium und Gummigutti zu beackern.

Er blieb auf einmal stehen und drehte sich in der Thür um.

—— Beiläufig einen Gruß von meiner unglückseligen Frau. Wenn Du Mrs. Wragge erlauben willst, daß sie wiederkommen und Dich besuchen darf, so verspricht sie, das nächste Mal ihren Schuh nicht wieder zu verlieren. Ich meinestheils glaube ihr nicht. Was sagst Du dazu? Soll sie kommen?

—— Jawohl, wann es ihr beliebt, sagte Magdalene. Wenn ich je wieder wohlauf bin, darf da die gute Mrs. Wragge kommen und bei mir bleiben?

—— Gewiß, mein Kind. Wenn Du Nichts dawider hast, so will ich sie vorläufig mit ein paar tausend Abdrücken ihres eigenen Bildnisses in Roth, Blau und Gelb versehen: Man hätte selbige Kranke wie eine Feder wegblasen können, ehe sie die Pille nahm. —— Schaut sie dafür jetzt an! Sie verzettelt ihr Bildniß gewiß überall umher, wo sie auch ist, und die befriedigendsten Erfolge zu Gunsten der Anzeige müssen unausbleiblich daraus erwachsen. Halte mich nicht für eine Krämerseele, ich verstehe nur die Zeit, in der ich lebe. ——

Er blieb im Hinausgehen noch einmal stehen und wandte sich noch einmal in der Thüre um.

—— Du bist ein ausgezeichnet gutes Kind gewesen, sagte er, und Du verdienst eine Belohnung dafür. Ich will Dir, ehe ich gehe, zu guter Letzt einen Wink geben. —— Hast Du die letzten paar Tage Jemanden vor der Thür nach Dir fragen hören? —— Oh, ich sehe schon, daß Du gehört hast. Ein Wort ins Ohr, mein Kind. Es ist Mr. Kirke.

Er trippelte vom Bette fort, so hastig wie immer Magdalene hörte, wie er sich selber der Wartefrau anzeigte, ehe er die Thür zuschloß.

—— Wenn Sie je darnach gefragt werden, sagte er in vertraulichem Flüstern, mein Name ist Wragge, und die Pille ist zu haben in hübschen Schachteln, Preis dreizehn ein halb Penny, die Stempelsteuer mitgerechnet. Nehmen Sie ein paar Exemplare des Bildes der kranken Frau, die man wie eine Feder hätte wegblasen können, ehe sie die Pille nahm, und die Sie nun einfach ersucht werden jetzt einmal anzuschauen. Vielen Dank. Guten Morgen!

Die Thüre schloß sich, und Magdalene war wieder allein. Sie fühlte sich nicht allein, Hauptmann Wragge hatte ihr einen neuen Stoff zum Denken hinterlassen. Stunden auf Stunden verweilte ihr Geist mit Verwunderung bei Mr. Kirke, bis der Abend kam, und sie durch die halbgeöffnete Thür wieder seine Stimme hörte.

—— Ich danke Ihnen sehr, sagte sie zu ihm, ehe die Wärterin auf seine Fragen antworten konnte, ich danke recht sehr, recht sehr für alle Ihre Güte gegen mich.

—— Sehen Sie zu, daß Sie bald gesund werden, antwortete er freundlich. Sie werden mich übermäßig glücklich machen, wenn Sie sehen, bald gesund zu werden.

Den nächsten Morgen fand Mr. Merrick sie voll Ungeduld, das Bett zu verlassen und sich auf das Sopha im vorderen Zimmer schaffen zu lassen. Der Arzt sagte, er glaube, sie wolle eine Veränderung haben.

—— Ja, versetzte sie, ich will Mr. Kirke sehen.

Der Arzt willigte ein, daß sie den andern Tag fortgeschafft werden solle; aber er verbot ihr bis zum Tage nachher die weitere Aufregung, daß sie etwa Jemanden sähe. Sie versuchte, sich dagegen zu verwahren; aber Mr. Merrick ließ sich nicht abbringen. Sie versuchte, als er fort war, die Wärterin dazu zu bereden, die Wärterin war auch nicht dahin zu bringen.

Am nächsten Tage hüllte man sie in Tücher und schaffte sie auf das Sopha und machte ihr ein kleines Bett darauf zurecht, auf dem Tische nahe dabei waren einige Blumen und eine Nummer von einer illustrierten Zeitung. Sie frug augenblicklich, wer dies hierher gesetzt habe. Die Wärterin, welche einen warnenden Blick vom Arzte nicht bemerkt hatte, sagte, Mr. Kirke habe geglaubt, sie liebe die Blumen, und die Bilder in der Zeitung machen ihr vielleicht Freude. Nach dieser Antwort ließ sich nun ihr Verlangen, Mr. Kirke zu sehen, nicht länger mehr aufhalten. Der Arzt verließ das Zimmer, um ihn zu holen.

Sie sah verlangend nach der Thür. Ihr erster Blick auf ihn, als er hereinkann machte sie innerlich zweifelhaft, ob sie diese hohe Gestalt, dieses offene, sonnverbrannte Gesicht zum ersten Male in ihrem Leben sah. Aber sie war zu schwach und zu aufgeregt, um ihre Erinnerungen bis nach Aldborough zurück zu verfolgen. Sie gab den Versuch auf und sah ihn nur an. Er blieb am Fuße des Sophas stehen und sagte ein paar Worte. Sie bat ihn, näher zu treten, und reichte ihm ihre abgezehrte Hand. Er faßte sie zärtlich in die seinige und setzte sich zu ihr. Sie schwiegen Beide still. Sein Gesicht sprach ihr von dem Kummer und dem Mitgefühl, welches sonst sein Schweigen ihr beinahe verborgen gehalten hätte. Sie hielt noch immer seine Hand jetzt mit Bewußtsein so beharrlich fest, wie an jenem Tage, wo er sie fand. —— Ihre Augen schlossen sich nach einem schwachen Versuche, mit ihm zu sprechen, und die Thränen rollten langsam über ihre eingefallenen weißen Wangen.

Der Arzt gab Kirke ein Zeichen, zu warten und ihr Zeit zu lassen. Sie faßte sich ein wenig und sah ihn an.

—— Wie freundlich sind Sie gegen mich gewesen, murmelte sie. Und wie wenig habe ich es verdient....

—— Still, still! sagte er. Sie wissen nicht, wie glücklich ich darüber war, daß ich Ihnen helfen konnte.

Der Klang seiner Stimme schien ihr wieder Kraft und Muth zu verleihen. Sie lag da und sah ihn mit lebhafter Theilnahme, mit einer Dankbarkeit an, welche ungekünstelt sich über alle von der Sitte aufgerichteten Schranken zwischen Herr und Dame hinwegsetzte.

— Wo sahen Sie mich, sagte sie plötzlich, ehe Sie mich hier fanden?

Kirke zögerte. Mr. Merrick kam ihm zu Hilfe.

—— Ich verbiete Ihnen, ein Wort über das Vergangene an Mr. Kirke zu richten, schlug sich der Arzt ins Mittel, und ich verbiete auch Mr. Kirke, Ihnen ein Wort darüber zu sagen. Sie beginnen heute ein neue Leben, und die einzigen Erinnerungen, die ich gutheiße, sind nur die Erinnerungen von fünf Monaten zurück.

—— Sie sah den Arzt an und lächelte.

—— Ich muß ihn Etwas fragen, sagte sie und wandte sich wieder an Kirke. Ist es wahr, daß Sie mich nur ein einziges Mal gesehen haben, ehe Sie in dieses Haus kamen?

—— Vollkommen wahr!

Er gab diese Antwort mit einem plötzlichen Wechsel der Farbe, was sie augenblicklich entdeckte Ihre glänzenden Augen sahen noch aufmerksamer auf ihn, als sie die nächste Frage that.

—— Wie kam es, daß Sie mich wiedererkanntem nachdem Sie mich nur ein Mal gesehen?

Seine Hand schloß sich, ohne daß er es wußte, enger um die ihrige und drückte sie zum ersten Male. Er versuchte zu antworten und blieb beim ersten Worte stecken.

—— Ich habe ein gutes Gedächtnis..., sagte er zuletzt und sah plötzlich von ihr weg mit einer Verwirrung, die seiner gewöhnlichen Selbstbeherrschung so unähnlich war, daß der Arzt und die Wärterin Beide es bemerkten.

Jeder Nerv in ihrem Körper fühlte den nur einen Augenblick dauernden Druck seiner Hand mit der Feinfühligkeit, welche den ersten ordentlichen Schritt zur Genesung begleitet. Sie sah sein Wechseln der Farbe, sie hörte seine stammelnden Worte mit der zarten Empfänglichkeit ihres Geschlechts und ihres Alters, welche durch richtige Ahnung die Wahrheit herausfühlt. In dem Augenblick, wo er von ihr wegsah, zog sie ihm leise die Hand weg und wandte ihren Kopf gegen das Kissen.

—— Ist es möglich? dachte sie mit der Unruhe wonniger Furcht in ihrem Herzen, mit der Gluth wonniger Verwirrung auf ihren Wangen. Ist es denn möglich?...

Der Arzt gab Kirke wieder ein Zeichen. Er verstand es und erhob sich sogleich. Die augenblickliche Fassungslosigkeit auf seinem Gesicht und in seiner Art und Weise waren beide verschwunden. Er war innerlich erfreut, daß er sein Geheimniß glücklich bewahrt habe, und in dem wohlthuenden Gefühl dieser Ueberzeugung war er wieder zu, sich selber gekommen.

—— Leben Sie wohl bis morgen, sagte er, als er das Zimmer verließ.

—— Leben Sie wohl, antwortete sie, ohne ihn anzusehen.

Mr. Merrick nahm den Stuhl, den Kirke verlassen hatte, und legte seine Hand an ihren Puls.

—— Gerade, wie ich fürchtete, bemerkte er, um die Hälfte zu stark.

Sie machte hastig ihre Hand frei.

—— Lassen Sie mich! sagte sie, indem sie zurückfuhr. Ich bitte, berühren Sie mich nicht!

Mr. Merrick überließ in guter Laune der Wärterin seinen Platz.

—— Ich will in einer halben Stunde wieder kommen, flüsterte er, und sie ins Bett schaffen. Lassen sie dieselbe nicht sprechen. Zeigen Sie ihr die Bilder in der Zeitung und halten Sie sie so ruhig als möglich.

Als der Arzt wieder kam, meldete die Wärterin, daß die Zeitung nicht benöthigt gewesen sei. Die Ausführung der Kranken war musterhaft gewesen. Sie war durchaus nicht unruhig gewesen und hatte nicht ein Wort gesprochen.

Die Tage vergingen, und die Zeit wurde immer länger bemessen, welche der Arzt ihr in dem vorderen Zimmer zuzubringen erlaubte. Sie war alsbald im Stande, das Bett auf dem Sopha zu entbehren, sie konnte angekleidet werden und unterstützt von Kissen in einem Lehnstuhle aufrecht sitzen. Ihre Freistunden von dem Schlafgemach bildeten das große Ereigniß jedes ihrer Lebenstage. Es waren die Stunden, die sie in Kirkes Gesellschaft hinbrachte.

Sie hatte jetzt ein doppeltes Interesse an ihm, das Interesse an dem Manne, dessen schützende Fürsorge ihren Geist und ihr Leben gerettet, dann aber das Interesse an dem Manne, dessen theuerstes und heiligstes Herzensgeheimniß sie entdeckt hatte. Allmählich wurden sie so ungezwungen und vertraut mit einander wie alte Freunde, allmählich machte sie sich all ihr Uebergewicht zu Nutze und wußte sich unvermerkt die genaueste Kenntniß seines Wesens und Charakters zu verschaffen.

Ihre Fragen waren endlos. Alles und Jedes, was er ihr von sich und seinem Leben erzählen konnte, wußte sie von ihm zart und unvermerkt herauszulocken, er, der am Wenigsten selbstbewußte aller Männer, wurde in ihren geschickten Händen ein Egoist. Sie fand seinen Stolz auf sein Schiff heraus und wirkte ohne Bedenken darauf hin. Sie veranlaßte ihn, über die schönen Eigenschaften des Schiffes zu reden, von großen Dingen, die das Schiff in schweren Zeiten gethan habe, zu sprechen, wie er in seinem Leben noch nie mit einer lebenden Seele gesprochen hatte: Sie wußte ihn über geheime Seefahrerleiden und unaussprechliche Seefahrerfreuden auszuhören, die er nicht einmal seinem eigenen Steuermann offenbart hatte. Sie beobachtete sein strahlendes Gesicht mit dem wonnigen Gefühl des Triumphs und schürte noch das Feuer. Sie verleitete ihn, alle Rücksicht auf Zeit und Ort zu vergessen und in der Hitze des Gesprächs einen so herzhaften Schlag auf den zweifüßigen kleinen Miethsbewohnertisch zu führen, als ob er das feste Balkenwerk der Schiffsbrüstung vor sich gehabt hätte. Seine Verlegenheit bei der Entdeckung, wie er sich selbst vergessen hatte, ergötzte sie insgeheim, sie hätte gern vor Vergnügen aufgeschrien, als er darob zum Tode erschrocken sich fragte, was er nur in aller Welt gedacht habe?!

Zu anderen Zeiten zog sie ihn von dem Verweilen bei den Reizen seines Lebens ab und veranlaßte ihn, von dessen Gefahren zu reden, den Gefahren jener eifersüchtigen Herrscherin, der See, welche so viele von seines Gleichen verschlungen hatte, welche ihn so wunderbar in Unschuld und Unkenntniß ob der Welt auf dem Lande gehalten hatte. Zwei Mal hatte er Schiffbruch gelitten. Unzählige Male waren er und alle bei ihm in dem Rachen des Todes gewesen, und er war doch um ein Haar dem Untergange entgangen. Er zeigte sich anfangs stets wenig bereit, von dieser düsteren und schrecklichen Seite seines Lebens zu sprechen. Erst wenn sie auf geschickte Weise ihn angeregt und in seiner Unterhaltung durch allerhand kleine Redekünste darauf hingearbeitet hatte, vergaß er sich und erzählte ihr doch von den Schrecknissen des großen Oceans. Sie saß das und lauschte mit athemlosem Interesse und sah ihn mit athemlosem Erstaunen an, wenn jene fürchterlichen Geschichten, die durch die einfache Sprache, in der sie erzählt wurden, doppelt lebhaft vor ihre Seele traten, eine nach der andern über seine Lippen kamen. Die edle Unkenntniß, in der er sich betreffs seines Heldenmuthes über sich selbst befand, die kunstlose Bescheidenheit, mit der er die Thaten seiner unerschrockenen Ausdauer, seines aufopfernden Muthes beschrieb ohne einen Gedanken daran, daß sie etwas mehr seien, als bloße Pflichterfüllungen, zu denen er durch den Beruf, den er erwählt, angehalten sei, erhoben ihn in ihrer Achtung so unermeßlich hoch über sie, daß sie unruhig und ungeduldig wurde, bis sie das Götterbild, das sie selbst aufgerichtet, wieder umgestürzt hatte. Bei diesen Gelegenheiten geschah es, daß sie sehr streng alle jene kleinen vertraulichen Aufmerksamkeiten erheischte, welche Frauen in ihrem Umgange mit Männern so werthvoll sind.

—— Diese Hand, dachte sie mit einem geheimen Wonnegefühl, indem sie den Gedanken verfolgte, während Kirke ganz nahe bei ihr war, diese Hand, welche den Ertrinkenden vom Tode errettet hat, rückt mir meine Kissen so zärtlich, daß ich es kaum weiß, wenn sie bewegt werden. Diese Hand, welche meuterische Matrosen ergriffen und lediglich durch Körperstärke zu ihrer Pflicht zurück gezwungen hat, mischt meine Limonade und schält mein Obst zarter und sauberer, als ich es kaum selber thun könnte. Ach, wenn ich ein Mann wäre, wie gern würde ich ein Mann wie dieser sein!

Sie ließ aber nie ihre Gedanken, so lange er zugegen war, über diesen Punkt hinausschweifen. Nur wenn die Nacht sie getrennt hatte, wagte sie ihre Gedanken verweilen zu lassen bei der aufopfernden Hingebung, welche sie so barmherzig gerettet hatte. Kirke wußte wenig, wie sie während der ruhigen Stunden, welche vergingen, ehe sie in Schlaf sank, in der Stilleinsamkeit ihres Kämmerleins seiner dachte. Keine Ahnung kam ihm in den Sinn von dem Einflusse, den er über sie ausübte, von dem neuen Geiste, den er in das neue Leben hauchte, das in der ersten Frische seines wiedererwachten Bewußtseins so empfänglich für Eindrücke war.

—— Sie hat Niemanden, der sie erheitert, das arme Kind, pflegte er traurig allein sitzend auf seinem kleinen Zimmer im zweiten Stock zu denken. Wenn ein rauher Gesell, wie ich, ihr helfen kann, die trägen Stunden hinwegzutändeln, bis ihre Verwandten hierher kommen, soll sie recht gern Alles haben, was ich ihr nur erzählen kann.

Er war jetzt verstimmt und unruhig, so oft er allein war. Allmählich nahm er die Gewohnheit an, lange einsame Abendspaziergänge zu machen, wo Magdalene dachte, er schlafe schon. Einmal ging er plötzlich bei Tage aus, in Geschäften, wie er sagte. Es war Etwas zwischen ihm und Magdalenen vorgefallen den Abend zuvor, was dieselbe veranlaßt hatte, ihm ihr Alter zu sagen.

—— Zwanzig am letzten Geburtstage! dachte er. Zwanzig von einundvierzig!... Eine leichte Zahl zum Abziehen, so leicht, wie sie mein kleiner Neffe sich nur wünschen könnte!

Er ging auf die Werften und schaute mit bitterem Lächeln auf die Schiffe hin.

—— Ich darf nicht vergessen, wie ein Schiff gemacht ist, sagte er. Es wird nicht lange mehr dauern, so bin ich wieder bei der alten Arbeit....

Als er die Werft verließ, besuchte er einen alten Seekameraden, der Verheirathet war. Im Laufe des Gesprächs frug er, wie viel älter sein Freund sei, als seine Frau. Es waren sechs Jahre Unterschied dazwischen.

—— Der Unterschied ist wohl gerade groß genug? sagte Kirke.

—— Ja, sagte der Freund. Vollkommen genug. Schaust Du Dich endlich auch nach einer Frau um? Sieh zu, daß Du ein reifes Weib Von fünfunddreißig bekommst, das ist Dein Fahrwasser, Kirke, so weit ich es beurtheilen kann.

Die Zeit verstrich schnell und leicht, die Zeit, wo sie so glücklich genas, die Zeit, wo er anfing, mißtrauisch zu werden.

Eines Morgens in der Frühe überraschte Mr. Merrick Kirke durch einen Besuch auf dessen kleinem Zimmer im zweiten Stock.

—— Ich kam gestern zu der Ueberzeugung, sagte der Arzt, indem er jählings gleich von der Hauptsache anfing, daß Ihre Kranke endlich stark genug ist, daß wir es nunmehr recht gut darauf ankommen lassen können, uns mit ihren Verwandtem in Verbindung zu setzen. Ich habe demnach den Faden, den uns der wunderliche Kauz, Hauptmann Wragge, in die Hand gegeben, verfolgt. Sie erinnern sich, daß er uns gerathen, uns an Mr. Pendril, den Advocaten, zu wenden? —— Ich besuchte Mr. Pendril, vor zwei Tagen und wurde von ihm nicht sehr bereitwillig, wie ich merkte, an eine Dame Namens Miss Garth verwiesen. Ich hörte genug von ihr, um mich zu überzeugen, daß wir eine kluge Vorsicht gebraucht haben. Es ist eine sehr,sehr traurige Geschichte, und halte mich verbunden,, zu sagen, daß ich dem armen Mädchen da unten viel zu Gute halten will. Ihre einzige Verwandte auf der Welt ist ihre ältere Schwester. Ich habe gerathen, daß die Schwester erst ihr schreiben und dann, wenn der Brief kein Unheil anrichtet, in ein oder zwei Tagen selber kommen soll. Ich habe die Adresse nicht gegeben, um zu verhindern, daß ohne meine Erlaubniß Besuche gemacht werden. Alles, was ich gethan habe, ist daß ich mich erboten habe, den Brief zu besorgen, und werde ihn, wenn ich zurückkomme, wahrscheinlich zu Hause vorfinden. Können Sie zu Hause bleiben, bis ich mein Diener damit hergeschickt habe? Es ist nicht die geringste Aussicht vorhanden, daß ich ihn selber bringen kann. Alles was Sie zu Thun haben, ist, eine Gelegenheit abzupassen, wo sie nicht im Vorderzimmer ist, und den Brief irgend wohin zu legen, wo sie ihn sehen kann, wenn sie hereinkommt. Die Handschrift auf der Adresse wird ihr schon alles sagen, ehe sie noch den Brief erbricht. Sagen Sie ihr Nichts davon, sorgen Sie, daß die Writhin in der Nähe ist und auf den ersten Ruf da sein kann, und überlassen Sie sich selbst. Ich weiß, ich kann Ihnen vertrauen, daß Sie meine Weisung befolgen werden, und darum bitte ich eben Sie, daß Sie dies Übernehmen. —— Sie sehen heute Morgen nicht guter Laune aus. Natürlich genug. Sie sind gewohnt, im Freien zu leben,Capitän, und Sie fangen an diesem engen Hause sich unbehaglich zu fühlen.

—— Darf ich Sie etwas fragen, Doctor? —— Fühlt sie sich in diesem engen Hause ebenfalls unbehaglich? Wenn ihre Schwester kommt, wird dieselbe sie mit fortnehmen?

—— Ganz entschieden, wenn man meinem Rathe folgt. Sie wird stark genug sein, um in einer Woche oder noch nicht einmal so lange fortgeschafft zu werden. —— Guten Tag. —— Sie sind gewiß und wahrhaftig in sehr übler Stimmung, und Ihre Hand fühlt sich fieberheiß an. Nur Sehnsucht nach dem blauen Wasser,Capitän, Sehnsuch nach dem blauen Wasser!

Mit diesem Ausspruch ging der Arzt heiter hinweg.

In einer Stunde kam der Brief an. Kirke nahm ihn mit Widerstreben von der Wirthin in Empfang, fast rauh und ohne ihn anzusehen. Als er sich überzeugt, daß Magdalene noch mit dem Anziehen beschäftigt war, und er der Wirthin die Nothwendigkeit klar gemacht, daß sie, des Rufes gewärtig, sich in der Nähe verhalte, ging er augenblicklich die Treppe hinunter und legte den Brief auf den Tisch im Vorderzimmer.

Magdalene hörte den Ton des wohlbekannten Schrittes auf der Flur.

—— Ich werde gleich fertig sein, rief sie ihm durch die Thür zu.

Er antwortete nicht; er nahm seinen Hut und ging fort. Nach einem augenblicklichen Zögern wandete er sich nach Osten und besuchte die Reeder, welche seine Dienste benutzten, auf ihrem Comptoir in Cornhill.



Kapiteltrenner

Drittes Capitel.

Magdalenes erster Blick im leeren Zimmer zeigte ihr den Brief auf dem Tische. Die Aufschrift machte ihr, wie der Arzt es ausgesagt, im demselben Augenblicke, wo sie den Brief sah, Alles kund.

Nicht ein Wort entschlüpfte ihr. Sie saß am Tische, bleich und still mit dem Briefe auf dem Schoße. Zwei Mal versuchte sie ihn zu öffnen, und zwei Mal legte sie ihn wieder weg. Die Vergangenheit kam ihr nicht allein in den Sinn, als sie die Schrift ihrer Schwester sah, die Furcht vor Kirke kam zugleich mit ihr.

—— Mein vergangenes Leben! dachte sie. Was wird er von mir denken, erführe er mein vergangenes Leben?...

Sie machte einen neuen Versuch und erbrach den Brief. Ein anderer Brief fiel ihr aus dem Umschlage entgegen, der auch an sie gerichtet, aber von einer ihr nicht bekannten Handschrift war. Sie legte den zweiten Brief bei Seite und las die Zeilen, welche Nora geschrieben hatte.

Ventor
auf der Insel Wright,
den 24.Aug.

Theuerste Magdalene!

Wenn Du diesen Brief liest, so denke, wir seien nur seit gestern getrennt gewesen, und banne aus Deiner Seele, wie ich es mit der meinigen gemacht habe, die Vergangenheit und , was dazu gehört, hinweg.

Man hat mir auf das Bestimmteste verboten, Dich aufzuregen oder Dich durch einen langen Brief zu ermüden. Habe ich Unrecht, wenn ich Dir sage, daß ich das glücklichste Wesen unter der Sonne bin? Ich hoffe doch nicht; denn ich kann das Geheimnis nicht für mich behalten.

Meine Geliebte, bereite Dich auf die größte Ueberraschung vor, die ich Dir je bereitet habe. Ich bin verheirathet. —— Heute ist es erst eine Woche, seitdem ich meinen alten Namen abgelegt habe, eine Woche, seit ich die glückliche Gattin von Georg Bartram auf St. Crux bin.

es stand anfangs unserer Verheirathung Hindernisse entgegen; einige davon waren meine eigene Schuld. Zum Glück wußte mein Gatte von Anfang, daß ich ihn doch liebte; er gab mir zum zweiten Male Gelegenheit, ihm das zu sagen, nachdem ich schon die erste verloren hatte, und wie Du siehst, war ich das Mal so gescheit, mir sie zu Nutze zu machen. Du solltest eigentlich ganz genau in diese meine Verheirathung eingeweiht werden, denn Du bist die Ursache derselben. Wenn ich nicht nach Aldborough gegangen wäre, um die letzte Spur von Dir zu verfolgen, wenn George nicht zur selben Zeit durch Umstände, die Dich mit betreffen, dorthin geführt worden wäre: so hätten wir, mein Gatte und ich, uns nie begegnet. Wenn wir auf unsere ersten Eindrücke von einander zurückblicken, sehen wir auf Dich zurück.

Ich muß mein Versprechen halten, Dich nicht zu ermüden, ich muß —— recht traurig und gegen meinen Willen —— zum Abschluß eilen. Geduld! —— Geduld! —— Bald werde ich Dich sehen. George und ich kommen nach London, um Dich nach Ventor mit uns heim zu nehmen. Dies ist meines Gatten Einladung sowie die meinige. Glaube ja nicht, Magdalene, daß ich ihn eher zum Manne nahm, als bis ich ihn gelehrt hatte, so von Dir zu denken, wie ich selbst, meine Wünsche, meine Hoffnungen zu theilen. Ich könnte, ach, noch so viel mehr über George sagen, wenn ich meine Gedanken und meiner Feder freien Lauf lassen dürfte. Aber ich muß Miss Garth auf ihren besonderen Wunsch einen offenen Raum lassen, um die letzte Seite dieses Briefes auszufüllen, und ich darf nur ein einziges Wort, Dich zu benachrichtigen, daß ich noch eine Ueberraschung für Dich in Bereitschaft habe, die ich mir Vorbehalte, bis wir persönlich zusammenkommen. Versuche nicht, zu errathen, was es ist.Du könntest ein Menschenalter hindurch rathen und nicht näher kommen, als Du jetzt der Entdeckung der Warheit bist.

Deine

Dich liebende Schwester,
Nora Bartram.

Zusatz von Miss Garth.
Theures Kind!

Wenn ich jemals meine alte zärtliche Erinnerung an Dich verloren hätte, so würde ich dieselbe jetzt wieder in mir fühlen, jetzt, wo ich weiß, daß es Gott gefallen hat, Dich uns in seiner Gnade wieder zu schenken vom Rande des Grabes weg! Ich füge diese Zeilen dem Briefe Deiner Schwester hinzu, weil ich nicht gewiß weiß, ob Du ganz so im Stande bist, wie ich denke, ihren Vorschlag anzunehmen. Sie hat kein Wort über ihren Gatten gesagt, das nicht vollkommen wahr ist. Allein Mr. Bartram ist Dir fremd, und wenn Du glaubst, daß Du leichter und angenehmer unter den Flügeln Deiner alten Lehrerin und Erzieherin Dich erholen kannst, als unter dem Schutze Deines neuen Schwagers, so komm erst zu mir und sei versichert, daß ich Nora schon wegen der Aenderung in ihrem Plane zur Ruhe sprechen werde. Ich habe mir den Verkauf eines kleinen Landsitzes zu Shanklin gesichert, der nahe genug bei Deiner Schwester ist, daß Du dieselbe sehen kannst, so oft Du willst, und weit genug entfernt, wenn Du allein zu sein wünschest. Schicke mir eine einzige Zeile, ehe wir uns treffen, und sage Ja oder Nein, ich schreibe dann sofort nach Shanklin mit der nächsten Post.

Immerdar

Deine herzlich getreue
Harriet Garth.

Der Brief fiel Magdalenen aus der Hand. Gedanken, welche ihr nie in den Sinn gekommen waren, keimten jetzt darinnen auf.

Nora, deren Muth unter unverdienter Trübsal nur von dem Entschlusse der Entsagung eingegeben war, Nora die ruhig ihr hartes Loos hingenommen hatte, die von Anfang bis zuletzt an keine Rache gedacht und sich zu keiner Täuschung herabgelassen hatte: Nora hatte das Ziel erreicht, das alle Schlauheit, alle Entschlossenheit und alle Tollkühnheit ihrer Schwester nicht zu erreichen im Stande gewesen waren. Offen und ehrlich mit Liebe auf der einen und Liebe aus der andern Seite hatte Nora den Mann geheirathet, der das Combe-Raven-Vermögen besaß, und Magdalenens eigener Anschlag, dasselbe wieder zu erlangen, hatte den Weg gebahnt zu dem Ereignisse, das die beiden jetzigen Eheleute zusammen geführt hatte.

Als das Licht der überwältigenden Entdeckung in ihrem Geiste aufging, wurde der alte Kampf erneuert, und das Gute und Böse stritten noch ein Mal in ihr um den Besitz ihrer Seele; aber dies Mal mit verstärkter Macht, mit dem neuen Geiste, der in ihr neues Leben gekommen, mit dem edlern Gefühl, das mit dem Wachsen ihrer Dankbarkeit gegen den Mann gewachsen war, der sie gerettet hatte, auf Seiten ihres guten Engels. Alle höheren Triebe ihrer Natur, die von Anfang bis zuletzt sie nie ungestraft hatten Fehler begehen lassen, welche sie vor und nach ihrer Verheirathung mit Gewissensbissen heimgesucht hatten, wie sie kein ursprünglich herzloses und ursprünglich verderbtes Weib fühlen kann, alle edleren Elemente ihres Charakters gewannen ihre Macht über sie wieder in dem entbrennenden Kampfe und gaben ihr Kraft, ohne Zucken und Murren der Enthüllung, die sich vor ihren Blicken aufthat, ins Auge zu sehen.

Allmählich fiel es ihr im Lichte ihres unsterblichen Lebens wie Schuppen von den Augen, die Wahrheit erhob sich aus der Asche erstorbener Leidenschaften, aus der Gruft begrabener Hoffnungen. Als sie wieder auf den Brief sah, als sie die Worte noch einmal las, welche ihr sagten, daß die Wiedererlangung des verlorenen Vermögens das Werk ihrer Schwester sei, nicht das ihrige, —— hatte sie alle kleinen Bitterkeiten und alle gemeinen Regungen niedergekämpft, konnte sie in ihres geheimsten Herzensgrunde nur sich sagen:

—— Nora hat es verdient!

Der Tag rückte vor. Sie saß in ihre Gedanken versunken und achtete nicht des zweiten Briefes, den sie noch nicht geöffnet hatte, bis Kirke zurück kam.

Er blieb auf dem Treppenvorsprung draußen stehen und frug, indem er die Thür nur ein wenig öffnete, ohne ins Zimmer zu treten, ob sie Etwas brauche, das er ihr senden könne. Sie bat ihn, näher zu treten. Sein Gesicht sprach Müdigkeit und Verstimmung aus, er sah älter denn je aus.

—— Haben Sie den Brief für mich auf den Tisch hergelegt? frug sie.

—— Ja. Ich legte ihn auf des Arztes Geheiß dahin.

—— Der Arzt sagte Ihnen wohl, daß er von meiner Schwester wäre? —— Sie kommt, mich zu besuchen und auch Miss Garth kommt, mich zu besuchen. Sie werden Ihnen besser, als ich es vermag, für alle Ihre Güte gegen mich danken.

—— Ich habe kein Recht auf ihren Dank, anwortete er herb. Was ich gethan habe, that ich für Sie, nicht um ihretwillen.

Er wartete ein wenig und sah sie an. Sein Gesicht würde ihn in diesem Blicke verrathen haben, seine Stimme hätte ihn in den nächsten Worten, die er sprach, verrathen, wenn —— sie nicht schon die Wahrheit errathen gehabt hätte.

—— Wenn Ihre Verwandten und Freunde hierher kommen, fuhr er fort, werden sie Sie wohl mit fortführen an einen bessern Ort, als dieser ist?

—— Sie können mich an keinen Ort mit fortnehmen, sagte sie sanft, von dem ich so denken werde, wie von dem, wo Sie mich fanden. Sie können mich zu keinem theureren Freunde führen, als zu dem, der mir das Leben gerettet hat.

Es trat ein augenblickliches Stillschweigen ein.

—— Wir sind hier sehr froh gewesen. fuhr er fort in leiseren und immer leiseren Tönen. Sie werden mich nicht vergessen, wenn ich Ihnen Lebewohl gesagt habe?

Sie erbleichte, als diese Worte über seine Lippen kamen, verließ plötzlich ihren Stuhl und kniete an dem Tische nieder, daß sie zu ihm hinauf ins Gesicht sehen und ihn nöthigen konnte, in das ihrige zu schauen.

—— Warum reden Sie davon? frug sie. Wir nehmen doch noch nicht Abschied von einander, wenigstens jetzt nicht.

—— Ich dachte . . . . begann er.

—— Nun?

—— Ich dachte, Ihre Verwandten kämen hierher...

Sie unterbrach ihn eifrig.

—— Denken Sie, ich würde mit Jemand fortgehen, sagte sie, sogar mit der liebsten Verwandten auf Erden, die ich habe, und Sie hier lassen, ohne zu wissen und mich darum zu bekümmern, ob ich Sie jemals wieder sähe?

—— Ach, Das können Sie doch nicht von mir denken! rief sie aus, indem ihr heiße Thränen in die Augen traten. Sie denken doch Das gewiß nicht von mir!

—— Nein, sagte er, ich habe nimmer ungerecht oder unwürdig von Ihnen gedacht, kann nimmer so denken.

Ehe er ein Wort hinzusehen konnte, verließ sie den Tisch so plötzlich, wie sie sich demselben genähert hatte, und kehrte zu ihrem Stuhle zurück. Er hatte unbewußterweise in Ausdrücken geantwortet, welche sie an die bittere Nothwendigkeit gemahnten, die noch zu erfüllen war, die Notwendigkeit, ihm die Geschichte ihrer Vergangenheit zu erzählen. Nicht ein Gedanke, ihm diese Geschichte vorzuenthalten, kam ihr in den Sinn.

—— Wird er mich noch lieben, wenn er die Wahrheit weiß, wie er mich jetzt liebt?...

Dies war ihr einziger Gedanke, als sie jetzt unmittelbar und ohne Zagen auf den Gegenstand einzugehen versuchte.

—— Wir wollen meine eigenen Empfindungen ganz bei Seite lassen, sprach sie. Es giebt einen Grund, daß ich nicht von hier fortgehe, bis ich erst die Gewißheit habe, Sie wieder zu sehen. Sie haben einen Anrecht, das stärkste Anrecht —— zu wissen, wie ich hierher kam, was meine Freunde noch nicht wissen, und wie es kam, daß Sie mich so weit herabgesunken fanden.

—— Ich mache kein Anrecht geltend, sagte er hastig. Ich wünsche Nichts zu erfahren, dessen Erzählung Ihnen das Herz schwer macht.

—— Sie haben immer Ihre Pflicht gethan, antwortete sie mit einem matten Lächeln. Lassen Sie mich Sie zum Muster nehmen, wenn ich kann, und sehen, ob ich die meinige erfüllen kann.

—— Ich bin alt genug, um Ihr Vater sein zu können, sagte er mit Bitterkeit. Eine Pflicht ist leichter in meinem, denn in Ihrem Alter gethan.

Er hatte immer sein Alter im Sinne, so daß er glaubte, auch sie dächte stets daran. Sie hatte nie mit einem Gedanken daran gedacht. Die Anspielung, die er aber darauf machte, brachte sie keinen Augenblick von dem Gegenstande ab, von dem sie mit ihm sprach.

—— Sie wissen nicht, wie sehr ich Ihre gute Meinung von mir hoch halte, sprach sie und rang innerlich mit Entschlossenheit, um ihren sinkenden Muth aufrecht zu erhalten. Wie kann ich Ihre Güte verdienen, wie kann ich fühlen, daß ich Ihrer Achtung werth bin, bevor ich Ihnen nicht mein Inneres eröffnet habe? Ach, machen Sie mich nicht noch muthloser in meiner elenden Schwäche! Helfen Sie mir, daß ich Ihnen die Wahrheit sage, zwingen Sie mich, sie zu sagen, um meinetwillen, wenn nicht um Ihretwillen.

Er wurde tief gerührt durch die innige Aufrichtigkeit dieser Bitte.

—— Gut, Sie sollen es erzählen, sprach er; Sie haben Recht, ich Unrecht.

Er wartete ein wenig und dachte nach.

—— Würde es Ihnen leichter fallen, frug er mit einer zarten Schonung für sie, es lieber schriftlich zu thun, als mündlich?

Sie faßte den Vorschlag begierig auf.

—— Weit leichter, erwiderte sie. Ich kann meiner gewiß sein, kann sicher sein, Ihnen Nichts zu verbergen, wenn ich es schreibe.

—— Schreiben Sie mir aber Ihrerseits nicht! fügte sie plötzlich hinzu.

Sie sah mit dem angeborenen weiblichen Scharfblick sofort die Gefahr und das Mißliche vor Augen, das daraus entstehen konnte, wenn sie ganz ihren Einfluß als Weib aus den Händen gab.

—— Warten Sie, bis wir wieder beisammen sind, und sagen Sie mir mündlich, was Sie davon denken.

—— Und wo soll ich es Ihnen sagen?

—— Hier, sagte sie eifrig. Hier, wo Sie mich hilflos fanden, hier, wo Sie mich ins Leben zurück gerufen, hier, wo ich Sie zuerst kennen gelernt habe. Ich kann die härtesten Worte, die Sie mir sagen, ertragen, wenn Sie mir nur dieselben auf dieser Stube sagen. Es ist unmöglich, daß ich länger als einen Monat wegbleiben kann, ein Monat wird hinreichen und mehr als Das. Wenn ich zurückkomme...

Sie hielt verlegen inne.

—— Ich denke an mich selbst, sprach sie, wo ich nur an Sie denken sollte. Sie haben selbst Ihre Beschäftigungen und selber Freunde. Werden Sie sich für uns entscheiden? Werden Sie sagen, wie es werden soll?

—— Es soll so werden, wie Sie es wünschen. Wenn Sie in vier Wochen zurückkommen, werden Sie mich hier finden.

—— Wird es Ihnen kein Opfer in Ihrer Bequemlichkeit und Ihren Plänen kosten?

—— Es wird mir Nichts kosten, als eine Reise zurück in die Hauptstadt, versetzte er.

Er stand auf und nahm seinen Hut.

—— Ich muß jetzt gleich fort; setzte er hinzu sonst komme ich nicht mehr zur rechten Zeit.

—— Haben Sie sich wohin verabredet? sagte sie und hielt ihm ihre Hand entgegen.

Ja, antwortete er ein wenig trübe. Es ist eine Verabredung.

So leise dieser Schatten von Traurigkeit in seiner Art und Weise angedeutet war, so machte ihr Dies doch schon Kummer. Indem sie alle anderen Sorgen über die eine, ihn zu erheitern, vergaß, faßte sie sanft die Hand, welche er ihr gab.

—— Wenn Das ihm die Wahrheit nicht sagen wird, dachte sie, so thut es Nichts.

Es sagte ihm allerdings die Wahrheit nicht; aber es nöthigte ihm eine Frage auf, die er sich vordem noch nicht vorzulegen gewagt hatte.

—— Ist es Dankbarkeit oder Liebe, die so zu mir spricht? frug er sich... Wenn ich nur ein jüngerer Mann wäre, so könnte ich beinahe hoffen, daß es Liebe ist....

Jene furchtbare Abzugssumme, welche ihm zuerst an dem Tage, wo sie ihm ihr Alter sagte, vor die Seele getreten war, fing an ihn aufs Neue zu beunruhigen, als er das Haus verließ. Er zog auf seinem ganzen Wege nach dem Comptoir der Reeder in Cornhill alle Augenblicke bei sich die Zwanzig von der bösen Einundvierzig ab.

Als Magdalene sich wieder allein sah, trat sie an den Tisch, um die Zeile Antwort zu schreiben, um welche Miss Garth sie ersuchte, und dankbar das ihr von dieser Seite gemachte Erbieten anzunehmen.

Der zweite Brief, welchen sie bei Seite gelegt und außer Acht gelassen hatte, war das Erste, was ihr, als sie ihren Platz verließ, in die Augen fiel. Sie erbrach ihn sofort und sah, da sie die Hand nicht kannte, nach der Unterschrift. Zu ihrem unendlichen Erstaunen erwies sich der Brief als von niemand Anderes kommend, denn —— vom alten Mr. Clare!

Der Brief des Philosophen ließ alle gewöhnlichen Formen der Ueberschrift weg und ging ohne Einleitung irgend welcher Art sofort in folgenden unzweideutigen Worten auf die Sache selbst ein.

Ich habe neue Nachrichten für Dich von dem verachtungswürdigen Schurken, meinem Sohn; Hier folgen dieselben in den kürzest möglichsten Worten.

Ich habe Dir immer gesagt, wenn Du Dich erinnern kannst; Frank ein erbärmlicher Kriecher sei. Die allererste Spur, die nach seinem Entweichen aus dem Hause seiner Prinzipale in China wieder von ihm aufgefunden wurde, stellt ihn in diesem Charakter dar. Wohin denkst Du, daß er sich zunächst wandte? Er schleicht sich verborgen hinter ein Paar Mehlfässer aus ein von Hong-Kong nach London heimfahrendes englisches Kauffahrteischiff ein.

Der Name des Schiffes war: »DELIVERANCE«, und der Commandant desselben war ein Capitain Kirke. Anstatt wie ein Mann von Tact zu handeln und Frank über Bord zu werfen, war Capitain Kirke thöricht genug, auf dessen Geschichte zu hören. Der machte alles Mögliche aus seinen Mißgeschicken, Das kannst Du Dir denken. Er sei halb verhungert, er sei ein in einem fremden Lande verlorener Engländer seine einzige Aussicht nach Hause zu kommen, sei gewesen, in den Schutz eines englischen Schiffes zu kriechen, und Das habe er denn auch vor zwei Tagen in Hong-Kong gethan. Das war seine Geschichte. Jeder andere Schlingel an Franks Stelle würde von einem andern Capitain die neunschwänzige Katze bekommen haben. Er, der von Niemand bemitleidet zu werden verdiente, Frank wurde, wie sich bei diesem Burschen von selbst versteht, sogleich gehätschelt und bedauert. Der Capitain faßte ihn bei der Hand, die Mannschaft bemitleidete ihn, und die Reisenden schlugen ihn zusprechend auf die Schulter. Er wurde beköstigt, herausstaffirt und mit dem Reisegeld nach Hause beschenkt. Das ist soweit Glück genug, wirst Du sagen. Nichts der Art, noch nicht Glück genug für meinen erbärmlichen Sohn.

Das Schiff legte am Cap der guten Hoffnung an. Unter den anderen thörichten Handlungen des Capitain Kirke, war auch noch die, daß er dort eine weibliche Reisende an Bord nahm, nicht etwa eine junge Frau, nein, die ältliche Witwe eines reichen Colonisten. Ist es erst nöthig zu sagen, daß dieselbe sofort das innigste Interesse an Frank und seinen Mißgeschicken nahm? Brauche ich Dir erst zu erzählen, was folgte? Schau zurück auf die Laufbahn meines sauberen Sohnes, und Du wirst bemerken, daß allemal Das, was folgte, mit dem vorhergehenden übereinstimmte. Er verdiente nicht die Theilnahme Deines armen Vaters; aber wohl besaß er dieselbe. Er verdiente Deine Neigung nicht; aber er besaß sie doch. Er verdiente nicht die beste Stelle in einem der ersten Comptoirs Londons, er verdiente nicht eine ebenfalls vortreffliche Aussicht in einem der besten Handelshäuser in China, er verdiente nicht Beköstigung, Ausstaffirung und freie Heimfahrt, und er bekam doch Alles. Endlich noch das Beste; er verdiente sogar nicht eine Frau zubekommen, die alt genug war, seine Großmutter zu sein, und doch hat ers auch dazu gebracht! Vor noch nicht fünf Minuten warf ich seine Hochzeitskarten ins Kamin und warf den Brief, der mit ihnen kam, ins Feuer. Die letzte Mittheilung welche dieser Brief enthielt, ist, daß er und seine Frau sich nach einem Hause und einem Gut umsehen, um dasselbe zu pachten. Denk an meine Worte! Frank wird eines der schönsten Güter in England haben, einen Sitz, im Hause der Gemeinen wird als selbstverständlich folgen, und einer von den Gesetzgebern dieses eselgerittenen Landes wird sein —— mein Schlingel.

Wenn Du das tactvolle Mädchen bist, für das ich Dich allerzeit gehalten habe, so hast Du schon längst gelernt, Frank nach seinem wahren Werthe zu schätzen, und die Nachricht, die ich Dir schicke, wird Dich nur noch in Deiner Verachtung für ihn bestärken; Ich wünschte nur, Dein seliger Vater hätte diesen. Tag erlebt! So oft ich auch meinen alten Kameraden vermißt habe, so bitter habe ich seinen Verlust noch nie empfunden, als da wo Franks Hochzeitskarten und Brief in mein Haus kamen. Immerdar Dein Freund, wenn Du einen brauchst.

Francis Clare.

Eine augenblickliche Störung ihrer Ruhe ausgenommen, welche durch das Vorkommen von Kirke’s Namen in Mr. Clare’s sonderbarer Geschichte erfolgte, las Magdalene den Brief ohne Unterbrechung von Anfang bis zu Ende durch. Die Zeit, wo er sie hätte aufregen können, war vorüber, die Schuppen waren ihr längst von den Augen gefallen. Mr. Clare selber würde sich nur gefreut haben, wenn er die ruhige Verachtung auf ihrem Gesichte hätte beobachten können, als sie seinen Brief weglegte. Der einzige ernste Gedanke, den er ihr kostete, betraf Kirke. Die oberflächliche und geringschätzige Art, in welcher er ihr von den Reisenden an Bord seines Schiffes Erwähnung gethan hatte, ohne einen von denselben auch nur mit Namen zu nennen, zeigte ihr, daß Frank Stillschweigen bewahrt haben mußte über das einst zwischen ihnen bestandene Verlöbniß. Das Geständnis dieser entschwundenen Täuschung war also ihr überlassen vor ihm abzulegen in der Geschichte ihrer Vergangenheit, welche sie, wie sie sich gelobt hatte, ohne Rückhalt darlegen wollte.

Sie schrieb an Miss Garth und schickte den Brief sofort zur Post.

Der nächste Morgen brachte eine Zeile zur Antwort. Miss Garth hatte geschrieben, um sich den Landsitz zu Shanklin zu sichern, und Mr. Merrick hatte eingewilligt, daß Magdalene dahin abginge. Nora sollte die Erste sein, die in dem Hause ankäme, und Miss Garth sollte folgen mit einem bequemen Wagen, um die Genesende zur Eisenbahn zu fahren. Jede nöthige Anordnung sei für sie getroffen worden, die Anstrengung der Reise sei die einzige, die sie selber zu machen haben werde.

Magdalene las den Brief mit dankerfülltem Herzen; aber ihre Gedanken schweiften hinweg davon und folgten Kirke auf seiner Rückkehr nach der Hauptstadt. Was war das für ein Geschäft, das ihn am Morgen dorthin geführt hatte? Und warum hatte die zwischen ihnen stattgefundene Verabredung ihn genöthigt, wieder nach der Stadt zu gehen —— zum zweiten Male an einem und demselben Tage?

War es vielleicht ein Geschäft, das sich auf die Schifffahrt bezog? Setzten ihm seine Principale zu, wieder zu Schiffe zu gehen.



Kapiteltrenner

Viertes Capitel.

Die erste Aufregung der Begegnung zwischen den Schwestern war vorüber. Die ersten lebhaften Eindrücke halb süßer, halb schmerzlicher Art hatten sich ein wenig gemildert, und Nora und Magdalene saßen Hand in Hand, Jedes von ihnen von der stillen Fülle seligen Glückes hingerissen.

Magdalene war die Erste, welche wieder Worte fand.

—— Du hast mir Etwas zu sagen, Nora?

—— Ich habe Dir tausend Dinge zu erzählen, meine Liebe, und Du hast tausend Dinge mir zu erzählen. —— Oder meinst Du vielleicht die andere Ueberraschung, von der ich Dir in meinem Briefe schrieb?

—— Ja wohl. Es muß mich sehr nahe angehen, sonst hättest Du es wohl schwerlich gleich in Deinem ersten Briefe erwähnt?

—— Es geht Dich sehr nahe an. Du hast von George’s Haus in Essex gehört? Du mußt wenigstens den Namen St. Crux kennen? —— Warum fährst Du dabei zusammen, meine Liebe? —— Ich fürchte, Du bist jetzt kaum stark genug für neue Ueberraschungen?

—— Vollkommen stark genug, Nora. Ich habe Dir ebenfalls Etwas von St. Crux zu sagen. —— Ich habe meinerseits eine Ueberraschung für Dich.

—— Willst Du es mir jetzt sagen?

—— Jetzt nicht. Du sollst es erfahren, wenn wir an der See sind, Du sollst es erfahren, ehe ich die freundliche Einladung annehme, die mich nach Deines Gatten Hause ruft.

—— Was kann es denn sein? Warum erzählst Du es nicht gleich?

—— Du gabst mir oft das Beispiel der Geduld, Nora, in früheren Zeiten —— willst Du mir jetzt wieder mit gutem Beispiele vorangehen?

—— Von ganzem Herzen. Soll ich auch zu meiner eigenen Geschichte zurückkehren? —— Ja? —— Dann will ich gleich darauf zurückkommen. Ich erzählte Dir, daß St. Crux das Haus meines George in Essex ist, das Haus, das er von seinem Oheim erbte. Da er wußte, daß Miss Garth den Ort gern sehen mochte, hinterließ er, als er nach des Admirals Tode verreiste, daß sie und ihre Freunde, die mit ihr kämen, willkommen sein sollten, wenn sie während seiner Abwesenheit zufällig in die Nähe kommen sollten. Miss Garth und ich und eine große Gesellschaft von Mr. Tyrrels Freunden befanden uns nicht lange nach George’s Abreise in der Nachbarschaft. Wir waren alle eingeladen gewesen, das Vomstapellaufen von Mr. Tyrrels neuer Yacht von der Werfte des Schiffszimmermeisters in Wivenhoe in Essex mit anzusehen. Als das Stapellaufen vorbei war, kehrte der Rest der Gesellschaft nach Colchester zurück, um zu Mittag zu speisen. Miss Garth und ich richteten es aber ein, daß wir in denselben Wagen zusammenkamen, mit Niemand weiter, als meine beiden kleinen Pfleglinge zur Gesellschaft. Wir gaben dem Kutscher seine Weisung und fuhren nach St. Crux. Wir wurden sofort, als Miss Garth ihren Namen nannte, eingelassen und im ganzen Hause umher geführt. Ich weiß nicht, wie ich es Dir beschreiben soll, es ist das seltsamste Haus, das ich in meinem Leben sah....

—— Versuche nicht, es zu beschreiben, Nora. Fahre lieber mit Deiner Geschichte fort.

—— Sehr gut. Meine Geschichte führt mich geradewegs in eines von den Gemächern auf St. Crux, ein Gemach, ungefähr so lang, als Eure Straße hier; so öde, so schmutzig und so entsetzlich kalt, daß ich bei der bloßen Erinnerung fröstele. Miss Garth war dafür, es sofort zu verlassen, je eher, je lieber, und das war auch meine Meinung. Aber die Haushälterin weigerte sich, uns fortzulassen, ehe wir erst ein sonderbares Zimmergeräthe, das einzige an dem unheimlichen Orte, gesehen hätten. Sie nannte es, glaube ich, einen Dreifuß. (Es ist ja hier Nichts dabei, liebe Magdalene, Du brauchst nicht unruhig zu werden, ich versichere Dich, Du brauchst nicht unruhig zu werden!) Jedenfalls war es ein wunderliches dreibeiniges Ding, das eine große Schale mit Kohlenasche auf der Spitze trug. Es wurde, wie uns die Haushälterin erzählte, von allen Sachverständigen als eine wunderbare Ciselirarbeit betrachtet, und sie wies namentlich auf die Schönheit eines Musters hin, das auf der Innenseite der Schale herumlief, mit lateinischen Denksprüchen darauf, besagend, ich weiß, nicht mehr, was. Ich fühlte nicht das geringste Interesse an dem Dinge, was mich betraf, aber ich sah die Zierath genauer an, um der Haushälterin den Willen zu thun. Um die Wahrheit zu sagen, war sie mit ihrer auswendig gelernten Vorlesung über getriebene Arbeiten herzlich langweilig, und während sie sprach, stand ich da und rührte müßig die federweiße Asche hin und her mit meiner Hand, indem ich that, als ob ich zuhörte, im Geiste aber hundert Meilen weit von ihr entfernt war. Ich weiß nicht, wie lange oder wie kurze Zeit ich mit der Asche gespielt, da trafen meine Finger auf ein Stück zusammengedrücktes Papier, das tief in ihr drin stak. Als ich es aus Licht brachte, war es ein Brief, ein langer Brief von einer gedrängten, engen Handschrift. —— Du hast meine Geschichte schon errathen, Magdalene, ehe ich sie endigen kann! Du weißt so gut, als ich, daß der Brief, den meine tändelnden Finger fanden, der Geheimartikel war... Halte Deine Hand auf, meine Liebe. Ich habe George’s Erlaubniß, Dir ihn zu zeigen: da ist er!

Sie drückte den Geheimartikel ihrer Schwester in die Hand. Magdalene nahm ihn von ihr gleichgültig hin.

—— Du! sagte sie, indem sie in der Erinnerung alles Dessen, was sie selber vergeblich gewagt hatte, alles Dessen, was sie vergeblich auf St. Crux gelitten hatte... Du hast ihn gefunden?

—— Ja, sagte Nora fröhlich. Der Artikel hat es gerade nicht anders gemacht, als alle andere Dinge, die verloren wurden. Suche nach denselben, und sie bleiben unsichtbar. Laß sie ruhen, und sie offenbaren sich selber! Du und Dein Anwalt, Magdalene, Ihr hattet Beide Recht, zu vermuthen, daß Dein Interesse bei dieser Entdeckung keines von gewöhnlicher Art war. Ich erspare Dir, alle unsere Verhandlungen und Erkundigungen, nachdem ich das zerknitterte Papier aus der Asche hervorgeholt hatte, anzuhören. Es endigte damit, daß an Georges Advocaten geschrieben und George selbst vom Festlande heimgerufen wurde. Miss Garth und ich sprachen ihn sogleich nach seiner Rückkunft, und er that, was Keines von uns konnte, er löste das Geheimniß des Artikels, der in der Kohlenasche verborgen gelegen hatte. Admiral Batram, mußt Du wissen, war sein ganzes Leben hindurch Anfällen von Nachtwandeln ausgesetzt. Er war nicht lange vor seinem Tode nachtwandelnd betroffen worden, gerade in der Zeit, wo er sich über diesen selbigen Brief da, den Du da in der Hand hast, den Kopf voll Sorgen hatte, George’s Meinung ist, daß er in seinem Schlafe geglaubt haben müsse, er thäte Etwas, was er sonst im wachen Zustande lieber gestorben wäre, ehe er es gethan hätte, nämlich er vernichte den Geheimartikel. Das Feuer war nicht lange zuvor in der Schale angezündet gewesen, und er sah es ohne Zweifel in seinem Traumzustande noch brennen. Dies war George’s Erklärung der sonderbaren Lage des Briefes, als ich ihn fand. Die Frage, was nun mit dem Briefe geschehen sollte, kam dann zunächst daran und war für eine Frau keine leichte Sache zum Verstehen. Aber ich beschloß, dies zu leisten, und ich leistete es, weil es ja Dich anging.

—— Laß mich meinerseits auch damit fertig werden, sagte Magdalene. Ich habe einen besonderen Grund, um zu wünschen, so viel von diesem Briefe zu erfahren, als Du selbst. Was hat derselbe für Andere ausgerichtet? Und was soll er für mich ausrichten?

—— Meine liebe Magdalene, wie sonderbar siehst Du ihn an, wie sonderbar sprichst Du davon! So werthlos es auch erscheinen mag, dies Stück Papier gibt Dir ein Vermögen.

—— Ist mein einziger Anspruch auf das Vermögen der, den dieser Brief mir gibt?

—— Ja; der Brief ist Dein einziger Anspruch. Soll ich versuchen, Dir es in ein paar Worten deutlich zu machen? An sich betrachtet hätte der Brief nach der Meinung des Advocaten zu einem Streitpuncte werden können, obschon ich glaube, daß George nimmer seine Einwilligung zu einem solchen Vorgehen gegeben hätte. Mit der Nachschrift aber betrachtet, die Admiral Bartram dazu gefügt hat (Du wirst die Zeilen sehen, wenn Du unter die Unterschrift auf der dritten Seite schauest), wird er gesetzlich so gut als moralisch für die Vertreter des Admirals bindend. —— Ich habe nun meinen geringen Vorrath juristischer Worte erschöpft und muß in meiner Sprache, nicht in der des Advocaten, fortfahren, das Ende der Geschichte einfach zu verfolgen. Alles Geld fiel zurück an Mr. Noël Vanstone’s Nachlaßmasse, noch ein juristisches Wort, —— mein Wortschatz ist reicher, als ich dachte —— aus einem auf der Hand liegenden Grunde: weil dieselbe nicht im Sinne von Mr. Noël Vanstone’s Weisung behandelt worden war. Wenn Mrs. Girdlestone noch gelebt hätte, oder wenn George mich einige Monate früher geheirathet hätte, so würde der Erfolg ein ganz anderer gewesen sein. So wie die Sache jetzt steht, ist die Hälfte des Geldes bereits unter die nächste Verwandtschaft von Mr. Noël Vanstone getheilt worden, das heißt auf gut Deutsch, unter meinem Mann und seine arme bettlägerige Schwester, die das Geld eines Tages, um erst dem Advocaten den Willen zu thun, annahm, den andern Tag aber es großmüthig wieder zurückgab, um nun auch ihren Willen zu haben. Soviel betreffs der einen Hälfte der Verlassenschaft. Die andere Hälfte, meine Liebe, ist ganz Dein. —— Wie seltsam sich Alles fügt, Magdalene! Es sind erst zwei Jahre, wo Du und ich noch enterbte Waisen waren, und wir theilen jetzt doch trotz alledem und alledem unseres seligen Vaters Vermögen unter uns!

—— Warte ein wenig, Nora. Unsere Theile kommen auf sehr verschiedene Art auf uns.

—— Wirklich? Mein Theil kommt durch meinen Mann auf mich. Deiner kommt auf Dich...

Sie hielt verlegen inne und wechselte die Farbe.

—— Vergib mir, meine einzige Liebe! sprach sie, indem sie Magdalenens Hand an ihre Lippen führte. Ich habe Vergessen, an was ich nicht hätte erinnern sollen. Ich habe Dir unbedacht Kummer gemacht!

—— Nein, sagte Magdalene, Du hast mir Muth gemacht.

—— Muth gemacht?

—— Du sollst sehen.

Mit diesen Worten stand sie ruhig vom Sopha auf und ging an das offene Fenster. Ehe Nora ihr folgen konnte, hatte sie den Geheimartikel in Stücke zerrissen und auf die Straße geworfen.

Sie kam auf das Sopha zurück und legte ihr Haupt mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung an Nora’s Busen.

—— Ich will meinem vergangenen Leben Nichts schuldig bleiben, sprach sie. Ich habe es von mir geworfen, wie ich diese Papierfetzen von mir geworfen habe. Alle Gedanken und alle dahin gehörende Hoffnungen sind für immer bei Seite geworfen!

—— Magdalene! Mein Mann wird nie zulassen, ich selber werde nie zulassen...

—— Stille, stille! Was Dein Gatte für Recht befindet, Nora, wollen wir, Du und ich, auch für Recht befinden. Ich will von Dir nehmen, was ich nimmer genommen hätte, wenn es dieser Brief mir gegeben hätte. Das Ende, von dem ich geträumt, ist eingetroffen. Nichts ist anders worden, als die Stelle, die, wie ich einst geglaubt hatte, wir zu einander einnehmen sollten. Es ist besser so, wie es ist, meine Liebe, weit besser, so wie es ist! So legte sie zuletzt ihre alte Verblendung und ihr altes Wesen als Opfer von sich ab. So trat sie ein neues und edleres Leben an.

* * * * * * * * * * *

* * * * * * * * * *

Ein Monat war vergangen. Die Herbstsonne schien glänzend sogar in den dunklen Straßen, und die Uhren in Der Nachbarschaft schlugen gerade Zwei, als Magdalene allein zu dem Hause in Aarons Anbau zurückkehrte.

—— Wartet er auf mich? frug sie besorgt, als die Wirthin sie hereinführte.

Er wartete im Vorderzimmer.

Magdalene schlich leise die Treppe hinauf, und pochte an.Er rief zerstreuten und gleichgültigen Tones: Herein! indem er offenbar dachte, es sei nur der Diener, der in das Zimmer zu treten wünsche.

—— Sie erwarteten mich kaum so bald? sagte sie, indem sie auf der Schwelle sprach und dort inne hielt, um sich an seiner Ueberraschung zu weiden, als er aufsprang und sie ansah.

—— Die einzigen Spuren der Krankheit, die noch auf ihrem Gesichte sichtbar waren, hinterließen eine Zartheit in seinen Umrissen, welche ihre Schönheit nur noch erhöhte. Sie war einfach in Musselin gekleidet. Ihr einfacher Strohhut hatte keinen andern Schmuck, als das weiße Band, mit welchem es spärlich besetzt war. Sie hatte in in ihren besten Tagen nicht lieblicher ausgesehen, als sie jetzt aussah —— wo sie mit einem kleinen Blumenkörbchen, das sie mit vom Lande heim gebracht hatte, auf den Tisch zuging und ihm ihre Hand reichte.

Er sah ängstlich und sorgenvoll aus, als sie ihn näher betrachtete Sie unterbrach seine ersten Fragen und Glückwünsche, um ihn zu fragen, ob er, seit sie zusammen Abschied genommen, die ganze Zeit in London geblieben, ob er nicht auch einmal weggegangen sei, um seine Familie, in Suffolk zu besuchen? —— Nein, er war seitdem immer in London gewesen. Er sagte ihr nie, daß das hübsche Pfarrhaus in Suffolk keine von jenen Beziehungen zu ihr selbst bot, an welchen die armen vier Wände in Aarons Anbau so reich waren Er sagte nur, er sei immer in London gewesen.

—— Ich möchte gern wissen, frug sie, indem sie ihm aufmerksam ins Gesicht sah, ob Sie auch so froh? sind, mich wieder zu sehen, als ich es bin, Sie wieder zu sehen?

—— Vielleicht bin ich es aus eine andere Weise doch noch mehr, antwortete er mit einem Lächeln.

Sie legte Hut und Schleier ab. und setzte sich wieder einmal in ihren Armstuhl.

—— Ich glaube, die Straße ist recht häßlich, sagte sie, und glaube auch, Niemand kann leugnen, daß das Haus sehr klein ist. Und doch, und doch, es ist Einem, als wenn man wieder daheim wäre. Setzen Sie sich hierher, wo Sie sonst immer saßen, und erzählen Sie mir Etwas von sich. Ich möchte gern Alles wissen, was Sie gethan haben, Alles, was Sie gedacht haben, seitdem ich fort gewesen...

Sie versuchte die endlose Reihe von Fragen wieder anzufangen, durch die sie gewohnt war ihn unvermerkt zum Sprechen zu bringen. Aber sie brachte sie weit weniger natürlich, weit weniger geschickt, als sonst heraus. Ihre einzige alles überwiegende Sorge beim Eintritt in das Zimmer war keine kleine. Nach Verlauf einer Viertelstunde, welche in erzwungenen Fragen von der einen und widerstrebenden Antworten von der andern Seite hinging, wagte sie sich endlich an den gefährlichen Gegenstand näher heran.

—— Haben Sie die Briefe erhalten, welche ich Ihnen von meinem Aufenthalte an der See schrieb? frug sie plötzlich, indem sie zum ersten Male wegsah.

—— Ja, sagte er, alle.

—— Haben Sie sie gelesen?

—— Jeden derselben, und zwar mehr als ein Mal.

Ihr Herz schlug, als sollte sie ersticken. Sie hatte ihr Versprechen tapfer gehalten. Die ganze Geschichte ihres Lebens von der Zeit ihres häuslichen Unglücks auf Combe-Raven bis dahin, wo sie den Geheimartikel vor den Augen ihrer Schwester vernichtet hatte, war ganz ihm vorgelegt worden. Nichts, was sie gethan, sogar Nichts was sie gedacht hatte, war seiner Kenntnißnahme vorenthalten worden. Gleich wie er ein gethanes Gelöbniß ihr gegenüber ausgeführt hätte, so führte sie das Gelöbniß ihm gegenüber aus. Sie hatte nicht gewankt in dem Entschlusse dies zu thun, und jetzt schwankte sie wegen der einen entscheidenden Frage, die zu thun sie hierher gekommen war. So stark der Wunsch auch in ihr war, zu wissen, ob sie ihn gewonnen oder verloren hätte, die Furcht vor der Entscheidung war in diesem Augenblick doch noch stärker. Sie wartete und zitterte, sie wartete und sagte Nichts weiter.

—— Darf ich mit Ihnen von Ihren Briefen sprechen? frug er. Darf ich Ihnen sagen...

Wenn sie ihn angeschaut hätte, als er diese wenigen Worte sprach, so würde sie ihm auf dem Gesichte angesehen haben, was er über sie dachte. Sie würde, so unschuldig er auch in seiner Weltkenntniß war, gesehen haben, daß er den unschätzbaren Werth, die all verklärende Tugend eines Weibes, das die Wahrheit sagt, erkannt hatte. Aber sie hatte nicht den Muth, ihn anzusehen, keinen Muth, ihre Augen von ihrem Schooße zu erheben.

—— Jetzt nur nicht gleich, sagte sie leise. Nicht gleich, nachdem wir uns wieder gesehen haben.

Sie stand rasch von ihrem Stuhle auf und ging ans Fenster, wandte sich wieder ins Zimmer und näherte sich dem Tische, nicht weit davon, wo er saß. Die Schreibmaterialien, die zerstreut um ihn lagen, gaben ihr einen Vorwand, den Gegenstand des Gesprächs zu wechseln, und sie ergriff denselben sofort.

—— Schrieben Sie eben an einem Briefe, frug sie, als ich hereintrat?

—— Ich dachte darüber nach, versetzte er. Es war nicht ein Brief, den man, ohne erst reiflich nachgedacht zu haben, schreiben kann.

Er stand auf, als er ihr geantwortet, um die Schreibmaterialien zusammenzulesen und wegzulegen.

—— Warum sollte ich Sie stören? sagte sie. Warum soll ich Ihnen nicht ein wenig helfen? Ist es ein Geheimniß?

—— Nein, kein Geheimnis«.

Er zögerte, als er ihr antwortete. Sie errieth sofort die Wahrheit.

—— Ist es über Ihr Schiff?

Er wußte freilich nicht, daß sie in ihrer Abwesenheit noch immer des Geschäftes eingedenk war, daß er, wie er meinte, ihr verborgen gehalten habe. Er wußte freilich nicht, daß sie bereits gelernt hatte, eifersüchtig auf sein Schiff zu sein.

—— Will man, daß Sie zu Ihrem alten Leben zurückkehren? fuhr sie fort. Will man, daß Sie wieder in See gehen? Müssen sie jetzt sogleich Ja oder Nein sagen?

—— Sogleich.

—— Wenn ich nun nicht gekommen wäre, wie ich doch that, würden Sie Ja gesagt haben?

Sie legte unwillkürlich ihre Hand auf seinen Arm, indem sie alle minder wichtigen Erwägungen in ihrer athemlosen Spannung zurückdrängte, seine nächsten Worte zu vernehmen. Das Geständniß seiner Liebe schwebte ihm schon auf den Lippen; aber er drängte es noch immer zurück.

—— Ich habe keine Sorge um mich selbst, dachte er. Aber wie kann ich gewiß sein, ihr nicht das Herz schwer zu machen.

—— Würden Sie Ja gesagt haben? wiederholte sie.

—— Ich war ungewiß, antwortete er, ich war ungewiß über Ja und Nein.

Ihre Hand drückte stärker auf seinen Arm, ein plötzliches Zittern ergriff sie in jedem Nerv, sie konnte nicht länger an sich halten. Ihr ganzes Herz flog ihm entgegen in, den nächsten Worten.

—— Waren Sie ungewiß um meinetwillen?...

—— Ja, sagte er. Nehmen Sie mein Bekenntniß für das Ihrige, ich war ungewiß um Ihretwillen....

Sie sagte Nichts weiter, sie sah ihn nur an. In diesem Blicke aber that sich endlich die Wahrheit ihm kund, den nächsten Augenblick lag sie in seinen Armen und vergoß selige Thränen der Freude, ihr Gesicht an seiner Brust verbergend.

—— Verdiene ich denn auch mein Glück? murmelte sie, indem sie endlich die eine Frage that. Ach, ich weiß, wie die armseligen Leute, die niemals gefehlt und nie gelitten haben, mir antworten würden, wenn ich sie fragen würde. Wenn sie meine Geschichte kennen, würden sie die Reizung vergessen und nur an die Beleidigung denken, sie würden sich an meine Sünde anklammern und alle meine Leiden übersehen. Sie aber sind nicht Einer von Leuten? Sagen Sie mir, ob Sie einen Schatten von Mißtrauen noch in sich haben. Sagen Sie es mir, wenn Sie zweifeln, ob der einzige theure Zweck meines künftigen Lebens für mich der ist, Ihrer würdig zu leben! Ich bat Sie, zu warten und mich zu sehen, ich bat Sie, wenn mir eine harte Wahrheit gesagt werden müßte, es mir hier mit Ihrem eigenen Munde zu sagen. Sag es mir, mein Geliebten mein Gemahl! sag es mir jetzt!

Sie schaute auf, immer noch an ihn geschmiegt, wie sie an der Hoffnung ihres bessern Lebens festhielt

—— Sage mir die Wahrheit! wiederholte sie.

—— Mit meinem eignen Munde?

—— Ja! antwortete sie schnell, Sage, was Du von mir hältst, mit Deinen eignen Lippen.

Und er beugte sich zu ihr hernieder und —— küßte sie.



E N D E



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