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III

Beachy Head »Mr. Cameron«, sagte ich, »werden Sie auf eine schwache Frau Rücksicht nehmen und mir etwas erzählen, das ich schrecklich gern wissen würde?«
Er tappte geradewegs in die Falle mit dieser vollständigen Abwesenheit von Schlagfertigkeit oder von geringstem Argwohn (Ich überlasse es Dir, den richtigen Ausdruck zu wählen), die so oft männlich, und so selten weiblich ist.
»Natürlich werde ich das«, antwortete er.
»Dann erzählen Sie mir,« fuhr ich fort, »warum Sie immer darauf bestehen, uns um neun Uhr zu verlassen?«
Er erschrak und schaute mich so traurig und so vorwurfsvoll an, daß ich alles, was ich besaß, gegeben hätte, um die unbesonnen Worte zurückzurufen, die eben über meine Lippen gekommen waren.
»Wenn ich es Ihnen erzähle,« antwortete er, nachdem er einen Augenblick mit sich gekämpft hatte, »darf ich Ihnen zuerst eine Frage stellen, und werden Sie mir versprechen, sie zu beantworten?«
Ich gab ihm mein Versprechen und wartete gespannt darauf, was als nächstes kommen würde.

»Miss Brading«, sagte er, »seien Sie ehrlich, denken Sie, ich bin verrückt?«
Es war unmöglich, ihn auszulachen: er sprach diese seltsamen Worte ernst - finster möchte ich fast sagen.
»Kein solcher Gedanke ist mir jemals in den Sinn gekommen.«, antwortete ich.
Er sah mich sehr ernst an.
»Sie geben mir Ihr Ehrenwort darauf?«
»Mein Ehrenwort.«
Ich antwortete mit vollkommener Aufrichtigkeit und ich stellte ihn offensichtlich dahingehend zufrieden, daß ich die Wahrheit gesprochen hatte. Er nahm meine Hand und führte sie dankbar an seine Lippen.

»Danke,« sagte er einfach. »Sie ermutigen mich, Ihnen eine sehr traurige Geschichte zu erzählen.«
»Ihre eigene Geschichte?« fragte ich.
»Ja, meine eigene Geschichte. Lassen Sie mich damit beginnen, wieso ich darauf bestehe, Ihr Haus immer zur selben Zeit zu verlassen. Immer wenn ich ausgehe, bin ich an ein Versprechen zu der Person gebunden, mit der ich in Eastbourne zusammenlebe, und zwar um viertel nach neun zurückzukehren.«
»Die Person, mit der Sie zusammenleben ?« wiederholte ich. »Sie leben in einer Herberge, nicht wahr ?«
»Ich lebe, Miss Brading, unter der Fürsorge eines Doktors, der ein Heim für Geisteskranke führt. Er hat sich ein Haus für seine wohlhabenderen Patienten an der Küste gekauft; und er erlaubt mir tagsüber Freiheit, unter der Bedingung, daß ich mein Versprechen abends treu erfülle. Es ist eine Viertelstunde Fußmarsch von Ihrem Haus zu dem des Doktors, und es ist eine Regel, daß die Patienten sich um halb zehn zurückziehen.«

Hier war also das Geheimnis, welches mich arg bestürzte, als es endlich gelüftet wurde! Die Enthüllung verschlug mir die Sprache. Unbewußt und instinktiv trat ich ein paar Schritte von ihm zurück. Er starrte mit seinen traurigen Augen mit einem ergreifenden Blick des Flehens auf mich.
»Schleichen Sie sich nicht davon«, sagte er. »Sie denken nicht, daß ich verrückt bin.«
Ich war zu verwirrt und beunruhigt, um das Richtige zu sagen, und gleichzeitig hatte ich ihn zu gern, um auf seine Bitte nicht zu antworten. Ich nahm seine Hand und drückte sie schweigend. Er wendete seinen Kopf für einen Augenblick ab. Ich glaubte, eine Träne auf seiner Wange zu sehen. Ich fühlte seine Hand, die sich zitternd um meine schloß. Er beherrschte sich mit einer überraschenden Entschlossenheit; er sprach mit vollkommener Ruhe, als er mich wieder ansah.

»Wollen Sie meine Geschichte erfahren,« fragte er, »nach dem, was ich Ihnen gerade erzählt habe?«
»Ich bin begierig darauf, sie zu hören«, antwortete ich, »Sie wissen nicht, wieviel Mitgefühl ich für Sie habe. Ich bin zu bekümmert, um mich in Worten ausdrücken zu können.«
»Sie sind die freundlichste und liebenswürdigste Frau, die es gibt!«, sagte er mit größter Inbrunst und gleichzeitig mit dem äußersten Respekt.
Wir setzten uns in eine grasbedeckte Aushöhlung des Felsens, wobei wir auf den gewaltigen, grauen Ozean sahen. Das Tageslicht begann zu schwinden, als ich die Geschichte hörte, die mich zu Roland Camerons Frau machen sollte.


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