Das Familiengeheimnis
Erstes Kapitel
War es ein Engländer oder ein Franzose, der als erster die Bemerkung machte, dass jede Familie eine Leiche im Keller hat? Ich bin nicht studiert genug, um das zu wissen, aber ich habe Ehrfurcht vor dieser Beobachtung, wer immer sie auch gemacht hat. Sie spricht eine verblüffende Wahrheit mithilfe einer angemessen makabren Metapher aus. Eine Wahrheit, deren Entdeckung ich am eigenen Leib erfahren habe. Unsere Familie hatte eine Leiche im Keller, und ihr Name war Onkel George.
Ich gelangte zu dem Wissen, dass diese Leiche existierte, und ich verfolgte ihre Spur in kleinen Schritten bis zu dem Keller, in dem sie versteckt war. Ich war ein Kind, als ich zum ersten Mal anfing, den Verdacht zu hegen, dass sie da war und ein erwachsener Mann, als ich entdeckte, dass ich mit meinem Verdacht richtig lag.
Mein Vater war ein Arzt und hatte eine hervorragende Praxis in einer großen Stadt auf dem Land. Ich habe gehört, er heiratete gegen den Willen seiner Familie. Sie konnten gegen meine Mutter nicht aufgrund ihrer Abstammung, Erziehung oder ihres Charakters Einwände haben --- sie konnten sie einfach nur von Herzen nicht leiden. Mein Großvater, meine Großmutter, Onkel und Tanten erklärten alle, dass sie eine herzlose, hinterlistige Frau sei; alle mochten ihr Benehmen, ihre Meinungen und sogar ihren Gesichtsausdruck nicht --- alle, mit Ausnahme des jüngsten Bruders meines Vaters, George.
George war das schwarze Schaf der Familie. Alle anderen waren schlau, er war zurückgeblieben. Alle anderen waren bemerkenswert gutaussehend, er war die Art von Mann, den keine Frau zweimal ansehen würde. Die anderen hatten Erfolg in ihrem Leben, er versagte. Er hatte denselben Beruf wie mein Vater, aber als er seine eigene Praxis hatte, kam er nie damit aus. Die armen Kranken, die keine andere Wahl hatten, ließen ihn kommen und mochten ihn. Die reichen Kranken, darunter besonders die Damen, die eine Wahl hatten, lehnten es ab, ihn kommen zu lassen, wenn sie jemand anderen bekommen konnten. An Erfahrung wurde er durch seinen Beruf reicher; an Geld und an Ruhm nicht.
Es gibt sehr wenige von uns, so langweilig und abstossend wir auch nach außen scheinen mögen, die nicht eine starke Leidenschaft haben, irgendeinen Keim von dem, was Romantik genannt wird, mehr oder weniger versteckt in unseren Wesensarten. Die ganze Leidenschaft und Romantik in der Wesensart meines Onkels George lag in der Liebe und Bewunderung für meinen Vater.
Er verehrte seinen ältesten Bruder aufrichtig als einen der edelsten aller Menschen. Als mein Vater sich verlobte und als der Rest der Familie, wie ich bereits erwähnte, nicht zögerte, seine nachteilige Meinung über die Gesinnung seiner auserkorenen Frau auszudrücken, übernahm Onkel George, der niemals zuvor gewagt hatte, mit irgendjemand uneinig zu sein, zur Überraschung aller die Verteidigung seiner zukünftigen Schwägerin in der heftigsten und bestimmtesten Art und Weise. Nach seinem Dafürhalten war die Wahl seines Bruders etwas heiliges und unbestreitbares. Die Dame mochte ihn, und sie tat es auch, mit unverhohlener Verachtung behandeln, über seine Unbeholfenheit lachen, ob seines Gestammels ungeduldig werden --- es machte für Onkel George keinen Unterschied. Sie würde die Frau seines Bruders sein und gemäß dieser einen großen Tatsache würde sie nach Meinung des armen Arztes eben jene Königin werden, die laut den Gesetzen der häuslichen Verfassung nichts falsch machen konnte.
Als mein Vater eine Weile lang verheiratet war, holte er seinen jungen Bruder zu sich, damit er als Assistenzarzt bei wohne.
Wenn Onkel George zum Präsidenten des Ärztekollegs gemacht worden wäre, so hätte er nicht stolzer und glücklicher sein können als er es in seiner neuen Position war. Ich fürchte, mein Vater verstand nie, welch tiefe Zuneigung sein Bruder ihm entgegenbrachte. Die ganze harte Arbeit fiel George zu: die langen Fahrten in der Nacht, die Behandlung von anstrengenden, armen Leuten, die Fälle mit betrunkenen, die abscheuerregenden Fälle --- kurz, die ganze Sklaven- und die Drecksarbeit wurde ihm zugewiesen; und Tag für Tag und Monat für Monat kämpfte er sich ohne Murren durch. Wenn sein Bruder und seine Schwägerin ausgingen, um mit dem Landadel zu speisen, kam ihm nie der Gedanke in den Kopf, enttäuscht zu sein, weil er unbeachtet daheim gelassen worden war. Wenn die Gegeneinladungen stattfanden und er gebeten wurde, zur Teezeit hereinzukommen und verlassen wurde, um unbeachtet in einer Ecke zu sitzen, kam es ihm nie in den Sinn, dass er mit zu wenig Rücksicht oder Respekt behandelt würde. Er war Teil der Hauseinrichtung und es war ebenso die Aufgabe wie das Vergnügen in seinem Leben, sich in jeder Weise, die sein Bruder ihm zuteilen würde, nützlich zu machen.
Soviel zu dem, was ich über meinen Onkel George von anderen hörte. Meine eigenen persönlichen Erfahrungen über ihn sind begrenzt darauf, an was ich mich erinnere, als ich nur ein Kind war. Man lasse mich jedoch zuerst etwas über meine Eltern, meine Schwester und mich sagen.
Meine Schwester war die Erstgeborene und das meistgeliebte Kind. Ich kam erst vier Jahre nach ihr auf die Welt und mir folgte kein weiteres Geschwister. Caroline war von Kindesbeinen an die Vollendung von Schönheit und Gesundheit. Ich war klein, schwach, und um die Wahrheit zu sagen, fast ebenso gewöhnlich gestaltet wie Onkel George. Es wäre unfreundlich und pflichtvergessen, mich zu erdreisten, darüber zu entscheiden, ob es irgendeine Grundlage für den Widerwillen gab, den die Familie meines Vaters immer für meine Mutter hegte. Alles was ich wagen kann, zu sagen, ist, dass ihre Kinder niemals einen Grund hatten, sich über sie zu beschweren.
An ihre leidenschaftliche Zuneigung zu meiner Schwester und ihren Stolz auf die Schönheit des Kinds erinnere ich mich ebenso gut wie an ihre unterschiedslose Güte und Hingabe mir gegenüber. Meine persönlichen Mängel mussten für sie insgeheim eine schlimme Belastung sein, aber weder sie noch mein Vater zeigten mir, dass sie irgendeinen Unterschied zwischen Caroline und mir wahrnahmen. Wenn meiner Schwester Geschenke gemacht wurden, bekam auch ich Geschenke. Wenn mein Vater und meine Mutter meine Schwester in ihre Arme nahmen und sie küssten, gaben sie mir gewissenhaft darauf meinen Kuss. Mein kindlicher Instinkt sagte mir, dass es einen Unterschied in ihrem Lächeln gab, wenn sie mich anschauten und wenn sie meine Schwester anschauten, dass die Küsse, die Caroline bekam, wärmer waren als die Küsse, die sie mir gaben; dass die Hände, die ihre Tränen während unserem kindlichen Kummer trockneten, sie behutsamer berührten als die Hände, die die meinen trockneten. Aber jene und andere kleine Anzeichen von Bevorzugungen wie diese, waren solcherart, dass man von keinen Eltern erwarten konnte, sie zu beherrschen. Ich bemerkte dies zu jener Zeit eher verwundert denn missvergnügt. Jetzt erinnere ich mich an sie ohne einen scharfen Gedanken gegenüber meinem Vater oder meiner Mutter. Beide liebten mich und beide erfüllten ihre Pflicht bei mir. Wenn ich hier reserviert von ihnen zu sprechen scheine, so ist dies nicht meinetwegen. Ich kann dies hier mit Leib und Seele ehrlich sagen.
Sogar Onkel George, so verrückt er nach mir war, war noch verrückter nach meiner schönen Schwester.
Wenn ich früher verschmitzt an seinem dünnen, schütteren Haar zog, nahm er es mir behutsam und lachend aus meiner Hand, aber Caroline liess er daran zerren, bis seine trüben, umherschweifenden grauen Augen zwinkerten und sich vor Schmerz mit Wasser füllten. Früher jagte er immer gefährlich im Garten umher, unbeholfen den Galopp eines Pferdes nachahmend, während ich auf seinen Schultern saß; aber er veranstaltete nie mehr als einen langsamen und sicheren Spaziergang, wenn Caroline auf ihm reiten durfte. Wenn er mit uns spazierenging, ging Caroline immer auf der Seite zur Mauer hin. Wenn wir ihn bei seiner Drecksarbeit in der Praxis störten, schickte er mich immer weg zum spielen, bis er für mich bereit sei; aber er stellte seine Flaschen weg, säuberte seine klobigen Händer mit seiner grobfaserigen Schürze und geleitete Caroline wieder hinaus, als wäre sie die größte Dame im ganzen Land. Ah! Wie er sie liebte! Und, lasst mich ehrlich und dankbar sein und hinzufügen, wie er auch mich liebte!
Als ich acht Jahre und Caroline zwölf Jahre alt war, wurde ich von zuhause für einige Zeit getrennt. Ich hatte zuvor mehrere Monate gekränkelt; meine Gesundheit hatte sich gebessert, als man mich an die Küste brachte; und ich hatte Symptome eines Rückfalls gezeigt, als ich wieder nach Hause nach Midland County, wo wir wohnten, zurückkehrte. Nach vielen Untersuchungen wurde schließlich beschlossen, dass ich fortgeschickt werden sollte, um bei der jüngeren Schwester meiner Mutter zu leben, die ein Haus am Meer an der Südküste hatte, bis sich meine körperliche Verfassung wieder bessern würde.
Ich verließ mein Zuhause, wie ich mich erinnere, mit einer Ladung voller Geschenke und freute mich über die Aussicht, das Meer wiederzusehen und war so sorglos ob der Zukunft und glücklich in der Gegenwart, wie es ein Junge nur sein konnte. Onkel George bat um Urlaub, um mich zur Küste zu bringen, aber die Praxis konnte ihn nicht entbehren. Er tröstete sich selbst und mich, indem er mir versprach, mir ein prächtiges Modellschiff zu bauen.
Ich habe dieses Modell jetzt vor meinen Augen, während ich schreibe. Es ist alt und verstaubt; die Farbe ist rissig; die Seile sind verheddert und die Segel sind mottenzerfressen und gelb. Der Schiffsrumpf steht in keinem Verhältnis zum Rest; und über die Takelage lächelte jeder Seemann, den ich kenne. Und doch, so zerschlissen und mangelhaft es auch ist, so unterlegen es dem billigsten Miniaturschiff in einem Spielzeugladenschaufenster auch ist - ich kenne kaum eines meiner Besitztümer auf dieser Welt, von dem ich mich eher trennen würde als von Onkel Georges Schiff.
Mein Leben an der Küste war ein sehr glückliches. Ich blieb über ein Jahr bei meiner Tante. Meine Mutter kam oft vorbei, um nach mir zu sehen, und brachte zuerst immer meine Schwester mit; aber während der letzten acht Monate meines Aufenthalts erschien Caroline kein einziges Mal. Ich bemerkte auch zur selben Zeit eine Veränderung im Verhalten meiner Mutter. Sie sah mit jedem Besuch blasser und besorgter aus und hatte immer lange geheime Unterredungen mit meiner Tante. Zuletzt hörte sie auf vorbeizukommen und uns zu besuchen und schrieb nur noch, um zu erfahren, wie es um meine Gesundheit stehe. Auch mein Vater, der in den ersten Zeiten meiner Abwesenheit von daheim so oft es ihm seine beruflichen Pflichten erlaubten, an die Küste reiste, um die Entwicklung meiner Genesung zu beobachten, blieb nun ebenso fern wie meine Mutter. Selbst Onkel George, dem nie Urlaub genehmigt worden war, um herzukommen und mich zu besuchen, aber der bisher oft geschrieben und mich gebeten hatte, ihm zu schreiben, brach unsere Korrespondenz ab.
Ich war natürlich verwirrt und erstaunt über diese Veränderungen und bedrängte meine Tante, mir zu erzählen, was der Grund für diese sei. Zuerst versuchte sie, mich mit Entschuldigungen zu vertrösten; dann gab sie zu, dass es Probleme bei uns daheim gab; und endlich gestand sie, dass die Probleme durch die Krankheit meiner Schwester verursacht wurden. Als ich fragte, was das für eine Krankheit sei, sagte meine Tante, es sei nutzlos, zu versuchen, es mir zu erklären. Als nächstes wandte ich mich an die Diener. Einer von ihnen war weniger vorsichtig als meine Tante und beantwortete meine Frage, aber in Worten, die ich nicht verstehen konnte. Nach langer Erklärung wurde mir klargemacht, dass »etwas am Hals meiner Schwester wachsen würde, was ihre Schönheit für immer zerstören und sie vielleicht töten würde, wenn man sie davon nicht befreien könnte« Wie gut erinnere ich mich an den Angstschauder, der mich durchrann bei dem bloßen Gedanken an dieses tödliche »etwas«! Eine bange, von Ehrfurcht ergriffene Neugier mit meinen eigenen augen zu sehen, was Carolines Krankheit war, trübte meine innerste Seele und ich flehte darum, nach Hause zu gehen und dabei helfen zu dürfen, sie zu pflegen. Es ist fast nutzlos zu erwähnen, dass mir meine Bitte abgeschlagen wurde.
Wochen vergingen und noch immer erfuhr ich nichts, außer dass meine Schwester weiterhin krank war. Eines Tages schrieb ich heimlich einen Brief an Onkel George, in dem ich ihn in meiner kindlichen Art bat, zu kommen und mir alles über Carolines Krankheit zu erzählen.
Ich wusste, wo die Post war, schlich mich morgens unbeobachtet hinaus und warf meinen Brief in den Briefkasten. Ich stahl mich wieder über den Garten ins Haus und kletterte durch das Fenster eines Hinterzimmers im Erdgeschoß hinein. Das Zimmer über mir war das Schlafzimmer meiner Tante und in dem Augenblick, als ich im Haus war, hörte ich ein Stöhnen und lautes krampfhaftes Schluchzen von dort an mein Ohr dringen. Meine Tante war eine bemerkenswert ruhige und gefasste Frau. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das laute Schluchzen und Stöhnen von ihr kam und rannte mit großer Angst in die Küche, um die Diener zu fragen, wer so heftig im Zimmer meiner Tante weinte.
Ich fand die Hausmagd und den Koch vor, wie sie miteinander mit ernsten Mienen sprachen. Sie hörten auf, als sie mich sahen, als wäre ich ein großer Herr gewesen, der sie dabei erwischt hatte, wie sie ihre Arbeit vernachlässigten.
»Er ist zu jung, um es arg zu spüren«, hörte ich die eine zum anderen sagen, »soweit es ihn betrifft, scheint es wie eine Gnade zu sein, dass es nicht später passiert ist.«
In ein paar Minuten hatten sie mir das schlimmste erzählt. Es war tatsächlich meine Tante, die im Schlafzimmer geweint hatte. Caroline war tot.
Ich fühlte den Schicksalsschlag heftiger, als die Diener oder sonst irgendjemand von mir annahm. Noch war ich an Jahren ein Kind, und ich hatte die gesegnete Spannkraft, die in der Natur eines Kindes liegt. Wäre ich älter gewesen, wäre ich möglicherweise zu tief in Kummer versunken gewesen, um meine Tante so genau zu beobachten, wie ich es tat, als sie gefasst genug war, um mich später am Tag zu sehen.
Ich war nicht überrascht über ihre geschwollenen Augen, die Blässe ihrer Wangen oder den erneuten Ausbruch von Tränen, der über sie kam, als sie mich bei unserem Treffen in ihre Arme nahm. Aber ich war ebenso verwirrt wie erstaunt über den fürchterlichen Blick, den ich in ihrem Gesicht entdeckte. Es war völlig normal, dass sie wegen dem Tod meiner Schwester trauern und weinen würde, aber warum sollte sie diesen furchterfüllten Blick haben, als wenn irgendein anderes Unglück passiert wäre?
Ich fragte, ob es noch mehr schreckliche Nachrichten von zu Hause gab außer der Neuigkeit von Carolines Tod.
Meine Tante verneinte mit einer seltsamen, erstickten Stimme und wandte plötzlich ihr Gesicht von mir ab. War mein Vater tot? Nein. Meine Mutter? Nein. Onkel George? Meine Tante zitterte am ganzen Körper, als sie auch dies verneinte, und bat mich, damit aufzuhören, weitere Fragen zu stellen. Sie war noch nicht so weit, sie jetzt schon zu ertragen, sagte sie, und gab dem Diener ein Zeichen, mich aus dem Zimmer zu bringen.
Am nächsten Tag sagte man mir, dass ich nach der Beerdigung wieder nach Hause zurückkehren sollte und ich wurde gegen Abend von der Hausmagd ausgeführt, teils für einen Spaziergang, teils um für meine Trauerkleider masszunehmen. Nachdem wir den Schneider verlassen hatten, überredete ich das Mädchen, unseren Spaziergang ein Stück entlang der Küste auszudehnen, wobei ich ihr im Gehen jede kleine Anekdote erzählte, die mit meiner verlorenen Schwester in Verbindung stand und derer ich mich zärtlich erinnerte in diesen ersten Tagen des Kummers. Sie nahm soviel Anteil daran, mir zuzuhören und ich war so interessiert daran, zu sprechen, dass wir die Sonne untergehen ließen, bevor wir daran dachten, umzukehren.
Der Abend war wolkenverhangen und die Abenddämmerung ging in die Nacht über, als wir die Stadt erreichten. Das Hausmädchen war ziemlich nervös, als sie mit mir alleine am Strand war und schaute sich ein oder zweimal argwöhnisch um, als wir weitergingen. Plötzlich drückte sie fest meine Hand und sagte:
»Lass uns auf die Klippe rennen, so schnell wir können.«
Die Worte waren kaum aus ihrem Mund gekommen, als ich Fußtritte hinter mir hörte - ein Mann kam schnell herum auf meine Seite, entriß mich dem Mädchen und, indem er mich ohne ein Wort in seine Arme nahm, bedeckte mein Gesicht mit Küssen. Ich wußte, dass er weinte, denn meine Wangen waren sofort nass von seinen Tränen; aber es war zu dunkel für mich, als dass ich sehen konnte, wer er war oder sogar, was er anhatte. Er hatte mich, denke ich, keine halbe Minute in seinen Armen. Das Hausmädchen schrie um Hilfe. Ich wurde behutsam auf den Boden gestellt und der fremde Mann verschwand sofort in der Dunkelheit.
Als dieses außergewöhnliche Abenteuer meiner Tante mitgeteilt wurde, schien sie zuerst lediglich verblüfft zu sein; aber einen Augenblick später kam eine Veränderung über ihr Gesicht, als wenn sie sich plötzlich an etwas erinnert hätte oder an etwas gedacht hätte. Sie wurde totenblass und sagte in einer hastigen Art, die sehr ungewöhnlich für sie war:
»Es ist egal; sprich nicht mehr darüber. Vermutlich war es nur ein boshafter Streich, um dich zu erschrecken. Vergiss das alles, mein Liebling - vergiss das alles.«
Es war leichter, mir diesen Rat zu geben als mich dazu zu bringen, ihn zu befolgen. Noch mehrere Nächte später dachte ich an nichts anderes als den fremden Mann, der mich geküsst hatte und über mir geweint hatte.
Wer konnte er sein? Jemand, der mich sehr liebte und der sehr traurig war. Meine kindliche Logik brachte mich zu diesem Schluss. Aber wenn ich an alle männlichen Erwachsenen dachte, die mich sehr liebten, fielen mir zu meiner Zufriedenheit nur mein Vater und mein Onkel George ein.