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Der Mondstein



Fünftes Capitel.

Nachdem er mir den Namen von Herrn Candy’s Assistenten genannt hatte, schien Betteredge zu finden, daß er Zeit genug auf einen so uninteressanten Gegenstand verschwendet habe und schickte sich an, Rosanna Spearman’s Brief weiter zu lesen.

Ich saß am Fenster und wollte ruhig warten, bis er zu Ende sei. Nach und nach schwand der Eindruck, den Ezra Jennings auf mich hervorgebracht hatte —— es schien überhaupt unbegreiflich, daß in meiner Lage irgend ein menschliches Wesen einen Eindruck auf mich hervorbringen konnte —— schwand, sage ich, dieser Eindruck wieder. Meine Gedanken lenkten wieder auf ihre frühere Bahn zurück. Noch einmal zwang ich mich, meiner unglaublichen Situation gerade ins Gesicht zu sehen. Noch einmal überblickte ich im Geiste das in Zukunft von mir einzuschlagende Verfahren, über das mir klar zu werden ich endlich Fassung genug erlangte.

Noch an demselbe Tage nach London zurückkehren; den ganzen Fall Herrn Cuff vorlegen, und endlich das Wichtigste (gleichviel auf welche Weise oder mit welchen Opfern) eine Zusammenkunft mit Rachel erwirken —— das war mein Plan, so weit ich in jenem Augenblick im Stande war einen zu fassen. Ich hatte noch vor Abgang des Zuges über eine Stunde Zeit. Und ich hatte noch die Chance, daß Betteredge in dem noch ungelesenen Theil von Rosanna Spearmans Brief etwas finden möchte, was mir zu wissen nützlich sein könnte, bevor ich das Haus, in welchem der Diamant verloren gegangen war, wieder verließ. Diese Chance wollte ich jetzt noch wahrnehmen.

Der Schluß des Briefes lautete wie folgt:

»Sie brauchen nicht böse auf mich zu sein, Herr Franklin, selbst wenn ich einen kleinen Triumph bei dem Gedanken empfand, daß ich Ihr ganzes Schicksal in meinen Händen hielt. Bald überkam mich wieder Angst und Furcht. Bei der Ansicht, welche Sergeant Cuff sich über den Verlust des Diamanten gebildet hatte, mußte er schließlich nothwendig dazu schreiten, unsere Wäsche und unsere Kleider zu untersuchen. Es gab keine Stelle in meinem Zimmer, keine im Hause, welche ich vor ihm sicher glauben konnte. Wie sollte ich das Nachthemd verstecken, so daß selbst der Sergeant es nicht finden konnte? und wie sollte ich das anfangen, ohne einen einzigen Augenblick der kostbaren Zeit zu verlieren? Das waren nicht leicht zu beantwortende Fragen. Mein Schwanken endete mit dem Ergreifen eines Auskunftsmitte1s, das Sie vielleicht lachen machen wird. Ich entkleidete mich und zog das Nachthemd selbst an. Sie hatten es getragen und es gewährte mir abermals eine kleine Freude, es nach Ihnen zu tragen.

»Die nächste Nachricht, die in das Domestikenzimmer zu uns gelangte, zeigte mir, daß ich das Nachthemd nicht einen Augenblick zu früh in Sicherheit gebracht hatte. Sergeant Cuff verlangte das Wäschebuch zu sehen.

»Ich holte es und brachte es nach Mylady’s Wohnzimmer. Der Sergeant und ich waren uns in früheren Tagen schon mehr als einmal begegnet. Ich war sicher, daß er mich wiedererkennen würde und ich war nicht sicher, was er thun würde, wenn er mich als Dienstmädchen in einem Hause fände, in welchem ein kostbarer Edelstein verloren gegangen war. In dieser Ungewißheit fühlte ich, es würde eine Beruhigung für mich sein, wenn er mich erst einmal gesehen hätte und ich das Schlimmste, was daraus entstehen konnte, wüßte.

»Er sah mich an, als ob ich eine Fremde für ihn sei, als ich ihm das Wäschebuch übergab und er war besonders höflich, als er mir dafür dankte. Ich hielt Beides für schlimme Zeichen. Ich konnte nicht wissen, was er hinter meinem Rücken vielleicht von mir sagen würde; ich konnte nicht wissen, wie bald ich mich vielleicht als verdächtig in Haft befinden und an meinem Körper durchsucht finden würde. Es war gerade Zeit, daß Sie von der Eisenbahn, wohin Sie Herrn Godfrey Ablewhite begleitet hatten, zurückkommen mußten, und ich ging nach Ihrem Lieblingsspaziergang im Gebüsch, um noch einmal zu versuchen, ob ich Sie nicht sprechen könne; es war, so viel ich sehen konnte, die letzte Chance für mich.

»Sie kamen nicht; und, was noch schlimmer war, Herr Betteredge und Sergeant Cuff gingen an dem Platz, wo ich mich versteckt hatte, vorüber —— und der Sergeant sah mich.

»Danach hatte ich keine andere Wahl mehr als an meinen gewöhnlichen Aufenthaltsort und an meine gewöhnliche Arbeit zurückzukehren, bevor mir Schlimmes begegnen könnte. Als ich eben über den Weg gehen wollte, kamen Sie von der Eisenbahn zurück. Sie gingen gerade auf das Gebüsch los als Sie mich sahen und wandten sich von mir ab, als wenn ich die Pest hätte, und gingen in’s Haus.[Anmerkung von Franklin Blake. —— Das arme Mädchen ist vollständig im Irrthum. Ich hatte sie gar nicht bemerkt. Meine Absicht war gewiß, durch das Gebüsch zu gehen. Da ich mich aber in demselben Augenblick erinnerte, daß meine Tante mich vielleicht zu sehen wünschen werde, nachdem ich von der Eisenbahn zurückgekommen war, änderte ich meinen Sinn und ging in’s Haus.]

»Ich kehrte so rasch wie möglich durch den Eingang für die Domestiken in’s Haus zurück. Im Wäschezimmer war aber Niemand und ich setzte mich dort allein hin. Ich habe Ihnen schon gesagt, welche Gedanken bei mir der Zittersand erweckt hatte. Diese Gedanken bestürmten mich jetzt auf’s Neue. Ich fragte mich, was wohl besser sein möchte, wenn die Dinge so weiter gingen, Herrn Franklin Blakes Gleichgültigkeit gegen mich zu ertragen oder in den Zittersand zu springen und der Sache so für immer ein Ende zu machen?

»Vergebens versuchte ich es, mich vor mir selbst wegen meines damaligen Betragens zu verantworten; ich versuche es, aber ich verstehe mich selbst nicht.

»Warum trat ich Ihnen nicht entgegen, als Sie mir aus diese grausame Art aus dem Wege gingen? Warum rief ich Ihnen nicht zu: »Herr Franklin ich habe Ihnen etwas zu sagen; es betrifft Sie selbst und Sie müssen und sollen es hören?« Ich hatte Sie in Händen. Und mehr als das, ich besaß das Mittel, Ihnen —— wenn ich Sie nur dahin bringen konnte, mir zu vertrauen —— in Zukunft nützlich zu werden. Natürlich glaubte ich nie, daß ein Herr wie Sie den Diamanten nur um des Vergnügens am Diebstahl willen gestohlen habe. Nein, Penelope hatte Fräulein Rachel und ich hatte Herrn Betteredge von Ihrem extravaganten Leben und Ihren Schulden reden hören. Es war mir ganz klar, daß Sie den Diamanten genommen hatten, um ihn zu verkaufen oder zu verpfänden und sich so das Geld zu verschaffen, dessen Sie bedurften. Nun gut! Ich hätte Ihnen einen Mann in London nennen können, der Ihnen auf den Edelstein eine ordentliche Summe vorgestreckt haben und Ihnen dabei keine unbequeme Fragen über denselben vorgelegt haben würde.

»Warum habe ich nicht mit Ihnen gesprochen! warum habe ich nicht mit Ihnen gesprochen!

»Ich frage mich, ob etwa die Gefahren und Schwierigkeiten der Aufbewahrung des Nachthemds das Maß dessen, was ich zu ertragen vermochte, voll gemacht hatten, so daß ich andern Gefahren und Schwierigkeiten nicht mehr die Stirn zu bieten im Stande war. Das hätte vielleicht bei anderen Frauen der Fall sein können. aber unmöglich bei mir. In den Tagen, wo ich eine Diebin gewesen, war ich fünfzigmal größere Gefahren gelaufen und hatte mich unter Schwierigkeiten zurecht gefunden, gegen welche die hier vorliegende ein reines Kinderspiel war. Ich hatte so zu sagen eine Schule von Betrügereien und Täuschungen durchgemacht, von denen einige so großartig angelegt und so geschickt durchgeführt waren, daß sie als berühmte Fälle in den Zeitungen besprochen wurden. War es denkbar, daß eine Kleinigkeit, wie die Aufbewahrung eines Nachthemds, mein Gemüth belastete und mich den Muth verlieren ließ mit Ihnen zu reden? Wie thöricht, nur danach zu fragen; es war unmöglich!

»Aber wozu Verweile ich bei meiner eigenen Thorheit? Die einfache Wahrheit liegt ja klar genug am Tage. Hinter Ihrem Rücken liebte ich Sie von ganzem Herzen, und von ganzer Seele; vor Ihrem Angesicht fürchtete ich mich vor Ihnen, fürchtete ich mich, Sie böse auf mich zu machen, fürchtete ich mich vor dem, was Sie —— obgleich Sie den Diamanten genommen hatten —— sagen möchten, wenn ich mir herausnähme, Ihnen zu erklären, daß ich Ihren Diebstahl entdeckt habe. Ich war der Sache so nahe gekommen, wieich konnte, als ich in der Bibliothek mit Ihnen gesprochen hatte. Damals hatten Sie mir nicht den Rücken zugekehrt, waren Sie mir nicht ausgewichen, als ob ich die Pest hätte. Ich versuchte es, mich gegen Sie zu Erbittern und mir auf diese Weise Muth zu machen. Aber nein! ich vermochte keine anderen Gefühle darüber in mir rege werden zu lassen als die des Elends und der Kränkung. »Du bist ein häßliches Mädchen, Du hast eine verwachsene Schulter, Du bist nur ein Dienstmädchen, —— was fällt Dir ein, daß Du es wagst, mit mir zu reden?« Niemals haben Sie ein ähnliches Wort gegen mich ausgesprochen, Herr Franklin; und doch haben Sie das Alles zu mir gesagt! Kann man eine solche Tollheit erklären? Nein, man kann nichts dabei thun. als sie bekennen und auf sich beruhen lassen.

»Ich bitte Sie noch einmal wegen dieser Abirrung meiner Feder um Verzeihung. Fürchten Sie nicht, daß es noch länger dauert. Ich nähere mich dein Schluß.

»Die erste Person, die mich störte, indem sie das bis dahin leere Zimmer betrat, war Penelope Sie hatte mein Geheimnis; längst aufgefunden und hatte mit Freundlichkeit ihr Bestes gethan, mich wieder zur Besinnung zu bringen.

»O!« sagte sie, »ich weiß, warum Du hier sitzest und Dich in Gram verzehrest. Das Beste was Dir passiren könnte, Rosanna, wäre, daß Herrn Franklins Besuch hier bald zu Ende ginge. Ich glaube nicht, daß er noch lange hier bleibt.«

»Bei allen meinen Gedanken an Sie war es mir nicht eingefallen, daß Sie fortgehen könnten. Ich konnte Penelopen auf ihre Worte nichts antworten, ich konnte sie nur ansehen.

»Ich komme eben von Fräulein Rachel,« fuhr Penelope fort, »und es war keine leichte Sache, mit ihr auszukommen. Sie sagt, das Haus sei ihr unerträglich, so lange Polizei darin ist, und sie ist entschlossen, Mylady noch heute Abend zu erklären, daß sie morgen zu ihrer Tante Ablewhite gehen will. Wenn sie das thut, so wird es nicht lange dauern, bis auch Herr Franklin eine Veranlassung findet, fortzugehen. Darauf kannst Du Dich verlassen.«

»Bei diesen Worten fand ich meine Sprache wieder. »Meinst Du, daß Herr Franklin mit ihr fortgehen wird fragte ich.

»Nur zu gern, wenn sie ihn nur lassen wollte; aber sie will nicht. Sie hat ihn ihre Laune fühlen lassen; und er ist sehr schlecht bei ihr angeschrieben und das, nachdem er Alles gethan hat, ihr zu helfen, der arme Mensch! Nein, nein! Wenn sie sich nicht bis morgen wieder versöhnen, so wirst Du sehen, daß Fräulein Rachel links und Herr Franklin rechts geht. Wohin er seine Schritte wenden wird, kann ich nicht sagen. Aber hier bleibt er nicht, wenn Fräulein Rachel fortgeht.«

»Ich wußte die Verzweiflung, die sich meiner bei der Aussicht, Sie fortgehen zu sehen, bemächtigte, zu bemeistern. Die Wahrheit zu gestehen, erblickte ich einen schwachen Hoffnungsstrahl für mich in dem Vorhandensein einer ernsten Veruneinigung zwischen Fräulein Rachel und Ihnen.«

»Weißt Du,« fragte ich, »worüber sie in Streit gerathen sind?«

»Fräulein Rachel hat allein Schuld« sagte Penelope, »und so viel ich sehen kann, rührt Alles von ihrem Temperament her. Es thut mir schrecklich leid, Dich betrüben zu müssen, Rosanna, aber setze Dir nicht in den Kopf, daß Herr Franklin je auf sie böse sein wird. Dazu liebt er sie viel zu sehr.«

»Sie hatte eben diese grausamen Worte ausgesprochen, als wir von Herrn Betteredge gerufen wurden. Alle Domestiken im Hause sollten sich in der Halle versammeln und dann sollten wir, einer nach dem andern, nach Herrn Betteredge’s Zimmer gehen und daselbst von dem Sergeanten Cuff vernommen werden.

»Die Reihe kam an mich, hineinzugehen, nachdem Mylady’s Kammermädchen und das erste Hausmädchen zuerst vernommen waren. Aus Sergeant Cuffs Fragen merkte ich —— so schlau sie auch gestellt waren —— bald genug, daß jene beide Mädchen (meine bittersten Feindinnen im Hause) mich an meiner Thür sowohl am Donnerstag-Nachmittag als auch in der Donnerstag-Nacht belauscht hatten. Sie hatten dem Sergeanten genug erzählt, um ihn wenigstens theilweise die Wahrheit erkennen zu lassen. Er vermuthete mit Recht, daß ich im Geheimen ein neues Nachthemd gemacht habe, aber er vermuthete mit Unrecht, daß das farbenbefleckte Nachthemd mir gehöre. Aus dem, was er sagte, ging für mich noch etwas Anderes deutlich hervor, dem ich gern aus den Grund gekommen wäre. Er hatte mich natürlich im Verdacht, bei dem Verschwinden des Diamanten die Hand im Spiele zu haben. Zu gleicher Zeit aber ließ er mich, wie mir schien, absichtlich merken, daß er nicht mich als die für den Verlust des Edelsteins hauptsächlich verantwortliche Person betrachte, sondern daß er glaube, ich habe auf Antrieb einer andern Person gehandelt. Wen er aber mit dieser Person meinte, daß vermag ich jetzt so wenig wie damals zu errathen.

Bei dieser Ungewißheit war nur eines klar, daß Sergeant Cuff noch Meilen weit von der vollen Wahrheit entfernt war. Sie waren sicher, so lange das Nachthemd in einem sicheren Versteck war, aber nicht einen Augenblick länger.

»Ich verzweifele daran, Ihnen die ganze Tiefe des Jammers und des Schreckens begreiflich zu machen, die mich jetzt bedrängten. Es war unmöglich für mich, es noch länger zu wagen, Ihr Nachthemd am Leibe zu tragen. Ich mußte jeden Augenblick darauf gefaßt sein, mich nach dem Polizeigericht in Frizinghall abgeführt zu sehen, um dort auf dringenden Verdacht hin durchsucht zu werden. So lange mich Sergeant Cuff noch frei ließ, mußte ich mich und zwar unverzüglich entscheiden, ob ich das Nachthemd vernichten oder es an einer sicheren Stelle, in einer sicheren Entfernung vom Hause verstecken wolle.

»Wenn ich Sie nur ein» klein wenig weniger geliebt hätte, so würde ich das Nachthemd, glaube ich, zerstört haben. Aber, ach! Wie konnte ich die einzige in meinem Besitz befindliche Sache vernichten, welche den Beweis lieferte, daß ich Sie vor einer Entdeckung bewahrt hatte? Wenn es zu einer Erklärung zwischen uns kommen sollte und wenn Sie dann den Verdacht, daß ich Sie aus unreinen Motiven beschuldige, gegen mich aussprechen oder Ihre That ganz ableugnen würden: wie sollte ich mir Ihr Vertrauen erzwingen, wenn ich nicht im Besitz des Nachthemdes war.

»That ich Ihnen Unrecht, wenn ich glaubte und glaube, daß Sie vielleicht ungern ein armes Mädchen wie mich in Ihr Geheimniß eingeweiht sehen und als Ihre Mitschuldige bei dem Diebstahl betrachten würden, den zu begehen Ihre Geldverlegenheiten Sie veranlaßt hatten? Denken Sie an Ihr kaltes Benehmen gegen mich, Herr, und Sie werden sich kaum über meine Ungeneigtheit wundern können, den einzigen glücklicherweise in meinem Besitz befindlichen Gegenstand zu vernichten, der mir einen Anspruch auf Ihr Vertrauen und Ihre Dankbarkeit gewähren konnte.

»Ich beschloß, denselben zu verstecken; und zwar an dem mir wohlbekanntesten Ort, dem Zitterstrande.

»Sobald ich meinen Beschluß gefaßt hatte, erbat ich mir unter dem ersten besten Vorwand Erlaubniß, ein wenig auszugehen. Ich ging geradeswegs nach Cobb’s Hole, nach Yollands Fischerhütte. Seine Frau und seine Tochter waren meine besten Freundinnen. Aber denken Sie nicht, daß ich denselben Ihr Geheimniß anvertraut hätte —— kein Mensch hat es von mir erfahren. Alles, was ich wollte, war, die Möglichkeit, Ihnen diesen Brief zu schreiben und eine sichere Gelegenheit, mich des Nachthemds zu entledigen. Verdächtig wie ich war, konnte ich keines von beiden mit irgend welcher Sicherheit in unserm Hause thun.

»Und jetzt bin ich mit meinem langen Briefe beinahe zu Ende, den ich hier in Lucy Yollands Schlafzimmer schreibe. Wenn ich ihn geschlossen habe, werde ich mit dem ausgerollten und unter meinem Mantel versteckten Nachthemd hinuntergehen. Ich werde das Mittel, es sicher und trocken in seinem Versteck aufzubewahren, unter dem alten Gerümpel in Yollands Küche finden. Und dann werde ich nach dem Zittersande gehen —— fürchten Sie nicht, daß meine Fußtritte mich verrathen werden! —— und das Nachthemd im Sande verbergen, aus dem kein lebendes Wesen es wieder hervorholen kann, wenn es nicht zuvor von mir in das Geheimniß eingeweiht worden ist.

»Und nachdem ich das gethan haben werde, was dann?

»Dann, Herr Franklin, werde ich aus zwei Gründen noch einen Versuch machen, Ihnen die Worte zu sagen, die ich bis jetzt noch nicht« habe aussprechen können. Wenn Sie das Haus demnächst verlassen, wie Penelope vermuthet, ohne daß ich vorher mit Ihnen gesprochen habe, so werde ich die Gelegenheit dazu für immer verloren haben. Das ist der eine Grund. Und dann habe ich das tröstende Bewußtsein, daß, wenn meine Worte Sie erzürnen sollten, ich das Nachthemd in Bereitschaft habe, um meine Sache so gut zu vertreten, wie nichts anderes aus der Welt es vermöchte. Das ist mein zweiter Grund. Wenn diese beiden Gründe zusammen genommen nicht im Stande find, mein Herz gegen die Kälte, welche dasselbe bisher so eisig berührt hat (ich meine die Kälte Ihres Benehmens gegen mich), zu bewaffnen, so wird es mit meinen Versuchen und mit meinem Leben zu Ende sein.

»Ja. Wenn ich mir die nächste Gelegenheit wieder entgehen lasse; wenn Sie mir wieder so grausam entgegentreten wie bisher, und wenn diese Kälte wieder wie bisher auf mich wirkt: so sage ich der Welt lebewohl, welche mir das Glück, das sie Anderen gewährt, mißgönnt hat; sage ich dem Leben valet, welches nichts als ein wenig Freundlichkeit von Ihnen je wieder erfreulich für mich machen kann. Machen Sie sich keine Vorwürfe, Herr, wenn die Sache solches Ende nimmt. Aber versuchen Sie es, etwas wie vergebendes Bedauern für mich zu empfinden! Ich werde Vorsorge treffen, daß Sie erfahren, was ich für Sie gethan habe, wenn ich es Ihnen selbst nicht mehr werde sagen können. Werden Sie dann ein freundliches Wort für mich haben und es in jenem milden Tone sprechen, den Ihre Stimme hat, wenn Sie mit Fräulein Rachel reden? Wenn Sie das thun und wenn es wahr ist daß die Geister der Verstorbenen fortleben, so wird mein Geist es gewiß hören und vor Freude darüber erbeben.

Es ist Zeit, daß ich den Brief schließe, ich reize mich unöthiger Weise selbst zum Weinen. Wie soll ich meinen Weg nach dem Ort des Verstecks finden, wenn ich diesen unnützen Thränen gestatte, meinen Blick zu trüben.

»Ueberdies, warum soll ich die Sache von der schlimmsten Seite ansehen? Warum soll ich nicht, so lange ich kann, glauben, daß Alles doch noch ein gutes Ende nehmen wird? Vielleicht finde ich Sie heute Abend in guter Laune, oder —— wenn nicht, vielleicht gelingt es mir noch Morgen früh. Der Gram würde doch mein armes häßliches Gesicht nicht verschönern —— nicht wahr? Wer weiß, vielleicht habe ich diesen langen, langweiligen Brief ganz umsonst geschrieben. Aber der Sicherheit wegen soll er, wenn auch aus keinem andern Grunde, jetzt zusammen mit dem Nachthemd in sein Versteck wandern. Es war ein saures Stück Arbeit ihn zu schreiben. O! wenn es mir nur noch gelingt, mich mit Ihnen zu verständigen, wie gern will ich ihn zerreißen!

»Ich verbleibe Ihre Sie innig liebende ergebene Dienerin

Rosanna Spearman.«

Betteredge hatte den Brief für sich zu Ende gelesen. Nachdem er ihn sorgfältig wieder in’s Couvert gesteckt hatte, saß er gesenkten Hauptes, die Augen zu Boden geheftet, nachdenklich da.

»Betteredge«,« sagte ich, »enthält der Schluß des Briefes irgend etwas, was uns auf die rechte Spur führen könnte?«

Er blickte mit einem tiefen Seufzer langsam zu mir auf.

»Nichts, Herr Franklin!« antwortete er. »Wenn Sie meinem Rathe folgen, so lassen Sie den Brief jetzt in seinem Couvert, bis die angstvolle Aufregung, die Sie gegenwärtig bedrängt, vorüber ist. Der Brief wird Sie, wann Sie ihn auch lesen, tief betrüben. Lesen Sie ihn jetzt nicht!«

Ich legte den Brief in meine Brieftasche.

Ein Rückblick auf das 16. und 17. Capitel von Betteredge’s Erzählung wird dem Leser zeigen, daß in der That Grund genug vorhanden war, mich in dieser Weise in einem Augenblick zu schonen, wo meine Seelenstärke bereits auf eine so grausame Probe gestellt worden war. Noch zwei Mal hatte das unglückliche Mädchen noch einen letzten Versuch gemacht, mit mir zu reden; und beide Male hatte ich —— Gott weiß, wie unschuldigerweise —— das Mißgeschick gehabt, sie abzuschrecken. Am Freitag Abend hatte sie mich, wie Betteredge es treulich berichtet, allein am Billard gefunden. Ihr Benehmen und ihre Sprache hatten bei mir, wie sie es unter den obwaltenden Umständen bei jedem Andern gethan haben würden, die Vermuthung hervorgerufen, daß sie im Begriffe stehe, ein Schuldbekenntniß in Betreff des Verschwindens des Diamanten abzulegen. Um ihrer selbst willen hatte ich absichtlich kein besonderes Interesse für sie an den Tag gelegt; um ihrer selbst willen hatte ich absichtlich nur auf die Billardbälle geblickt, anstatt sie anzusehen; und was war die Folge gewesen? Sie war bis ins Herz getroffen von mir gegangen! Und endlich am Sonnabend —— an dem Tage, wo sie nach dem, was ihr Penelope gesagt hatte, meine Abreise als bevorstehend betrachten mußte —— verfolgte uns dasselbe Verhängniß. Noch einmal hatte sie es versucht, mich auf dem Wege im Gebüsch zu treffen und hatte mich dort in Gesellschaft von Betteredge und Sergeant Cuff gefunden. Sergeant Cuff hatte, seinen eigenen Nebenzweck im Auge, —— so laut, daß sie es hören konnte —— an mein Interesse für Rosanna Spearman appellirt. Abermals um des armen Geschöpfes selbst willen hatte ich die Frage des Polizeibeamten entschieden verneint und hatte —— so laut, daß sie auch meine Worte sollte hören können —— erklärt, daß ich nicht das geringste Interesse an Rosanna Spearman nehme. Bei diesen Worten, die lediglich dazu bestimmt waren, sie vor dem Versuch zu warum, mich zu ihrem Vertrauten Zu machen, war sie fortgegangen; auf die ihrer harrende Gefahr aufmerksam gemacht, wie ich damals glaubte —— entschlossen, sich selbst den Tod zu geben, wie ich jetzt weiß. Die aus jenen Moment folgenden Ereignisse habe ich bereits bis zu der merkwürdigen Entdeckung auf dem Zittersand fortgeführt Dem Leser ist jetzt ein vollständig zusammenhängender Rückblick möglich. Ich kann die unglückliche Geschichte Rosanna Spearman’s, an die ich auch jetzt noch nach so langer Zeit nicht ohne tiefe Betrübniß zurückdenken kann, hier in der Ueberzeugung abschließen, daß sich alles das, was hier absichtlich ungesagt geblieben ist, aus derselben von selbst ergeben wird.

Ich darf also wohl von diesem Selbstmord am Zittersand mit seinem sonderbaren und schrecklichen Einfluß auf meine gegenwärtige Lage und meine Aussichten für die Zukunft, zu Interessen, welche die lebenden Personen dieser Erzählung betreffen, und zu Ereignissen übergehen, welche mir bereits den Weg für meine langsame und mühselige Wanderung von Nacht zu Licht gebahnt hatten.


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