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Ein tiefes Geheimnis



Zehntes Kapitel

Die Morgenröte eines neuen Lebens

Vier Tage später standen Rosamunde, Leonard und Onkel Joseph zusammen auf dem Kirchhofe von Porthgenna.

Die Erde, zu welcher wir alle zurückkehren, hatte sich über einer sterblichen Hülle geschlossen. Sara Leesons mühevolle Pilgerschaft hatte endlich ihr stilles Ende erreicht. Das Grab des Bergmanns, von welchem sie zwei Mal heimlich zum Andenken einige Grashalme gepflückt, hatte ihr nun im Tode die Heimat gewährt, welche sie im Leben niemals kennen gelernt. Das Tosen der Meeresbrandung verhallte zu einem leisen Gemurmel, ehe es ihren Ruheplatz erreichte, und der Wind, welcher freudig über das offene Meer hinfegte, zögerte ein wenig, wenn er den alten Bäumen begegnete, welche an den Gräbern Wache hielten, und wehete dann sanft weiter durch die Myrtendecke, welche alle in ihren glänzend grünen Ring eingeschlossen hielt.

Einige Stunden waren vergangen, seitdem die letzten Worte des Gebets nach dem Einsenken des Sarges gesprochen worden. Der frische Rasen lag schon auf den Erschollen und der alte Leichenstein, auf welchem die Grabschrift des Bergmanns stand, war wieder an seinem frühern Platze zu den Häupten des Grabes augerichtet worden.

Rosamunde las ihrem Gatten die Inschrift leise vor.

Onkel Joseph war ein wenig von ihnen hinweggegangen, während Rosamunde auf diese Weise beschäftigt war, und allein an dem Fuße des Grabhügels niedergekniet. Mit liebender Hand streichelte und klopfte er den frisch aufgelegten Rasen – wie er oft Saras Haar in den längstvergangenen Tagen ihrer Jugend gestreichelt – wie er später oft ihre Hand geklopft, als ihr Herz entmutigt und ihr Haar ergraut war.

„Sollen wir den alten verwitterten Buchstaben, wie sie jetzt dastehen, noch einige neue Worte beifügen?“ fragte Rosamunde, als sie die Inschrift zu Ende gelesen hatte. „Es ist noch leerer Raum auf dem Steine übrig. Sollen wir ihn vielleicht mit den Anfangsbuchstaben des Namens meiner Mutter und dem Datum ihres Todestages ausfüllen? Ich fühle etwas in meinem Herzen, was mir zu sagen scheint, daß ich dies tun soll, aber nicht mehr.“

„So möge es auch sein, Rosamunde“, sagte ihr Gatte. „Diese kurze und einfache Inschrift ist die angemessenste und beste.“

Rosamunde blickte, während Leonard diese Antwort gab, nach dem Fußende des Grabes und verließ ihn auf einen Augenblick, um sich dem alten Manne zu nähern.

„Nehmen Sie meine Hand, Onkel Joseph“, sagte sie, indem sie ihn sanft an der Schulter berührte. „Nehmen Sie meine Hand und lassen Sie uns miteinander nach Hause zurückkehren.“

Er erhob sich, während sie noch sprach, und sah sie zweifelhaft an. Die Spieluhr lag in ihrem abgenutzten Lederfutteral auf dem Grabe nahe an der Stelle, wo er gekniet hatte. Rosamunde hob sie vom Grase auf und hing sie ihm um, wie er sie stets zu tragen pflegte, wenn er auf der Reise war. Er seufzte ein wenig, indem er Rosamunden dankte.

„Mozart kann nun nicht mehr singen“, sagte er. „Er hat nun sein Lied der letzten aller meiner teuern Angehörigen vorgesungen.“

„Sagen Sie nicht der letzten“, entgegnete Rosamunde, „sagen Sie nicht der letzten, Onkel Joseph, so lange ich noch lebe. Wird Mozart um meiner Mutter willen nicht auch mir vorsingen?“

Ein Lächeln – das erste, welches sie seit der Zeit ihrer Trauer gesehen – umspielte zitternd seine Lippen.

„Das ist ein Trost“, sagte er; „ja fürwahr, es ist ein Trost für Onkel Joseph, das zu hören.“

„Fassen Sie meine Hand“, wiederholte sie in sanftem Tone; „kommen Sie nun mit uns nach Hause.“

Er blickte sehnsüchtig auf das Grab herab.

„Ja, ich will Ihnen folgen, wenn Sie mir immer nach dem Tore vorangehen wollen.“

Rosamunde faßte den Arm ihres Gatten und führte ihn nach dem Wege, der aus dem Kirchhof hinausführte.

Als beide nicht mehr sichtbar waren, kniete Onkel Joseph wiederum am Fuße des Grabes nieder und drückte seine Lippen auf den frischen Rasen.

„Leb wohl, mein Kind“, flüsterte er und legte seine Wange einen Augenblick auf das Gras, ehe er sich wieder erhob.

Am Tore stand Rosamunde und wartete auf ihn. Ihre rechte Hand ruhte auf dem Arm ihres Gatten; ihre linke Hand streckte sie nach Onkel Joseph aus.

„Wie kühl die Luft ist“, sagte Leonard. „Wie angenehm klingt das Rauschen des Meeres! In der Tat, es ist heut ein schöner Sommertag.“

„Der herrlichste und freundlichste des ganzen Jahres“, sagte Rosamunde. „Die einzigen Wolken am Himmel sind glänzend und weiß; die einzigen Schatten auf dem Moor liegen leicht wie Eiderdaunen auf dem Heidekraut. Die Sonne strahlt in ihrer goldenen Pracht und das Meer wirft ihr Bild aus seiner blauen Tiefe zurück. O, Lenny, wie ein ganz anderer Tag ist es als jener schwüle, drückende und nebelige, wo wir den Brief in dem Myrtenzimmer fanden! Selbst der schwarze Turm unseres alten Hauses da drüben gewinnt neue Schönheit in der hellen Luft und scheint sich mit seiner schönsten Erscheinung angetan zu haben, um uns bei dem Beginn eines neuen Lebens willkommen zu heißen. Ich will es für dich und Onkel Joseph, wenn ich kann, zu einem glücklichen Leben machen – so glücklich wie der Sonnenschein, in welchem wir jetzt alle drei wandeln. Du sollst, so viel an mir liegt, Geliebter, niemals bereuen, eine Frau geheiratet zu haben, welche keinen persönlichen Anspruch auf die Ehre eines alten Familiennamens hat.“

„Ich kann meine Vermählung niemals bereuen, Geliebte“, sagte Leonard, „denn ich kann niemals die Lehre vergessen, welche mein Weib mir gegeben.“

„Was für eine Lehre, Lenny?“

„Eine sehr alte Lehre, Geliebte, die wir aber nie oft genug beherzigen können. Die höchsten Ehren, Rosamunde, sind die, welche kein Zufall uns rauben kann – die Ehren, welche Liebe und Wahrheit uns verleihen!“

ENDE


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