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Fräulein Minna und der Reitknecht



VII.

In der darauffolgenden Nacht floh mich der Schlaf und ich dachte über das Erlebte nach. Dabei machte ich die Entdeckung, dass eine große Veränderung mit mir vorgegangen sei. Ich fühlte mich wie neugeboren.

Noch niemals war mein Leben der Freude so zugänglich gewesen wie jetzt. Ich war mir einer köstlichen Sinnesfreudigkeit bewusst. Die einfachsten Dinge ergötzten mich; ich war bereit, gegen jedermann freundlich zu sein und alles zu bewundern. Selbst das gewöhnliche Schauspiel meines Ausreitens in den Park enthüllte Schönheiten, die ich vorher niemals wahrgenommen hatte. Der Zauber der Musik rührte mich zu Tränen. Ich war vollständig in meine Hunde und meine Vögel verliebt – und was meine Zofe betraf, so verwirrte ich diese durch Geschenke und gab ihr Ausgehtage, noch ehe sie um solche bitten konnte. In körperlicher Hinsicht fühlte ich außerordentlich erhöhte Kraft und Tätigkeit. Dem lieben alten General gegenüber war ich ein Wildfang und küsste wirklich eines Morgens Frau Claudia, anstatt mich, wie gewöhnlich, von ihr küssen zu lassen. Meine Freundinnen gewahrten diese Äußerungen von Fröhlichkeit und Leben bei mir – und wollten gern wissen, wodurch dies hervorgebracht worden sei. Ich kann aufrichtig sagen, dass ich es auch gerne wissen mochte! Erst in jener schlaflosen Nacht, die unserm Besuche in Michaels Zimmer folgte, gelangte ich zu einem klaren Verständnis meiner selbst. Der nächste Morgen vervollständigte die Aufklärung. Ich unternahm meinen gewöhnlichen Spazierritt. Als ich in den Sattel stieg und Michael mir hierbei behilflich war, überströmte mich ein Gefühl des Glückes wie Feuersglut, und ich wusste nun, wer mich von dem Augenblick an in ein neues Wesen umgewandelt hatte.

Das erste Gefühl der Verwirrung, das mich überwältigte, zu beschreiben, wäre ich unfähig, auch wenn ich geübter im Schreiben wäre.

Ich zog meinen Schleier nieder und ritt in einer Art Verzückung weiter. Zu meinem Glücke lag unser Wohnhaus am Park, und ich hatte nur über die Landstraße zu reiten. Im anderen Fall würde mir, wenn ich durch die Straßen geritten wäre, ohne Zweifel ein Unfall zugestoßen sein. An diesem Tage wusste ich nicht, wohin ich ritt. Das Pferd ging ruhig seinen eigenen Weg – und der Reitknecht folgte mir.

Der Reitknecht! Gibt es ein menschliches Wesen, das von gehässigem, unchristlichen Ahnenstolze so frei ist, wie ein Weib, das zum erstenmal im Leben von ganzem Herzen und von ganzer Seele liebt? Ich sage nur die Wahrheit – in welch ungünstiges Licht dies mich auch stellen mag – wenn ich offen gestehe, dass meine Verwirrung nur eine Folge der Entdeckung meiner Liebe war. Aber ich schämte mich nicht, dass ich Michael liebte. Dem Manne hatte ich mein Herz gegeben; was lag an seiner zufälligen Stellung? Wenn ein anderer Zufall seine Tasche mit Geld füllte und einen Titel vor seinen Namen setzte, würde er in Sprache, Sitte und Talent ein vornehmer, seines Reichtums und seines Ranges würdiger Mann sein.

Selbst die so natürliche Besorgnis, was meine Verwandten und Freundinnen sagen möchten, wenn sie mein Geheimnis erführen, schien mir ein so unwürdiges Gefühl zu sein, dass ich herumblickte und ihm zurief, mit mir zu sprechen, und dass ich Fragen über ihn selbst an ihn richtete, die ihn zwangen, beinahe an meiner Seite zu sein. Ach, wie freute mich die Ehrerbietung und das feine Benehmen, als er mir antwortete! Er wagte es kaum, die Augen zu mir zu erheben, wenn ich nach ihm blickte. In das von mir selbst geschaffene Paradies versunken, ritt ich langsam weiter und wurde erst gewahr, dass Freundinnen an mir vorübergeritten waren und mich erkannt hatten, als ich sah, dass Michael den Hut lüftete. Ich blickte um mich und gewahrte die Damen, die beim Vorüberreiten höhnisch lächelten. Dieser eine Umstand weckte mich aus meinem Traume. Ich ließ Michael wieder auf seinen gewöhnlichen Platz zurückgehen und beschleunigte den Gang meines Pferdes; ärgerlich über mich, ärgerlich über die Welt überhaupt – änderte ich dann plötzlich meine Stimmung, und ich war töricht und kindisch genug, mich dem Weinen nahe zu fühlen. Wie lange diese wechselnden Stimmungen währten, weiß ich nicht. Bei der Rückkunft nach Hause, ließ ich mein Pferd in den Stall laufen, ohne darauf zu warten, dass Michael mir helfe, und eilte ohne Abschiedsgruß ins Haus.


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