Namenlos
IV.
Miss Garth an Magdalene.
Westmoreland-House, den l. Juli 1847.
Liebe Magdalene!
Fürchten Sie nicht, nutzlose Vorwürfe zu lesen, wenn Sie meine Handschrift erblicken. Der einzige Zweck dieser Zeilen ist, Ihnen Etwas mitzutheilen, was Ihre Schwester ihrerseits Ihnen gewiß nicht sagen wird. Sie weiß kein Wort davon, daß ich an Sie schreibe. Sagen Sie ihr auch Nichts davon, wenn Sie ihr unnöthige Besorgniß und mir unnöthigen Kummer ersparen wollen.
Noras Brief meldet Ihnen ohne Zweifel, daß sie ihre Stelle ausgegeben hat. Ich halte es für meine traurige Pflicht, hinzuzufügen, daß sie dieselbe um Ihretwillen aufgegeben hat.
Die Sache ging so zu; Die Herren Wyath Pendril und Gwilt sind die Sachwalter desjenigen Herrn, in dessen Familie Nora ihre Stelle hat. Der Lebensberuf, den Sie sich gewählt haben, ist bereits seit letztem December allen drei Herren bekannt. Sie wurden bei einer Vorstellung zu Derby von der Person entdeckt, welche Sie in York hatte suchen sollen, und diese Entdeckung wurde vor einigen Tagen von Mr. Wyatt Noras Principal mitgetheilt als Antwort auf eine directe Anfrage über Sie von Seiten jenes Herrn. Seine Gattin und seine Mutter (welche bei ihm lebt) hatten ausdrücklich gewünscht, daß er jene Nachforschungen anstelle, da sie durch Noras ausweichende Antworten auf alle ihre Schwester betreffenden Fragen argwöhnisch geworden waren. Sie kennen Nora zu gut, um sie darob zu tadeln. Ausflüchte waren der einzige Ausweg, den ihr Ihr gegenwärtiges Leben übrig ließ, um nicht eine grobe Unwahrheit zu sagen.
Denselben Tag ließen die beiden Damen des Hauses, die ältere und die jüngere, Ihre Schwester vor sich kommen und sagten ihr, daß sie erfahren hätten, Sie träten öffentlich auf und zögen unter angenommenem Namen im Lande von Ort zu Ort. Sie waren gerecht genug, um Nora nicht darob zur Rechenschaft zu ziehen, sie waren gerecht genug, anzuerkennen, daß ihre Führung untadellos sei, wie ich es ihnen verbürgt hatte, als ich ihr die Stelle verschaffte. Aber zugleich machten sie es ihr zur unerläßlichen Bedingung, falls sie länger in ihren Diensten bleiben wolle, daß sie Ihnen niemals erlauben dürfe, sie in deren Hause zu besuchen oder sie zu treffen und mit ihr auszugehen, wenn sie die Kinder bei sich hätte. Ihre Schwester, welche mit Geduld Alles hingenommen hatte, was ihr selbst aufgebürdet wurde, fühlte augenblicklich den auf Sie geworfenen schnöden Vorwurf. Sie verwies Dies ihrer Herrschaft sofort mit aller Entschiedenheit. Stolze orte folgten, und sie verließ noch denselben Abend das Haus.
Es fällt mir nicht ein, Sie dadurch unnöthig in Betrübnis; zu versetzen, daß ich Ihnen den Verlust dieser Stelle als ein Unglück darstellte. Nora fühlte sich nicht so glücklich in derselben, als ich gehofft und vorausgesetzt hatte. Unmöglich konnte ich vorher wissen, daß die Kinder ungezogen und unbändig waren, noch daß die Mutter des Eheherrn jeder Person im Hause ihre Herrschsucht fühlen ließ. Ich will gern zugeben, wie gut es ist, daß Nora aus dieser Stellung heraus ist. Aber der Kummer hört hier nicht auf. Denn nach Allem, was wir, Sie und ich, Gegentheiliges wissen, wird der Kummer fortdauern. Was in dieser Stelle vor vorgefallen ist, kann auch in einer andern vorfallen. Ihre Lebensweise ——, wie tadellos Ihre Ausführung auch immer sein mag, und ich will Ihnen ja die Gerechtigkeit widerfahren lassen, zu glauben, daß sie tadellos ist —— ist für alle anständigen Leute eine verdächtige. Ich habe lange genug in dieser Welt gelebt, um zu wissen, daß neun Zehntel der englischen Frauen in ihrem Gefühl für Anstand und gute Sitte keine Rücksicht nehmen und keine Gnade kennen. Noras nächste Herrschaft kann Sie wieder aufspüren, und Nora wird möglicherweise ihre nächste Stelle wieder aufgeben müssen, ohne daß wir uns je wieder in der Lage befinden, ihr einen Ersatz, für dieselbe schaffen zu können.
Ich überlasse Ihnen, Dies zu bedenken. Mein Kind, denken Sie ja nicht, daß ich hart gegen Sie bin. Ich bin nur besorgt für die Ruhe Ihrer Schwester. Wenn Sie die Vergangenheit vergessen und zurückkehren wollen, Magdalene, so Vertrauen Sie Ihrer alten Gouvernante, sie wird dieselbe auch vergessen und Ihnen eine Heimath bereiten, wie sie Ihr Vater und Ihre Mutter einstmals ihr selber bereitet haben.
Allezeit, meine Liebe, Ihre getreue Freundin,
Harriet Garth.
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