Namenlos
Zehntes Buch.
Zwischenscene in Briefen.
I.
Mrs. Noël Vanstone an Mr. Loscombe
St. Johns Wood,
Parkterrasse den 5. November.
Lieber Herr!
Ich kam gestern zum Zweck eines Besuches bei Verwandten nach London, indem ich Mr. Vanstone auf Villa Baliol zurückließ und vorhatte, im Laufe der Woche zu ihm zurückzukehren. Ich langte sehr spät in London an und fuhr nach dieser Wohnung, nachdem ich mir vorher ein Zimmer bestellt hatte.
Die Post von diesem Morgen hat mir einen Brief von meiner Kammerjungfer gebracht, welche ich in Villa Baliol zurückgelassen mit der Weisung, mir Augenblicks zu schreiben, wenn etwas Außerordentliches in meiner Abwesenheit vorfallen sollte. Sie werden den Brief des Mädchens im Einschluß finden. Ich kenne es lange genug und glaube, daß man sich auf dasselbe verlassen kann und es durchweg die Wahrheit sagt.
Ich enthalte mich absichtlich, Sie unnöthiger Weise durch eine Erwähnung meiner Person zu behelligen. Wenn Sie den Brief meiner Kammerjungfer gelesen haben werden, werden Sie den Eindruck begreifen, den die darin enthaltene Nachricht auf mich gemacht hat. Ich kann nur wiederholen, daß ich in deren Angaben unbedingtes Vertrauen setze. Ich bin fest überzeugt, daß meines Mannes frühere Haushälterin ihn ausfindig gemacht, in meiner Abwesenheit dessen Schwäche benutzt und ihn vermocht hat, ein anderes Testament aufzusetzen. Nach Dem, was ich von der Person weiß, hege ich nicht den geringsten Zweifel, daß sie ihren Einfluß auf Mr. Vanstone angewandt hat, um mich womöglich alles künftigen Genusses an meines Mannes Vermögen verlustig zu machen.
Unter solchen Umständen ist es im höchsten Grade von Wichtigkeit, aus mehr Gründen, als ich hier zu erwähnen brauche, daß ich Mr. Vanstone sehen und bei der ersten besten Gelegenheit zu einer Erklärung mit ihm gelangen kann. Sie werden finden, daß meine Jungfer ihren Brief absichtlich bis zum letzten Augenblick offen ließ, wo der Postschluß war, ohne jedoch mir weitere Nachrichten geben zu können, als, daß Mrs. Lecount diese Nacht in der Villa schlafen sollte und daß sie und Mr. Vanstone heute früh zusammen abreisen wollten. Aber was diesen letzten Theil der Mittheilung anlangt, so hätte ich eigentlich schon jetzt unterwegs nach Schottland sein sollen. Wie die Sache liegt, kann ich mich nicht entschließen, was ich zunächst thun soll. Meine Rückreise nach Dumfries, nachdem Mr. Vanstone es verlassen hat, scheint wie eine Reise ins Blaue, und mein Verbleiben in London sieht beinahe ebenso unnütz aus.
Wollen Sie so gütig sein, mir in dieser Schwierigkeit Ihren Rath geben? Ich will zu Ihnen nach Lincoln’s Inn kommen, diesen Nachmittag oder morgen zu jeder Zeit, welche Sie nur immer mir angeben wollen. Meine nächsten paar Stunden sind besetzt. Sobald dieser Brief abgefertigt ist, gehe ich nach Kensington, um zu erfahren, ob gewisse Befürchtungen, die ich über die Mittel fühle, durch welche Mrs. Lecount ihre Entdeckung bewerkstelligt hat, begründet sind oder nicht. Wenn Sie mir umgehend Ihre Antwort zugehen lassen, so werde ich nicht verfehlen, in St. John’s Wood zu rechter Zeit zurück zu sein, um sie in Empfang zu nehmen. Genehmigen Sie die Versicherung meiner Ergebenheit als Ihre
Magdalene Vanstone.