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In der Dämmerstunde

Die Erzählung des Professors von der gelben Maske



Zweites Kapitel.

Der Tod von Magdalene d’Ascoli verursachte eine große Veränderung in dem Leben ihres Vaters und ihres Onkels. Luca Lomi erklärte, es sei ihm unmöglich, noch länger in seinem Atelier zu arbeiten, wo seine Tochter so oft mit ihm verweilt habe. Er hatte in Neapel einige Bestellungen erhalten und war nach dieser Stadt gegangen, um dort zu arbeiten. Die Aufsicht über sein Atelier zu Pisa hatte er ganz seinem Bruder überlassen.

Nachdem der Meister abgereist war, ließ Pater Rocco die Bildsäulen und Büsten in dem Atelier seines Bruders mit Leinwand überziehen, verriegelte alle Türen, schloss alle Fenster und arbeitete nie wieder an dem Orte. wo sonst sein Lieblingsaufenthalt gewesen war.

Seinen Pflichten als Seelsorger kam er nach wie vor gewissenhaft nach. Seine regelmäßigen Visiten nach dem Palast d’Ascoli gingen nur bis zu der Lage des Portiers, dort fragte er nach dem Befinden des Kindes, welches unter der Fürsorge der besten Amme, die man hatte finden können, geblieben war.

Über Nanina hatte der Priester durch seinen Bekannten aus Florenz in Erfahrung gebracht, dass dieselbe bei einer der anständigsten Damen der Stadt beschäftigt sei. Er traf keine Anstalten dazu, sich bei dem jungen Mädchen zu rechtfertigen, sondern beauftragte nur seinen kleinen, höflichen Berichterstatter zu Florenz, ihm es anzuzeigen, sobald Nanina diese Stellung wieder verlassen sollte.

Die Verehrer des Paters behaupteten, dass sich derselbe je älter er werde, je mehr von den irdischen Beschäftigungen zurückziehe. Seine Feinde dagegen sagten, dass der Pater in diesem scheinbar unbeschäftigten Zustande Böses ausgrübele.

Dem Priester waren das Lob wie der Tadel gleichgültig. Er lebte weiter, wie es ihm beliebte.

Als Fabio nach Pisa zurückkehrte, war Rocco einer der Ersten, die ihn bewillkommneten. Diese erste Begegnung mochte jedoch nicht besonders freundlich geendet haben, denn Rocco wiederholte seine Besuche im Palast d’Ascoli nicht.

Er musste wohl einige Worte zu dem Wohle des jungen Mannes ausgesprochen haben, die diesem unbehaglich erschienen waren. — Die Leute wunderten sich ein wenig über den scheinbaren Bruch der beiden Verwandten, aber da die Menge gerade der Maskenball des Marquis Melani stark beschäftigte, so achtete sie nicht lange darauf.

Pater Rocco schien auch nun die Haupttrauer abgelegt zu haben, denn er öffnete das Atelier und ging wie früher seiner Lieblingsbeschäftigung, der Bildhauerkunst, nach.

Die Gehilfen Lomi’s meldeten sich, aber sie wurden nicht angenommen, da Rocco nur allein arbeiten wollte.

Die Leute, welche kamen das Atelier zu besuchen, wurden ebenfalls mit der Bemerkung abgewiesen, dass man ihnen nichts Neues zu zeigen habe.

So verging die Zeit, bis Nanina ihren Aufenthalt zu Florenz verließ. Es wurde dem Pater getreu Bericht darüber erstattet, aber er bemühte sich nicht, das junge Mädchen aufzusuchen; war er zu vertieft in seine Kunst, oder hatte er nicht Lust, sich deren Unwillen auszusetzen, man konnte es nicht genau bestimmen.

Am Morgen vor dem Balltage bedeckte der Pater Künstler seine Statuen aufs Neue, verschloss die Türen des Ateliers fest und begab sich in seine Wohnung. Es kamen einige Freunde zu ihm, aber er verweigerte es, sie zu empfangen, da er unwohl sei. — Hätten sie in sein Studierzimmer dringen können, so würden sie Rocco in der Tat furchtbar bleich und abgespannt gefunden haben.

Als sein Haushälter ihn am Abend des Tages drängte, etwas Speise und Trank zu sich nehmen zu wollen, erhielt er, zum ersten Mal in seiner Dienstzeit, einen recht scharfen Verweis.

Etwas später musste er mit einem Briefe nach dem Palast d’Ascoli gehen. Gleich darnach kam Fabio’s Diener mit der Antwort.

»Ah, die Beiden sind wieder befreundet, wie es scheint,« sagte der Haushälter zu sich selbst. Pater Rocco musste sich wohler fühlen, denn er rüstete sich zum Fortgehen und sagte zu dem Haushälter:

»Wenn Jemand nach mir fragen sollte, so können Sie ihn benachrichtigen, dass ich im Palast d’Ascoli bin.«

Doch der Pater ging noch einmal an seine Tür zurück und versuchte, ob dieselbe auch fest verschlossen sei.

Dann ging er.

Er fand Fabio in seinem Zimmer auf- und abgehend; er schien schlechter Laune zu sein, trotzdem ein schwarzer Domino für den Ball auf dem Tische ausgebreitet lag. Fabio hielt ein zerknittertes Stück Papier in der Hand.

»Ich wollte Ihnen eben schreiben, als ich Ihren Brief erhielt, der mir Ihre Freundschaft aufs Neue anbietet und, — die ich auch annehme,« begann Fabio. »Ich wurde freilich erzürnt darüber, dass Sie mir eine zweite Heirat förmlich verboten, und ich gebrauchte vielleicht Ausdrücke, die ich jetzt bereue, und für die ich um Verzeihung bitte. Es scheint übrigens, dass Sie es nicht allein sind, der sich für meine Wiederverheiratung interessiert, denn nachdem es bekannt wurde, dass ich den Ball bei Melani besuchen wolle, erhielt ich hier diesen infamen anonymen Brief! Hier-lesen Sie ihn selbst!«

Pater Rocco beschattete seine Augen, setzte sich zu der Lampe und las:

»Graf Fabio! In Pisa spricht man davon, dass Sie damit umgehen, sich wieder zu verheiraten. Da Sie die Einladung zu dem Balle im Palast Melani angenommen haben, so bestätigen Sie dies Gerücht. — Denn ein Witwer Ihres Standes begibt sich nicht ohne besondere Absichten unter die lachenden Frauen der Gesellschaft. Ändern Sie Ihren Beschluss und bleiben Sie zu Hause. Ich kenne Sie und kannte Ihre Gattin und ich ermahne Sie feierlichst: »Sie dürfen nie wieder heiraten!«

»Schlagen Sie meinen Rat in den Wind, so werden Sie es bis an das Ende Ihres Lebens zu bereuen haben. Ich habe ernste, sehr ernste Beweggründe zu meiner Warnung.

»Wenn Sie Ihrem Weibe »die Grabesruhe« gönnen, so besuchen Sie diesen Ball nicht!«

»Jetzt frage ich Sie und jeden Anderen, ob das nicht infam ist?« sagte Fabio, als der Priester ihm den Brief zurückgab. »Man versucht es, mich mit meinem armen toten Weibe zu erschrecken. Ich selbst denke kaum an eine zweite Ehe! Wessen Interesse kann es also sein, dass ich den Ball nicht besuche? Was bedeutet diese Phrase von der »Grabesruhe« meines verstorbenen Weibes? Können Sie mir Aufschluss geben, wer diesen niederträchtigen Brief geschrieben hat? Um des Himmelswillen, so sprechen Sie doch wenigstens!«

Der Priester stützte seinen Kopf auf seine Hand und sagte in seiner ruhigsten Tonart:

»Ich kann nicht früher sprechen, bis ich darüber nachgedacht haben werdet Das Geheimnis dieses Briefes ist nicht so schnell ergründet! — Er enthält Dinge, die Jedermann bestürzt machen und in Erstaunen setzen würden.«

»Welche Dinge?« fragte Fabio.

»Ich kann jetzt nicht darauf antworten,« erwiderte der Priester.

»Sie tun so geheimnisvoll, haben Sie mir nichts Bestimmtes darüber zu sagen?« fragte Fabio.

»Ja, ich ersuche Sie ebenfalls, nicht auf den Ball zu gehen. —«

»So! Und weshalb?«

»Wenn ich Ihnen meine Gründe nenne, so werden Sie wieder böse werden.«

»Pater Rocco,« sagte Fabio schnell, »Sie sprechen in Rätseln und sitzen dort im Dunkeln, um mir Ihr Gesicht zu verbergen; warum geschieht das?«

Der Priester blickte in die Höhe und brachte sein Gesicht in die volle Beleuchtung der Lampe.

»Ich rate Ihnen doch, höflicher mit mir zu verfahren,« sagte er zu dem Witwer, »und Ihre Worte mehr zu erwägen!«

»Wir wollen das Gespräch nicht weiter fortsetzen,« sagte Fabio, »ich habe nur noch eine Frage an Sie und dann nichts mehr.«

Der Priester neigte seinen Kopf wieder zu seiner Brust und schien zum Hören bereit, und zwar so, dass jeder Zug seines Gesichts voll beleuchtet war.

»Ich frage Sie, da Sie der Beichtvater und der Vertraute meines verstorbenen Weibes waren, ob diese gegen Sie oder irgend Jemand, einst den Wunsch ausgesprochen hat, dass ich mich in dem Falle, dass ich sie überleben sollte, nicht wieder verheiraten möge. Sprach sie nie zu Ihnen diesen Wunsch aus?«

»Sprach Sie nie zu Ihnen diesen Wunsch aus?« fragte Rocco.

»Weshalb stellen Sie eine Frage, wo ich eine Antwort erwarte?« bemerkte Fabio.

»Weil es mir nicht erlaubt ist, Fragen zu beantworten, die vielleicht ein Beichtgeheimnis berühren.« entgegnete der Priester.

»Wir haben genug gesprochen,« rief Fabio und drehte dem Priester den Rücken; »ich hoffte, Sie würden mir ein Geheimnis aufdecken helfen, statt dessen vergrößern Sie dasselbe. Und ich erkläre hiermit, dass kein Macht der Erde mich von dem Besuche des heutigen Maskenballes abhalten soll!«

»Keine Erden-macht!« wiederholte Rocco langsam und mit seltsamem Lächeln, »abergläubischer Graf Fabio! Fürchten Sie nicht die Macht einer andern Welt, die sich auch leicht bei den Maskenbällen der Sterblichen geltend machen könnte?«

Fabio blickte überrascht in das Gesicht des Priesters. Dieser fuhr fort:

»Sie finden, es ist besser unsere Unterhaltung nicht fortzusetzen. Ich denke, Sie haben Recht, trennen wir uns jetzt, so trennen wir uns noch als Freunde. Sie haben meine Warnung, nicht den Ball zu besuchen; jetzt Thun Sie, was Ihnen beliebt. Gute Nacht!«

Mit diesen Worten ging der Priester fort.


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