Wilkie Collins - Logo - Klicken, um Navigationsmenü einzublenden
 

Herz und Wissen



Capitel XXIV.

Während die Herrin des Hauses und die Gouvernante ihre besonderen Gründe hatten, sich auf ihre Zimmer zurückzuziehen, war für Carmina die Einsamkeit eine Nothwendigkeit, da die einzigen Freunde, welche die Arme jetzt um sich versammeln konnte, die Abwesenden und Todten waren. Sie hatte an Ovid geschrieben, blos weil ihr der Gedanke Vergnügen machte, daß der Brief ihn auf dem Postdampfer begleiten würde, mit dem er nach Quebec fuhr. Auch an Teresa hatte sie geschrieben. Darauf hatte sie das Piano geöffnet und die göttlich schöne Musik Mozart’s gespielt, bis dieselbe sie traurig gestimmt und sie das Instrument mit wehem Herzen geschlossen hatte. Dann saß sie eine Zeit lang am Fenster und dachte an Ovid, aber mit dem Vorrücken des Abends wurde die Einsamkeit immer schwerer zu ertragen und sie schellte nach dem Mädchen und fragte dasselbe, ob Miß Minerva Muße habe. Auf die Mittheilung daß dieselbe zu Mrs. Gallilee gerufen worden, fragte sie nach Zo. Aber auch diese befand sich im Schulzimmer, um nach Maria ihren Musikunterricht zu bekommen. Als sie wieder allein war, öffnete sie ihr Medaillon und legte Ovid’s Porträt neben dasselbe auf den Tisch. Ihre traurige Phantasie weilte bei ihren todten Eltern; sie malte sich aus, wie ihr Geliebter denselben vorgestellt würde und durch seine muntere Stimme, sein anmuthiges Lächeln und seine klugen, freundlichen Worte ihre Herzen gewönne. So fand sie Miß Minerva noch ganz in ihre melancholischen Träume versunken, sich die Abwesenden zurückrufend, die Todten belebend —— nicht wie eine Siebzehnjährige, sondern wie eine, die sich dem Grabe nähert.

Als die Gouvernante ihr meldete: »Mrs. Gallilee wünscht Sie zu sprechen«, sprang sie voll Unruhe auf. »Habe»ich ein Unrecht gethan?«

»Nein. Weshalb fragen Sie so?«

»Sie sprechen in so eigenthümlicher Weise. O Frances, ich habe mich nach Ihrer Gesellschaft gesehnt, und jetzt, da Sie hier sind, sehen Sie mich so kalt an, als ob ich Sie beleidigt hätte? Vielleicht sind Sie nicht wohl?«

»Das ist es; ich befinde mich nicht gut.«

»Nehmen Sie etwas von meinem Lavendelwassers Lassen Sie mich Ihnen die Stirn kühlen bei der Hitze Nein? Aber Liebe, setzen Sie sich auf jeden Fall. Was will meine Tante von mir?«

»Das sage ich Ihnen am Besten nicht.«

»Warum nicht?«

»Da sie jedenfalls fragen wird, was ich Ihnen gesagt habe. Ich habe ihre Geduld auf die Probe gestellt, und Sie wissen, was das bei ihr heißt! Sie hat mich statt des Mädchens geschickt, um mir Gelegenheit zu geben, irgend eine Unklugheit zu begehen; daher besorge ich den Auftrag genau so, wie das Mädchen gethan haben würde —— und das können Sie ihr mit ruhigem Gewissen sagen. Also fragen Sie nicht weiter!«

»Nur noch eins, bitte. Handelt es sich um Ovid?«

»Nein«

»Dann kann meine Tante noch etwas warten. Setzen Sie sich; ich möchte mit Ihnen sprechen.«

»Und über was?«

»Ueber Ovid natürlich!« Carmina’s Aussehen und Ton beruhigten Miß Minerva sofort, denn sie bewiesen ihr, daß ihr Benehmen am Tage vorher bei ihrer unschuldigen Nebenbuhlerin keinen Argwohn wachgerufen hatte; doch weigerte sie sich, einen Stuhl zu nehmen, und sagte:

»Ich habe Ihnen schon gesagt, daß Ihre Tante in schlechter Laune ist. Gehen Sie lieber sofort zu ihr.«

Carmina erhob sich widerwillig, indem sie bemerkte: »Ich hatte so vieles, was ich Ihnen zu sagen wünschte ——«, wurde hier aber durch ein schnell aufeinander folgendes Klopfen an der Thür unterbrochen. Es war die discrete, gebildete Maria, die sich mit Anmuth bei Carmina entschuldigte und dann, sich mit Bekümmerniß an Miß Minerva wendend, zu dieser sagte:

»Ich bedauere, Ihnen mittheilen zu müssen, daß Sie im Schulzimmer verlangt werden, da Mr. Le Frank nichts mit Zo anfangen kann.« Dabei seufzte sie über die Schlechtigkeit ihrer Schwester und wartete auf Anweisungen.

»Sage, daß ich Dir aus dem Fuße folge«, antwortete Miß Minerva, der diese Abberufung erwünscht war, da die herzliche Bewillkommnung von Seiten Carmina’s sie auf ganz unbegreifliche Weise gereizt hatte. Sie war böse auf sich, daß sie gereizt war, und verspürte Neigung, das Mädchen dafür zu schmähen, daß es an sie glaubte; und hätte sie nicht Selbstbeherrschung besessen, vielleicht wäre sie in die wahnsinnigen Worte ausgebrochen: »Sie Gans, weshalb durchschauen Sie mich nicht? Warum schreiben Sie nicht an den Narren, der in Sie verliebt ist, und sagen ihm, wie ich Sie beide hasse?« Maria’s Dazwischenkommen war ihr deshalb unbeschreiblich willkommen.

Als letztere wieder gegangen war, wollte ihr Miß Minerva mit einigen eiligen Entschuldigungsworten folgen, aber Carmina hielt sie an der Thür zurück.

»Seien Sie nicht streng mit Zo!« bat sie.

»Ich muß meine Pflicht thun«, antwortete Miß Minerva ernst.

»Wir waren als Kinder selbst manchmal unartig«, begütigte Carmina, »und sie hat erst neulich Brod und Wasser statt des Thees bekommen. Ich habe Zo so gern! Außerdem ——«, und dabei sah sie die Gouvernante zweifelhaft an —— »ich glaube nicht, daß Mr. Le Frank der Mann danach ist, mit Kindern umgehen zu können.«

»Warum meinen Sie das?« fragte die Gouvernante, die dieser Meinungsausdruck nach dem, was vorher zwischen ihr und Mrs. Gallilee vorgegangen war, neugierig machte.

Nun, weil Mr. Le Frank so häßlich ist. meinen Sie nicht auch?«

»Sie sollten doch lieber Ihre Meinung für sich behalten. Wenn er das erführe ——«

»Ist er eitel? Mein armer Vater pflegte zu sagen, daß alle schlechten Musiker eitel seien.«

»Sie nennen doch Mr. Le Frank nicht einen schlechten Musiker?«

»O doch, das thue ich habe ihn in seinem Concerte gehört. Sein Spiel ist ein mechanisches Herleiern ——— eine Spieldose macht es ebenso gut. Sehen Sie, er macht so!«

Die Gesellschaft ihrer Freundin hatte ihr ihre jugendliche Laune zurückgegeben und sie ging zum Piano und amüsierte sich damit, Mr. Le Frank nachzuahmen. Da wurde sie durch ein energisches einmaliges Klopfen an der von Miß Minerva vorhin halb offen gelassenen Thür unterbrochen. Die Gouvernante sah durch die Oeffnung und erblickte —— Mr. Le Frank, dessen kahler Kopf zitterte und dessen blühende Gesichtsfarbe sich vor verhaltener Wuth in fahle Blässe verwandelt hatte.

»Die kleine Range ist davongelaufen!« sagte er und eilte dann die Treppe hinunter, als ob er sich nicht getraute, auch nur noch ein Wort mehr zu sagen.

»Hat er mich gehört?« fragte Carmina zaghaft.

»Vielleicht hat er nur Ihr Spiel gehört«, antwortete Miß Minerva, trotzdem sie nicht daran zweifelte, daß Mr. Le Frank Carmina’s Ansicht über ihn ganz genau kenne. Denn wenn es auch erklärlich war, daß er die Gouvernante von dem Davonlaufen Zo’s in Person in Kenntniß setzte, so war doch unmöglich anzunehmen, daß die Flucht der Kleinen die Ursache des wüthenden Aergers gewesen wäre, den sein Gesicht vorher verrieth. Nein; der eitelste Mann und Musiker hatte gehört, daß er häßlich wäre und daß sein Vortrag dem Spielen einer Spieldose glich.

Sie verließen dann zusammen das Zimmer —— Carmina, die sich unbehaglich fühlte, um ihrer Tante ihrer Aufwartung zu machen; Miß Minerva, die über dem Geschehenen brütete, um die entflohene Zo aufzusuchen. Der Bediente hatte sie indeß schon dieser Mühe überhoben, da er der in bloßem Kopfe in die Anlagen rennenden Kleinen gefolgt war und sie zurückgebracht hatte. Als Zo eingeschlossen wurde, sagte sie: »Ich mache mir nicht’s daraus; ich hasse Mr. Le Frank.« Aber Miß Minerva war zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, um auf diese neue Unart ihres Zöglings Acht zu geben. Sie dachte daran, ob Mrs. Gallilee’s Plan jetzt wohl gelingen möge. Mochte nun Mr. Le Frank einwilligen, der Lehrer Carmina’s zu werden, oder nicht —— Mrs. Minerva kannte die rachsüchtige Natur des Mannes sehr gut: er vergab nie und vergaß nie, sondern war Carmina’s Feind für’s Leben.


Vorheriges Kapitel
Nächstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte