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Blinde Liebe

Einunddreißigstes Kapitel.

Mountjoy, dem Doktor Vimpanys Trennung von seiner Frau noch unbekannt war, glaubte, indem er sich die Vorgänge in dem alten Landstädtchen ins Gedächtnis rief, den Grund für Miss Henleys erneuten Verkehr im Hause des Arztes in ihrem Mitgefühl für des Doktors unglückliche Gattin entdeckt zu haben. Entschlossen, sich alsbald Gewissheit darüber zu verschaffen, hielt er die erste Droschke an, die ihm begegnete, und fuhr nach Hampstead. Um nicht unnötigerweise die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, ließ er den Wagen, bevor er noch in Redburn Road eingebogen, halten und ging zu Fuß nach dem Hause No. 5. Ein Dienstmädchen öffnete die Tür. Mountjoy fragte nach Mrs. Vimpany.

Das Mädchen gab nicht sofort Antwort, sondern schien vielmehr über Mountjoys einfache Frage höchlich verwundert. Die kecke Art, mit der sie den Fremden vom Kopf bis zu den Füßen musterte, kennzeichnete sofort den echten Londoner Dienstboten von heutzutage, der sich für gleichberechtigt mit jedermann hält.

»Fragten Sie nicht nach Mrs. Vimpany?« sagte sie laut.

»Ja.«

»Es gibt keine Mrs. Vimpany hier.«

Jetzt war die Reihe an Mountjoy, verwundert zu sein.

»Ist das nicht Mr. Vimpanys Haus?« fragte er.

»Ja, gewiss.«

»Und doch ist keine Mrs. Vimpany hier?«

»Eine Mrs. Vimpany hat niemals diese Schwelle überschritten,« erklärte das Mädchen bestimmt.

»Sind Sie auch wirklich sicher, sich nicht zu irren?«

»Ganz sicher. Ich bin in dem Dienst des Doktors, seit er das Haus gekauft hat.« Mountjoy war fest entschlossen, das Rätsel zu lösen, wenn es irgendwie möglich wäre, und fragte daher, ob er den Doltor sprechen könnte.

»Nein,« antwortete das Mädchen. »Mr. Vim-pany ist ausgegangen.« Dann fuhr sie redselig fort: »Es kommt aber immer eine junge Dame zu uns; es sollte mich nicht wundern, wenn Sie die gemeint hätten, als Sie nach Mrs. Vimpany fragten. Sie heißt Iris Henley.«

»Ist Miss Henley jetzt hier im Hause?« »Sie können sie nicht sprechen, sie ist beschäftigt.« Mit Mrs. Vimpany konnte Iris nicht beschäftigt sein, denn es gab ja überhaupt keine Mrs. Vimpany hier im Hause. Mit dem Doktor konnte sie aber auch nicht beschäftigt sein, denn der Doktor war ausgegangen. Mountjoy sah nach dem Kleiderständer, der im Vorplatz stand, und entdeckte den Hut und den Überzieher eines Mannes. Wem gehörten diese beiden Kleidungsstücke? Sicherlich nicht Mr. Vimpany, denn der war ja ausgegangen. So niederschlagend diese Entdeckung auf Hugh auch wirkte, so erschien ihm jetzt doch Mr. Henleys Gedanke, dass die Erklärung für das Benehmen seiner Tochter in einem erneuerten Einfluss, den der irische Lord über sie gewonnen, zu suchen sei, in einem wahrscheinlicheren Licht.

Ein Gefühl des Unwillens stieg in Mountjoy auf, das er weder zu unterdrücken noch vor sich selbst zu rechtfertigen im stande war.   Mochte nun kommen, was wollte, er war entschlossen, die Zweifel, deren er sich schämte, zu lösen, indem er sich unmittelbar an Iris wandte. Er zog seine Visitenkartentasche heraus, fand sie aber beim Öffnen leer. Er hatte jedoch noch einige Briefe bei sich, die unter seiner Adresse in sein Londoner Hotel geschickt worden waren. Er riss von einem das Couvert ab und händigte es dem Dienstmädchen mit den Worten ein:

»Bringen Sie dies Miss Henley und fragen Sie, ob ich sie sprechen kann.« Das Mädchen ließ ihn in dem Hausflur stehen und ging die Treppe hinauf in das Empfangszimmer.

In dem schlecht gebauten kleinen Hause konnte Hugh den schweren Tritt eines Mannes hören, welcher in dem Zimmer über seinem Kopf hin und her ging. Dann vernahm er auch deutlich eine ärgerlich klingende Männerstimme. Hatte sie ihm schon das Recht gegeben, mit ihr zu zanken? - Er dachte an die Zeit, als sie das Bekanntwerden von Lord Harrys rachsüchtigen Plänen, zu deren Ausführung er England verlassen hatte, in heftigen Schrecken setzte, - er dachte der Zeit, als er seine eigenen Gefühle und alles, was er sich selbst schuldig war, um ihretwillen ganz beiseite setzte und ihr behilflich war, brieflich mit dem Mann zu verkehren, dessen verhängnisvolle Gewalt über Iris sein eigenes Leben verbittert hatte. War das, was er jetzt hörte, der Lohn, den er verdiente?

Nach kurzer Abwesenheit kam das Dienstmädchen zurück und überbrachte ihm eine Botschaft von Iris.

»Miss Henley bittet um Entschuldigung, dass sie Sie jetzt nicht empfangen kann; sie wird an Sie schreiben.« Würde der versprochene Brief den anderen Briefen ähnlich sein, welche sie ihm nach Schottland geschickt hatte? Mountjoys vornehme Natur mahnte ihn, dass er es seiner Erinnerung an glücklichere Tage und seiner treuen, aufrichtigen Freundschaft schuldig sei, das Weitere abzuwarten.

Als er eben wieder in seinen Wagen stieg, um nach London zurückzukehren, fuhr ein anderer geschlossener Wagen in der Richtung nach Redburn Road an ihm vorüber, in welchem ein einzelner Mann saß. Hugh erkannte in ihm Mr. Henley. Als der Kutscher auf seinen Sitz hinaufstieg, sah Mountjoy noch, dass der Wagen vor dem Hause No. 5 anhielt.


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