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Namenlos



Fünftes Buch.

An der Vauxhallpromenade zu Lambeth.

Erstes Capitel.

Der alte erzbischöfliche Palast zu Lambeth auf dem südlichen Ufer der Themse, mit seiner Bischofspromenade und seinem Bischofsgarten und seiner Terrasse vorn am Flusse ist ein architektonisches Ueberbleibsel des London von früherer Zeit, das allen Freunden malerischer Schönheit in dem krämerischen London von heute werth und theuer ist. Südlich von diesem ehrwürdigen Gebäude liegt das Straßenlabyrinth von Lambeth, und fast halbwegs in jenem Theil des Häusergewirrs, der dem Flusse zunächst liegt, läuft die düstere Doppelreihe von Häusern, welche jetzt, wie ehedem unter dem Namen der Vauxhallpromenade bekannt ist.

Das Netz der traurigen Straßen, welches sich durch die umgebende Nachbarschaft erstreckt, enthält eine Bevölkerung, die zum großen Theil der ärmern Classe angehört. In den Durchgängen, welche von Läden wimmeln, zeigt sich auf dem schmutzigen Pflaster ohne Scheu der ekele Kampf mit der Armuth, sammelt seine Kräfte in den Wochentagen und schwillt Sonnabend Nachts zu einem Aufruhr an und sieht das Morgengrauen des Sonntags bei trübem Gaslicht Arme Frauen, deren Gesichter niemals lächeln, kommen zu den Fleischerläden in solchen Londoner Gegenden wie diese, die Ueberreste der Löhne ihrer Männer, welche diese nicht in den Kneipen verzehrt haben, fest mit der Hand umklammernd, mit Augen, welche das Fleisch verschlingen, das sie nicht zu kaufen wagen, mit gierigen Fingern, welche es lüstern berühren, wie die Finger ihrer reicheren Schwestern einen kostbaren Stein anfassen. In diesem Viertel wie in noch anderen Vierteln welche von den reichen Quartieren der Hauptstadt entfernt liegen, lungert der häßliche Londoner Strolch und Bummler mit dem Schmutz der Straße in seiner Redeweise, mit dem Staub der Straße auf seinen Kleidern, mit finsteren und rohen Blicken an der Straßenecke und vor der Thür der Ginkneipen, der öffentliche Schandfleck des Landes, das unbeachtete Anzeichen kommender Umwälzungen und Unruhen. Hier trifft das laute Selbstlob des modernen Fortschritts, welcher so viel in den Sitten reformirt hat, aber so wenig an den Menschen geändert hat —— auf den geraden Widerspruch, der seine Anmaßungen sofort zu Boden schlägt. Hier wo die Reichen der Nation wie jener Belsazar sich weiden an dem Schauspiel ihrer eigenen Prachtentfaltung, zeigt sich zugleich die von unsichtbarer Hand geschriebene Schrift auf der Wand, welche dem Herrscher Geld warnend zuruft, daß sein Ruhm in der Wage gewogen worden und seine Macht zu leicht befunden worden ist.

In solcher Nachbarschaft, wie diese liegend, gewinnt die Vauxhallpromenade durch die Folie dieser Vergleichung und entwickelt Ansprüche auf eine gewisse Anständigkeit, welche kein unparteiischer Beschauer anzuerkennen verfehlen kann. Noch besteht ein großer Theil der Promenade aus Wohnhäusern. An den vereinzelte teilen, wo Läden zum Vorschein kommen, sind diese Läden nicht belagert von dem Haufen stärker bevölkerter Passagen Der Verkehr ist nicht störend, auch wird das verzehrende Publicum nicht belästigt durch laute Aufforderungen »zu kaufen«. Vogelliebhaber haben sich die wahlverwandte Stille der Scene ausgesucht, und Tauben girren nun, Canarienvögel zwitschern nun auf der Vauxhallpromenade Alte Wagen und Cabs, Bettstellen von einem gewissen Alter, einzelne Wagenräder für Solche, welche eben ein einzelnes brauchen, um das Paar zu ergänzen: das Alles findet man hier in ein und derselben Niederlage. Ein Seitenarm des großen Gasstromes, welcher London zu einer —— erleuchteten Stadt macht, speist die Privatröhren der in dieser Gegend befindlichen Werkstätten. Hier haben die Anhänger von John Wesley sich einen Tempel aufgerichtet, welcher vor der Zeit der Methodistenbekehrung zu den Grundsätzen der kirchlichen Baukunst erbaut wurde. Und hier, das seltsamste Schauspiel von allen! —— aus der Stelle, wo einst Tausende von Lichtern flimmerten, wo süße Klänge der Musik die Nacht durchtönten, bis zum Morgen, wo die Schönheit und die Modewelt von London ein ganzes Jahrhundert hindurch zur Sommerzeit Feste und Bälle gaben, breitet sich heutzutage eine schreckliche Wildniß von Schmutz und Schutt aus, der verlassene todte Leib der unter freiem Himmel vermodernden Vauxhall-Gärten.

Am selbigen Tage, als Hauptmann Wragge die letzte Auszeichnung in seine »Chronik der Ereignisse« eintrug, erschien eine Frau am Fenster eines der Häuser an der Vauxhallpromenade und entfernte von dem Glase einen gedruckten Zettel, welcher an dasselbe geklebt war, um anzuzeigen, daß Zimmer zu vermiethen wären. Die Zimmer bestanden aus zwei Stuben, eine Treppe hoch. Sie waren eben für eine Woche fest genommen worden von zwei Damen, welche voraus bezahlt hatten, und diese zwei Damen waren Magdalene und Mrs. Wragge.

Sobald die Wirthin das Zimmer verlassen hatte, trat Magdalene ans Fenster und schaute vorsichtig durch dasselbe nach der Häuserreihe gegenüber. Die Häuser waren an Umfang und äußerm Ansehen im Vergleich zu den übrigen Gebäuden der Promenade vornehmer anzuschauen. Die Jahreszahl ihrer Erbauung war an einem derselben angeschrieben und ergab sich als das Jahr des Herrn 1759. Sie standen etwas zurück vom Pflaster der Straße, getrennt davon durch kleine Gartenstreifen. Diese eigentümliche Lage, dazu die Breite des Fahrwegs zwischen ihnen und den gegenüberliegenden kleineren Häusern machten es Magdalenen unmöglich, die Zahlen über den Thüren zu erkennen oder von Jemand, der an die Fenster kommen könnte, mehr als die bloßen allgemeinen Umrisse der Tracht und Gestalt zu sehen. Nichtsdestoweniger stand sie doch da, eifrig die Augen gerichtet auf ein Haus in der Reihe, das beinahe gerade gegenüber lag, das Haus, das sie sich angesehen hatte, ehe sie die Wohnung betreten, das Haus, das in diesem Augenblicke von Noël Vanstone und Mrs. Lecount bewohnt wurde.

Nachdem sie schweigend wohl zehn Minuten und darüber an dem Fenster Wache gestanden, blickte sie plötzlich in das Zimmer hinein, um den Eindruck, welche ihr Verhalten aus ihre Reisegefährtin ausgeübt hätte, zu beobachten.

Von dieser Seite zeigte sich nicht der geringste Grund zu Besorgnissen. Mrs. Wragge saß am Tische, ganz vertieft in das Ordnen und Zurechtlegen einer Reihe schlauer kaufmännischer Prospecte und verführerischer Preislisten, welche von ankündigenden Handelsleuten vertheilt und durch die Kutschfenster hereingeworfen waren, als sie den Londoner Bahnhof verließen.

—— Ich habe oft von Leseerleichterungen sprechen hören, sagte Mrs. Wragge, indem sie unaufhörlich die Lage der Zettel veränderte, wie ein Kind unermüdlich die Lage einer Anzahl Spielsachen ändert. Hier ist leichtes Lesen, gedruckt in hübschen Farben. Hier sind all die Sachen, die ich kaufen werde, wenn ich morgen in die Läden gehe. Geben Sie mir einen Bleistift, wenn Sie so gut sein wollen, —— nicht wahr, Sie nehmens nicht übel? —— ich brauche einen, um mir sie anzustreichen.

Sie sah zu Magdalenen auf, froh über ihre veränderten Umstände, und schlug in unverhaltbarer Lust mit ihren großen Händen auf den Tisch.

—— Kein Kochbuch! rief Mrs. Wragge Kein Schwirren in meinem Kopfe! Keinen Hauptmann morgen zu barbieren. Ich habe beide Schuhe übergetreten, mein Hut sitzt schief, und Niemand schilt mich aus. So wahr ich lebe, das nenne ich einen Festtag und keine Täuschung!

Ihre Hände fingen wieder an, lauter als je auf dem Tische zu trommeln, bis Magdalene sie beruhigte, indem sie ihr einen Bleistift einhändigte. Mrs. Wragge fand nun augenblicks ihre Würde wieder, pflanzte sich mit den Ellnbogen auf den Tisch und versenkte sich für den ganzen übrigen Theil des Abends in kaufselige Träume.

Magdalene kehrte ans Fenster zurück. Sie nahm einen Stuhl, setzte sich hinter den Vorhang und heftete abermals ihre Augen beharrlich auf das Haus gegenüber.

Die Vorhänge waren über die Fenster des ersten und zweiten Stockwerks heruntergelassen. Das Fenster des Parterrezimmers war nicht verhüllt und stand halb offen, aber kein lebendes Wesen kam demselben nahe. Thüren gingen auf, Leute kamen und gingen in den Häusern auf beiden Seiten, Kinder zu Dutzenden liefen auf die Straße hinaus, um zu spielen und machten Einfälle auf die kleinen Gartenstreifchen, um verlorene Bälle und Federspiele wieder herauszuholen, Schaaren von Leuten gingen fortwährend vor- und rückwärts, schwere Wagen, hoch aufgethürmt mit Waarengütern, zogen langsam der Straße entlang auf dem Wege nach oder von der nahen Eisenbahnstation: das ganze Tagestreiben und Leben des Stadtviertels rührte sich mit seiner ruhelosen Emsigkeit nach jeder Richtung hin, ausgenommen nach einer einzigen. Die Stunden vergingen —— und immer noch blieb das Haus drüben verschlossen, immer noch ließ sich weder außen noch innen irgend ein Lebenszeichen wahrnehmen. Der einzige Zweck, welcher Magdalene bestimmt hatte, sich selbst nach der Vauxhallpromenade zu begeben —— der Zweck, die Blicke, Gewohnheiten und Lebensweise von Mrs. Lecount und ihrem Herrn von einem »Luginsland« aus, der ihr nur selbst bekannt war, zu studiren, war bis jetzt gänzlich verfehlt. Nachdem sie drei Stunden am Fenster gewartet, hatte sie noch nicht einmal so viel entdeckt, um gewiß zu wissen, ob das Haus überhaupt bewohnt war.

Bald nach sechs Uhr störte die Wirthin Mrs. Wragges Studien durch Auflegen des Tischtuchs zum Essen. Magdalene setzte sich an den Tisch in einer Stellung, in der sie noch immer im Stande war, die Aussicht aus dem Fenster zu beherrschen. Nichts zeigte sich. Das Essen ging zu Ende; Mrs. Wragge —— schläfrig durch den narkotischen Einfluß des Anstreichens der Prospekte und durch Speise und Trank, was sie Beides mit einem durch die Abwesenheit des Hauptmannes verschärften Appetite zu sich genommen —— zog sich nach einem Lehnstuhl zurück und fiel in einer Stellung in Schlummer, welche ihrem Gatten die heftigste Seelenaufregung verursacht haben würde. Es schlug Sieben. Die Schatten des Sommerabends wurden länger und länger auf dem grauen Pflaster und den braunen Häuserwänden. Und immer noch blieb die verschlossene Hausthür gegenüber verriegelt, immer zeigte das eine offene Fenster Nichts als die schwarze Leere des Zimmers dahinter, leblos und unveränderlich, als wenn das Zimmer ein Grab gewesen wäre.

Mrs. Wragges süßes Schnarchen wurde immer tiefer in der Tonart, der Abend rückte langsam und träge vor. Es war fast acht Uhr: da ereignete sich endlich Etwas. Die Hausthür nach der Straße ging drüben zum ersten Male auf, und ein Frauenzimmer wurde auf der Schwelle sichtbar.

War diese Frau Mrs. Lecount? Nein. Denn als sie näher kam, zeigte ihr Anzug, daß es ein Dienstmädchen war. Dasselbe hielt einen großen Hausschlüssel in der Hand und ging offenbar aus, um einen Weg zu verrichten. Erregt einestheils von Neugier, anderntheils von der Eingebung des Augenblicks, was Beides ihre ungestüme Natur zur Thätigkeit trieb nach dem unthätigen Verhalten diese vielen Stunden vorher, setzte Magdalene ihren Hut auf und beschloß, dem Dienstmädchen nach seinem Bestimmungsort nachzugehen, wo er auch sein möge.

Das Frauenzimmer führte sie nach dem großen mit Läden besetzten Durchgang ganz in der Nähe, welcher der Lambethweg heißt. Nachdem die Dienerin in eine kleine Entfernung getreten und sich mit der Unsicherheit einer mit der Oertlichkeit nicht gut vertrauten Person umgesehen hatte, ging sie über die Straße und trat in einen Papierladen. Magdalene ging ebenfalls über die Straße und folgte ihr.

Der unter diesen Umständen unvermeidliche Verzug, ehe sie in den Laden kam, ließ Magdalenen versäumen zu hören, was das Mädchen verlangt hatte. Die ersten Worte jedoch, die von dem Manne hinter dem Ladentische gesprochen wurden, drangen an ihr Ohr und belehrten sie, daß der Zweck des Mädchens war, einen »Eisenbahnführer« zu kaufen.

—— Meinen Sie einen Führer für diesen Monat oder einen Führer für Juli? fragte der Mann im Laden, zu seiner Kunde gewandt.

—— Der Herr hat mir nicht gesagt, welchen, antwortete das Frauenzimmer. Alles was ich weiß, ist, daß er übermorgen aufs Land geht.

—— Uebermorgen ist der erste Juli, sagte der Verkäufer. Der Führer, den Ihr Herr braucht, ist der Führer für den neuen Monat. Derselbe erscheint aber erst morgen.

Indem sich das Mädchen bereit erklärte den nächsten Tag wieder vorzufragen verließ es den Laden und schlug den Weg ein, der nach der Vauxhallpromenade zurückführte.

Magdalene kaufte die erste beste Kleinigkeit, die sie auf dem Ladentisch sah und kehrte eilig in derselben Richtung nach Hause zurück. Die Entdeckung, welche sie da soeben gemacht hatte, war von sehr ernster Wichtigkeit für sie, und sie fühlte die Nothwendigkeit, mit so wenig als möglich Zeitverlust darnach zu handeln.

Als sie in das Vorderzimmer der Wohnung trat, fand sie Mrs. Wragge, die eben aufgewacht war, in schläfriger Verwirrung, ihre Mütze auf die Schultern herunter hängend, einen ihrer Schuhe suchend. Magdalene suchte ihr die Ueberzeugung beizubringen, daß sie nach der Reise erschöpft und daß es das Beste sei, was sie thun könne, wenn sie zu Bette ginge. Mrs. Wragge war Vollkommen willfährig diesen Wink zu befolgen, vorausgesetzt, daß sie nur erst den Schuh wieder gefunden hätte. Bei dem Suchen nach dem Schuh bemerkte sie unglücklicherweise die Prospekte, welche auf ein Nebentischchen gelegt waren, und erlangte nun sofort ihre Erinnerung an die früheren Vorgänge des Abends wieder.

—— Geben Sie mir ’mal den Bleistift, sagte Mrs. Wragge, indem sie hastig die Prospekte zusammen raffte. Ich kann noch nicht zu Bette gehen, ich bin erst halb damit zu Rande, die Dinge auszustreichen, die ich brauche. Lassen Sie ’mal sehen, wo blieb ich doch gleich stehen? »Versuchen Sie Finch’s Milchfläschchen für Säuglinge.« Nein! Hier steht ein Kreuz davor; das Kreuz besagt, daß ich keinen Gebrauch davon machen kann. »Trost im Felde. Duckler’s unzerstörbare Jagdhosen.« O, meine Liebe, meine Liebe, ich habe die Stelle verloren. O, nein, ich habe sie! Hier ist es, hier ist mein Zeichen davor. »Elegante Cashmir-Kleider; durchaus morgenländisch, sehr großartig; herabgesetzt auf ein Pfund neunzehn und ein halb Schilling. »Man beeile sich. Es sind nur noch drei übrig.« Nur noch drei! O, geben Sie mir das Geld und gehen wir und kaufen wir eines!

—— Heute Abend nicht, sagte Magdalene. Nicht wahr, Sie gehen lieber jetzt zu Bette und machen die Prospekte morgen fertig? Ich will sie Ihnen neben das Bett legen, und Sie können dann, sobald Sie aufmachen, Ihr Tagewerk mit ihnen beginnen.

Der Vorschlag fand bei Mrs.Wragges ohne Weiteres Beifall. Magdalene brachte sie in das nächste Zimmer und zu Bett wie ein Kind —— ihr Spielzeug neben sich. Das Zimmer war so eng und das Bett so klein, und Mrs. Wragge, angethan mit dem weißen Nachtgewande, der Vollmond ihres Gesichts umgeben mit dem weiten Hofe einer Nachtmütze sah so ungeheuerlich und unverhältnißmäßig groß aus, daß Magdalene, so beschäftigt ihr Geist mit ernsteren Dingen war, doch nicht ein Lächeln unterdrücken konnte, als sie ihrer Reisegefährtin gute Nacht sagte.

—— Ha, ha, schrie Mrs. Wragge seelenvergnügt, wir werden die Casimirrobe morgen haben. Kommen Sie ’mal her. Ich muß Ihnen ’was ins Ohr sagen. Gerade so wie Sie mich sehen —— werde ich jetzt schlafen, zusammengekrümmt und der Hauptmann ist nicht da, mich auszuschelten!

Das Vorderzimmer der Wohnung enthielt ein Sophabett, welches die Wirthin bald für die Nacht herrichtete. Als Dies geschehen, und die Lichter herein gebracht waren, fand sich Magdalene allein, um ihr künftiges Verhalten festzustellen, wie ihre eigenen Gedanken ihr es eingaben.

Die Fragen und Antworten, welche diesen Abend im Papierladen in ihrer Gegenwart gewechselt worden waren, brachten sie zweifellos zu dem Schlusse hin, daß ein Tag später Noël Vanstones gegenwärtiger Aufenthalt auf der Vauxhallpromenade zu Ende bringen werde. Ihr erster vorsichtiger Entschluß, nämlich erst einige Tage vergehen zu lassen in unverdächtiger Beobachtung des Hauses gegenüber, bevor sie sich hineinwagte, wurde durch die Wendung, welche die Dinge genommen hatten, vereitelt. Sie sah sich zu der heiklen Wahl hingedrängt, entweder den nächsten Tag blindlings ihr ganzes Wagstück zu vollbringen, oder aber dasselbe für eine künftige Gelegenheit, die vielleicht niemals kommen würde, aufzuschieben Einen Mittelweg gab es nicht. Ehe sie nicht Noël Vanstone mit eigenen Augen gesehen und das Schlimmste, das von Mrs. Lecount zu fürchten war, entdeckt hatte, ehe sie nicht diesen doppelten Zweck erreicht hatte —— mit der nöthigen Vorsicht, ihre eigene Person sorgsam im Hintergrunde zu halten —— eher konnte sie keinen Schritt vorwärts thun zur Ausführung des Vorhabens, das sie nach London geführt hatte.

Es verstrichen die Minuten der Nacht eine nach der andern, es folgten sich die drängenden Gedanken in ihrer Seele einer nach dem andern, und noch fand sie keinen Schluß, noch schwankte und zauderte sie mit einer Unsicherheit, welche ihr selbst neu an sich war. Endlich schritt sie ungeduldig durchs Zimmer, um die leidige Zerstreuung zu haben, ihre Reisetasche aufzuschließen und die für die Nacht nöthigen Dinge herauszunehmen Hauptmann Wragges Vermuthungen waren nicht unbegründet gewesen. Da, verborgen zwischen zwei Kleidern, waren die Stücke jenes Anzugs, den er in ihrem Koffer in Birmingham vermißt hatte. Sie legte dieselben, eins nach dem andern, um, wie um sich selbst zu beruhigen, daß Nichts, was sie brauchte, fehlte und kehrte noch einmal auf ihren Beobachtungsposten am Fenster zurück.

Das Haus gegenüber blieb dunkel bis auf das Wohnzimmer. Dort war der vorher aufgezogene Vorhang nunmehr übers Fenster niedergelassen. Das Licht, das hinter demselben brannte, zeigte ihr zuerst, daß das Zimmer bewohnt war. Ihre Augen wurden glänzend, und ihre Farbe belebte sich, als sie Dies sah.

—— Dort ist er! sprach sie zu sich selbst in leisem, gepreßtem Flüstern. Dort lebt er von unserm Gelde in dem Hause, welches die Warnung seines Vaters mir verschlossen hat!

Sie ließ den Vorhang fallen, den sie aufgehoben hatte, um hinauszusehen, kehrte zu ihrer Reisetasche zurück und nahm daraus die graue Perrücke, welche zu ihrem Bühnenanzug als nordenglische Dame gehörte. Die Perrücke war durch das Packen etwas in Unordnung gekommen; sie setzte sie auf und ging an den Toilettentisch, um sie aufzukämmen.

—— Sein Vater hat ihn vor Magdalene Vanstone gewarnt, sagte sie, indem sie die Stelle in Mrs. Lecounts Brief wiederholte und bitter auslachte, als sie sich im Spiegel sah, —— es soll mich verlangen, ob sein Vater ihn auch vor Miss Garth gewarnt hat? Morgen ist eher, als ich gerechnet hatte. Thut Nichts, —— morgen soll sichs zeigen.


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