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Die Frau in Weiß

Die Aussage von Advocat Vincent Gilmore in Chancery-Lane, London

I.

Ich schreibe diese Zeilen auf das Ersuchen meines Freundes, des Mr. Walter Hartright. Dieselben sollen von gewissen Ereignissen Act nehmen, welche ernstlichen Einfluß auf Miß Fairlie’s Interessen übten und bald nach Mr. Hartright’s Abreise von Limmeridge House stattfanden.

Ich brauche hier nicht anzugeben, ob meine eigene Ansicht die Enthüllung einer merkwürdigen Familiengeschichte billigt, von der meine Darstellung einen wichtigen Bestandtheil ausmacht. Mr. Hartright hat diese Verantwortung auf sich genommen, und die in den folgenden Blättern mitgetheilten Umstände werden zeigen, daß er sich hiezu ein Recht erworben, falls es ihm beliebt, dasselbe auszuüben. Sein Plan, diese Erzählung Anderen auf die wahrhafteste und lebendigste Weise mitzutheilen, verlangt, daß der Gang der Ereignisse in seinen verschiedenen Stadien von Personen erzählt werde, welche zur Zeit derselben unmittelbar mit ihnen in Verbindung standen. Mein Auftreten hier als Erzähler ist die nothwendige Folge solcher Anordnung. Ich war während Sir Percival Glyde’s Aufenthalt in Cumberland dort anwesend und hatte persönlichen Antheil an einem wichtigen Ergebnisse seines kurzen Aufenthaltes unter Mr. Fairlie’s Dache. Es ist daher meine Pflicht, der Kette der Begebenheiten diese neuen Glieder anzufügen und die Kette selbst an dem Punkte wieder aufzunehmen, wo Mr. Hartright sie – nur für jetzt – hat fallen lassen.

Ich kam an einem Freitage entweder zu Ende des Monats October oder Anfangs November – der genaue Zeitpunkt ist für meinen augenblicklichen Zweck ohne Wichtigkeit – in Limmeridge House an.

Mein Zweck war, bis zu Sir Percival Glyde’s Ankunft in Mr. Fairlie’s Hause zu bleiben. Falls dieselbe die Anberaumung des Tages zur Verbindung Sir Percivals mit Miß Fairlie zur Folge hatte, sollte ich die nöthigen Instructionen mit mir nach London zurücknehmen und mich mit Abfassung des Heiratscontractes der Dame beschäftigen.

Am Freitag genoß ich nicht die Ehre einer Unterredung mit Mr. Fairlie. Er war seit Jahren ein Invalide gewesen – oder hatte sich doch dafür gehalten – und war nicht wohl genug, um mich zu sehen. Miß Halcombe war das erste Mitglied der Familie, das ich sah, sie kam mir an der Hausthür entgegen und stellte mich dem Mr. Hartright vor, der sich seit einiger Zeit in Limmeridge aufhielt.

Ich sah Miß Fairlie erst bei Tische. Sie sah nicht wohl aus und es betrübte mich, dies zu sehen. Sie ist ein sanftes, liebenswerthes Mädchen, so freundlich und aufmerksam gegen Alle, die sie umgeben, wie ihre vortreffliche Mutter zu sein pflegte, obgleich sie im Aeußern ihrem Vater gleicht. Mrs. Fairlie hatte dunkles Haar und dunkle Augen, und ihre älteste Tochter, Miß Halcombe, erinnert mich sehr an sie. Miß Fairlie spielte uns Abends vor, doch nicht so gut wie gewöhnlich, wie mich dünkte, wir machten einen Rubber Whist – eine wahre Profanation jenes edlen Spieles. Mr. Hartright hatte, als wir einander zuerst vorgestellt wurden, einen günstigen Eindruck auf mich gemacht; aber ich machte bald die Entdeckung, daß er von den gesellschaftlichen Fehlern seines Alters nicht frei war. Es gibt drei Eigenschaften, welche den jungen Leuten der jetzigen Generation abgehen. Sie können nicht beim Weine sitzen, nicht Whist spielen und verstehen nicht, einer Dame ein Compliment zu sagen. Mr. Hartright bildete keine Ausnahme in dieser allgemeinen Regel. Sonst fiel er mir selbst in jenen ersten Tagen und nach so kurzer Bekanntschaft als ein höchst bescheidener und wohlgebildeter junger Mann auf.

So verging der Freitag. Ich sage Nichts von den ernsteren Angelegenheiten, die an jenem Tage meine Aufmerksamkeit beschäftigten, dem anonymen Briefe an Miß Fairlie, den Maßregeln, die ich für zweckmäßig erachtete, bis man mir die Sache mitgetheilt hatte, und von meiner Ueberzeugung, daß Sir Percival Glyde uns jede Aufklärung über die Umstände geben werde, die wir nur verlangen konnten, da Alles dies, wie ich höre, schon in der Erzählung mitgetheilt ist, welche der meinigen voraufgeht.

Am Sonnabend war Mr. Hartright bereits abgereist, ehe ich zum Frühstück herunter kam. Miß Fairlie blieb den ganzen Tag auf ihrem Zimmer und Miß Halcombe schien mir niedergeschlagen. Das Haus war nicht mehr, was es zu Mr. und Mrs. Philipp Fairlie’s Zeiten zu sein pflegte. Ich machte am Vormittag ganz allein einen Spaziergang und besah mir einige von den Stellen, die ich gesehen, als ich zum erstenmale vor mehr als dreißig Jahren Familiengeschäfte halber in Limmeridge war. Auch sie waren nicht mehr, wie sie zu sein pflegten.

Um zwei Uhr ließ Mr. Fairlie mir sagen, er sei wohl genug, um mich zu sehen. Er hatte sich jedenfalls nicht verändert, seitdem ich zuerst seine Bekanntschaft gemacht. Seine Unterhaltung hatte denselben Gegenstand wie früher: sich selbst und seine Leiden, seine seltenen Münzen und seine unvergleichlichen Rembrandt’schen Skizzen. Sowie ich von dem Geschäfte anfing, das mich in sein Haus geführt, schloß er die Augen und sagte, ich erschüttere seine Nerven. Doch blieb ich dabei, seine Nerven zu erschüttern, indem ich wiederholt zu dem Gegenstande zurückkehrte. Alles, was ich aus ihm herausbringen konnte, war, daß er die Heirat seiner Nichte als eine abgemachte Sache betrachte, daß ihr Vater dieselbe bestätigt, daß es eine wünschenswerthe Heirat und daß er sich glücklich schätzen werde, sobald die ganze Plackerei damit vorbei sei. Was den Contract betreffe, so wolle er, falls ich mich mit seiner Nichte berathen, dann so sehr es mir gefalle, meine Kenntnisse des Familienrechtes an den Tag legen, Alles bereit halten und seinen eigenen Antheil an dem Geschäfte als Vormund darauf beschränken wolle, daß er im rechten Augenblicke Ja sage – und er werde meinen Wünschen und den Wünschen Aller mit unendlichem Vergnügen entgegenkommen. Unterdessen – da sehe ich ihn, einen hilflosen Leidenden, der an sein Zimmer gefesselt sei. Ob ich denke, er sehe aus, als ob er geärgert werden müsse? Nein. Also wozu ihn da ärgern?

Ich wäre vielleicht etwas erstaunt darüber gewesen, Mr. Fairlie so wenig Werth auf seine Rechte als Vormund legen zu sehen, hätte meine Kenntniß der Familienangelegenheiten mich nicht daran erinnert, daß Mr. Fairlie ein unverheirateter Mann sei und nur den Nießbrauch von Limmeridge und den dazu gehörenden Einkünften hatte. Ich war deshalb über den Erfolg meiner Unterredung mit ihm weder erstaunt noch enttäuscht. Mr. Fairlie hatte eben meine Erwartungen gerechtfertigt, und damit endete die Sache.

Sonntag war ein trüber Tag, draußen sowohl als im Hause. Ich erhielt einen Brief von Sir Percival Glyde’s Advocaten, worin derselbe mir den Empfang meiner Abschrift des anonymen Briefes und meine beigelegten Angaben über die Sache ankündigte. Nachmittags gesellte Miß Fairlie sich zu uns; sie war bleich und niedergeschlagen und sich selbst völlig unähnlich. Ich unterhielt mich mit ihr und wagte, eine leichte Anspielung auf Sir Percival Glyde zu machen. Sie hörte mich an und sagte Nichts. Auf jeden anderen Gegenstand ging sie bereitwillig ein, diesen aber ließ sie fallen. Es kam mir ein Zweifel, ob sie nicht etwa ihre Verlobung bereue – wie die jungen Damen es oft machen, wenn die Reue zu spät kommt.

Am Montag kam Sir Percival Glyde an. Er erschien mir, seinem Aeußern und seinen Manieren nach, als ein sehr einnehmender Mann. Er sah etwas älter aus, als ich erwartet hatte, er war ein wenig kahl über der Stirn, und sein Gesicht war ziemlich scharf markirt und abgezehrt. Aber seine Bewegungen waren so gewandt und seine Laune so heiter, wie die eines jungen Mannes. Sein Benehmen gegen Miß Halcombe war im höchsten Grade herzlich und natürlich, und mich empfing er, als ich ihm vorgestellt wurde, mit solcher Freundlichkeit und Unbefangenheit, daß wir uns bald wie alte Bekannte unterhielten. Miß Fairlie war nicht bei uns, als er ankam, doch trat sie etwa zehn Minuten später in’s Zimmer. Sir Percival stand auf und begrüßte sie mit Würde. Er sprach sein augenscheinliches Bedauern über das veränderte Aussehen der jungen Dame mit einer Mischung von Zärtlichkeit und Hochachtung, mit einer anspruchslosen Zartheit der Stimme und der Manier aus, die sowohl seiner feinen Bildung wie seinem Herzen Ehre machten. Ich war daher erstaunt zu sehen, daß Miß Fairlie in seiner Gegenwart befangen und gedrückt blieb und die erste Gelegenheit ergriff, das Zimmer wieder zu verlassen. Sir Percival beachtete weder den gezwungenen Empfang, den sie ihm zu Theil werden ließ, noch ihr plötzliches Verschwinden aus unserer Gesellschaft. Er hatte ihr seine Aufmerksamkeiten nicht aufgedrungen, während sie anwesend war, und verwirrte Miß Halcombe nicht durch Anspielungen auf ihr Fortgehen, nachdem sie uns verlassen. Er machte weder bei dieser noch irgend einer anderen Gelegenheit einen Verstoß gegen Takt oder Geschmack, solange ich in Limmeridge House in seiner Gesellschaft war.

Sobald Miß Fairlie das Zimmer verlassen, ersparte er uns alle Verlegenheit in Bezug auf den anonymen Brief, indem er von selbst den Gegenstand zur Sprache brachte. Er hatte sich auf seinem Wege von Hampshire in London aufgehalten, hatte seinen Advocaten gesprochen, die ihm von mir zugesandten Documente gelesen und dann seine Reise nach Cumberland fortgesetzt, um uns durch die schnellste, vollständigste Erklärung, welche Worte geben konnten, zu beruhigen. Da ich ihn so sprechen hörte, bot ich ihm das Original des Briefes an, welches ich für seine Durchsicht aufbewahrt hatte. Er dankte mir, schlug es jedoch aus, ihn zu lesen, indem er sagte, er habe die Abschrift gesehen und sei es wohl zufrieden, daß das Original in unseren Händen bleibe.

Er schritt dann sofort zur Erklärung der Sache, die so einfach und befriedigend war, wie ich es von vornherein erwartet hatte.

Mrs. Catherick, unterrichtete er uns, hatte ihm durch treue Dienste, die sie in früheren Jahren ihm und seiner Familie geleistet, einige Verpflichtungen auferlegt. Sie hatte ein zweifaches Unglück gehabt, indem sie einen Mann geheiratet, der sie bald verlassen, und eine einzige Tochter hatte, deren geistige Fähigkeiten schon von einem zarten Alter an gestört waren. Obgleich sie wegen ihrer Heirat nach einem Theile von Hampshire gezogen, der von Sir Percivals Gütern ziemlich entlegen war, so hatte er doch Sorge getragen, sie nicht aus dem Gesichte zu verlieren, denn das Wohlwollen, welches er in Rücksicht auf frühere Dienste für die arme Frau hegte, war noch vermehrt worden durch seine Bewunderung für die Geduld und Festigkeit, mit der sie ihre Leiden ertrug. Im Verlaufe der Zeit nahmen die Symptome geistiger Zerrüttung in ihrer unglücklichen Tochter in dem Grade zu, daß es nothwendig wurde, sie unter geeignete ärztliche Obhut zu stellen. Mrs. Catherick selbst erkannte diese Notwendigkeit an; doch war sie sich zu gleicher Zeit des Vorurtheils bewußt, das Leute ihres achtbaren Standes dagegen gefühlt haben würden, falls sie ihre Tochter als eine Hilfsbedürftige in eine öffentliche Irrenanstalt brächte. Sir Percival hatte dieses Vorurtheil geachtet, wie er überhaupt ehrenhafte Unabhängigkeit in jeder Gesellschaftsclasse achtete, und er hatte beschlossen, als dankbare Anerkennung für Mrs. Catherick’s Anhänglichkeit an die Interessen seines Hauses, die Kosten für die Aufnahme ihrer Tochter in einer zuverlässigen Privat-Irrenanstalt zu bestreiten. Zum Bedauern ihrer Mutter sowohl, als zu seinem eigenen, hatte das unglückliche Mädchen den Antheil entdeckt, den er an den Umständen gehabt, durch welche sie unter Zwang gebracht worden, und in Folge dessen einen tiefen Haß und Argwohn gegen ihn gefaßt. Diesem Hasse, der sich in der Anstalt auf verschiedene Weise kund gethan, war offenbar jener nach ihrem Entweichen geschriebene anonyme Brief zuzuschreiben. Falls Miß Halcombe’s oder Mr. Gilmore’s Kenntniß von dem Briefe diese Ansicht nicht bestätigten, oder falls sie noch ferner Einzelheiten über das Institut wünschten (dessen Adresse er erwähnte, ebenso wie die Namen und Adressen der beiden Aerzte, auf deren Certificat die Kranke in der Anstalt aufgenommen worden), so sei er bereit, jede Frage zu beantworten und sie in jeder Ungewißheit aufzuklären. Er habe an dem jungen Frauenzimmer seine Pflicht gethan, indem er seinem Geschäftsführer aufgetragen, keine Kosten zu scheuen, um sie wieder aufzufinden und der ärztlichen Sorgfalt zurückzugeben, und er wünsche jetzt nur noch, auf dieselbe einfache und offene Weise seine Pflicht auch an Miß Fairlie und ihrer Familie zu thun.

Ich war der Erste, der auf diese Aufforderung etwas erwiderte. Mein eigenes Verfahren war mir klar. Es ist das Vortreffliche an dem Gesetze, daß dasselbe jede menschliche Angabe bestreiten kann, unter welchen Umständen und in welcher Form sie auch gemacht sei. Hätte ich mich amtsmäßig berufen gefühlt, auf Sir Percival Glyde’s Erklärungen einen Rechtsfall gegen ihn zu bauen, so wäre mir dies ein Leichtes gewesen. Doch meine Pflicht lag nicht in dieser Richtung: sie war eine einfach richterliche. Ich sollte die Erklärung, die wir soeben gehört hatten, erwägen, dem guten Rufe des Herrn, der sie uns geliefert, volles Gewicht lassen und redlich entscheiden, ob die Wahrscheinlichkeit nach Sir Percivals Beweisen klar für ihn oder klar wider ihn spreche. Meine eigene Ueberzeugung war für Ersteres, und ich erklärte demgemäß, daß seine Erklärung meiner Ansicht nach eine befriedigende sei.

Miß Halcombe sagte ihrerseits, nachdem sie mich sehr ernst angesehen, ein paar Worte von derselben Bedeutung – doch mit einem gewissen Zögern, welches mir durch die Umstände nicht gerechtfertigt schien. Ich kann nicht bestimmt sagen, ob Sir Percival dies bemerkte oder nicht. Meiner Meinung nach bemerkte er es, denn er nahm den Gegenstand noch einmal auf, obgleich er ihn jetzt mit vollkommener Schicklichkeit hätte fallen lassen können.

»Wäre meine einfache Angabe der Thatsachen nur an Mr. Gilmore gerichtet gewesen,« sagte er, »so würde ich es für unnöthig erachten, noch ferner auf diesen unangenehmen Gegenstand zurückzukommen. Ich darf von Mr. Gilmore als einem Ehrenmanne wohl erwarten, daß er mir auf mein Wort glauben wird und sobald er mir diese Gerechtigkeit hat widerfahren lassen, so ist jede fernere Erörterung über die Sache zwischen uns zu Ende. Doch ist meine Lage einer Dame gegenüber nicht dieselbe. Ich schulde ihr, was ich keinem lebenden Manne einräumen würde – einen Beweis von der Wahrheit meiner Angaben. Sie können diesen Beweis fordern, Miß Halcombe, und ich bin es Ihnen, noch mehr aber Miß Fairlie schuldig, denselben anzubieten. Dürfte ich Sie bitten, sogleich an die Mutter jenes unglücklichen Mädchens, an Mrs. Catherick, zu schreiben und sie um ihr Zeugniß für die Erklärung zu bitten, die ich Ihnen soeben gegeben habe.«

Ich sah, wie Miß Halcombe die Farbe wechselte und ein wenig unruhig wurde. Sir Percivals Vorschlag, so höflich derselbe auch gemacht worden, schien ihr sowohl wie mir sehr zart auf die Zögerung hinzudeuten, die sich vor wenigen Augenblicken in ihrem Wesen verrathen hatte.

»Ich hoffe, Sir Percival,« sagte sie schnell, »daß Sie mir nicht die Ungerechtigkeit anthun, zu glauben, daß ich an der Wahrheit Ihrer Worte zweifle.«

»Ganz gewiß nicht, Miß Halcombe. Ich mache den Vorschlag rein als einen Act der Aufmerksamkeit gegen Sie. Wollen Sie meine Hartnäckigkeit entschuldigen, wenn ich noch einmal darauf zu dringen wage?«

Er ging an den Schreibtisch, während er sprach, rückte einen Stuhl heran und öffnete die Schreibmappe.

»Ich bitte Sie sehr, den Brief zu schreiben,« sagte er, »erzeigen Sie mir diese Gunst. Es braucht Sie nur wenige Minuten zu beschäftigen; Sie haben Mrs. Catherick nur zwei Fragen vorzulegen, einmal, ob ihre Tochter mit ihrer Kenntniß und Bewilligung in die Anstalt gebracht wurde, und zweitens, ob der Antheil, den ich an der Sache hatte, derart war, daß er den Ausdruck der Dankbarkeit von ihrer Seite verdient hätte. Mr. Gilmore ist über diese unangenehme Angelegenheit beruhigt; Sie sind beruhigt – bitte, beruhigen Sie nun auch mich, indem Sie den Brief schreiben.«

»Sie nöthigen mich, Ihrem Wunsche zu willfahren, Sir Percival, während ich Ihnen denselben doch weit lieber versagen möchte.« Mit diesen Worten verließ Miß Halcombe ihren Platz und ging an den Schreibtisch. Sir Percival dankte ihr, reichte ihr eine Feder und trat dann an den Kamin. Miß Fairlie’s kleines Windspiel lag auf dem Kaminteppich. Er hielt ihm die Hand hin und rief den Hund gutmüthig zu sich.

»Komm, Nina,« sagte er, »wir kennen einander, wie?«

Das kleine Thier, das, wie die meisten Schoßhunde, feige und mürrisch war, sah scharf zu ihm hinauf, zog sich vor seiner ausgestreckten Hand zurück, winselte, zitterte und kroch unter das Sopha. Es war kaum möglich, daß ihn eine solche Kleinigkeit hätte verdrießen sollen – aber ich bemerkte dennoch, daß er sich sehr plötzlich zum Fenster wandte.

Miß Halcombe brauchte nicht viel Zeit zu ihrem Briefe. Als sie ihn beendet, stand sie vom Schreibtische auf und reichte Sir Percival das offene Blatt Papier. Er verbeugte sich, nahm dasselbe, legte es zusammen, ohne den Inhalt anzusehen, versiegelte es, schrieb die Adresse und gab es ihr dann schweigend zurück. Das Ganze geschah mit einer Anmuth und Würde, wie ich sie in meinem Leben nicht einnehmender gesehen.

»Sie bestehen darauf, daß ich diesen Brief auf die Post gebe, Sir Percival?« sagte Miß Halcombe.

»Ich bitte darum,« entgegnete er. »Und jetzt, da er geschrieben und versiegelt ist, gestatten Sie mir ein paar letzte Fragen über das unglückliche Frauenzimmer, das er betrifft. Ich habe die Mittheilung gelesen, welche Mr. Gilmore die Güte hatte, meinem Advocaten zu machen und welche die Umstände beschrieben, unter welchen die Verfasserin des anonymen Briefes indentificirt wurde. Doch sind da gewisse Punkte, welche in der Mittheilung nicht berührt werden. Hat Anna Catherick Miß Fairlie gesehen?«

»Gewiß nicht,« entgegnete Miß Halcombe.

»Hat sie Sie gesehen?«

»Nein!«

»Dann also sah sie Niemanden aus dem Hause außer einem gewissen Mr. Hartright, der ihr zufällig auf dem Gottesacker begegnete?«

»Weiter Niemand.«

»Mr. Hartright war in Limmeridge als Zeichenlehrer beschäftigt, wie ich glaube? Ist er ein Mitglied eines der Aquarellistenvereine?«

»Ich glaube, ja,« entgegnete Miß Halcombe. Er hielt einen Augenblick inne, wie wenn er ihre letzte Antwort erwäge, und fügte dann hinzu:

»Erfuhren Sie, wo Anna Catherick während ihres Aufenthaltes in dieser Nachbarschaft wohnte?«

»Ja. Auf einem Gehöfte in der Haide, Todd’s Ecke genannt.«

»Wir sind es Alle diesem armen Geschöpfe schuldig, ihr nachzuforschen,« fuhr Sir Percival fort. »Sie hat vielleicht in Todd’s Ecke etwas gesagt, das uns helfen mag, sie wiederzufinden. Auf die Möglichkeit hin will ich hingehen und Nachfragen anstellen. Unterdessen, da ich es nicht über mich vermag, über diesen peinlichen Gegenstand mit Miß Fairlie zu sprechen, möchte ich Sie bitten, Miß Halcombe, ihr den nöthigen Aufschluß darüber zu geben, natürlich aber erst, wenn Sie Antwort auf jenen Brief erhalten haben werden.«

Miß Halcombe versprach ihm, seinen Wunsch zu erfüllen. Er dankte ihr, nickte uns freundlich zu und verließ uns, um von seinem Zimmer Besitz zu nehmen. Als er die Thür öffnete, steckte das mürrische Windspiel seine spitze Schnauze unter dem Sopha hervor und knurrte und bellte ihm nach.

»Eine gute Morgenarbeit, Miß Halcombe,« sagte ich, sobald wir allein waren. »Ein sorgenvoller Tag hat bereits gut geendet.«

»Ja,« erwiderte sie, »ohne Zweifel. Ich bin sehr froh, daß Sie befriedigt sind.«

»Ich! Nun, mit jenem Briefe in der Hand sind Sie es gewiß doch auch?«

»O, ja – wie könnte es anders sein? Ich weiß, es konnte nicht sein,« fuhr sie mehr zu sich selbst als zu mir sprechend fort; »aber ich wollte, Walter Hartright wäre lange genug hier geblieben, um bei der Erklärung gegenwärtig zu sein und den Vorschlag zu hören, auf den hin ich diesen Brief schrieb.«

Ich war ein wenig verdrossen, vielleicht gar gereizt über diese letzten Worte.

»Die Begebenheiten brachten allerdings Mr. Hartright auf sehr bemerkenswerthe Weise mit der Geschichte des Briefes in Verbindung,« sagte ich, »und ich gebe bereitwillig zu, daß, Alles wohl bedacht, er sich mit vielem Zartgefühl und großer Discretion benommen. Aber ich begreife durchaus nicht, inwiefern seine Gegenwart einen nützlichen Einfluß in Bezug auf den Eindruck ausgeübt hätte, den Sir Percivals Erklärung auf Sie und mich gemacht.«

»Es war nur eine Idee,« sagte sie zerstreut. »Es ist unnöthig, noch weiter darüber zu sprechen, Mr. Gilmore. Ihre Erfahrung ist der beste Führer, den ich mir wünschen könnte.

Es gefiel mir nicht besonders, daß sie so entschieden die ganze Verantwortung auf mich lud; die entschlossene, klarsehende Miß Halcombe war die letzte Person, von welcher ich erwartet hätte, daß sie den Ausdruck ihrer eigenen Meinung umgehen würde.

»Falls Sie noch irgendwie durch Zweifel beunruhigt sind,« sagte ich, »warum theilen Sie mir solche nicht sogleich mit? Sagen Sie nur aufrichtig, haben Sie irgend welche Gründe, Sir Percival zu mißtrauen?«

»Durchaus gar keine.«

»Sehen Sie irgend etwas Unwahrscheinliches oder Widersprechendes in seiner Erklärung?«

»Wie kann ich das nach dem Beweise, den er mir von der Wahrheit gegeben? Gibt es ein Zeugniß, das mehr zu seinen Gunsten sprechen könnte, als das Zeugniß der Mutter des Mädchens, Mr. Gilmore?«

»Es gibt kein besseres. Falls die Antwort auf ihre Nachfrage befriedigend ausfällt, so sehe ich meinestheils nicht, was ein Freund Sir Percivals noch ferner von ihm verlangen kann.«

»Dann wollen wir den Brief abschicken,« sagte sie, indem sie aufstand, um das Zimmer zu verlassen, »und die Sache ruhen lassen, bis die Antwort kommt.«

Sie verließ mich schnell. Ich hatte sie seit ihrer frühesten Kindheit gekannt, und als sie heranwuchs, hatte ich sie von mehr als einer schweren Familienkrisis geprüft gesehen, und meine lange Erfahrung ließ mich ihrer Zögerung unter den hier erzählten Umständen eine Wichtigkeit beilegen, welche ich sicherlich nicht gefühlt hätte, wäre sie irgend ein anderes Weib gewesen. In meiner Jugend hätte mich die Aufregung meines unklaren Gemütszustandes geärgert und ungeduldig gemacht. In meinem Alter war ich klüger und ging hinaus, um ihn mir durch einen Spaziergang zu vertreiben.



Kapiteltrenner

II.

Bei Tische trafen wir Alle wieder zusammen.

Sir Percival war bei so lauter, munterer Laune, daß ich ihn kaum als denselben Mann wieder erkannte, dessen ruhiger Takt, feine Bildung und klarer Verstand in der Unterredung am Morgen einen so günstigen Eindruck auf mich gemacht. Die einzige Spur seines früheren Selbst, die ich bemerken konnte, erschien hin und wieder in seiner Art und Weise gegen Miß Fairlie. Ein Blick oder ein Wort von ihr unterbrach seine heiterste Rede und genügte, daß er sofort seine ganze Aufmerksamkeit ihr zuwandte. Obgleich er sie nie offenbar in die Unterhaltung zu ziehen suchte, so ließ er doch auch nicht die geringste Gelegenheit vorübergehen, sie zufällig mit hineinzuziehen und ihr unter diesen günstigen Verhältnissen solche Worte zu sagen, wie ein Mann von weniger Tact und Zartgefühl ihr gerade in dem Augenblick gesagt hätte, wo sie ihm einfielen. Ziemlich zu meinem Erstaunen schien Miß Fairlie sich seiner Aufmerksamkeiten bewußt, ohne dadurch eben besonders berührt zu sein. Sie war von Zeit zu Zeit ein wenig verwirrt, wenn er sie ansah oder zu ihr sprach; aber sie wurde nie wärmer gegen ihn. Rang, Vermögen, feine Bildung, gutes Aussehen, die Achtung eines Gentleman und Verehrung eines Liebenden wurden ihr demüthig zu Füßen gelegt, aber, dem Anscheine nach, Alles vergebens.

Am folgenden Morgen, Dienstag, ging Sir Percival in Begleitung eines der Diener als Führer nach Todd’s Ecke. Seine Nachfragen, wie ich später erfuhr, blieben ohne Erfolg. Nach seiner Rückkehr hatte er eine Unterredung mit Mr. Fairlie, und Nachmittags ritt er mit Miß Halcombe aus. Nichts ereignete sich weiter, das des Erwähnens werth wäre. Der Abend verging wie gewöhnlich.

Die Post am Mittwoch brachte die Antwort von Mrs. Catherick. Ich nahm eine Abschrift von dem Documente, die ich hier anführen will. Es enthielt Folgendes:

»Madame!

Ich habe die Ehre, Ihnen den Empfang Ihres Briefes anzukündigen, in welchem Sie mich fragen, ob meine Tochter mit meinem Mitwissen und meiner Einwilligung unter ärztliche Aufsicht gestellt und ob Sir Percival Glyde’s Antheil an der Sache derart gewesen, daß er den Ausdruck meiner Dankbarkeit verdiente. Genehmigen Sie auf beide Fragen meine bejahende Antwort und erlauben Sie, daß ich mich zeichne

gehorsamst

Jane Anna Catherick.«

Kurz, und bestimmt: der Form nach für eine Frau fast zu sehr ein Geschäftsbrief, dem Inhalte nach die deutlichste Bestätigung der Angabe Sir Percivals. Dies war meine Ansicht und mit gewissen unbedeutenden Vorbehalten auch die von Miß Halcombe. Sir Percival schien über den kurzen, scharfen Ton des Briefes nicht erstaunt, als wir ihm denselben zeigten. Er sagte uns, Mrs. Catherick sei eine scharfsichtige, gerade, phantasielose Person, die ebenso kurz und deutlich schreibe wie sie spreche.

Die nächste Pflicht, die uns oblag, da jetzt die Antwort angelangt, war die, Miß Fairlie mit Sir Percivals Erklärung bekannt zu machen. Miß Halcombe hatte dies übernommen und das Zimmer verlassen, um zu ihrer Schwester zu gehen, als sie plötzlich wieder zurückkehrte und sich neben dem Lehnstuhle niedersetzte, in welchem ich die Zeitung las. Sir Percival war einen Augenblick vorher hinausgegangen, um sich die Pferdeställe anzusehen, und es war niemand als wir Beide im Zimmer.

»Wir haben also wirklich und getreulich Alles gethan, was wir thun konnten?« sagte sie, indem sie Mrs. Catherick’s Brief hin und her wandte.

»Wenn wir Sir Percivals Freunde sind, die ihn kennen und ihm trauen, so haben wir Alles, ja mehr als nothwendig war, gethan,« sagte ich etwas verdrießlich über die Rückkehr ihrer Zögerung. »Sind wir aber Feinde, die ihn beargwöhnen –«

»An eine solche Alternative ist nicht zu denken,« unterbrach sie mich, »wir sind Sir Percivals Freunde, und falls Großmuth noch etwas zu unserer Achtung für ihn hinzufügen konnte, so sollten wir sogar seine Bewunderer sein. Sie wissen, daß er gestern eine Unterredung mit Mr. Fairlie hatte und später mit mir ausritt?«

»Ich sah Sie zusammen fortreiten.«

»Wir unterhielten uns zuerst von Anna Catherick und der seltsamen Art und Weise, in der Mr. Hartright mit ihr zusammentraf. Sir Percival sprach dann in den uneigennützigsten Ausdrücken über sein Verhältniß zu Laura. Er sagte, er habe bemerkt, daß sie niedergeschlagen sei, und falls man ihn nicht von dem Gegentheil unterrichte, so müsse er dieser Ursache die Veränderung in ihrem Benehmen gegen ihn während seines gegenwärtigen Besuches zuschreiben. Falls jedoch dieser Veränderung eine ernstere Ursache zu Grunde liege, so beschwöre er mich sowohl als Mr. Fairlie, ihrer Neigung keinen Zwang anzuthun. Das Einzige, worum er sie in diesem Falle nur bitte, sei, daß sie sich zum letzten Male der Umstände erinnere, unter welchen ihre Verlobung stattgefunden und welcher Art sein Benehmens vom ersten Augenblicks derselben bis zu diesem gewesen sei. Falls sie nach reiflicher Ueberlegung dieser beiden Fragen wirklich wünsche, daß er seine Ansprüche auf die Ehre, ihr Gemahl zu werden, zurücknehme – und falls sie ihm dies mit ihren eigenen Lippen sagen wolle, so werde er sich selbst aufopfern und sie frei lassen.«

»Kein Mann konnte mehr sagen, Miß Halcombe. Soweit meine Erfahrung geht, würden wenige Männer so viel gesagt haben.«

Sie schwieg eine Weile, nachdem ich gesprochen, und sah mich mit einem seltsamen Ausdrucke der Verlegenheit und Betrübniß an.

»Ich beschuldige Niemanden und argwöhne Nichts,« rief sie plötzlich aus. »Aber ich kann die Verantwortlichkeit, Laura zu dieser Heirat zu überreden, nicht auf mich nehmen.«

»Nun, das ist ja gerade das Verfahren, das Sir Percival Sie einzuschlagen ersucht hat,« sagte ich erstaunt. »Er hat sie gebeten, ihrer Neigung keinen Zwang anzuthun.«

»Und indirect nöthigt er mich dazu, wenn ich ihr seine Botschaft sage.«

»Wie ist das möglich?«

»Befragen Sie Ihre eigenen Erfahrungen über Laura, Mr. Gilmore. wenn ich ihr sage, sich der Umstände ihrer Verlobung zu erinnern, wende ich mich an zwei der stärksten Gefühle ihrer Natur, an ihre Liebe zum Andenken ihres Vaters und an ihre unerschütterliche Wahrheitsliebe. Sie wissen, daß sie noch nie in ihrem Leben ein Versprechen gebrochen hat; Sie wissen, daß sie in diese Verlobung zu Anfang der tödlichen Krankheit ihres Vaters willigte, welcher auf seinem Sterbelager voll Hoffnung und Freude von ihrer Vermählung mit Sir Percival Glyde sprach.«

»Sie wollen doch sicherlich nicht darauf anspielen,« sagte ich, »daß Sir Percival, als er gestern zu Ihnen sprach, auf einen solchen Erfolg speculirt hätte?«

»Denken Sie, daß ich einen Augenblick in der Gesellschaft eines Mannes bleiben würde, den ich einer solchen Schlechtigkeit fähig hielte?« fragte sie aufgebracht.

Es that mir wohl, ihre tiefe Entrüstung auf mich herabblitzen zu fühlen. In meinem Berufe sieht man so viel Bosheit und so wenig wirkliche Entrüstung.

»In dem Falle,« sagte ich, »entschuldigen Sie mich, wenn ich Ihnen sage, daß Sie über den Bereich der Sache hinausgehen. Welcher Art auch die Folgen sein mögen, Sir Percival hat das Recht zu verlangen, daß Ihre Schwester ihre Verlobung von jedem Gesichtspunkte aus reiflich überlege, ehe sie fordert, daß man sie derselben entbinde. Falls jener unglückselige Brief sie gegen ihn eingenommen, so gehen Sie sogleich und sagen ihr, daß er sich in Ihren und meinen Augen gerechtfertigt hat. Was kann sie dann noch gegen ihn einzuwenden haben? Welche Entschuldigung kann sie möglicherweise dafür haben, wenn sie ihre Meinung über einen Mann ändert, den sie schon vor zwei Jahren als ihren künftigen Gemahl annahm?«

»In den Augen des Gesetzes und der Vernunft keine, Mr. Gilmore, das glaube ich wohl. Falls sie noch zögert, so müssen Sie unser sonderbares Betragen, wenn es Ihnen beliebt, in beiden Fällen der Laune zuschreiben, und wir müssen den Tadel ertragen, so gut wir eben können.«

Mit diesen Worten erhob sie sich plötzlich und verließ mich. Wenn einem vernünftigen Frauenzimmer eine ernste Frage vorgelegt wird und sie derselben durch eine leichtfertige Antwort ausweicht, so ist dies in neun und neunzig Fällen von hunderten ein sicheres Zeichen, daß sie Etwas zu verhehlen hat. Ich kehrte zu meiner Zeitung zurück, indem ich stark vermuthete, daß Miß Halcombe und Miß Fairlie ein Geheimniß hatten, das sie mir sowohl als Sir Percival verbargen. Mir schien dies hart gegen uns Beide, namentlich gegen Sir Percival.

Meine Zweifel, oder um mich richtiger auszudrücken, meine Ueberzeugung wurde durch Miß Halcombe’s Sprache und Benehmen bestätigt, als ich sie später am Tage wiedersah. Sie war mißtrauisch kurz und zurückhaltend, als sie mir den Erfolg ihrer Unterredung mit ihrer Schwester mittheilte, Miß Fairlie, wie es schien, hatte ihr ruhig zugehört, als sie ihr die Briefaffaire aus dem richtigen Gesichtspunkte vorlegte; als aber Miß Halcombe ihr darauf mittheilte; daß Sir Percival’s Besuch in Limmeridge den Zweck habe, sie zu bitten, den Tag für ihre Vermählung festzusetzen, that sie jeder ferneren Erwähnung des Gegenstandes Einhalt, indem sie um Zeit bat. Wenn Sir Percival sie jetzt noch verschonen wolle, so verpflichte sie sich, ihm vor Ablauf des Jahres noch ihre entscheidende Antwort zu geben. Sie hatte mit solcher Angst und Aufregung um diesen Verzug gefleht, daß Miß Halcombe ihr versprochen, nöthigenfalls ihren Einfluß geltend zu machen, um ihn für sie auszuwirken; und auf Miß Fairlie’s ernstliche Bitten hatte damit jede fernere Unterhaltung über die Heirathsfrage geendet.

Dieses rein temporäre Uebereinkommen mochte der jungen Dame gelegen genug sein; den Schreiber dieser Zeilen setzte es jedoch einigermaßen in Verlegenheit. Die Frühpost hatte mir einen Brief von meinem Compagnon gebracht, welcher mich nöthigte, am folgenden Tage mit dem Nachmittagszuge nach London zurückzukehren. Es war höchst wahrscheinlich, daß ich keine zweite Gelegenheit finden würde, um in dem Jahre noch einmal nach Limmeridge House zu kommen. Gesetzt nun, Miß Fairlie entschloß sich endlich, ihre Verlobung gelten zu lassen, so wurde in jenem Falle die nothwendige persönliche Unterredung mit ihr, ehe ich den Heirathscontract aufsetzte, fast eine Unmöglichkeit; und wir würden genöthigt sein, schriftlich über Sachen übereinzukommen, welche immer mündlich verhandelt werden sollten. Ich sagte Nichts von dieser Schwierigkeit, bis Sir Percival über den Verzug befragt worden. Er war ein zu galanter Mann, um nicht sofort ihren Wunsch zu gewähren. Als Miß Halcombe mich hiervon unterrichtete, sagte ich ihr, daß ich durchaus mit ihrer Schwester sprechen müsse, ehe ich Limmeridge verlasse; und es wurde daher bestimmt, daß ich Miß Fairlie am nächsten Morgen in ihrem Wohnzimmer sprechen solle. Sie kam nicht zu Tische, noch später Abends herunter. Unwohlsein wurde als Entschuldigung angegeben, und Sir Percival schien mir ein wenig verdrossen auszusehen, als er es hörte, wozu er gewiß Ursache hatte.

Am folgenden Morgen, sobald das Frühstück vorbei war, ging ich zu Miß Fairlie’s Wohnstube hinauf. Das arme Mädchen sah so blaß und traurig aus und kam mir so bereitwillig und hübsch entgegen, daß mein Entschluß, sie über ihre Laune und Unentschlossenheit auszuzanken, sofort wankte. Ich führte sie zu dem Sitze zurück, den sie verlassen, und setzte mich dann ihr gegenüber. Ihr mürrisches kleines Windspiel war in der Stube und ich war vollkommen auf einen knurrenden, bellenden Empfang von ihm vorbereitet. Seltsamerweise aber täuschte das wunderliche kleine Thier meine Erwartungen, indem es mir auf den Schooß sprang und seine spitze kleine Schnauze vertraulich in meine Hand steckte.

»Sie haben früher oft auf meinem Schooße gesessen, mein liebes Kind,« sagte ich, »und jetzt scheint Ihr kleiner Hund entschlossen, den von Ihnen verlassenen Thron einzunehmen. Ist diese hübsche Zeichnung von Ihnen?«

Ich deutete auf ein kleines Album, das neben ihr auf dem Tische lag, und in dem sie offenbar geblättert, als ich herein kam. Die Seite, an der es offen lag, zeigte eine sehr hübsch vollendete kleine Landschaft in Wasserfarbe. Dies war die Zeichnung, welche meine Frage dictirt hatte: eine allerdings sehr müßige Frage, aber wie hätte ich wohl, sowie ich meine Lippen öffnete, von Geschäften anfangen können?

»Nein,« sagte sie etwas verlegen von der Zeichnung hinwegblickend, »sie ist nicht von mir.«

Sie hatte eine unruhige Gewohnheit der Finger, deren ich mich aus ihrer Kindheit erinnerte, immer mit dem ersten Gegenstande, der ihr zur Hand kam zu spielen, wenn Jemand mit ihr sprach. Bei dieser Gelegenheit wanderten sie nach dem Album, und spielten zerstreut mit dem Rande der kleinen Wasserfarbenskizze. Der Ausdruck der Trauer auf ihrem Gesichte wurde tiefer. Sie sah weder mich noch die Zeichnung an. Ihre Augen bewegten sich unruhig von einem Gegenstande zum andern im Zimmer und verriethen deutlich, daß sie errathe, weshalb ich gekommen sei mit ihr zu sprechen. Da ich dies sah, hielt ich es für das Beste, mit möglichst geringem Zeitverluste zur Sache zu kommen.

»Einer der Zwecke, die mich zu Ihnen führen, mein liebes Kind,« begann ich, »ist, mich von Ihnen zu verabschieden. Ich muß heute nach London zurückkehren und ehe ich abreise, muß ich ein paar Worte über Ihre Angelegenheiten mit Ihnen sprechen.«

»Es thut mir sehr leid, daß Sie schon abreisen müssen, Mr. Gilmore,« sagte sie, mich liebevoll anblickend, »es erinnert mich an die alten, glücklichen Zeiten, Sie hier zu sehen.«

»Ich hoffe im Stande zu sein, wiederzukommen und jene glücklichen Erinnerungen noch einmal wieder zu erwecken,« fuhr ich fort; »da jedoch über die Zukunft immer eine Ungewißheit herrscht, so muß ich meine Gelegenheit benützen und jetzt gleich mit Ihnen reden. Ich bin Ihr alter Advocat und Freund und darf Sie wohl, ohne Sie zu verletzen, an die Möglichkeit Ihrer Vermählung mit Sir Percival Glyde erinnern.«

Sie nahm ihre Hand so schnell von dem kleinen Album, als ob es plötzlich glühend heiß geworden und sie verbrannt hätte. Sie faltete ihre Finger heftig auf ihrem Schooße, und ihre Augen senkten sich zu Boden; ein Ausdruck von Zwang ruhte auf ihrem Gesichte, der beinahe ein Ausdruck von Schmerz schien.

»Ist es durchaus nothwendig darüber zu sprechen?« fragte sie mit leiser Stimme.

»Es ist nothwendig,« entgegnete ich. »Lassen Sie uns einfach annehmen, daß Sie entweder heiraten oder nicht heiraten werden. In ersterem Falle muß ich vorbereitet sein, Ihren Contract abzufassen; und dies darf ich nicht thun, ehe ich als Sache der Höflichkeit Sie zu Rathe ziehe. Dies mag vielleicht meine einzige Gelegenheit sein, Ihre Wünsche über den Gegenstand zu vernehmen. Lassen Sie uns daher den Fall Ihrer Vermählung annehmen und erlauben Sie mir, Sie in möglichst wenigen Worten zu unterrichten, was Ihre Lage augenblicklich ist und was Sie in Zukunft aus derselben machen können, wenn es Ihnen gefällt.«

Ich erklärte ihr den Zweck eines Heiratscontractes und was ihre Aussichten seien – erstens, sobald sie mündig sein werde, und zweitens beim Ableben ihres Onkels – indem ich sie auf den Unterschied aufmerksam machte zwischen demjenigen Eigenthum, von dem sie nur den Nießbrauch haben und dem, welches ganz ihrer eigenen Willkür überlassen sein werde. Sie hörte mich aufmerksam, doch mit dem gezwungenen Ausdrucke im Gesichte an, während ihre Hände noch immer nervös gefaltet in ihrem Schooße lagen.

»Und jetzt,« sagte ich, indem ich schloß, »sagen Sie mir, ob – in dem soeben angenommenen Falle – Sie wünschen, daß ich irgend eine Bedingung für Sie mache, nachdem dieselbe natürlich Ihrem Vormunde zur Genehmigung vorgelegt worden, da Sie noch nicht mündig sind.«

Sie bewegte sich unruhig auf ihrem Stuhle, dann sah sie mir plötzlich sehr ernst in’s Gesicht.

»Wenn es geschieht,« begann sie leise; »wenn ich –«

»Wenn Sie sich verheiraten,« fügte ich ihr aushelfend hinzu.

»Geben Sie es nicht zu, daß er mich von Marianne trennt,« rief sie mit einem plötzlichen Ausbruche von Energie. »O, Mr. Gilmore, bitte, machen Sie es zum Gesetz, daß Marianne bei mir bleibt!«

Unter anderen Verhältnissen hätte mich diese so vollkommen weibliche Erklärung wahrscheinlich amüsirt. Aber ihre Blicke und der Ton, mit dem sie sprach, waren derart, daß sie mich mehr als ernst machten, mich betrübten. Ihre Worte, so wenige ihrer waren, verriethen ein verzweifeltes Festhalten an der Vergangenheit, das für die Zukunft Nichts Gutes prophezeite.

»Daß Marianne Halcombe bei Ihnen bleibt, kann leicht durch Privatübereinkunft bestimmt werden,« sagte ich. »Sie haben meine Frage kaum verstanden, glaube ich. Sie betraf Ihr Eigenthum, die Verfügung über Ihr Geld. Gesetzt, Sie machten ein Testament, sobald Sie mündig würden, wem möchten Sie Ihr Vermögen hinterlassen?«

»Marianne ist mir sowohl Mutter als Schwester gewesen,« sagte das liebe, zärtliche Mädchen, indem ihre schönen blauen Augen glänzten. »Darf ich es nur Mariannen hinterlassen, Mr. Gilmore.«

»Gewiß, liebes Kind,« entgegnete ich; »doch bedenken Sie, welch eine große Summe es ist. Möchten Sie Miß Halcombe das Ganze vermachen?«

Sie zögerte; die Farbe wechselte schnell auf ihren Wangen, und ihre Hand stahl sich nach dem kleinen Album zurück.

»Nicht das Ganze,« sagte sie, »es ist noch außer Mariannen Jemand –«

Sie schwieg und erröthete tiefer; und die Finger der Hand, die auf dem Album ruhten, schlugen leise auf den Rand der Zeichnung, als ob ihre Gedanken sie mechanisch nach der Erinnerung einer geliebten Melodie bewegten.

»Sie meinen außer Miß Halcombe noch ein anderes Mitglied der Familie?« sagte ich, da ich sah, daß sie verlegen darüber war, wie sie fortfahren sollte.

Tiefe Röthe verbreitete sich über Stirn und Nacken, und die nervösen Finger faßten plötzlich den Rand des Buches.

»Es ist noch Jemand da,« sagte sie, meine letzten Worte unberücksichtigt lassend, obwohl sie dieselben offenbar gehört hatte; »– es ist noch Jemand da – der vielleicht gern ein kleines Andenken hätte, wenn – wenn ich es vermachen dürfte. Es würde kein Unrecht darin sein; wenn ich vorher sterben sollte –«

Sie schwieg wieder. Die Farbe, die so plötzlich in ihre Wangen gestiegen, verließ dieselben ebenso plötzlich wieder. Die Hand auf dem Album ließ dasselbe los, zitterte ein wenig und legte Buch ein wenig weiter von ihr fort. Sie blickte mich einen Augenblick an – dann wandte sie den Kopf zur Seite. Ihr Taschentuch fiel zu Boden, als sie ihre Stellung veränderte, und plötzlich barg sie ihr Gesicht in den Händen.

Traurig! wenn man sich ihrer erinnerte, wie ich es that, als das lebhafteste, fröhlichste Kind, das den ganzen Tag hindurch jubelte, und sie jetzt so zu sehen, in der Blüthe ihrer Jugend und Schönheit, so gebrochen, so gebeugt!

In der Betrübniß, die sie mir verursachte, vergaß ich die Jahre, die vergangen waren, und die Veränderung, die sie in unserem Verhältnisse zu einander hervorgebracht hatten. Ich zog meinen Stuhl dicht an sie heran, nahm das Taschentuch vom Teppich auf und zog ihre Hände sanft von ihrem Gesichte herab. »Weine nicht, mein liebes Kind,« sagte ich, und trocknete die Thränen, mit denen sich ihre Augen füllten, als ob sie noch die kleine Laura Fairlie von vor zehn Jahren gewesen sei.

Es war die beste Art und Weise, sie ihrer Fassung wiederzugeben. Sie legte ihren Kopf auf meine Schulter und lächelte matt durch ihre Thränen hindurch.

»Es thut mir sehr leid, daß ich mich so vergessen habe,« sagte sie ungekünstelt. »Ich bin seit Kurzem sehr nervenschwach geworden und wenn ich allein bin, weine ich oft ohne alle Ursache. Mir ist jetzt besser; ich kann Ihnen jetzt antworten, wie ich sollte, Mr. Gilmore, gewiß, ich kann es.«

»Nein, nein, mein Kind,« erwiderte ich; »wir wollen die Sache für jetzt als abgemacht ansehen. Sie haben genug gesagt, um mich zu bevollmächtigen, Ihre Interessen nach Kräften zu wahren, und die Einzelheiten können wir bei Gelegenheit feststellen. Wir wollen von etwas Anderem reden.«

Ich leitete das Gespräch sofort auf andere Gegenstände. In zehn Minuten war sie in besserer Stimmung, und ich stand auf, um Abschied zu nehmen.

»Kommen Sie bald wieder,« bat sie ernstlich; »ich will versuchen, den gütigen Antheil, den Sie an mir nehmen, besser zu verdienen, wenn Sie nur wiederkommen wollen.«

Noch immer dieses Festhalten an der Vergangenheit – die Vergangenheit, die ich auf meine Art, wie Miß Halcombe auf die ihre für sie repräsentirte! Es betrübte mich tief, zu sehen, daß sie schon am Anfange ihrer Lebensbahn zurückblickte, wie ich am Ende der meinigen zurückblicke.

»Falls ich wiederkomme, so hoffe ich, Sie wohler zu finden,« sagte ich – »wohler und glücklicher. Gott segne Sie, mein liebes Kind.«

Sie antwortete, indem sie mir ihre Wange zum Kusse hinhielt. Sogar Advocaten haben Herzen, und meines that nur weh, als ich Abschied von ihr nahm.

Unsere ganze Unterredung hatte wenig länger als eine halbe Stunde gewährt – sie hatte in meiner Gegenwart nicht eine Silbe geäußert, um die offenbare Unruhe und Bangigkeit über die Aussicht ihrer Vermählung zu erklären – und doch hatte sie mich für ihre Ansicht der Frage gewonnen, ich wußte weder wie noch warum. Ich war mit dem Gefühle in’s Zimmer getreten, daß Sir Percival alle Ursache habe, über ihr Benehmen gegen ihn unzufrieden zu sein. Ich verließ es mit der heimlichen Hoffnung, daß sie ihn beim Worte nehmen und ihre Freigebung von ihm fordern möge. Ein Mann in meinen Jahren und von meinen Erfahrungen hätte klüger sein sollen, als auf diese unverständige Weise hin und her zu schwanken. Ich kann mich nicht entschuldigen; ich kann nur die Wahrheit sagen: es war einmal so.

Die Stunde meiner Abreise nahte jetzt heran. Ich ließ Mr. Fairlie sagen, ich wolle ihm, falls es ihm gefällig, meine Aufwartung machen, um ihm Adieu zu sagen, daß er mich jedoch entschuldigen müsse, falls ich in Eile sei. Er schickte mir einen mit Bleistift geschriebenen Zettel mit folgenden Zeilen: »Herzlichen Gruß und die besten Wünsche, lieber Gilmore. Jede Eile ist mir unbeschreiblich nachtheilig. Bitte, pflegen Sie sich. Adieu.«

Gerade ehe ich abreiste, sah ich Miß Halcombe einen Augenblick allein.

»Haben Sie Laura Alles gesagt, was Sie ihr zu sagen hatten?« fragte sie.

»Ja,« entgegnete ich, »sie ist sehr leidend und nervenschwach; ich bin froh, daß sie Sie hat, daß Sie sich ihrer annehmen können.«

Miß Halcombe’s scharfer Blick ruhte aufmerksam auf meinem Gesichte.

»Sie haben Ihre Meinung über Laura geändert,« sagte sie; »Sie sind heute bereitwilliger, Entschuldigungen für sie zu machen, als Sie gestern waren.«

Kein vernünftiger Mann läßt sich unvorbereitet auf ein Wortgefecht mit einem Weibe ein. Ich erwiderte blos:

»Lassen Sie mich wissen, was sich zuträgt. Ich will Nichts anfangen, bis ich von Ihnen höre.«

Sie sah mir noch immer scharf in’s Gesicht. »Ich wollte, es wäre Alles vorüber und glücklich vorüber, Mr. Gilmore – und dasselbe wünschen Sie.« Mit diesen Worten verließ sie mich.

Sir Percival bestand sehr höflich darauf, mich bis an den Wagenschlag zu begleiten.

»Falls Sie je in meine Nachbarschaft kommen, bitte ich Sie, nicht zu vergessen, daß ich aufrichtig unsere Bekanntschaft zu befestigen wünsche. Der erprobte und bewährte Freund dieser Familie wird mir stets ein willkommener Gast sein.«

Ein wahrhaft unwiderstehlicher Mann, höflich, rücksichtsvoll und auf eine bezaubernde Art frei von allem Stolze – jeder Zoll ein Gentleman. Als ich nach der Station abfuhr, fühlte ich, daß ich mit Freuden Alles thun könnte, um Sir Percival Glyde’s Interessen zu fördern – Alles in der Welt, nur nicht den Heiratscontract seiner Frau aufsetzen.



Kapiteltrenner

III.

Es verging eine Woche nach meiner Rückkehr nach London, ohne daß ich von Miß Halcombe hörte.

Am achten Tage lag ein Brief mit ihrer Handschrift unter den Briefen auf meinem Pulte.

Derselbe zeigte mir an, daß Sir Percival Glyde definitiv angenommen sei, und daß die Heirat, wie er es ursprünglich gewünscht, vor Ablauf des Jahres stattfinden werde, aller Wahrscheinlichkeit nach innerhalb der letzten vierzehn Tage des Monats December. Miß Fairlie’s einundzwanzigster Geburtstag war Ende März nächsten Jahres. Auf diese Weise also wurde sie drei Monate vor ihrer Mündigkeit Sir Percivals Gemahlin.

Ich hätte nicht erstaunt sein, es hätte mich nicht betrüben sollen; aber Beides war dessenungeachtet der Fall. Eine kleine Unzufriedenheit über die lakonische Kürze von Miß Halcombe’s Brief mischte sich in diese Gefühle und trug dazu bei, mich für den ganzen Tag zu verstimmen. In dem Lapidarstil von sechs Zeilen kündigte meine Correspondentin mir die beabsichtigte Heirat an; in noch dreien, daß Sir Percival von Cumberland abgereist und nach Hampshire zurückgekehrt sei; und in zwei Schlußsätzen, erstens daß Laura sehr einer Veränderung der Luft und heiterer Gesellschaft bedürfe und zweitens, daß sie beschlossen, sofort die Wirkung einer solchen Veränderung zu versuchen, indem sie ihre Schwester mit sich auf einen Besuch zu gewissen alten Bekannten in Yorkshire nehme. Damit endete der Brief, ohne ein Wort zur Erklärung der Umstände, welche Miß Fairlie bewogen hatten, in einer kurzen Woche, nachdem ich sie zuletzt gesehen, Sir Percival anzunehmen.

Die Ursache dieses schnellen Entschlusses wurde mir später zur Genüge erklärt. Doch darf ich sie nicht unvollkommen und nach blosem Hörensagen berichten. Die Umstände gehören zu Miß Halcombe’s persönlichen Erlebnissen; und in ihrer Aussage wird sie dieselben in ihren Einzelheiten genau so beschreiben, wie sie sich ereigneten. Unterdessen bleibt mir nur noch die Aufgabe, das letzte mit Miß Fairlie’s Vermählung in Beziehung stehende Ereigniß, mit welchem ich persönlich zu thun hatte, zu berichten, nämlich das Aufsetzen des Heiratscontractes.

Es ist unmöglich, verständlich von diesem Dokumente zu reden, ohne erst in gewisse Details in Bezug auf die Vermögensverhältnisse der Braut einzugehen. Ich will versuchen, meine Erklärung kurz und deutlich zu geben und mich von allen dunklen, technischen Ausdrücken frei zu halten. Die Sache ist von der allergrößten Wichtigkeit, da Miß Fairlie’s Erbe einen sehr wichtigen Theil von Miß Fairlie’s Geschichte ausmacht.

Miß Fairlie’s Vermögenserwartungen waren also zweierlei Art und bestanden demnach theils in der möglichen Erbschaft liegenden Grundeigenthums oder Ländereien, wenn ihr Onkel starb, theils in ihrem unbedingten Erbe persönlichen Eigentums oder Geldes, sobald sie mündig wurde.

Von den Länderein zuerst.

Zu Lebzeiten von Miß Fairlie’s Großvater – väterlicher Seite – (den wir Mr. Fairlie den Aelteren nennen wollen) stand das Fideicommiß folgendermaßen:

Mr. Fairlie der Ältere starb und hinterließ drei Söhne, Philipp, Frederick und Arthur. Als ältester Sohn erbte Philipp das Gut. Falls er starb, ohne einen Sohn zu hinterlassen, ging das Eigenthum auf seinen zweiten Bruder Frederick über. Und falls Frederick ebenfalls starb, ohne einen Sohn zu hinterlassen, so kam es an den dritten Bruder Arthur.

Nun geschah es aber, daß Mr. Philipp Fairlie bei seinem Ableben eine einzige Tochter hinterließ, die Laura unserer Erzählung, und das Gut fiel in Folge dessen an den zweiten Bruder Frederick, der unverheiratet war.

Der dritte Bruder Arthur war schon viele Jahre vor Philipps Tode gestorben und hatte einen Sohn und eine Tochter hinterlassen. Der Sohn ertrank im achtzehnten Jahre zu Oxford. Durch seinen Tod wurde Laura, Philipp Fairlie’s Tochter, die muthmaßliche Erbin des Gutes mit jeder Aussicht, die Erbschaft, nach dem Laufe der Natur, nach Frederick Fairlie’s Ableben anzutreten, falls besagter Frederick ohne männlichen Erben starb.

Der Fall ausgenommen also, daß Mr. Frederick Fairlie sich verheiratete und einen Erben hinterließ (die beiden letzten Dinge von der Welt, die sich von ihm erwarten ließen), beerbte seine Nichte Laura ihn bei seinem Tode, indem sie jedoch, wie wir nicht vergessen müssen, nur den Nießbrauch des Gutes hatte. Falls sie unverheiratet oder kinderlos starb, so ging das Gut an ihre Cousine Magdalen, Mr. Arthur Fairlie’s Tochter, über. Falls sie sich nach einem angemessenen Contracte oder, mit anderen Worten, nach dem Contracte, den ich für sie zu machen beabsichtigte, verheiratete, stand der Ertrag des Gutes (volle dreitausend Pfund des Jahres) auf Lebenszeit zu ihrer Verfügung. Falls sie früher starb als ihr Gemahl, so würde natürlich er seinerseits den Nießbrauch dieser Einkünfte verlangen; und hatte sie einen Sohn, so erbte derselbe zum Nachtheile ihrer Cousine Magdalen. Auf diese Weise versprachen Sir Percivals Aussichten, indem er Miß Fairlie heiratete, (insoweit sie das zu erwartende Grundeigenthum seiner Frau betrafen) ihm bei Mr. Frederick Fairlie’s Tode folgende zwei Vortheile: erstens den Nießbrauch von jährlich dreitausend Pfund (mit Genehmigung seiner Frau, während sie lebte, und nach ihrem Tode, falls er sie überlebte), kraft seines eigenen Rechtes; und zweitens: die Erbschaft von Limmeridge für seinen Sohn, falls er einen solchen hatte.

So viel über das Landeigenthum und die Verfügung über den Ertrag desselben bei Gelegenheit von Miß Fairlie’s Heirat. Bis hierher ließ sich keine Schwierigkeit oder Meinungsverschiedenheit über den Contract der Dame zwischen Sir Percivals Advocaten und mir erwarten.

Der nächste Punkt, den wir zu berücksichtigen haben, ist das persönliche Eigenthum, oder, mit anderen Worten, das Geld, zu dem Miß Fairlie mit ihrem einundzwanzigsten Jahre berechtigt war.

Dieser Theil ihres Erbes war an sich schon ein hübsches kleines Vermögen. Sie erhielt es nach ihres Vaters Testament und es belief sich auf zwanzigtausend Pfund. Außerdem hatte sie noch den Nießbrauch von zehntausend Pfund, welche Summe bei ihrem Ableben ihrer Tante Eleonor, der einzigen Schwester ihres Vaters, zufiel. Es wird die deutliche Auseinandersetzung dieser Familienangelegenheiten sehr fördern, wenn ich hier einen Augenblick innehalte, um zu erklären, warum die Tante bis zum Tode ihrer Nichte auf ihr Legat warten mußte.

Mr. Philipp Fairlie hatte auf dem freundschaftlichsten Fuße mit seiner Schwester Eleonor gelebt, solange sie unverheiratet war. Als sie sich jedoch erst in den späteren Lebensjahren verheiratete und diese Heirat sie mit einem italienischen Gentleman oder vielmehr – mit einem italienischen Edelmanne, da er sich des Grafentitels erfreute – Namens Fosco, vereinte, mißbilligte Mr. Fairlie diese ihre Handlung in dem Grade, daß er allen Verkehr mit ihr abbrach, ja sogar so weit ging, daß er ihren Namen aus seinem Testamente strich. Die anderen Mitglieder der Familie fanden diese ernstliche Darthuung seines Zornes über die Heirat seiner Schwester mehr oder minder ungerecht. Graf Fosco, obgleich kein reicher Mann, war dessenungeachtet kein vermögensloser Abenteurer. Er besaß ein kleines, aber hinreichendes Einkommen, hatte viele Jahre in England gelebt und behauptete eine sehr gute Stellung in der Gesellschaft. Doch diese Empfehlungen galten Mr. Fairlie Nichts. In vielen seinen Ansichten war er ein Engländer von der alten Schule, und er haßte einen Ausländer einzig und allein, weil er ein Ausländer war. Das Aeußerste, zu dem er sich noch in späteren Jahren bewegen ließ und zwar hauptsächlich auf Miß Fairlie’s Bitten, war, daß er seiner Schwester Namen seine frühere Stelle in seinem Testamente wiedergab, sie jedoch auf ihr Legat warten ließ, indem er seiner Tochter den Nießbrauch der Zinsen und die Summe selbst ihrer Cousine Magdalene vermachte, falls ihre Tante vor ihr sterbe, wenn man das bezügliche Alter der beiden Damen bedenkt, so war die Aussicht der Tante auf die zehntausend Pfund dem gewöhnlichen Gange der Natur nach auf diese Weise eine äußerst zweifelhafte, und die Gräfin Fosco rächte sich für ihres Bruders Verfahren gegen sie auf so ungerechte Weise, wie es in solchen Fällen üblich ist, indem sie sich weigerte, ihre Nichte zu sehen oder zu glauben, daß ihr Name nur auf Miß Fairlie’s Bitten in Mr. Fairlie’s Testament wieder aufgenommen sei.

Dies war die Geschichte der zehntausend Pfund. Auch hieraus konnten mir Sir Percivals Advocaten gegenüber keine Schwierigkeiten erwachsen. Die Zinsen gehörten der Frau, und das Kapital fiel der Tante oder bei ihrem Tode der Cousine zu.

Nachdem auf diese Weise alle vorläufigen Erklärungen beseitigt sind, komme ich jetzt zu dem wirklichen Knoten in der Geschichte – den zwanzigtausend Pfund.

Diese Summe war, sobald sie ihr einundzwanzigstes Jahr erreichte, Miß Fairlie’s unbeschränktes Eigenthum und die ganze zukünftige Verfügung darüber hing vorerst von den Bedingungen ab, die es mir gelingen würde in dem Heiratscontracte für sie zu machen. Die anderen Klauseln, die das Document enthielt, betrafen bloße Formen und brauchen hier nicht wiederholt zu werden. Aber die Clausel in Bezug auf das Geld ist zu wichtig, um hier übergangen zu werden, wenige Zeilen werden genügen, um uns den nothwendigen Auszug zu geben.

Meine Bedingung in Bezug auf die zwanzigtausend Pfund war einfach diese: die Zinsen der Summe sollten der Dame auf Lebenszeit und nach ihrem Tode Sir Percival seinerseits auf Lebenszeit gehören, das Capital selbst aber den Kindern der Ehe. In Ermanglung von Leibeserben sollte über das Capital nach dem Wunsche der Dame verfügt werden, zu welchem Ende ich ihr das Recht, ein Testament zu machen, vorbehielt. Die Wirkungen dieser Bedingungen lassen sich auf folgende Weise zusammenfassen. Falls Lady Glyde starb, ohne Kinder zu hinterlassen, so durften ihre Halbschwester, Miß Halcombe, und sonstige Verwandte oder Freunde, die sie zu begünstigen wünschte, sich bei Ableben ihres Gemahls nach solchen Antheilen in das Geld theilen, wie sie ihnen ausgesetzt waren. Hinterließ Lady Glyde dagegen Kinder, so mußte deren Interesse natürlich jedem anderen Interesse vorgehen. Dies war die Clausel, und wer sie liest, muß, wie ich denke, mit mir darin übereinstimmen, daß sie allen Theilen gleiche Gerechtigkeit zukommen ließ.

Wir werden sehen, wie meine Vorschläge von Seiten des Gemahls aufgenommen wurden.

Zur Zeit, wo ich Miß Halcombe’s Brief empfing, war ich noch mehr beschäftigt als gewöhnlich. Aber es gelang mir noch, die Zeit zu dem Contracte zu finden. Ich hatte ihn in weniger als einer Woche nach Empfang von Miß Halcombe’s Briefe aufgesetzt und Sir Percivals Advocaten zur Genehmigung zugesandt.

Nach Verlauf von zwei Tagen erhielt ich das Document mit den Notizen und Anmerkungen von Sir Percivals Advocaten zurück. Seine Einwendungen erwiesen sich im Allgemeinen als unbedeutend, bis er zu der Clausel über die zwanzigtausend Pfund kam. An dieser entlang, waren mit rother Tinte doppelte Linien gezogen und folgende Bemerkung hinzugefügt:

»Unzulässig. Das Capital an Sir Percival übergehen lassen, falls er Lady Glyde überlebt und keine Leibeserben da sind.«

Das hieß also, daß kein Heller von den ganzen zwanzigtausend Pfund weder Miß Halcombe noch sonst einem Mitgliede der Familie von Lady Glyde zukommen sollte. Die ganze Summe, falls sie keine Kinder hinterließ, sollte in Sir Percival’s Taschen schlüpfen.

Die Antwort, welche ich auf diesen unverschämten Vorschlag schrieb, war so kurz und scharf, wie ich sie nur geben konnte.

»Mein lieber Herr. Ich behaupte Clausel so und so gerade wie sie dasteht.

Aufrichtig der Ihrige.«

Die Erwiderung kam in einer Viertelstunde.

»Mein lieber Herr. Ich behaupte die Clausel in rother Tinte gerade wie sie dasteht.

Aufrichtig der Ihrige.«

In dem abscheulichen Kauderwelsch unserer Zeit hatten wir uns jetzt beide »festgefahren« und es blieb uns Nichts weiter übrig, als an unsere beiderseitigen Clienten zu appelliren.

Wie die Sachen standen, war mein Client – da Miß Fairlie noch nicht ihr einundzwanzigstes Jahr vollendet hatte – ihr Vormund, Mr. Frederick Fairlie. Ich schrieb an ihn und legte die Sache gerade so vor ihn, wie sie stand, indem ich nicht nur nachdrücklich jeden Beweisgrund, der mir nur einfiel, anführte, um ihn zu bewegen, die Clausel so zu behaupten, wie ich sie aufgesetzt hatte, sondern auch deutlich den gewinnsüchtigen Beweggrund hervorhob, welcher der Einwendung gegen meine Verfügung zu Grunde lag. Die Kenntniß von Sir Percival’s Angelegenheiten, welche ich notwendigerweise gewonnen, als die Maßregeln der Acte auf seiner Seite nur zur Einsicht vorgelegt worden, hatte mir nur zu klar bewiesen, daß enorme Schulden auf dem Gute lasteten und daß sein Einkommen, obgleich nominell ein bedeutendes, in der Wirklichkeit aber für einen Mann seines Standes beinahe Nichts war. Das Bedürfniß baaren Geldes war die praktische Notwendigkeit für Sir Percivals Existenz und die Anmerkung seines Advocaten neben der Clausel in dem Contracte war Nichts, als das selbstsüchtig offene Bekenntniß desselben.

Mr. Fairlie’s Antwort kam mit umgehender Post. Auf gut Deutsch lief sie auf etwa Folgendes hinaus:

»Wollte nicht der liebe Gilmore die außerordentliche Güte haben, seinen Freund und Clienten nicht wegen einer solchen Kleinigkeit, wie einen entfernten Möglichkeitsfall, zu quälen? Wäre es wahrscheinlich, daß eine junge Frau von einundzwanzig Jahren früher als ein Mann von fünfundvierzig Jahren und ohne Kinder sterben werde? War es dagegen in einer so jämmerlichen Welt, wie diese, möglich, den Werth des Friedens und der Ruhe zu überschätzen? Und falls diese zwei himmlischen Güter Einem für eine solche irdische Kleinigkeit, wie die entfernte Aussicht auf zwanzigtausend Pfund geboten würden, war das nicht ein guter Tausch? Ganz gewiß. Also warum ihn da nicht eingehen?«

Ich warf den Brief voll Widerwillen von mir. Gerade als er zu Boden fiel, wurde an meine Thür geklopft und Sir Percivals Advocat, Mr. Merriman, trat herein. Es gibt in dieser Welt viele verschiedene Arten von schlauen Praktikanten, aber die, mit der man am allerschwersten fertig wird, sind die Leute, welche uns beständig unter dem Mantel einer unvertilgbaren Fröhlichkeit überlisten. Ein corpulenter, wohl genährter, lächelnder, freundlicher Geschäftsmann ist von Allen, mit denen man zu schaffen haben kann, derjenige, der Einem am wenigsten Hoffnung läßt. Mr. Merriman gehörte zu dieser Classe.

»Und wie geht’s meinem guten Mr. Gilmore?« begann er, von der Wärme seiner eigenen Liebenswürdigkeit erglühend. »Freut mich sehr, Sir, Sie bei so guter Gesundheit zu sehen. Ich ging gerade bei Ihrer Thür vorbei und dachte, ich wollte ’mal sehen, ob Sie mir vielleicht etwas zu sagen hätten. Lassen Sie uns – ich bitte Sie – unsere kleine Meinungsverschiedenheit womöglich mündlich beilegen! Haben Sie schon von Ihrem Clienten gehört?«

»Ja. Haben Sie schon von dem Ihrigen gehört?«

»Mein lieber, guter Herr! Ich wollte, ich hätte in einer Weise von ihm gehört, die Etwas nützen könnte – ich wünsche von ganzem Herzen, er nähme mir die Verantwortung ab; aber er will mir sie nicht abnehmen. ›Merriman, ich überlasse die Einzelheiten Ihnen. Thun Sie, was Ihnen in meinem Interesse recht scheint, und nehmen Sie an, daß ich mich persönlich von der Sache zurückgezogen hätte, bis Alles vorüber ist.‹

Das waren Sir Percivals Worte vor vierzehn Tagen, und das Einzige, was ich über ihn vermag, ist, sie ihn wiederholen zu lassen. Ich bin kein harter Mensch, wie Sie wissen, Mr. Gilmore. Was mich betrifft, und unter uns gesagt, versichere ich Sie, daß ich jene Anmerkung von mir auf der Stelle streichen möchte. Aber wenn Sir Percival sich nicht darum bekümmern will, wenn er durchaus sein ganzes Interesse meinen Händen übergibt, was kann ich möglicherweise Anderes thun, als es behaupten?«

»Dann bestehen Sie also auf Ihrer Anmerkung neben der Clausel buchstäblich?« sagte ich.

»Ja, zum Henker! Es bleibt mir Nichts Anderes übrig.« Er spazierte an den Kamin und wärmte sich, indem er mit einer vollen Baßstimme die letzte Strophe eines Liedes vor sich hin summte. »Was sagt Ihre Partei?« fuhr er fort, »bitte, lassen Sie mich hören, was Ihre Partei sagt?«

Ich versuchte, Zeit zu gewinnen, ja ich that gar noch Schlimmeres. Mein juristischer Instinct übermannte mich, und ich versuchte sogar mit ihm zu handeln.

»Zwanzigtausend Pfund sind eine ziemlich große Summe, um von der Familie der Dame nach zweitägiger Ueberlegung aufgegeben zu werden,« sagte ich.

»Sehr wahr,« sagte Mr. Merriman, gedankenvoll auf seine Stiefeln herabblickend. »Gut gesagt, Sir – sehr gut gesagt!«

»Ein Compromiß, welcher das Interesse der Familie der Dame sowohl, als das des Gemahls anerkannte, hätte meinen Clienten wahrscheinlich nicht so sehr erschreckt,« fuhr ich fort. »Nun, kommen Sie! Die Sache löst sich am Ende in einen blosen Handel auf. Was ist das Wenigste, das Sie annehmen wollen?«

»Das Wenigste, was wir annehmen wollen,« sagte Mr. Merriman, »sind neunzehn – tausend – neun – hundert –– und – neun – und – neunzig – Pfund – neunzehn – Schilling – und – elf – Pence – drei – Farthinge. Ha! ha! ha! Entschuldigen Sie, Mr. Gilmore, ich muß einen kleinen Scherz haben.«

»Klein genug!« bemerkte ich; »der Scherz ist gerade den übrigen Farthing werth, um den er gemacht wurde.«

Mr. Merriman war entzückt. Er erschütterte das Zimmer mit seinem Gelächter über die Art und Weise, wie ich es ihm zurückgegeben. Ich dagegen war nicht halb so guter Laune; ich kehrte zum Geschäfte zurück und machte der Unterredung ein Ende.

»Heute ist Freitag,« sagte ich, »lassen Sie uns bis nächsten Dienstag zur letzten Entscheidung Zeit.«

»Auf jeden Fall,« erwiderte Mr. Merriman. »Noch länger, mein lieber Herr, wenn Sie es wünschen.« Er nahm seinen Hut, um zu gehen und redete mich dann noch einmal an. »Beiläufig gesagt, haben Ihre Clienten in Cumberland nichts mehr von dem Frauenzimmer gehört, die den anonymen Brief schrieb?«

»Nichts mehr,« entgegnete ich. »Haben Sie keine Spur von ihr entdeckt?«

»Noch nicht,« sagte mein juristischer Freund. »Aber wir verzweifeln noch nicht. Sir Percival hegt Verdacht, daß Jemand sie versteckt hält, und diesen Jemand lassen wir bewachen.« sagte ich.

»Eine ganz andere Person, Sir,« entgegnete mir Mr. Merriman. »Wir haben die alte Frau noch nicht erwischt. Unser Jemand ist ein Mann. Ich habe mein Auge auf ihn hier in London, und wir hegen starken Verdacht, daß er es war, der ihr aus der Anstalt entfliehen half. Sir Percival war dafür, ihn sogleich auszufragen, aber ich sprach: Nein. Unser Ausfragen würde den Erfolg haben, daß er auf seiner Hut wäre; wir wollen ihm aufpassen und warten. Wir werden ja sehen, was sich ereignet. Ein gefährliches Frauenzimmer, Mr. Gilmore, um frei zu sein; es ist unberechenbar, was sie zunächst thun mag. Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen, Sir. Nächsten Dienstag hoffe ich das Vergnügen zu haben, von Ihnen zu hören.« Er lächelte liebenswürdig und ging.

Ich war während des letzten Theiles der Unterhaltung etwas zerstreut gewesen. Ich war so besorgt in Bezug auf den Contract, daß ich für andere Gegenstände wenig Aufmerksamkeit übrig hatte; und sowie ich wieder allein war, begann ich zu überlegen, was mein nächster Schritt sein müsse.

Hätte die Sache irgend einen anderen meiner Clienten betroffen, so hätte ich meinen Verhaltungsbefehlen gehorcht, wie sehr mir dieselben auch persönlich zuwider gewesen wären, und augenblicklich den Punkt in Bezug auf die zwanzigtausend Pfund aufgegeben. Aber gegen Miß Fairlie konnte ich nicht mit dieser geschäftsmäßigen Gleichgültigkeit verfahren. Ich hegte ein redliches Gefühl der Liebe und Bewunderung für sie; ich erinnerte mich voll Dankbarkeit, daß ihr Vater mir der gütigste Freund und Gönner war, den je ein Mann besaß; ich hatte, während ich den Contract aufsetzte, das für sie gefühlt, was ich, wäre ich nicht ein Junggeselle gewesen, für meine eigne Tochter gefühlt hätte; und ich war daher entschlossen, vor keinem persönlichen Opfer zurückzuweichen, solange ich ihrem Interesse dienen konnte. An ein zweites Schreiben an Mr. Fairlie war nicht zu denken; es würde ihm nur eine zweite Gelegenheit geben, mir durch die Finger zu schlüpfen. Es mochte möglicherweise von besserem Erfolge sein, falls ich ihn sähe und ihm persönlich die Sache vorstellte. Der folgende Tag war Sonnabend. Ich beschloß ein Tagesbillet zu nehmen und meine alten Gebeine nach Cumberland hinunter rütteln zu lassen, auf die Aussicht hin, ihn zu bereden, das gerechte, unabhängige, ehrenvolle Verfahren einzuschlagen. Ich hatte allerdings nur geringe Aussicht darauf; aber nachdem ich es versucht, würde sich mein Gewissen beruhigen. Ich würde dann Alles gethan haben, was ein Mann in meiner Lage thun konnte, um dem Interesse des einzigen Kindes seines alten Freundes zu dienen.

Das Wetter am Sonnabend war schön, ein Westwind und heller Sonnenschein. Da ich in letzterer Zeit wieder an jener Eingenommenheit und jenem Drucke im Kopfe gelitten hatte, vor denen mein Arzt mich schon vor mehr als zwei Jahren warnte, beschloß ich, mir bei dieser Gelegenheit ein wenig Extrabewegung zu verschaffen und schickte meine Reisetasche voraus, um dann zu Fuße nach der Eisenbahnstation von Euston Square zu folgen. Als ich nach Holborn hineinbog, kam ein Herr mir schnell entgegen, und da er mich sah, stand er still und redete mich an. Es war Mr. Hartright.

Hätte er mich nicht zuerst begrüßt, so wäre ich ihm ganz gewiß so vorbeigegangen. Er hatte sich so sehr verändert, daß ich ihn kaum wieder erkannte. Sein Gesicht war bleich und abgemagert, sein Benehmen hastig und unsicher, und seine Kleidung, die mir in Limmeridge als sauber und geschmackvoll aufgefallen, war jetzt so vernachlässigt, daß ich mich geschämt haben würde, wenn ich einen meiner Schreiber so gesehen hätte.

»Sind Sie schon lange wieder aus Cumberland zurück?« fragte er. »Ich habe kürzlich von Miß Halcombe gehört, und weiß, daß Sir Percival Glyde’s Erklärungen als befriedigend angenommen sind. Wird die Heirath bald stattfinden? Wissen Sie es vielleicht, Mr. Gilmore?«

Er sprach so schnell und drängte seine Fragen so seltsam und verwirrt durcheinander, daß ich ihm kaum folgen konnte.

Wie vertraut er auch durch Zufall mit der Familie zu Limmeridge gewesen sein mochte, so schien er mir doch nicht berechtigt, Auskunft über ihre Familienangelegenheiten zu erwarten, und ich beschloß daher, ihn so kurz wie möglich über Miß Fairlie’s Heirath abzufertigen.

»Die Zeit wird’s lehren, Mr. Hartright,« sagte ich – »die Zeit wird’s lehren. Ich denke mir, wenn wir nur hübsch die Zeitungen lesen, daß wir die Vermählung schon angezeigt finden werden. Verzeihen Sie mir die Bemerkung, aber ich bedaure, daß Sie nicht so wohl zu sein scheinen, als da ich Sie zuletzt sah.«

Um seine Augen und Lippen bebte ein momentanes Zucken, und ich machte mir beinahe Vorwürfe, ihm auf so bedeutungsvoll zurückhaltende Weise geantwortet zu haben.

»Ich hatte kein Recht, nach ihrer Heirath zu fragen,« sagte er mit Bitterkeit, »ich muß warten, bis ich, wie andere Leute, sie in der Zeitung angekündigt sehe. Ja,« fuhr er fort, ehe ich ihm noch meine Entschuldigung machen konnte, »ich bin seit Kurzem nicht wohl gewesen. Ich bedarf einer Veränderung des Aufenthaltes sowohl, als der Beschäftigung. Sie haben einen weiten Bekanntschaftskreis, Mr. Gilmore. Sollten Sie von irgend einer Expedition ins Ausland hören, zu der man einen Zeichner gebrauchte, und keiner von Ihren eignen Bekannten Gebrauch davon zu machen wünschen, da würde ich Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie mich davon benachrichtigen wollten. Ich stehe dafür, daß meine Zeugnisse befriedigend sind, und es ist mir einerlei, wohin ich gehen, in welches Klima, oder wie lange ich werde fortbleiben müssen.« Während er dies sagte, blickte er auf sonderbare, mißtrauische Weise auf die fremde Menge, welche sich zu beiden Seiten an uns vorüber drängte, als ob er argwöhne, daß wir beobachtet würden.

»Wenn ich von irgend Etwas der Art höre, will ich nicht verfehlen, es Sie wissen zu lassen,« sagte ich, und fügte dann, um ihn nicht ganz so kurz über die Fairlie’s abzufertigen, hinzu, »ich reise heute in Geschäften nach Limmeridge. Miß Halcombe und Miß Fairlie sind aber augenblicklich nicht da, sondern auf Besuch bei Bekannten in Yorkshire.«

Seine Augen glänzten und er schien im Begriffe, Etwas zu entgegnen, aber dasselbe nervöse Zucken flog wieder über sein Gesicht. Er nahm meine Hand, drückte sie fest und verschwand, ohne ein Wort weiter zu sagen, unter der Menge. Obgleich er für mich fast ein Fremder war, blieb ich einen Augenblick stehen und sah ihm mit einem Gefühle des Bedauerns nach. Ich hatte in meinem Berufe hinreichende Erfahrungen unter jungen Leuten gemacht, um nach äußeren Anzeichen beurtheilen zu können, wann sie anfingen, auf unrechten Wegen zu gehen; und als ich meinen Weg nach der Eisenbahn fortsetzte, hegte ich, zu meinem Bedauern sage ich es, ernste Zweifel über Mr. Hartright’s Zukunft.



Kapiteltrenner

IV.

Da ich mit einem Frühzuge reiste, kam ich zur Essenszeit in Limmeridge an. Die Leere des Hauses war drückend und trübe. Ich hatte erwartet, daß in Abwesenheit der jungen Damen die gute Mrs. Vesey wenigstens mir Gesellschaft geleistet hätte; aber eine Erkältung fesselte sie an ihr Zimmer. Die Diener waren so erstaunt über meine Ankunft, daß sie in lächerlicher Eile und Aufregung umherwirthschafteten und allerlei ärgerliche Versehen machten. Sogar der Kellermeister, der doch alt genug war, um es besser zu wissen, brachte mir eine Flasche Portwein, die eiskalt war. Die Berichte über Mr. Fairlie’s Befinden waren dieselben wie gewöhnlich, und als ich ihn von meiner Ankunft benachrichtigen ließ, kündigte man mir an, daß er sich freuen werde, mich am folgenden Morgen zu sehen, daß aber die unerwartete Nachricht meiner Ankunft ihn für den Rest des Abends mit Herzklopfen daniedergestreckt habe. Der Wind heulte die ganze Nacht ganz abscheulich, und in dem alten leeren Hause ließen sich allerlei seltsame krachende, stöhnende, Geräusche vernehmen. Ich schlief so schlecht wie möglich, und stand nächsten Morgens in der allerschlechtesten Laune auf, um mein Frühstück allein einzunehmen.

Um zehn Uhr wurde ich zu Mr. Fairlie geführt Er war in seinem gewöhnlichen Zimmer, in seinem gewöhnlichen Lehnstuhle und in seinem gewöhnlichen unerträglichen Körper- und Geisteszustande. Als ich eintrat, stand sein Kammerdiener vor ihm und hielt ihm einen schweren Band von Federzeichnungen zur Besichtigung vor, der so groß und breit war, wie das Pult in meinem Bureau. Der jämmerliche Ausländer grinste auf das Unterwürfigste und war nahe daran, vor Ermüdung umzufallen, während sein Herr ganz gelassen die Blätter umschlug und ihre verborgenen Schönheiten mit Hülfe eines Vergrößerungsglases ans Licht brachte.

»Sie allerbester der besten alten Freunde,« sagte Mr. Fairlie, sich träge zurücklehnend, ehe er mich ansehen konnte, »sind Sie ganz wohl? Wie hübsch von Ihnen, herzukommen und mich in meiner Einsamkeit zu besuchen. Sie lieber Gilmore!«

Ich hatte erwartet, daß er den Kammerdiener nach meinem Erscheinen entlassen werde; aber er dachte nicht daran. Da stand er gerade vor seines Herrn Sessel und zitternd unter dem Gewichte der schweren Zeichnungen; und da saß Mr. Fairlie und drehte voll Seelenruhe das Vergrößerungsglas zwischen einem weißen Daumen und Zeigefinger hin und her.

»Ich bin gekommen, um über eine sehr wichtige Angelegenheit mit Ihnen zu sprechen,« sagte ich, »und Sie werden daher verzeihen, wenn ich vorschlage, daß wir dazu lieber allein sind.«

Der bejammernswürdige Kammerdiener blickte mich dankbar an. Mr. Fairlie wiederholte mit schwacher Stimme meine letzten drei Worte »lieber allein sind« mit allen Anzeichen des unbeschreiblichsten Erstaunens.

Ich war nicht in der Laune für Narrheiten und beschloß daher, ihm begreiflich zu machen, was ich meine.

»Erzeigen Sie mir den Gefallen, diesem Manne da Erlaubniß zu geben, sich zurückzuziehen,« sagte ich, auf den Kammerdiener deutend.

Mr. Fairlie zog in sarkastischem Erstaunen seine Augenbrauen in die Höhe und spitzte verächtlich den Mund.

»Mann!« wiederholte er, »Sie widerwärtigster aller Gilmore, was in aller Welt können Sie damit sagen wollen, daß Sie ihn einen Mann nennen? Er ist nichts dergleichen. Er mag möglicherweise vor einer halben Stunde, ehe ich meine Federzeichnungen gebrauchte, ein Mann gewesen sein und in einer halben Stunde später, wenn ich mit ihm fertig bin, wieder ein Mann werden; aber augenblicklich ist er nichts als ein Mappenhalter. Was können Sie gegen einen Mappenhalter haben, Gilmore?«

»Ich habe allerdings Etwas dagegen und bitte Sie zum dritten Male, Mr. Fairlie, uns allein sein zu lassen.«

Mein Ton und Benehmen ließen ihm keine andere Wahl als meinen Wunsch zu erfüllen. Er sah den Diener an und, indem er verdrießlich auf einen Sessel an seiner Seite deutete:

»Lege die Zeichnungen nieder und geh’ hinaus,« sagte er, »und ärgere mich nicht, indem Du die Stelle verlierst. Hast Du die Stelle verloren oder nicht? Weißt Du ganz gewiß, daß Du sie nicht verloren hast? Und hast Du meine Handglocke so hingestellt, daß ich sie erreichen kann? Ja? Warum zum Teufel gehst Du da nicht?«

Der Kammerdiener ging hinaus Mr. Fairlie drehte sich auf seinem Sessel herum, polirte das Vergrößerungsglas mit seinem zarten Battisttaschentuche und gönnte sich einen Seitenblick auf die offene Mappe von Federzeichnungen. Es war unter diesen Umständen schwer, nicht die Geduld zu verlieren, aber ich verlor sie nicht.

»Ich bin mit großer persönlichen Unbequemlichkeit hergekommen,« sagte ich, »um den Interessen Ihrer Nichte und Ihrer Familie zu dienen, und denke, daß ich mir einigermaßen das Recht erworben, dafür mit Ihrer Aufmerksamkeit beehrt zu werden.«

»Zanken Sie mich nicht aus!« sagte Mr. Fairlie, indem er hülflos in seinen Sessel zurücksank und die Augen schloß. »Bitte, zanken Sie mich nicht aus. Ich bin wirklich nicht stark genug, um es zu ertragen.«

Ich war, um Laura Fairlie’s willen, entschlossen, mich nicht von ihm aufreizen zu lassen.

»Der Zweck meines Besuches,« fuhr ich fort, »ist, Sie ernstlich zu bitten, Ihren Brief wieder zu erwägen und mich nicht zu zwingen, die gerechten Ansprüche Ihrer Nichte und Aller, die zu ihr gehören, aufzugeben. Lassen Sie mich Ihnen die Sache noch einmal und zum letzten Male auseinander setzen.«

Mr. Fairlie schüttelte den Kopf und seufzte jämmerlich.

»Dies ist herzlos von Ihnen, Gilmore – furchtbar herzlos,« sagte er, »einerlei, fahren Sie fort.«

Ich setzte ihm die Sache in allen ihren Punkten und in jedem erdenklichen Lichte auseinander. Während der ganzen Zeit, daß ich sprach, lehnte er sich mit geschlossenen Augen in seinem Sessel zurück. Als ich zu Ende war, öffnete er träge die Augen, nahm sein silbernes Riechfläschchen vom Tische und roch daran mit einer Miene sanften Behagens.

»Sie guter Gilmore,« sagte er in den Pausen zwischen dem Riechen, »wie allerliebst dies von Ihnen ist! Wie Sie Einen mit der Menschheit aussöhnen!«

»Geben Sie mir eine deutliche Antwort auf eine deutliche Frage, Mr. Fairlie. Ich wiederhole es Ihnen, Sir Percival Glyde hat nicht den Schatten eines Rechtes, mehr als die Zinsen des Geldes zu erwarten. Das Geld selbst sollte, falls ihre Nichte keine Kinder hat, unter ihrer Controle sein, und in ihre Familie zurückkehren. Falls Sie fest sind, muß Sir Percival nachgeben – er muß nachgeben, sage ich Ihnen, oder sich der verächtlichen Beschuldigung aussetzen, daß er Miß Fairlie ausschließlich um ihres Geldes willen heirathet.«

Mr. Fairlie drohte mir scherzhaft mit seinem Riechfläschchen.

»Sie lieber alter Gilmore, wie Sie doch Rang und Adel hassen, nicht wahr? Wie Sie den armen Glyde verabscheuen, blos weil er Baronet ist! Was Sie für ein Radikaler sind – o mein Gott, was Sie für ein Radikaler sind!«

Ein Radikaler!!! Ich ließ mir viel gefallen, aber, nachdem ich mein Lebelang ein unerschütterlicher Conservativer gewesen, konnte ich mich nicht einen Radikalen nennen lassen. Mein Blut kochte – ich sprang von meinem Stuhle in die Höhe – ich war sprachlos vor Entrüstung.

»Erschüttern Sie das Zimmer nicht so!« schrie Mr. Fairlie – »um Gottes willen, erschüttern Sie das Zimmer nicht so! Edelster aller Gilmore, ich beabsichtigte keine Beleidigung damit. Meine eignen Ansichten sind so außerordentlich liberal, daß ich glaube, ich bin selbst ein Radikaler. Ja. Wir sind ein Paar Radikale. Bitte, seien Sie nicht böse. Ich kann mich nicht streiten – ich habe nicht Stamina genug dazu. Wollen wir den Gegenstand fallen lassen? Ja. Kommen Sie, und sehen Sie sich diese reizenden Federzeichnungen an. Bitte, lassen Sie mich Sie lehren, das himmlisch Perlenartige dieser Linien zu begreifen. Bitte, Sie lieber guter Gilmore!«

Während er auf diese Weise fortfaselte; faßte ich mich glücklicherweise für meine Selbstachtung wieder. Als ich wieder sprach, war ich ruhig genug, um seine Impertinenz mit der schweigenden Verachtung zu behandeln, welche ihr gebührte.

»Sie sind völlig im Irrthum,« sagte ich, »wenn Sie denken, daß es irgend ein Vorurtheil gegen Sir Percival Glyde ist, das mich so sprechen läßt. Ich bedaure wohl, daß er sich in dieser Angelegenheit so rückhaltslos den Händen seines Advokaten übergeben, daß es uns unmöglich ist, an ihn selbst zu appelliren; aber ich bin auf keine Weise gegen ihn eingenommen. Was ich gesagt habe, würde auf jeden Mann, ob hoch oder niedrig, in seiner Lage anzuwenden sein. Der Grundsatz, den ich zu behaupten wünsche, wird als ein solcher von allen Rechtsgelehrten anerkannt. Falls Sie sich in der nächsten Stadt hier an den ersten besten respectabeln Praktikanten wendeten, so würde er Ihnen, als Fremder, gerade dasselbe sagen, was ich Ihnen als Freund gesagt habe. Er würde Ihnen sagen, daß es gegen jede Regel ist, das Geld der Dame gänzlich dem Manne zu überlassen, der sie heirathet. Er würde, nach ganz gewöhnlicher juristischer Vorsicht, sich weigern, dem Manne ein Interesse von zwanzigtausend Pfund an dem Tode seiner Frau zu geben!«

»Wirklich, Gilmore?« sagte Mr. Fairlie. »Wenn er etwas nur halb so Abscheuliches sagte, so versichere ich Sie, daß ich Louis klingeln und ihn augenblicklich aus dem Hause werfen lassen würde.«

»Sie sollen mich nicht aufreizen, Mr. Fairlie – um Ihrer Nichte und um ihres Vaters willen sollen Sie mich nicht aufreizen. Sie sollen die ganze Verantwortlichkeit dieses schimpflichen Handels auf ihre eigenen Schultern laden, ehe ich dies Zimmer verlasse.«

»Bitte, nein! – o bitte, nein!« sagte Mr. Fairlie. »Bedenken Sie, wie kostbar Ihre Zeit ist, Gilmore, und werfen Sie sie nicht fort. Ich wollte wohl mit Ihnen disputiren, wenn ich es könnte, aber ich kann’s nicht, ich habe nicht das Stamina dazu. Sie wollen mich ärgern; sich selbst ärgern, Glyde ärgern und Laura ärgern, und – mein Gott! das Alles um das allerunwahrscheinlichste Ereigniß von der Welt. Nein, lieber Freund – um der Sache des Friedens und der Ruhe willen, entschieden Nein!«

»Ich soll also darunter verstehen, daß Sie bei dem Entschlusse bleiben, den Sie in Ihrem Briefe aussprechen?«

»Ja, bitte. Freut mich so sehr, daß wir einander endlich verstehen. Setzen Sie sich wieder – bitte!«

Ich ging sofort zur Thüre, und Mr. Fairlie klingelte voll Ergebung mit seinem Handglöckchen. Ehe ich das Zimmer verließ, wandte ich mich um und redete ihn zum letzten Male an.

»Was sich auch immer in Zukunft ereignen möge, Sir,« sagte ich, »erinnern Sie sich wohl, daß ich meine Pflicht gethan, indem ich Sie gewarnt habe. Als treuer Freund und Diener Ihrer Familie sage ich Ihnen zum Abschiede, daß, wenn ich eine Tochter hätte, sie sich nimmer mit einem Manne, wer er auch sei, unter solchen Bedingungen verheirathen sollte«, wie Sie mich für Ihre Nichte zu machen zwingen.«

Die Thüre öffnete sich hinter mir, und der Kammerdiener stand auf der Schwelle und wartete.

»Louis,« sagte Mr. Fairlie, »lasse Mr. Gilmore hinaus und komme dann wieder und halte mir die Mappe vor. »Lassen Sie sich unten ein gutes Frühstück geben, Gilmore – bitte, lassen Sie sich von meinen faulen Eseln von Bedienten ein gutes Frühstück geben.«

Ich war zu entrüstet, um noch Etwas zu entgegnen, und ging daher schweigend hinaus. Es ging Nachmittags um zwei Uhr ein Zug nach London, und mit diesem Zuge kehrte ich zurück.

Am Dienstage sandte ich den veränderten Contract ein, welcher in Wirklichkeit gerade diejenigen Personen enterbte, welche Miß Fairlie mir mit eigenen Lippen als die von ihr gewünschten Erben bezeichnet hatte. Aber ich hatte keine Wahl. Hätte ich mich geweigert, den Contract aufzusetzen, so hätte ein anderer Advocat es gethan.

Meine Aufgabe ist zu Ende. Mein persönlicher Antheil an den Ereignissen in dieser Familiengeschichte erstreckt sich nicht weiter, als bis zu dem Punkte, den ich jetzt erreicht habe. Andere Federn als die meinige werden die seltsamen Umstände beschreiben, welche in Kurzem folgten. Ich schließe diesen kurzen Bericht mit schwerem, kummervollem Herzen. Und mit schwerem, kummervollem Herzen wiederhole ich hier meine Abschiedsworte in Limmeridge House: wenn ich eine Tochter hätte, so sollte sie sich nimmer mit einem Manne, wer er auch sei, unter solchen Bedingungen verheirathen, wie ich für Laura Fairlie zu machen gezwungen war.



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