Ein tiefes Geheimnis
Fünftes Kapitel
Onkel Joseph
Der Tag und die Nacht war vergangen und der neue Morgen angebrochen, ehe die beiden Gatten Mut fanden, ruhig von dem Geheimnis zu sprechen und den Pflichten und Opfern, welche die Entdeckung desselben ihnen auflegte, resigniert ins Antlitz zu schauen.
Leonards erste Frage bezog sich auf jene Zeilen in dem Briefe, welche, wie Rosamunde ihm mitgeteilt, von einer ihr bekannten Handschrift waren.
Als sie fand, daß er sich nicht erklären konnte, auf welche Weise sie sich ein Urteil über diesen Punkt habe bilden können, erklärte sie ihm, daß nach Kapitän Trevertons Tode ganz natürlich viele von Mistreß Treverton an ihren Gatten geschriebene Briefe in ihren Besitz gekommen waren. Dieselben betrafen gewöhnliche häusliche Angelegenheiten, und sie hatte sie oft genug gelesen, um mit den Eigentümlichkeiten von Mistreß Trevertons Handschrift genau vertraut zu werden. Dieselbe war auffallend groß, fest und von fast männlichem Charakter, und die Adresse, die Zeile unter derselben und die oberste der beiden Unterschriften des Briefes, welcher in dem Myrtenzimmer gefunden worden, glichen einander in jeder Beziehung ganz genau.
Die nächste Frage bezog sich auf den Hauptinhalt des Briefes. Die Handschrift desselben, der zweiten Überschrift – „Sara Leeson“ – und der hinzugefügten Zeilen auf der dritten Seite, die ebenfalls mit „Sara Leeson“ unterzeichnet waren, alles dies war unzweifelhaft das Produkt einer und derselben Person.
Während Rosamunde ihren Gatten von dieser Tatsache in Kenntnis setzte, vergaß sie nicht, ihm zu erklären, daß, während sie am vorigen Tage den Brief vorgelesen, ihre Kräfte und ihr Mut ihr untreu geworden seien, ehe sie das Ende desselben erreicht. Sie setzte hinzu, die Nachschrift, welche sie auf diese Weise vorzulesen unterlassen, sei von Wichtigkeit, weil sie die Umstände erwähnte, unter welchen das Geheimnis verborgen geblieben, und bat ihn, ihr Gehör zu schenken, während sie ihn ohne weitern Aufschub vom Inhalte dieser Nachschrift in Kenntnis setzte.
Jetzt wieder so dicht an seiner Seite sitzend, als ob sie die ersten Tage ihrer Flitterwochen noch einmal durchlebte, las sie diese letzten Zeilen – die Zeilen, welche ihre Mutter vor sechzehn Jahren an dem Morgen geschrieben, wo sie von Porthgenna Tower entfloh.
„Wenn dieses Papier jemals gefunden werden sollte – und mein innigstes Gebet ist, daß dies niemals geschehen möge – so wünsche ich hiermit zu erklären, daß ich zu dem Entschluß, es zu verbergen, gekommen bin, weil ich nicht wage, die Schrift, die es enthält, meinem Herrn zu zeigen, an den sie gerichtet ist. Indem ich dies tue, breche ich – obschon ich den letzten Wünschen meiner Herrin entgegenhandle – nicht das feierliche Versprechen, welches sie mir auf ihrem Sterbebett abnahm. Dieses Versprechen verbietet mir, diesen Brief zu vernichten oder ihn mit fortzunehmen, wenn ich das Haus verlasse. Ich werde auch keins von beiden tun – ich beabsichtige bloß, ihn an einem Orte zu verbergen, wo nach meiner Meinung die mindeste Aussicht vorhanden ist, daß er jemals gefunden werde. Jedes Drangsal oder Unglück, welches eine Folge dieses unredlichen Verfahrens von meiner Seite sein kann, wird auf mich selbst zurückfallen. Andere, glaube ich mit fester Überzeugung, werden wegen des furchtbaren Geheimnisses, welches dieser Brief enthält, dann nur um so glücklicher sein.“
„Nun“, sagte Leonard, als seine Gattin fertig war, „nun kann kein Zweifel mehr obwalten, daß Mistreß Jazeph, Sara Leeson und die Dienerin, welche von Porthgenna Tower verschwand, eine und dieselbe Person sind.“
„Das arme Geschöpf“, sagte Rosamunde, indem sie seufzend den Brief weglegte. „Nun wissen wir, warum sie mich so ängstlich vor dem Betreten des Myrtenzimmers warnte! Wer kann sagen, was sie gelitten haben muß, da sie als eine Fremde an mein Bett kam. O, was gäbe ich nicht darum, wenn ich weniger hastig gegen sie gewesen wäre! Es ist furchtbar, zu bedenken, daß ich zu ihr sprach wie zu einer Dienerin, von welcher ich Gehorsam erwartete; noch furchtbarer ist es, zu fühlen, daß ich selbst jetzt nicht an sie denken kann, wie ein Kind an seine Mutter denken soll. Wie kann ich ihr jemals sagen, daß ich das Geheimnis kenne –“
Sie schwieg bei dem qualvollen Gedanken an den Makel, der nun an ihrer Geburt haftete; sie schwieg, indem sie an den Namen, den ihr Gatte ihr gegeben, und an ihre eigene Abstammung dachte, welche die Gesetze der Gesellschaft anzuerkennen verschmähten.
„Warum schweigst du?“ fragte Leonard.
„Ich fürchtete –“ begann sie und stockte wieder.
„Du fürchtetest“, sagte er an ihrer Statt den Redesatz vollendend, „daß Worte des Mitleids mit dieser Unglücklichen durch die Erinnerung an die Umstände deiner Geburt meinen empfindlichen Stolz verwunden könnten. Rosamunde, ich wäre deiner beispiellosen Wahrheitsliebe und Aufrichtigkeit gegen mich unwürdig, wenn ich meinerseits nicht gestünde, daß diese Entdeckung mich wirklich verwundet hat, wie nur ein stolzer Mann verwundet werden kann. Mein Stolz ist mit mir geboren und groß gewachsen. Mein Stolz benutzt selbst jetzt, während ich mit dir spreche, meine ersten Augenblicke wiedergewonnener Fassung und verlockt mich, aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz, zu bezweifeln, ob die Worte, die du mir vorgelesen, im Grunde genommen Worte der Wahrheit sein können. So stark aber dieses mir angeborene und anerzogene Gefühl auch ist – so hart es auch für mich sein mag, es so zu schulen und zu bemeistern, wie ich soll, muß und will – so lebt doch in meinem Herzen ein zweites Gefühl, welches noch stärker ist.“
Er tastete nach ihrer Hand, schloß sie in die seinen und setzte dann hinzu:
„Von der Stunde an, wo du dein Leben deinem blinden Gatten widmetest – von der Stunde an, wo du seine ganze Dankbarkeit gewannst, wie du schon seine Liebe gewonnen, nahmst du in seinem Herzen einen Platz ein, Rosamunde, von welchem nichts, selbst nicht ein solcher Schlag wie der, welcher uns jetzt getroffen, dich verdrängen kann. So hoch auch der Wert des Ranges in meiner Achtung stets gestanden hat, so habe ich doch schon vor dem gestrigen Ereignis gelernt, den Wert meines Weibes, sei ihre Herkunft welche sie wolle, noch viel höher anzuschlagen.“
„O, Lenny, Lenny, ich kann nicht zuhören, wie du mich lobst, wenn du in demselben Atem sprichst, als ob ich, indem ich dich geheiratet, ein Opfer gebracht hätte! Als ich jenen furchtbaren Brief das erste Mal las, hegte ich einen einzigen Augenblick lang den niedrigen, undankbaren Zweifel, ob deine Liebe zu mir gegen die Entdeckung dieses Geheimnisses Stand halten würde. Ich hatte einen einzigen Augenblick furchtbarer Versuchung, der mich von dir hinwegzog, während ich doch den Brief sogleich hätte in deine Hände legen sollen. Dein Anblick, als du darauf wartetest, daß ich wieder sprechen würde, während du so unschuldig warst an aller Kenntnis dessen, was so dicht in deiner Nähe geschah, dies war es, was mich wieder zur Besinnung brachte und mir sagte, was ich zu tun hätte. Es war der Anblick meines blinden Gatten, der mich die Versuchung, diesen Brief gleich im Augenblick der Entdeckung zu vernichten, überwinden ließ. O, wenn ich selbst das härteste aller Frauenherzen gehabt, hätte ich wohl je wieder deine Hand fassen können – könnte ich dich küssen, könnte ich mich neben dir niederlegen und dich eine Nacht nach der andern einschlafen hören, wenn ich mir bewußt wäre, daß ich deine Blindheit und Abhängigkeit von mir gemißbraucht, um meinen eigenen selbstsüchtigen Interessen zu dienen, und daß mir mein Betrug bloß gelungen, weil dein Gebrechen dich unfähig machte, den Betrug zu ahnen? Nein, nein, ich kann kaum glauben, daß die verworfenste der Frauen sich einer solchen Niedrigkeit schuldig machen könnte, und ich kann für mich weiter nichts in Anspruch nehmen als die Anerkennung, daß ich meine Aufgabe treulich erfüllt. Du sagtest gestern in dem Myrtenzimmer, der einzige treue Freund in deiner Blindheit, der dir niemals untreu würde, sei dein Weib. Jetzt, wo das Schlimmste vorüber, ist es für mich Lohn und Trost genug, zu wissen, daß du dies auch jetzt noch sagen kannst.“
„Ja, Rosamunde, das Schlimmste ist vorüber, aber wir dürfen nicht vergessen, daß noch schwere Prüfungen zu bestehen sein werden.“
„Schwere Prüfungen, Geliebter? Was für Prüfungen meinst du?“
„Vielleicht, Rosamunde, überschätze ich den Mut, den das Opfer verlangt; mir wenigstens aber wird es ein schweres Opfer sein, fremde Personen zu Teilhabern der Kenntnis des Geheimnisses zu machen, welches wir jetzt besitzen.“
Rosamunde sah ihren Gatten erstaunt an.
„Warum brauchen wir das Geheimnis irgendjemandem zu sagen?“ fragte sie.
„Vorausgesetzt, daß wir uns von der Echtheit dieses Briefes überzeugen können“, antwortete er, „wird uns keine andere Wahl übrigbleiben, als das Geheimnis auch fremden Personen mitzuteilen. Du kannst nicht die Umstände vergessen, unter welchen dein Vater – unter welchen Kapitän Treverton –“
„Nenne ihn meinen Vater“, sagte Rosamunde wehmütig; „bedenke, wie er mich liebte und wie ich ihn liebte, und sage immerhin mein Vater.“
„Ich fürchte, ich muß jetzt Kapitän Treverton sagen“, entgegnete Leonard, „sonst werde ich kaum im Stande sein, dir einfach und klar auseinanderzusetzen, was du durchaus wissen mußt. Kapitän Treverton ist gestorben, ohne ein Testament zu hinterlassen. Sein einziges Besitztum bestand in der Kaufsumme für dieses Schloß mit Zubehör und du erbtest sie als seine nächste Anverwandte.“
Rosamunde fuhr in ihrem Stuhl zurück und schlug entsetzt die Hände zusammen.
„O Lenny“, sagte sie einfach, „ich habe, seitdem ich den Brief gefunden, so viel an dich gedacht, daß mir dies nie eingefallen ist.“
„Es ist aber Zeit, daran zu denken, Geliebte. Wenn du nicht Kapitän Trevertons Tochter bist, so hast du auch kein Recht auf einen Heller des Vermögens, welches du jetzt besitzest, und es muß sofort der Person ausgeantwortet werden, welche wirklich Kapitän Trevertons nächster Anverwandter ist – oder mit andern Worten seinem Bruder.“
„Diesem Mann!“ rief Rosamunde. „Diesem Mann, der uns gänzlich fremd ist, der sogar unsern Namen verachtet. Sollen wir uns arm machen, damit er reich werde?“
„Wir müssen tun, was ehrenhaft und gerecht ist, und dabei unsere eigenen Interessen und uns selbst opfern, soweit es die Umstände erheischen“, sagte Leonard mit Festigkeit. „Ich glaube, Rosamunde, meine Einwilligung als Ehemann ist dem Gesetze gemäß notwendig, um diese Resitution zu bewirken. Wäre Mr. Andrew Treverton auch der bitterste Feind, den ich auf Erden hätte, und sollte die Wiederherausgabe dieses Geldes uns auch in unsern pekuniären Umständen vollständig ruinieren, so würde ich es doch freiwillig zurückerstatten bis auf den letzten Heller und ohne einen Augenblick zu zögern. Du würdest ganz gewiß dasselbe tun.“
Das Blut stieg ihm in die Wangen, während er sprach. Rosamunde sah ihn mit stiller Bewunderung an.
„Wer möchte wünschen, daß er weniger stolz sei“, dachte sie liebend, „wenn sein Stolz sich in solchen Worten ausspricht.“
„Du verstehst jetzt“, fuhr Leonard fort, „daß wir Pflichten zu erfüllen haben, welche uns nötigen, den Beistand anderer in Anspruch zu nehmen, und die es deshalb unmöglich machen werden, das Geheimnis für uns zu behalten. Sara Leeson muß ausfindig gemacht werden, und wenn wir ganz England nach ihr durchsuchen sollten. Unser künftiges Handeln hängt von ihren Antworten auf unsere Fragen, von ihrem Zeugnis in Bezug auf die Echtheit dieses Briefes ab. Obschon ich im voraus entschlossen bin, mich nicht hinter technische Flausen und Silbenstechereien zu verschanzen – obschon ich nichts bedarf als einen moralisch bündigen Beweis, wie unvollkommen er auch in juristischer Beziehung sein möge – so ist es doch unmöglich, in der Sache etwas zu tun, ohne sofort den geeigneten Rat einzuholen. Der Antwalt, welcher früher Kapitän Trevertons Angelegenheiten besorgte und jetzt auch die unserigen verwaltet, ist der rechte Mann, an den wir uns zu wenden haben, um die Nachforschungen nach Sara Leeson zu beginnen, und der uns sagen wird, auf welche Weise, da nötig, die Restitution geschehen kann.“
„Wie ruhig und mit welcher Festigkeit du davon sprichst, Lenny! Wird nicht die Verzichtleistung auf mein Vermögen ein furchtbarer Verlust für uns sein?“
„Wir müssen ihn uns als einen Gewinn für unser Gewissen denken, Rosamunde, und fügsam unsere Lebensweise nach unsern veränderten Mitteln ändern. Doch hierüber brauchen wir nicht weiter zu sprechen, bis wir von der Notwendigkeit, das Geld herauszugeben, überzeugt sind. Es muß dir ebenso wie mir zunächst daran gelegen sein, Sara Leeson – oder vielmehr deine Mutter – zu ermitteln, denn ich muß sie bei diesem Namen nennen lernen, sonst lerne ich niemals sie bemitleiden und ihr verzeihen.“
Rosamunde schmiegte sich dichter an ihren Gatten.
„Jedes Wort, welches du sprichst, Geliebter, tut meinem Herzen wohl“, flüsterte sie, indem sie ihr Haupt an seine Schulter legte. „Du wirst mir beistehen und mich stärken, wenn die Zeit kommt, meine Mutter so zu empfangen, wie es meine Pflicht ist! O, wie bleich, müde und abgezehrt sah sie aus, als sie an meinem Bett stand und mich und mein Kind betrachtete! Wird es lange dauern, ehe wir sie finden? Wird sie weit von uns entfernt sein oder vielleicht näher, viel näher als wir glauben?“
Ehe Leonard antworten konnte, ward er durch Anpochen an die Tür unterbrochen und Rosamunde durch das Eintreten der Dienerin überrascht.
Betsey war ganz aufgeregt und außer Atem. Dennoch machte sie es möglich, einen kurzen Auftrag von Mr. Munder, dem Kastellan, auszurichten, der um Erlaubnis bat, in einer wichtigen Angelegenheit mit Mr. oder Mistreß Frankland zu sprechen.
„Was gibt es? Was will er?“ fragte Rosamunde.
„Ich glaube, Madame, er wünscht zu wissen, ob er nach dem Konstabler schicken soll oder nicht“, antwortete Betsey.
„Nach dem Konstabler?“ wiederholte Rosamunde. „Sind denn am hellen lichten Tage Diebe im Hause?“
„Mr. Munder sagt, er wisse nicht, ob es sich nicht vielleicht um etwas noch Schlimmeres als Diebe handle“, entgegnete Betsey. „Der Ausländer ist nämlich wieder da. Er kam ganz keck an die Tür, zog die Klingel und fragte, ob er Mistreß Frankland sprechen könne.“
„Der Ausländer!“ rief Rosamunde, indem sie ihre Hand begierig auf den Arm ihres Gatten legte.
„Ja, Madame“, fuhr Betsey fort. „Derselbe, der mit der Frau hier war, um sich in dem Haus herumführen zu lassen, und –“
Rosamunde sprang mit der ihrem Charakter eigentümlichen Entschlossenheit auf.
„Laß mich hinuntergehen“, hob sie an.
„Warte“, sagte Leonard, indem er sie bei der Hand faßte. „Es ist durchaus nicht notwendig, daß du hinuntergehst. Laß den Fremden heraufkommen“, fuhr er zu Betsey gewandt fort, „und sage Mr. Munder, daß wir die Führung dieser Sache selbst in die Hand nehmen wollen.“
Rosamunde setzte sich wieder neben ihren Gatten.
„Das ist ein sehr seltsamer Zufall“, sagte sie in leisem, ernstem Tone. „Es muß mehr als bloßer Zufall sein, welcher den Schlüssel zu diesem Rätsel in dem Augenblick in unsere Hände legt, wo wir am wenigsten erwarteten ihn zu finden.“
Die Tür öffnete sich zum zweiten Male und es erschien bescheiden auf der Schwelle ein kleiner, alter Mann mit rosigen Wangen und langem, weißen Haar. Ein kleines ledernes Futteral hing mittelst eines Riemens an seiner Seite und das Rohr einer Tabakspfeife lugte aus der Brusttasche seines Rocks.
Er tat einen Schritt, blieb stehen, hob beide Hände mit seinem Filzhute dazwischen bis an sein Herz empor und machte rasch nacheinander fünf phantastische Bücklinge – zwei vor Mistreß Frankland, zwei vor ihrem Gatten und dann noch einen vor Mistreß Frankland, als einer Dame gebührende besondere Huldigung.
Niemals hatte Rosamunde eine vollständigere Verkörperung vollkommener Unschuld und Harmlosigkeit gesehen als diesen Fremdling, der in dem Briefe der Haushälterin als ein frecher Landstreicher geschildert war und in welchem Mr. Munder etwas noch Schlimmeres als einen Dieb zu erblicken glaubte.
„Madame und guter Herr“, sagte der alte Mann, indem er auf Mistreß Franklands Aufforderung noch ein wenig näher trat, „ich bitte um Verzeihung, daß ich Sie belästige. Mein Name ist Joseph Buschmann. Ich wohne in der Stadt Truro, wo ich Kunsttischlerarbeiten und Teebretter verfertige und andere dergleichen glänzende Geschäfte mache. Ich bin auch, wenn Sie erlauben, derselbe kleine Ausländer, der von dem großen dicken Hausmeister, als ich mir das Haus ansehen wollte, so hart angelassen ward. Ich bitte um weiter nichts, als daß Sie für mich und eine andere Person, die meinem Herzen sehr nahe steht, ein einziges kleines Wort vorbringen lassen. Es wird bloß wenige Minuten in Anspruch nehmen, Madame und guter Herr, dann will ich mit meinen herzlichen Glückwünschen für Ihr Wohl und mit meinem herzlichsten Dank wieder meiner Wege gehen.“
„Ich bitte Sie, Mr. Buschmann, ganz nach Ihrem Belieben über unsere Zeit zu verfügen“, sagte Leonard. „Wir haben durchaus nichts vor, was Sie nötigen könnte, Ihren Besuch abzukürzen. Ich muß Ihnen im voraus und um jeder Verlegenheit von beiden Seiten vorzubeugen, sagen, daß ich das Unglück habe, blind zu sein. Ich kann Ihnen indessen, was das Zuhören betrifft, meine beste Aufmerksamkeit versprechen. Rosamunde, hat Mr. Buschmann Platz genommen?“
Mr. Buschmann stand noch in der Nähe der Tür und gab seine Sympathie mit dem ihm eben bemerklich gemachten Gebrechen dadurch zu erkennen, daß er sich nochmals gegen Mr. Frankland verbeugte und seinen Filzhut nochmals ans Herz drückte.
„Ich bitte, treten Sie näher und setzen Sie sich“, sagte Rosamunde. „Glauben Sie übrigens durchaus nicht, daß die Meinung unseres Kastellans den mindesten Einfluß auf uns äußere oder daß wir von Ihnen eine Entschuldigung wegen dessen verlangen, was während Ihres ersten Besuchs in diesem Hause stattgefunden hat. Wir haben ein Interesse – ein sehr großes Interesse“, setzte sie mit ihrer gewohnten herzlichen Freimütigkeit hinzu, „alles zu hören, was Sie uns zu sagen haben. Sie sind von allen Menschen gerade derjenige, welchen wir in diesem Augenblick –“
Sie stockte, denn sie fühlte ihren Fuß von dem ihres Gatten berührt und deutete dies sehr richtig als eine Mahnung, sich nicht allzu rückhaltlos gegen den Fremden auszusprechen, ehe er sich über den Zweck seines Kommens erklärt hätte.
Mit sehr erfreuter und auch ein wenig überraschter Miene, als er Rosamundes letzte Worte hörte, zog Onkel Joseph einen Stuhl in die Nähe des Tisches, an welchen Mr. und Mistreß Frankland saßen, drückte seinen Filzhut noch dichter zusammen und steckte ihn in eine der Seitentaschen seines Rockes. Dann zog er aus der andern ein kleines Paket Briefe, legte dieselben, nachdem er sich niedergesetzt, auf sein Knie, klopfte mit den Händen darauf und begann seine Erklärung.
„Madame und guter Herr“, sagte er, „ehe ich auf den eigentlichen Gegenstand komme, muß ich mit Ihrer Erlaubnis bis auf das letzte Mal zurückgehen, wo ich in Begleitung meiner Nichte in dieses Haus kam.“
„Ihrer Nichte!“ riefen Rosamunde und Leonard wie aus einem Munde.
„Ja, meine Nichte Sara“, sagte Onkel Joseph, -„des einzigen Kindes meiner Schwester Agathe. Um Saras willen bin ich jetzt hier. Sie ist das noch einzige Stück Fleisch und Blut, was mir in der Welt übrig geblieben ist. Die andern sind alle tot. Meine Frau, mein kleiner Joseph, mein Bruder Max, meine Schwester Agathe und der Mann, den sie heiratete, der gute, edle Engländer Leeson – alle, alle sind sie tot.“
„Leeson“, sagte Rosamunde, indem sie ihrem Gatten bedeutsam unter dem Tische die Hand drückte. „Ihre Nichte heißt Sara Leeson?“
Onkel Joseph seufzte und schüttelte den Kopf.
„Eines Tages“, sagte er – „von allen Tagen im Jahre war es der unheilvollste für Sara – wechselte sie diesen Namen. Von dem Manne, den sie heiratete – und der ebenfalls schon längst gestorben ist, Madame – weiß ich nichts weiter als dies: Sein Name war Jazeph, und er behandelte sie schlecht, weswegen ich ihn für den ersten Schurken halte. Ja“, rief Onkel Joseph mit so viel Zorn und Bitterkeit, als sein harmloses Gemüt überhaupt hegen konnte und in der Meinung, daß er sich eines ungemein harten Wortes und starken Ausdrucks bediene, „ja, und wenn er in diesem Augenblick wieder lebendig würde, so wollte ich ihm ins Gesicht sagen: Engländer Jazeph, du bist der erste Schurke!“
Rosamunde drückte ihrem Gatten zum zweiten Male die Hand. Wenn ihre eigene Überzeugung nicht schon Mistreß Jazeph mit Sara Leeson identifiziert hätte, so wären die letzten Worte des alten Mannes ausreichend gewesen, um sie zu versichern, daß beide Namen von einer und derselben Person geführt worden.
„Wohlan denn, ich komme nun auf den Tag zurück, wo ich mit Sara, meiner Nichte, hier war“, hob Onkel Joseph wieder an. „Ich muß in dieser Angelegenheit die Wahrheit sprechen, denn sonst komme ich nicht von der Stelle, während ich doch eigentlich jetzt schon viel weiter sein sollte. Madame und guter Herr, Sie werden die Güte haben, mir und Sara, meiner Nichte, zu verzeihen, wenn ich gestehe, daß wir nicht um das Innere des Schlosses zu sehen hierher kamen und die Klingel zogen und viel Mühe machten und dem dicken Hausmeister Veranlassung gaben, so viel Atem an uns zu verschwenden. Wir kamen in einer seltsamen Absicht hierher – nämlich wegen eines Geheimnisses meiner Nichte, welches mir noch jetzt so schwarz und finster ist wie die Mitte der schwärzesten und finstersten Nacht, die es jemals in der Welt gegeben. Da ich nun weiter nichts davon wußte, als daß durchaus nichts Unrechtes dabei war und da Sara sich einmal vorgenommen hatte, hierher zu gehen und ich sie nicht allein gehen lassen konnte – sowie auch aus dem guten Grunde, weil sie mir gesagt, sie wäre vollkommen berechtigt, jenen Brief wegzunehmen und an einem andern Orte zu verstecken, denn sie fürchtete, man könne ihn finden, wenn er länger in dem Zimmer bliebe, wo sie ihn gelassen – es war dies nämlich das Zimmer, wo sie ihn ursprünglich versteckt – so – so – konnte ich – oder nein – so konnte sie – ach mein Gott“, rief Onkel Joseph, indem er sich verzweifelt auf die Stirn schlug und zu diesem Ausruf in seiner Muttersprache Zuflucht nahm, „ich habe mich ganz verheddert, wie wir in Deutschland zu sagen pflegen. Ich weiß nicht mehr, wo ich halte – ich glaube, ich muß noch einmal von vorn anfangen.“
„Unsertwegen ist dies durchaus nicht nötig“, sagte Rosamunde, über ihrem Wunsche, dem alten Manne aus der Verlegenheit zu helfen, alle Vorsicht und Zurückhaltung vergessend, „Sie brauchen Ihre Auseinandersetzungen nicht zu wiederholen – wir wissen bereits –“
„Wir wollen“, mische Leonard sich plötzlich ein, ehe seine Gattin weiter ein Wort hinzusetzen konnte, „wir wollen annehmen, daß wir schon alles wissen, was Sie uns in Bezug auf das Geheimnis Ihrer Nichte und Ihren Beweggrund, das Innere dieses Hauses sehen zu wollen, zu sagen wünschen.“
„Das wollen Sie annehmen!“ rief Onkel Joseph, als ob ihm eine Last abgenommen würde. „Ach, ich danke Ihnen, Madame und guter Herr, ich danke Ihnen tausend mal, daß Sie mir dadurch aus der Verlegenheit helfen. Ich hatte mich, wie gesagt, förmlich verheddert, aber nun kann ich weiter sprechen und gedenke nun ordentlich bei der Stange zu bleiben. Also, ich will die Sache so erzählen: Ich und Sara, meine Nichte, sind in dem Haus – das ist die erste Voraussetzung. Ich und Sara sind außer dem Hause – das ist die zweite Voraussetzung. Nun gut. Gehen wir wieder weiter. Auf meinem Heimweg nach Truro wird mir bange um Sara, namentlich wegen der Ohnmacht, in die sie hier auf Ihrer Treppe fiel, und wegen eines Ausdrucks in ihrem Gesicht, der mir das Herz schwer machte. Ebenso tat sie mir auch leid, weil sie das, was sie hierher kam zu tun, nicht hatte tun können. Diese Dinge beunruhigen mich, doch ich tröste mich und mein Trost ist, daß Sara nun bei mir in meinem Hause in Truro bleiben wird un daß ich künftig für sie sorgen und sie womöglich aufheitern kann. Denken Sie sich daher, wie ich erschrecke, als ich höre, daß sie nicht bei mir bleiben will. Denken Sie sich, Madame und guter Herr, wie groß meine Überraschung ist, als ich sie nach dem Grunde frage und sie mir sagt, sie müsse Onkel Joseph verlassen, weil sie fürchte, von Ihnen entdeckt zu werden.“
Der alte Mann schwieg und bemerkte, als er ruhig Rosamunde ansah, daß ihr Gesicht, als er diese letzten Worte sprach, sich mit einem plötzlich wehmütigen Ausdruck von ihm abwendete.
„Tut Sara, meine Nicht, Ihnen leid, Madame? Bedauern Sie sie?“ fragte er in zögerndem und etwas zitterndem Tone.
„Ich bemitleide sie von ganzem Herzen“, sagte Rosamunde mit Wärme.
„Und ich danke Ihnen von ganzem Herzen für dieses Mitleid“, entgegnete Onkel Joseph. „Ach Madame, Ihre Güte gibt mir Mut, weiterzusprechen und Ihnen zu erzählen, daß wir noch an dem Tage, wo wir zurück nach Truro kamen, uns wieder trennten. Als sie mich diesmal besuchte, waren viele lange und einsame Jahre vergangen, ohne daß wir einander gesehen hatten. Ich fürchtete, daß nun abermals viele Jahre vergehen würden, und ich versuchte Sara zu bereden, nun auf immer bei mir zu bleiben. Aber es war immer noch dieselbe Furcht, die sie hinwegtrieb – die Furcht, von Ihnen ausfindig gemacht und ausgefragt zu werden. Mit Tränen in den Augen – in den ihrigen wie in den meinigen – und mit Kummer im Herzen – in dem ihrigen wie in dem meinigen – ging sie fort, um sich in der öden Wüste der großen Stadt London zu verbergen, welche alle Leute und alle Dinge, die hinströmen, verschlingt und die nun auch Sara, meine Nichte, verschlungen hat. Mein Kind, wirst du zuweilen an Onkel Joseph schreiben? sagte ich und sie antwortete mir: ‚Ich werde oft schreiben.’ Seitdem sind nun drei Wochen vergangen, und hier auf meinem Knie liegen vier Briefe, die sie an mich geschrieben. Ich werde Sie um Erlaubnis bitten, Ihnen dieselben vorlegen zu dürfen, denn sie werden mir mit dem, was ich zu sagen habe, weiter forthelfen und ich sehe Ihnen, Madame, am Gesicht an, daß Sie meine Nichte wirklich von ganzem Herzen bemitleiden.“
Er band das Paket Briefe auf, öffnete dieselben, küßte sie einen nach dem andern und legte sie in einer Reihe auf den Tisch, indem er sie sorgfältig mit der Hand glatt strich und sich große Mühe gab, sie alle in eine vollkommen gerade Linie zu bringen. Ein Blick auf den ersten der kleinen Reihe bewies Rosamunden, daß die Handschrift dieselbe war, wie die des größern Teils des Briefes, welcher in dem Myrtenzimmer gefunden worden.
„Es steht nicht viel zu lesen darin“, sagte Onkel Joseph. „Wenn Sie dieselben erst durchlesen wollen, Madame, so kann ich Ihnen hernach den Grund sagen, aus welchem ich sie Ihnen zeige.“
Der alte Mann hatte Recht. Es stand in den Briefen sehr wenig zu lesen und sie wurden mit jedem neuen Datum immer kürzer. Alle vier waren in der steifen, ängstlich korrekten Weise einer Person geschrieben, welche, wenn sie die Feder ergreift, von der Furcht beseelt ist, Verstöße gegen Orthographie und Grammatik zu begehen. Ebenso waren sie gänzlich der leer an persönlichen, auf die Person der Schreiberin bezüglichen Einzelheiten. Alle vier enthielten die dringende Bitte, daß Onkel Joseph sich keine Sorge machen möge, erkundigten sich nach seiner Gesundheit und sprachen Dank und Liebe zu ihm so warm aus, wie die schüchternen Schranken dieser Schreibweise gestatteten.
Alle vier Briefe enthielten in Bezug auf Rosamunde zwei Fragen – erstens, ob Mistreß Frankland in Porthgenna Tower angelangt sei? Und zweitens, ob, wenn sie angelangt war, Onkel Joseph etwas von ihr gehört hätte? – Was die Adresse wegen einer Antwort betraf, so enthielten alle vier Briefe eine und dieselbe Weisung in den Worten: „Schreibe mir unter der Adresse S.J. poste restante Smith Street, London“, - und dann folgte auch allemal dieselbe Erklärung: „Entschuldige, daß ich dir nicht meine eigentliche Adresse angebe, ich unterlasse es aus Furcht vor einem etwaigen unglücklichen Zufall, denn selbst hier in London fürchte ich immer noch, daß man mich aufspüre. Ich lasse jeden Morgen auf dem Postbüro nachfragen, ob ein Brief an mich da ist, und deshalb kann ich gewiß sein, deine Antwort zu bekommen.“
„Ich sagte Ihnen schon, Madame“, begann der alte Mann wieder, als Rosamunde sich von den Briefen emporrichtete, „daß ich um Saras willen, als sie mich verließ, sehr ängstlich und besorgt war. Sie werden nun einsehen, daß ich, wenn ich diese vier Briefe alle so vor mich herlege, immer ängstlicher werden muß. Dieselben beginnen hier mit dem ersten zu meiner linken Hand und werden so wie sie näher zu meiner Rechten kommen, immer kürzer, kürzer und kürzer, bis der letzte nur acht kleine Zeilen enthält. Das ist aber noch nicht alles. Die Schrift des ersten Briefes hier, sehen Sie, ist sehr schön – das heißt, sehr schön für mich, weil ich Sara liebe und weil ich selbst sehr schlecht schreibe. In dem zweiten Briefe ist sie schon nicht mehr so gut; sie zittert ein wenig und die letzten Linien sind ein wenig krumm. In dem dritten ist sie noch schlechter – noch zitteriger, noch klecksiger, noch krümmer. Im vierten, wo es doch am wenigsten zu tun gegeben hat, sind Zittern, Kleckse und Krümme noch viel vorherrschender als in den andern drei allen zusammen. Das sehe ich, ich erinnere mich, daß sie schwach, müde und abgemattet war, als sie mich verließ, und ich sage bei mir selbst: Sie ist krank, obschon sie es nicht sagen will, denn die Handschrift verrät es.“
Rosamunde blickte wieder auf die Briefe herab und folgte den bedeutsamen Verschlechterungen der Handschrift Zeile um Zeile, sowie der alte Mann sie darauf aufmerksam machte.
„Das sage ich zu mir selbst“, fuhr er fort. „Ich warte und denke ein wenig nach und ich höre mein eigenes Herz mir zuflüstern: Geh, Onkel Joseph, nach London und hole, so lange es noch Zeit ist, sie zurück, um sie in deinem Hause wieder gesund, getröstet und glücklich zu machen. Dann warte ich und denke wieder ein wenig nach – nicht wegen meines Geschäfts und daß ich es auf ein paar Tage verlassen müßte, denn eher verließe ich es auf immer, als daß ich Sara etwas Schlimmes zustoßen ließe – sondern was ich tun soll, um sie zu bewegen, wieder zu mir zurückzukehren. Dieser Gedanke veranlaßt mich, wieder die Briefe anzusehen, die Briefe zeigen mir stets dieselben Fragen in Bezug auf Mistreß Frankland; ich sehe es so deutlich wie die Hand vor meinen Augen, daß ich Sara, meine Nichte, niemals werde bewegen können, zu mir zurückzukehren, wenn ich sie nicht zuvor wegen jenes Ausfragens durch Mistreß Frankland beruhigen kann, wovor sie sich fürchtet, als ob bei diesem Ausfragen Tod und Leben für sie auf dem Spiel stünde. Plötzlich weiß ich, was ich zu tun habe. Die Pfeife geht mir darüber aus, ich springe von meinem Stuhl auf, ich setze meinen Hut auf, ich reise hierher, wo ich mich schon einmal eingedrängt und wo ich, wie ich wohl weiß, gar nicht das Recht habe mich einzudrängen. Ich bitte Sie nun bei Ihrem Mitleid gegen meine Nichte und bei Ihrer Güte gegen mich, mir die Mittel, Sara zu mir zurückzubringen, nicht zu verweigern. Wenn ich ihr sagen kann: Ich habe Mistreß Frankland gesprochen und sie hat mir mit ihrem eigenen Munde gesagt, daß sie keine der Fragen an dich tun werde, die du so sehr fürchtest – wenn ich nur das sagen kann, so wird Sara mit mir in mein Haus zurückkehren und ich will Ihnen jeden Tag meines Lebens danken, daß Sie mich zu einem glücklichen Menschen gemacht haben.“
Die einfache Beredsamkeit, die in den Worten des alten Mannes lag, die unschuldige Innigkeit seines Wesens, rührten Rosamunde auf das tiefste.
„Ich will alles tun, ich will alles versprechen“, rief sie begierig, „um Ihre Nichte wieder zu Ihnen zurückführen zu helfen. Wenn sie mir nur erlauben will, sie zu sehen, so verspreche ich, nicht ein einziges Wort zu sagen, welches sie nicht von mir zu hören wünscht; ich verspreche, nicht eine einzige Frage – ja, auch nicht eine einzige – zu tun, deren Beantwortung ihr Schmerz verursachen könnte. O, welche tröstende Botschaft könnte ich ihr außerdem senden – was könnte ich sagen –“
Sie schwieg verlegen, denn sie fühlte, wie der Fuß ihres Gatten wieder den ihrigen berührte.
„O, sagen Sie nichts weiter – sagen Sie nichts weiter!“ rief Onkel Joseph, indem er sein kleines Paket Briefe wieder zusammenband und während sein rotes Gesicht dunkler erglühte. „Das ist genug gesagt, um Sara zu mir zurückzuführen – das ist genug gesagt, um Ihnen meine Dankbarkeit für meine ganze Lebenszeit zu sichern! O, ich bin so glücklich, so glücklich, so glücklich! – Meine Haut ist zu klein, um mich noch zu halten.“
Er warf das Paket Briefe in die Luft, fing es auf, küßte es und steckte es wieder in die Tasche – alles in einem Augenblick.
„Sie wollen doch nicht fort?“ sagte Rosamunde. „Sie wollen doch nicht schon wieder gehen?“
„Der Verlust ist mein, wenn ich hier fortgehe und ich muß mich darein fügen, aber ich habe dabei auch den Gewinn, daß ich desto eher zu Sara komme“, sagte Onkel Joseph. „Nur aus diesem Grunde werde ich Sie um Verzeihung bitten, wenn ich mich mit dankerfülltem Herzen wieder verabschiede und meiner Wege nach Hause gehe.“
„Wann gedenken Sie nach London aufzubrechen, Mr. Buschmann?“ fragte Leonard.
„Morgen früh beizeiten, Sir“, entgegnete Onkel Joseph. „Ich werde die Arbeit, die ich noch zu besorgen habe, diese Nacht fertig machen, das Übrige Samuel, meinem Gehilfen, überlassen und dann mit der ersten Fahrgelegenheit zu Sara reisen.“
„Darf ich Sie um die Adresse Ihrer Nichte in London bitten, im Fall wir an sie zu schreiben wünschen?“
„Sie gibt mir ja selbst weiter keine Adresse als das Postbüro, Sir, denn selbst in der großen Entfernung von London wird sie noch von derselben Furcht gepeinigt, die sie hatte, als wir dieses Haus hier verließen. Ich kann Ihnen indessen den Ort sagen, wo ich selbst mein Nachtquartier aufschlagen werde“, fuhr der alte Mann fort, indem er eine kleine Adresskarte zum Vorschein brachte. „Es ist das Haus eines Landsmanns von mir, eines ausgezeichneten Zuckerbäckers, Sir, und eines wirklich sehr guten Mannes.“
„Haben Sie schon darüber nachgedacht, wie Sie die Adresse Ihrer Nichte ausfindig machen wollen?“ fragte Rosamunde, indem sie zugleich die Adresse des Bäckers notierte.
„Jawohl, denn ich bin im Entwerfen meiner Pläne stets sehr rasch“, sagte Onkel Joseph. „Ich werde zu dem Postmeister gehen und zu ihm Folgendes und nichts weiter sagen: Guten Morgen, Sir. Ich bin der Mann, der die Briefe an S.J. schreibt. Es ist meine Nichte, wenn Sie erlauben, und ich wünsche weiter nichts zu wissen, als: Wo wohnt sie? – Dieser Plan ist ein sehr guter, sollte ich meinen – meinen Sie nicht auch, wie?“
Er breitete fragend die Hände aus und sah Mistreß Frankland mit selbstzufriedenem Lächeln an.
„Ich fürchte“, sagte Rosamunde, durch die Einfalt des guten Mannes halb ergötzt, halb gerührt, „daß die Offizianten des Postbüros die Adresse selbst nicht kennen werden. Ich glaube, es wäre besser, wenn Sie einen Brief, mit ‚S.J’ adressiert, mitnähmen und ihn früh, wenn die Briefe aus der Provinz ankommen, mit aufgäben, dann in der Nähe der Tür warteten und der Person, welche von Ihrer Nichte – wie sie Ihnen selbst schreibt – abgeschickt wird, um die Briefe für S.J. abzuholen, folgten.“
„Sie glauben, das wäre besser?“ fragte Onkel Joseph, in seinem Innern überzeugt, daß seine eigene Idee unzweifelhaft die scharfsinnigere sei. „Gut. Das kleinste Wort, welches Sie zu mir sagen, Madame, ist ein Befehl, den ich von ganzem Herzen befolge.“
Mit diesen Worten zog er seinen zusammengedrückten Filz aus der Tasche und wollte Abschied nehmen, als Mr. Frankland ihn wieder anredete.
„Nicht wahr“, sagte Leonard, „wenn Sie Ihre Nichte gesund antreffen und dieselbe bereit ist, Ihnen zu folgen, dann werden Sie sie sofort nach Truro zurückführen? Und Sie werden es uns wissen lassen, wenn Sie beide zu Hause angelangt sind?“
„Jawohl, sofort, Sir“, sagte Onkel Joseph. „Auf diese beiden Fragen antworte ich: sofort.“
„Wenn also“, fuhr Leonard fort, „von heute an gerechnet eine Woche um ist, und wir nicht von Ihnen hören, so müssen wir daraus schließen, daß entweder Ihrer Rückkehr ein unvorhergesehenes Hindernis im Wege steht, oder daß Ihre Befürchtungen in Bezug auf Ihre Nichte nur zu wohl gegründet sind und daß sie nicht im Stande ist zu reisen.“
„Ja, Sir, so soll es sein. Ich hoffe aber, daß Sie von mir hören werden, ehe die Woche um ist.“
„Ich hoffe es auch – ich hoffe es innig!“ rief Rosamunde. „Sie entsinnen sich doch noch meines Auftrags?“
„Ich habe mir ihn hier eingeprägt – Wort für Wort“, sagte Onkel Joseph, indem er die Hand aufs Herz legte. Dann drückte er die Hand, welche Rosamunde ihm entgegenstreckte, an seine Lippen. „Ich werde versuchen, Ihnen besser zu danken, wenn ich wieder da bin“, sagte er. „Für alle Ihre Güte gegen mich und meine Nichte segne Gott Sie beide und erhalte Sie gesund und fröhlich bis wir uns wiedersehen.“
Mit diesen Worten eilte er nach der Tür, schwenkte ein paar Mal den alten zusammengedrückten Hut und verließ das Zimmer.
„Der gute, schlichte, warmfühlende alte Mann!“ sagte Rosamunde, als die Tür sich schloß. „Ich hätte ihm so gern alles gesagt, Lenny. Warum tatest du mir Einhalt?“
„Liebes Kind, eben diese Schlichtheit und Einfalt, welche du bewunderst und die auch ich bewundere, macht mich vorsichtig. Gleich bei dem ersten Ton seiner Stimme fühlte ich mich ebenso warm zu ihm hingezogen wie du; je mehr ich ihn aber sprechen hörte, desto fester ward ich überzeugt, daß es voreilig sein würde, ihm alles anzuvertrauen, da ja zu befürchten steht, er werde deiner Mutter sofort und zu früh enthüllen, daß wir ihr Geheimnis kennen. Die Möglichkeit, daß wir ihr Vertrauen gewinnen und eine Unterredung mit ihr erlangen, hängt, wie ich die Sache sehe, von unserm eigenen Takt ab, und wir müssen daher ihrem übertriebenem Argwohn und ihren ängstlichen Befürchtungen gegenüber mit der größten Umsicht zu Werke gehen. Dieser gute, alte Mann könnte trotzdem daß er die besten Absichten von der Welt hat, alles verderben. Wenn es ihm nur gelingt, seine Nichte wieder nach Truro zurückzubringen, so hat er alles getan, was wir hoffen und wünschen können. „Aber wenn es ihm nicht gelingt – wenn etwas vorfällt – wenn sie wirklich krank ist?“
„Laß uns warten, bis die Woche um ist,
Rosamunde. Dann wird
es noch Zeit genug sein, zu bestimmen, was wir in diesem Falle tun
sollen.“
Vorheriges Kapitel
Nächstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte