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Fräulein Minna und der Reitknecht



IV.

Wir vermuteten natürlich, dass der General scherze. Nein. Dies war eine von jenen seltenen Gelegenheiten, bei denen Frau Claudias Takt – der in Sachen von Wichtigkeit unfehlbar war – in einer Kleinigkeit versagte. Der Stolz meines Oheims war an einer empfindlichen Stelle berührt worden und er war entschlossen, uns dies fühlen zu lassen. Am nächsten Morgen kam uns eine höfliche Aufforderung zu, in der Bibliothek zur Besichtigung der Bewerber anwesend zu sein. Meine Tante, die zwar immer mit ihrem Lächeln bereit, aber selten versucht war, laut aufzulachen, lachte diesmal doch recht herzlich. „Es ist wirklich zu lächerlich“, sagte sie. Indessen verfolgte sie doch ihre gewohnte Politik, zuerst immer nachzugeben. Wir gingen zusammen zur Bibliothek. Die drei Bewerber wurden in der Reihenfolge vorgelassen, in der sie sich zur Probe angemeldet hatten. Zwei von ihnen trugen das unvertilgbare Kennzeichen des Wirtshauses so deutlich in ihrem gemeinen Gesicht, dass ich selbst es sehen konnte. Mein Oheim bat uns spöttisch, ihn mit unserer Meinung zu beehren. Frau Claudia antwortete mit ihrem süßesten Lächeln: „Verzeihe, General – wir sind hier, um zu lernen.“ Die Worte waren nichts, aber die Art und Weise, in der sie gesprochen wurden, war vorzüglich. Nur wenige Männer hätten dieser feinen Beeinflussung widerstehen können – und der General war keiner von diesen wenigen. Er strich seinen Schnurrbart und kehrte zu seinem Weiberregiment zurück. Die beiden Bewerber wurden entlassen.

Der Eintritt des dritten und letzten Mannes aber überraschte mich vollständig.

Wenn der kurze Rock und die engen Hosen des Fremden seinen Beruf nicht verraten hätten, so würde ich es für ausgemacht gehalten haben, dass irgend ein Irrtum vorliege und dass wir mit dem Besuche eines uns unbekannten Herrn beehrt würden. Seine Gesichtsfarbe hielt die Mitte zwischen hell und dunkel; er hatte offenblickende, blaue Augen; er war ruhig und klug, wenn dem äußeren Scheine zu trauen war, gewandt in seinen Bewegungen, höflich in seinem Benehmen, aber vollkommen frei von Unterwürfigkeit. „Höre einmal!“ platzte der General heraus, sich vertraulich an meine Tante wendend, „der sieht aus, als wenn er passte; meinst du nicht auch?“

Die Erscheinung des jungen Mannes schien auf Frau Claudia dieselbe Wirkung wie auf mich gemacht zu haben, aber sie überwand ihr erstes Gefühl der Überraschung eher als ich. „Du weißt es am besten“, antwortete sie mit der Miene einer Frau, die nicht gern sich damit quälen will, ein bestimmtes Urteil abzugeben.

„Treten Sie näher, junger Mann“, sagte der General. Der Bewerber verließ seinen Platz an der Tür, verneigte sich und blieb am unteren Ende des Tisches stehen, während mein Oheim am Kopfende und meine Tante und ich selbst an beiden Seiten desselben saßen. Die unvermeidlichen Fragen begannen.

„Wie ist Ihr Name?“

„Michael Bloomfield.“

„Ihr Alter?“

„Sechsundzwanzig Jahre.“

Das mangelnde Interesse meiner Tante an diesm Vorgang äußerte sich in einem schwachen Seufzer. Sie lehnte sich mit Ergebung in ihren Stuhl zurück.

Der General fuhr in seinen fragen fort: „Welche Erfahrung haben Sie bereits in Ihrem Dienst?“

„Ich begann meine Lehrzeit, gnädiger Herr, ehe ich noch zwölf Jahre alt war.“

„Ja! Ja! Ich meine, in welchen Familien Sie bereits gedient haben.“

„In zwei Familien, gnädiger Herr.“

„Wie lange sind Sie in Ihren beiden Stellungen gewesen?“

„Vier Jahre in der ersten und drei Jahre in der zweiten.“

Der Blick des Generals drückte angenehme Überraschung aus. „Sieben Jahre in nur zwei Stellungen, das ist ein gutes Zeichen“, erwiderte er. „Was haben Sie für Zeugnisse?“

Der Reitknecht legte zwei Papiere auf den Tisch.

„Ich nehme keine geschriebenen Zeugnisse“, sagte der General.

„Bitte, gnädiger Herr, lesen Sie meine Papiere“, entgegnete der Reitknecht.

Mein Oheim blickte scharf nach ihm über den Tisch. Der Reitknecht hielt den Blick unter ehrerbietiger, aber unerschütterlicher Gemütsruhe aus. Der General ergriff die Papiere und schien, als er sie las, abermals einen günstigen Eindruck zu erhalten. „Persönliche Auskünfte in jedem Fall, wenn nötig, zur Ergänzung der angelegentlichen Empfehlung von seinen beiden Dienstherren“, belehrte er meine Tante. „Schreibe die Adresse ab, Minna. Sehr befriedigend muss ich sagen. Meinst du nicht auch?“ fuhr er fort, sich wieder an meine Tante wendend.

Frau Claudia antwortete mit einer artigen Verneigung des Kopfes. Der General fuhr in seinen Fragen fort. Sie bezogen sich auf die Behandlung der Pferde und wurden zu seiner vollständigen Zufriedenheit beantwortet.

„Michael Bloomfield, Sie kennen Ihr Geschäft“, sagte er, „und Sie haben ein gutes Zeugnis. Lassen Sie mir Ihre Adresse. Wenn ich persönliche Erkundigungen eingezogen habe, sollen Sie weiter von mir hören.“

Der Reitknecht nahm eine unbeschriebene Karte aus der Tasche und schrieb Namen und Adresse darauf. Ich blickte über meines Oheims Schulter, als er die Karte empfing. Eine neue Überraschung! Die Handschrift war einfach untadelhaft – die Zeilen bildeten eine vollständig gerade Linie und jeder Buchstabe war von vollendeter Form. Als dieser Mann, der uns beinahe in Verlegenheit setzte, seine bescheidene Verbeugung machte und sich zurückzog, rief ihn der General, von einem plötzlichen Gedanken erfasst, von der Tür wieder zurück.

„Noch etwas“, sagte mein Oheim. „Was Freunde und Gesellschafter anlangt – ich betrachte es meinen Bediensteten gegenüber als Pflicht, ihnen zu erlauben, dass sie zuweilen ihre Verwandten sehen; dagegen erwarte ich, dass sie sich ihrerseits gewissen Bedingungen fügen -“

„Verzeihung, gnädiger Herr“, fiel der Reitknecht ein, „ich werde Ihnen deshalb keinen Verdruss bereiten, ich habe keine Verwandten.“

„Keine Brüder oder Schwestern?“ fragte der General.

„Keine, gnädiger Herr!“

„Mutter und Vater beide tot?“

„Ich weiß es nicht, gnädiger Herr.“

„Sie wissen es nicht? Was soll das heißen?“

„Ich sage Ihnen die reine Wahrheit, gnädiger Herr. Ich erfuhr niemals, wer mein Vater und meine Mutter waren und erwarte auch nicht, es jetzt zu erfahren.“

Mit bitterer Fassung sagte er diese Worte, die einen schmerzlichen Eindruck auf mich machten. Frau Claudia war weit davon entfernt, zu fühlen, was ich fühlte. Ihr schwaches Interesse an der Anstellung des Mannes schien völlig erschöpft zu sein. Sie erhob sich in ihrer ruhigen, anmutigen Weise und blickte zum Fenster hinaus in den Hof und nach dem Springbrunnen, nach dem Haushunde in der Hütte und nach dem Blumenkästchen in dem Fenster des Kutschers.

Unterdessen blieb der Reitknecht in der Nähe des Tisches und wartete ehrerbietig auf seine Entlassung. Der General sprach zum erstenmal scharf. Ich konnte sehen, dass mein guter Oheim den harten Ton, mit dem er flüchtig seine Eltern erwähnte, bemerkt und darüber so wie ich nachgedacht hatte.

„Noch ein Wort, ehe Sie gehen“, sagte er. „Wenn ich Sie nicht gefühlvoller gegen meine Pferde gestimmt finde, als Sie es gegen Vater und Mutter zu sein scheinen, so werden Sie nicht lange in meinem Dienste bleiben. Sie mögen mir gesagt haben, dass Sie niemals erfahren hätten, wer Ihre Eltern seien, aber sprechen Sie nicht so, als wenn Ihnen nichts daran liege, es zu erfahren.“

„Darf ich mir die Freiheit nehmen, ein Wort zu meiner Verteidigung zu sagen, gnädiger Herr?“

Er stellte die Frage sehr ruhig, aber zu gleicher Zeit so entschieden, dass er selbst meine Tante überraschte. Sie blickte vom Fenster aus um sich, drehte sich alsdann wieder um und streckte die Hand nach dem Vorhange aus, indem sie nach meiner Vermutung beabsichtigte, ihn in anderer Weise zu ordnen. Der Reitknecht fuhr fort:

„Darf ich fragen, gnädiger Herr, warum ich mich um einen Vater und eine Mutter kümmern soll, die mich verließen? - Geben Sie acht, was Sie tun wollen, gnädige Frau!“ rief er, plötzlich meine Tante anredend. „Da ist eine Katze in den Falten dieses Vorhanges; die könnte Sie erschrecken.“

Er hatte kaum die Worte gesprochen, als des Hausherrn große, gestreifte Katze, die in einer Schleifenfalte des Vorhanges ihre Mittagsruhe hielt, heraussprang und nach der Tür lief.

Frau Claudia war, wie natürlich, ein wenig in Verlegenheit bei der Wahrnehmung des Mannes, dass ein Tier vollständig in dem Vorhange verborgen sei. Sie schien der Meinung zu sein, dass jemand, der nur Reitknecht sei, sich unschicklich benommen habe, als er es wagte, sie in Verlegenheit zu setzen. Gerade so wie ihr Gemahl sprach sie nun auch schärfer mit Michael.

„Sahen Sie die Katze?“ fragte sie.

„Nein, gnädige Frau.“

„Wie konnten Sie dann wissen, dass das Tier im Vorhange war?“

Zum erstenmal, seitdem er das Zimmer betreten hatte, schien Michael ein wenig in Verlegenheit zu sein. „Es ist eine Art Anmaßung von einem Manne in meiner Stellung, einer nervösen Schwäche unterworfen zu sein“, antwortete er. „Ich bin einer von denjenigen (Sie wissen ja, gnädige Frau, die Schwäche ist nicht selten), die durch ihre eigenen unangenehmen Empfindungen wissen, wenn eine Katze im Zimmer ist. Es geht bei mir noch ein wenig weiter. Die 'Antipathie', wie die Vornehmen es nennen, sagt mir sogar, in welchem Teile des Zimmers die Katze ist.“

Meine Tante wandte sich zu ihrem Gemahl, ohne dass sie zu verbergen suchte, dass sie keinerlei Interesse an den Antipathien des Reitknechtes habe.

„Bist du mit dem Manne noch nicht fertig?“ fragte sie.

Der General entließ den Reitknecht. „Sie sollen innerhalb drei Tagen von mir hören. Guten Morgen!“

Michael Bloomfield schien das unfreundliche Benehmen meiner Tante bemerkt zu haben. Ehe er das Zimmer verließ, warf er ihr einen feinen aufmerksamen, scharfen Blick zu.


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