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Armadale



Neuntes Kapitel.

Es regnete die ganze Nacht, und als der Morgen kam, regnete es noch immer.

Midwinter wartete, gegen seine Gewohnheit, bereits im Frühstückszimmer, als Allan in dasselbe eintrat. Er sah matt und abgespannt aus, aber sein Lächeln war milder und sein ganzes Wesen ruhiger, als gewöhnlich. Zu Allan’s großer Ueberraschung brachte er, sowie der Diener das Zimmer verlassen, den Gegenstand ihrer Unterhaltung vom gestrigen Abend selbst zur Sprache.

»Ich fürchte, Du hast mich gestern Abend sehr ungeduldig und gereizt gefunden«, sagte er. »Ich will dies heute Morgen wieder gut zu machen suchen. Ich bin Alles anzuhören bereit, was Du mir in Bezug auf Miß Gwilt sagen möchtest.«

»Ich möchte Dich nicht gern damit quälen«, sagte Allan. »Du siehst aus, als ob Du schlecht geschlafen hättest.«

»Schon seit einiger Zeit habe ich nicht gut geschlafen«, erwiderte Midwinter ruhig. »Es ist Etwas nicht in Ordnung mit mir. Aber ich glaube das Mittel entdeckt zu haben, mich, selbst ohne ärztlichen Beistand, wiederherzustellen. Ich werde nachher mit Dir darüber sprechen. Laß uns zuvor auf das zurückkommen, wovon Du gestern Abend sprachst. Du erwähntest einer Verlegenheit ——« Er stockte und endete den Satz mit so leiser Stimme, daß Allan ihn nicht hören konnte. »Es wäre vielleicht besser«, fuhr er fort, »wenn Du, anstatt mit mir zu sprechen, Dich an Mr. Brock wenden wolltest.«

»Ich möchte lieber mit Dir sprechen«, entgegnete Allan. »Doch sage mir zuvor, ob ich gestern Abend Recht oder Unrecht hatte, wenn ich dachte, Du mißbilligtest mein Interesse für Miß Gwilt?«

Midwinters hageren, nervösen Finger begannen das Brod auf seinem Teller zu zerkrümeln. Zum ersten Male wandte er den Blick von Allan ab.

»Wenn Du irgendeinen Einwand dagegen zu erheben hast, so möchte ich denselben hören«, fuhr Allan fort.

Midwinter blickte plötzlich mit leichenblassen Wangen wieder auf und heftete seine funkelnden schwarzen Augen fest auf Allanss Gesicht.

»Du liebst sie«, sagte er. »Liebt sie Dich?«

»Du wirst mich nicht für eingebildet halten?« erwiderte Allan. »Ich sagte Dir gestern Abend, daß ich Gelegenheit gehabt, sie heimlich zu sehen ——«

Midwinters Blicke senkten sich wieder zu den Brodkrumen auf seinem Teller nieder. »Ich verstehe«, unterbrach er ihn schnell. »Du hast Dich gestern Abend getäuscht. Ich hatte nichts einzuwenden.«

»Gratulierst Du mir nicht?« fragte Allan ein wenig unruhig. »Ein so,schönes, ein so gescheidtes Weib!«

Midwinter reichte ihm die Hand. »Ich bin Dir mehr als blose Glückwünsche schuldig«, sagte er. »Bei Allem, was zu Deinem Glücke beiträgt, bin ich Dir meinen Beistand schuldig« Er drückte Allan’s Hand mit nervöser Heftigkeit »Kann ich Dir behilflich sein?« fragte er immer mehr erbleichend.

»Mein lieber Junge!« rief Allan aus. »Was fehlt Dir nur? Deine Hand ist eiskalt.«

Midwinter lächelte matt. »Ich bewege mich stets in Extremen«, sagte er; »als Du mir im alten Dorfwirthshause jener westlichen Grafschaft zum ersten Male die Hand reichtest, war diese so heiß, wie Feuer. Laß mich von jener Schwierigkeit hören, über die Du Dich noch nicht ausgesprochen hast. Du bist jung, reich, Dein eigener Herr —— und sie liebt Dich. Was kann da noch im Wege liegen?«

Allan zögerte. »Ich weiß kaum, wie ich mich darüber ausdrücken soll«, erwiderte er. »Wie Du sagst —— ich liebe sie und sie liebt mich —— und dennoch ist etwas Fremdes zwischen uns. Man schwatzt ziemlich viel von sich selber, wenn man verliebt ist —— ich wenigstens thue dies. Ich habe ihr Alles von mir und meiner Mutter erzählt und wie ich zu diesen Gütern kam und alles Uebrige. Nun —— obgleich mir dies nicht ausfällt, solange wir beisammen sind —— kommt mir doch, wenn ich von ihr fort bin, hin und wieder der Gedanke, daß sie ihrerseits nicht viel sagt. Ja, ich weiß nicht mehr über sie, als Du von ihr weißt?«

»Meinst Du damit, daß Du nichts von Miß Gwilt’s Familie und Angehörigen weißt?«

»Das ist’s —— genau, was ich sagen will.«

»Hast Du sie nie darüber gefragt?«

»Ich sagte neulich etwas der Art«, erwiderte Allan, »und ich fürchte, daß ich es wie gewöhnlich falsch angefangen habe. Sie sah —— ich kann Dir’s nicht beschreiben, nicht gerade verdrossen aus, aber —— o, was vermögen nicht Worte! Ich gäbe die Welt darum, Mitwinter, wenn ich Deine Geschicklichkeit besäße im rechten Augenblicke das rechte Wort zu finden.«

»Sagte Miß Gwilt irgendetwas zur Erwiderung?«

»Das ist gerade, was ich Dir soeben mittheilen wollte. Sie sagte: »Ich werde Ihnen eines Tages eine traurige Geschichte von mir und meiner Familie zu erzählen haben, Mr. Armadale, aber Sie sehen so glücklich aus, und die Umstände sind von so trauriger Art, daß ich kaum den Muth besitze, jetzt davon zu sprechen.« Ach, sie weiß sich auszudrücken, mit Thränen in den Augen, mein lieber Junge, mit Thränen in den Augen? Ich gab natürlich dem Gespräch sofort eine andere Wendung, und jetzt ist die Schwierigkeit die, wie ich auf den Gegenstand zurückkommen kann, —— mit Zartgefühl, und ohne sie abermals weinen zu machen. Wir müssen darauf zurückkommen, wie Du einsehen wirst. Nicht etwa meinetwegen; ich bin es vollkommen zufrieden, sie zunächst zu heirathen und dann erst von ihren traurigen Familienverhältnissen zu hören, die Aermste! Aber ich kenne Mr. Brock. Wenn ich ihm bei Mittheilung der Geschichte, was ich natürlich thun muß, nicht über ihre Familie zufriedenzustellen im Stande bin, so wird er von Grund auf gegen die ganze Sache sein. Ich bin natürlich mein eigener Herr und kann thun, was mir beliebt. Aber der liebe alte Brock war ein so guter Freund meiner armen lieben Mutter und ist auch mir ein so guter Freund gewesen —— Du verstehst mich, nicht wahr?«

»Gewiß, Allan; Mr. Brock ist Dir ein zweiter Vater gewesen. Eine Differenz zwischen Euch in einer so ernsten Sache wie diese würde für Euch beide höchst schmerzlich sein. Du mußt ihn überzeugen, daß Miß Gwilt, und ich bezweifle nicht, daß sie dies beweisen wird, in jeder Beziehung würdig ist ——« Die Stimme versagte ihm wider seinen Willen und er ließ den Satz unbeendet.

»Ganz mein Gefühl in der Sache« unterbrach ihn Allan redselig. »Jetzt können wir zu dem kommen, worüber ich Dich besonders zu Rathe ziehen wollte. Wenn Du in meiner Lage wärest, Midwinter, so würdest Du ihr die rechten Worte sagen können —— Du würdest es zart thun, selbst wenn Du dabei völlig im Dunkeln tappen müßtest. Dies kann ich aber nicht. Ich bin ein fürchterlicher Pfuscher, ich habe eine schreckliche Angst,- daß ich, wenn ich nicht gleich zu Anfang einen Wink erhalte, der mir zur Wahrheit verhilft, etwas sagen dürfte, was sie betrüben würde. Familienkummer ist eine so delicate Angelegenheit, —— namentlich bei einem so zartfühlenden, weichherzigen Wesen, wie Miß Gwilt. Es mag irgendeinen schrecklichen Todesfall in der Familie gegeben haben —— irgendein Verwandter, der Schande auf sich geladen —— irgend eine niederträchtige Grausamkeit, die das arme Ding gezwungen hat, als Erzieherin in die Welt hinauszugehen. Nun, da ich der Sache nachdachte, fiel es mir ein, daß der Major mich vielleicht auf die rechte Spur leiten könne. Die Wahrscheinlichkeit liegt nahe, daß er von Miß Gwilt’s Familienverhälnissen unterrichtet worden ist, ehe er sie als Erzieherin annahm —— meinst Du nicht?«

»Das ist allerdings möglich, Allan.«

»Abermals meine Ansicht! Ich denke daher, mit dem Major zu sprechen. Wenn ich die Geschichte zuvor von ihm erfahren könnte, würde ich dann so viel besser mit Miß Gwilt darüber sprechen können. Du räthst mir, es mit dem Major zu versuchen, nicht wahr?«

Eine Pause trat ein, ehe Midwinter antwortete. Als er endlich erwiderte, geschah dies mit einigem Widerstreben.

»Kaum weiß ich, was ich Dir rathen« soll, Allan«, sagte er. »Es ist dies eine sehr heikle Sache.«

»Ich glaube, daß Du es an meiner Stelle bei dem Major versuchen würdest«, entgegnete Allan, der ihm eigenen subjectiven Anschauung Worte leihend.

»Wohl möglich«, sagte Midwinter mit immer größerem Zögern. »Doch wenn ich wirklich mit dem Major spräche, würde ich mich an Deiner Stelle sehr in Acht nehmen, mich nicht in eine schiefe Stellung zu bringen —— ich würde sehr vorsichtig sein, um bei Niemandem der Niedrigkeit verdächtig zu werden, als ob ich hinter dem Rücken eines Weibes mich in dessen Geheimnisse eindrängen wolle.«

Allan wurde dunkelroth. »Gerechter Himmel, Midwinter«, rief er aus, »wer könnte solchen Argwohn gegen mich hegen?«

»Niemand, Allan, der Dich wirklich kennt.«

»Der Major kennt mich. Der Major ist der letzte Mensch in der Welt, der mich mißverstehen würde. Alles, was ich von ihm verlange, ist, daß er, wenn er es vermag, mir behilflich ist, über diesen delicaten Punkt mit Miß Gwilt sprechen zu können, ohne ihre Gefühle zu verletzen. Kann es zwischen zwei Ehrenmännern wohl etwas Einfacheres geben?«

Anstatt hierauf zu antworten, richtete Midwinter noch mit gezwungenem Wesen eine. Frage an ihn. »Beabsichtigst Du, Major Milroy von dem in Kenntniß zu setzen, was in Wirklichkeit hinsichtlich Miß Gwilt’s Deine Absicht ist?« sagte er.

Allan’s Wesen veränderte sich augenblicklich. Er zögerte und sah verlegen aus.

»Ich habe daran gedacht«, sagte er, »und ich denke erst zu sondieren und es ihm dann entweder zu sagen oder zu verschweigen, je nachdem die Sache sich, anläßt.«

Ein so umsichtiges Verfahren stand mit Allan’s Charakter in zu auffallendem Widerspruch, um nicht Jeden, der ihn kannte, zu überraschen. Midwinter gab deutlich sein Erstaunen zu erkennen.

»Du vergissest jene alberne Courmacherei zwischen mir und Miß Milroy«, fuhr Allan immer verlegener werdend fort. »Der Major mag dieselbe vielleicht bemerkt und gedacht haben, ich beabsichtige —— nun, was ich eben nicht beabsichtigte. Es möchte etwas ungeschickt herauskommen, nicht wahr, wenn ich vor seinen Augen, anstatt seiner Tochter, seiner Erzieherin einen Antrag machte?«

Er wartete auf eine Antwort, doch keine erfolgte. Midwinter öffnete die Lippen, um zu sprechen, schloß dieselben jedoch plötzlich wieder. Allan, dem des Freundes Schweigen unbehaglich war, der sich aber durch gewisse Erinnerungen an die Majorstochter, welche durch das Gespräch hervorgerufen worden waren, bei diesem Schweigen doppelt unbehaglich fühlte, stand vom Tische auf und machte der Unterhaltung ein wenig ungeduldig ein Ende.

»Komm! komm!« sagte er; »mache kein so vielsagendes Gesicht —— mache nicht Berge aus Maulwurfshügeln Du trägst auf Deinen jungen Schultern ein so altes, altes Haupt, Midwinter.Laß uns endigen mit all diesem Dafür und Dawider. Willst Du mir mit deutlichen Worten gesagt haben, daß es nicht thunlich sei, mit dem Major zu reden?«

»Ich kann nicht die Verantwortlichkeit auf mich nehmen, Dir das zu sagen, Allan. Um noch deutlicher zu reden —— ich kann mich nicht darauf verlassen, daß ich Dir in unserer —— in unserer gegenwärtigen Beziehung zu einander irgendwelchen richtigen Rath zu geben im Stande wäre. »Das Einzige worüber ich mir sicher bin, ist, daß ich wohl nicht Unrecht thun kann, wenn ich Dich bitte, zwei Dinge zu thun.«

»Und diese sind?«

»Wenn Du mit Major Milroy sprichst, so erinnere Dich meiner Warnung! Ich bitte Dich, überlege wohl, ehe Du sprichst!«

»Ich will überlegen, fürchte nichts! Und dann?«

»Schreibe an Mr. Brock und sage ihm Alles, ehe Du irgendeinen ernsten Schritt in dieser Sache thust. Willst Du mir dies versprechen?«

»Von ganzem Herzen. Was weiter?«

»Weiter nichts. Ich habe mein letztes Wort gesprochen.«

Allan ging nach der Thür, »Komm auf mein Zimmer«, sagte er, »und ich will Dir eine Cigarre geben. Die Diener werden sogleich hier hereinkommen, um den Tisch abzuräumen, und ich möchte noch von Miß Gwilt sprechen.«

»Warte nicht aus mich«, sagte Midwinter, »ich folge Dir in wenigen Minuten.«

Er blieb e sitzen, bis Allan die Thüre geschlossen. —— Dann stand er auf und nahm aus einem Winkel des Zimmers einen fertig gepackten Mantelsack hinter einer Fenstergardine heraus, wo derselbe verborgen gelegen hatte. Wie er mit dem Mantelsack in der Hand sinnend am Fenster stand, schlich sich ein seltsam alter, sorgenvoller Ausdruck in sein Gesicht: er schien in einem Augenblicke den Rest seiner Jugend zu verlieren.

Was der schnellere Blick des Weibes schon seit mehreren Tagen entdeckt, hatte die langsamere Auffassung des Mannes sich erst in der vergangenen Nacht klar gemacht. Der Schmerz, der ihm bei Allan’s Bekenntnisse durchs Herz gezuckt, hatte Midwinter zum ersten Male die Wahrheit klar und deutlich vor die Seele geführt. Er war sich bewußt gewesen, Miß Gwilt bei der ersten Begegnung nach jener denkwürdigen Unterredung mit ihr in Major Milroy’s Garten mit neuen Blicken und neuen Empfindungen angesehen zu haben; er war sich seines zunehmenden Interesses an ihrer Gesellschaft, seiner immer größeren Bewunderung ihrer Schönheit bewußt gewesen —— aber er hatte bis jetzt nichts von der Leidenschaft gewußt, die sie in ihm erweckt hatte. Da er diese endlich erkannte und sich von ihr völlig in Besitz genommen fühlte, hatte er den Muth, den kein Mann mit glücklicheren Lebenserfahrungen besessen haben würde —— den Muth, an das zu denken, was Allan ihm gesagt, und nur durch seine dankbaren Erinnerungen an die Vergangenheit in die Zukunft hinaus zu blicken.

Während der schlaflosen Stunden der Nacht hatte er mit ruhigem, festem Vorsatze beschlossen, sich, um damit einen Theil des Dankes abzutragen, den er Allan schuldete, dem theuersten Wunsche dieses Freundes zu opfern. Mit festem Willen hatte er sich zu der Ueberzeugung gebracht, daß er um Allan’s Willen die Leidenschaft bezwingen müsse, die sich seiner bemächtigt, und daß er dies nur thun könne, wenn er fortginge. Als der Morgen gekommen war, hatte ihn kein nachträglicher Zweifel gequält, und auch jetzt war er von solchem frei. Die einzige Frage, die ihn zögern machte, war die, ob er Thorpe-Ambrose verlassen solle. Obgleich Mr. Brock’s Brief ihn aller Nothwendigkeit überhob, in Norfolk über ein Frauenzimmer zu wachen, das sich in Somersetshire befand —— obwohl die Pflichten des Administrationsbureaus dergestalt waren, daß sie mit Sicherheit in Mr. Bashwood’s erprobten und zuverlässigen Händen verbleiben durften, —— war doch sein Gemüth trotz alledem nicht ruhig bei dem Gedanken, Allan zu einer Zeit zu verlassen, wo eine Krisis in dessen Leben bevorstand.

Er warf den Mantelsack leicht über seine Schulter, und legte seinem Gewissen die Frage zum letzten male vor: »Kannst du dich getrauen, sie Tag für Tag zu sehen, wie du sie sehen mußt? —— Kannst du dich getrauen, ihn Stunde für Stunde von ihr reden zu hören, wie du dies hören mußt, wenn du in diesem Hause bleibst?« Die Antwort lautete genau so, wie sie während der ganzen Nacht gelautet hatte. Sein Herz mahnte ihn, im Interesse der Freundschaft, die ihm so heilig war, zu gehen, solange es noch Zeit sei, —— zu gehen, ehe das Weib, das sich seiner Liebe bemächtigt, auch von seiner Aufopferungskraft und seinem Dankbarkeitsgefühl Besitz genommen hätte.

Mechanisch sah er sich im Zimmer um, ehe er sich abwandte, dasselbe zu verlassen. Jede Erinnerung an die Unterhaltung, die soeben zwischen ihm und Allan stattgefunden, wies auf den gleichen Schluß hin und mahnte ihn, wie schon sein Gewissen ihn gemahnt, zu gehen. Hatte er ehrlich irgendeinen der Einwände erwähnt, die er, oder jeder andere Mensch wider Allan’s Neigung gesehen haben müßte? Hatte er —— wie seine Kenntniß von dem leichten Charakter seines Freundes ihn dies zu thun verpflichtete —— Allan vor seinen eigenen raschen Impulsen gewarnt und ihn gebeten, durch Zeit und Abwesenheit zu prüfen, ehe er zu der Ueberzeugung käme, daß sein ganzes Lebensglück an Miß Gwilt’s Besitze hänge? Nein. Der blose Zweifel, ob er bei der Berührung dieses Gegenstandes zu fühlen im Stande sein werde, daß er ohne alle Selbstsucht spreche, hatte seine Lippen geschlossen, und mußte ihm die Lippen schließen, bis die Zeit zum Reden verstrich. War der Mann, der die Welt darum gegeben hätte, an Allan’s Stelle zu stehen, wohl der rechte Mann gewesen, Allan zurückzuhalten? Es gab nur einen geraden Weg, welchen ein rechtschaffner und dankbarer Mensch in seiner Lage einschlagen durfte. Aller Möglichkeit, sie zu sehen oder Von ihr zu hören, weit entrückt —— allein mit seinem getreuen Gedächtniß dessen, was er Allan schuldig war —— durfte er hoffen, sein Herz zu bezwingen, wie er in der Kindheit bei den Schlägen seines Zigeunerherrn seine Thränen und die öde Verlassenheit seiner einsamen Jugendzeit im Buchhändlerladen bezwungen hatte. »Ich muß gehen«, sagte er, indem er sich schweren Herzens vom Fenster abwandte, »ehe sie wieder ins Haus kommt. Ich muß gehen, ehe noch eine Stunde verstreicht.«

Mit diesem Entschlusse verließ er das Zimmer und that damit den unwiderruflichen Schritt von der Gegenwart in die Zukunft.

Es regnete noch immer. Der Himmel hing ringsum immer drohender und düsterer über ihnen, als Midwinter reisefertig in Allans Zimmer trat.

»Gerechter Himmel« rief Allan, auf den Mantelsack deutend, »was soll das bedeuten?«

»Nichts Besonderes«, sagte Midwinter, »Es bedeutet blos —— Adieu.«

»Adieu!« rief Allan erstaunt aufspringend Midwinter schob ihn sanft in seinen Sessel zurück und zog einen Sitz für sich selber zu ihm heran.

»Als Du heute Morgen bemerktest, daß ich krank aussehe«, sprach er, »sagte ich Dir, daß ich bereits an ein Mittel gedacht, meine Gesundheit wiederherzustellen, und daß ich später mit Dir darüber reden werde. Der Augenblick ist jetzt gekommen. Ich bin seit einiger Zeit, wie man es nennt, verstimmt gewesen. Du hast dies selbst mehr als einmal bemerkt, Allan, und deshalb mit Deiner gewohnten Güte Manches in meinem Benehmen entschuldigt, was sonst selbst in Deinen Freundesaugen unverzeihlich gewesen wäre.«

»Mein lieber Junge«, unterbrach ihn Allan, »Du beabsichtigst doch nicht in diesem strömenden Regen eine Fußtour anzutreten?«

»Laß Dich den Regen nicht kümmern«, sagte Midwinter. »Der Regen und ich sind alte Freunde, Du weißt etwas von dem Leben, das ich geführt habe, ehe ich mit Dir zusammentraf, Man. Ich bin von Kindheit her an Mühsale und Entbehrungen gewöhnt gewesen. Ich habe monatelang Tag und Nacht kein Obdach gehabt. Mein Leben war jahrelang —— während Du zu Hause und glücklich warst —— das eines wilden Thieres, oder ich sollte vielmehr sagen, das eines Wilden. Ich habe die Hefen des Landstreicherthums noch immer in mir. Thut es Dir weh, mich in dieser Weise von mir selber sprechen zu hören? Ich will Dich nicht betrüben. Ich will nur noch sagen, daß der Luxus und Comfort unseres hiesigen Lebens mir zuweilen ein wenig zu viel für einen Mann erscheinen, dem Comfort und Luxus ursprünglich fremd sind. Ich bedarf nur der frischen Luft und kräftigen Körperbewegung, um mich ganz wiederherzustellen, weniger gute Frühstücke und Diners, mein lieber Freund, als ich hier genieße. Laß mich zu einigen jener Mühsale zurückkehren, welche fern zu halten dies behagliche Haus ausdrücklich angethan ist; laß mich wieder auf eine kleine Weile Ermüdung fühlen, ohne einen Wagen bei der Hand zu haben, der mich aufnimmt und weiter schafft; laß mich wieder Hunger empfinden, wenn die Nacht hereinbricht und noch viele Meilen zwischen mir und meinem Nachtessen liegen. Laß mich auf eine Woche oder zwei von Dir fort, Allan —— zu Fuße, nordwärts, nach den Haiden von Yorkshire —— und ich verspreche, als ein besserer Gesellschafter für Dich und Deine Bekannten nach Thorpe-Ambrose zurückzukehren. Ich werde wieder hier sein, ehe Du noch Zeit gehabt hast, mich zu vermissen. Mr. Bashwood wird nach den Administrationsgeschäften sehen; es ist ja nur auf vierzehn Tage und zu meinem Besten —— laß mich gehen?«

»Es will mir nicht gefallen«, sagte Allan. »Es will mir nicht gefallen, daß Du mich so unerwartet verlässest. Es hat etwas so Seltsames und Trauriges. Warum versuchst Du’s nicht mit Reiten, wenn Du der Körperbewegung bedarfst; alle Pferde in den Ställen stehen Dir zu Diensten. Jedenfalls kannst Du unmöglich heute gehen. Sieh nur, wie es regnet!«

Midwinter sah nach dem Fenster und schüttelte leise den Kopf.

»Ich habe mir nichts aus dem Regen gemacht, als ich noch ein kleiner Bube war und mir mit meinen tanzenden Hunden mein Brod verdiente —— warum sollte ich mir wohl jetzt etwas daraus machen? Es ist ein großer Unterschied, ob ich naß werde, oder Du, Allan. Als ich noch ein Fischerjunge auf den Hebriden war, hatte ich oft wochenlang keinen trockenen Faden auf meinem Leibe.«

»Aber Du bist jetzt nicht aus den Hebriden«, sagte Allan, »und ich erwarte morgen Abend unsere Freunde vom Parkhäuschen. Du kannst erst übermorgen fortgehen. Miß Gwilt wird wieder etwas spielen, und Du weißt, daß Miß Gwilt’s Klavierspiel Dir sehr viel Vergnügen macht.«

Midwinter wandte sich ab, um die Riemen seines Mantellacks zu schnallen. »Wenn ich zurückkehre, gib mir wieder Gelegenheit, Miß Gwilt spielen zu hören«, sagte er gebückt mit seinen Riemen beschäftigt.

»Du hast einen Fehler, mein lieber Junge, und der nimmt immer mehr bei Dir überhand«, sagte Allan in vorstellendem Tone; »wenn Du Dir einmal etwas in den Kopf gesetzt hast, bist Du her halsstarrigste Mensch von der Welt. Man kann Dich nicht bewegen, Vernunft anzunehmen. Wenn Du aber durchaus gehen willst«, fügte Allan plötzlich aufstehend hinzu, als Midwinter schweigend seinen Hut und Stock aufnahm, »so denke ich fast, daß ich mit Dir gehen und es ebenfalls mit ein wenig-Unbequemlichkeit und Beschwerde versuchen will.«

»Mit mir gehen«, wiederholte Midwinter mit einer momentanen Bitterkeit in seinem Tone, »und Miß Gwilt verlassen!«

Allan setzte sich wieder und räumte durch sein bedeutungsvolles Schweigen die Kraft dieses Einwandes ein. Midwinter hielt ihm, ohne noch ein Wort hinzuzufügen, die Hand zum Abschiede hin. Sie waren Beide tief bewegt, und Jeder bemühte sich, dem Andern seine Bewegung zu verhehlen. Allan ergriff die letzte Zuflucht, die seines Freundes Festigkeit ihm noch übrig ließ: er versuchte den Abschiedsaugenblick durch einen Scherz zu erheitern.

»Ich will Dir etwas sagen«, sprach er; »ich beginne zu zweifeln, ob Du wirklich ganz von Deinem Glauben an den Traum geheilt bist. Ich habe Dich im Verdacht, daß Du doch noch von mir fortläufst!«

Midwinter sah ihn an —— ungewiß, ob Allan im Scherz oder im Ernst rede. »Was meinst Du damit?« fragte er.

»Was hast Du mir gesagt«, entgegnete Allan, »als Du mich neulich hier hereinführtest und mir Dein Bekenntniß ablegtest? Was hast Du von diesem Zimmer und von dem zweiten Traumgesicht gesagt? Beim Jupiter!« rief er abermals aufspringend, »jetzt, da ich darauf achte —— dies ist das zweite Traumgesicht! Dort schlägt der Regen ans Fenster —— dort ist der Rasen und der Garten draußen —— hier bin ich, wo ich im Traume stand —— und dort bist Du, wo der Schatten stand. Die ganze Scene vollständig —— draußen sowohl wie hier innen, und diesmal habe ich es herausgefunden.«

In die todten Träume von Midwinter’s Aberglauben kam für einen Augenblick wieder eine Spur von Leben. Er wechselte die Farbe und bekämpfte eifrig, fast zornig Allan’s Schlußfolgerung.

»Nein!« sagte er, indem er auf die kleine Marmorstatue auf der Console deutete, »die Scene ist nicht vollständig —— Du hast, wie gewöhnlich, etwas vergessen. Der Traum hat diesmal —— Gott sei’s gedankt! — Unrecht, völlig Unrecht. In Deinem Traumgesichte lag die Statuette zerbrochen am Boden und Du bücktest Dich ängstlich und zornig zu den Scherben herab. Dort steht die Statue, heil und unverletzt! —— und Du hast nicht die Spur von Zorn im Herzen, wie?« Er faßte Allan leidenschaftlich bei der, Hand. In demselben Augenblicke kam ihm das Bewußtsein, daß er so ernstlich spreche und handele, wie wenn er noch an den Traum geglaubt hätte. Eine schnelle Röthe stieg ihm ins Gesicht und er wandte sich mit verlegenem Schweigen ab.

»Was habe ich Dir gesagt?« sprach Allan mit einem etwas unbehaglichen Lachen. »Jene Nacht auf dem Wrack liegt Dir noch immer so schwer wie je auf dem Herzen.«

»Nichts liegt mir schwer auf dem Herzen«, entgegnete Midwinter ungeduldig; »aber der Ranzen liegt mir schwer auf dem Rücken, und ich verliere meine Zeit. Ich will hinausgehen und nachsehen, ob Aussicht vorhanden, daß es sich aufklärt.«

»Du wirst wiederkommen?« sagte Allan.

Midwinter öffnete die Gartenthür und trat hinaus.

»Ja«, sagte er in seiner gewöhnlichen milden Art, »ich will in vierzehn Tagen zurückkommen Adieu, Allan, und ich wünsche Dir Glück mit Miß Gwilt!«

Er stieß die Glasthür zu und war schon durch den Garten davongeeilt, ehe sein Freund die Thür wieder zu öffnen und ihm zu folgen im Stande war.

Allan stand auf und that einen Schritt dem Garten zu; dann blieb er stehen und kehrte zu seinem Sessel zurück. Er kannte Midwinter hinlänglich, um einzusehen, daß es völlig nutzlos sein würde, ihm folgen oder ihn zurückbringen zu wollen. Er war fort, und es war keine Aussicht vorhanden, daß er ihn früher als in vierzehn Tagen wiedersehen würde. So verging etwa eine Stunde —— noch immer regnete es und der Himmel sah noch immer drohend aus. Ein immer drückenderes Gefühl der Einsamkeit und Niedergeschlagenheit —— das Gefühl von allen andern, das zu begreifen oder zu ertragen seine frühere Lebensweise ihn am allerwenigsten befähigt hatte —— bemächtigte sich Allan’s. In reinem Grausen vor seinem eigenen unwohnlichen einsamen Hause klingelte er nach Hut und Regenschirm und beschloß, im Häuschen des Majors Zuflucht zu suchen.

»Ich hätte wohl eine Strecke mit ihm gehen können«, dachte Allan, noch immer mit Midwinter beschäftigt, während er seinen Hut aufsetzte »Ich hätte dem lieben alten Jungen gern das gebührende Geleit gegeben.«

Er nahm den Regenschirm. Hätte er das Gesicht des Dieners beachtet, der ihm denselben reichte, so hätte er vielleicht einige Fragen an ihn gerichtet und Nachrichten von ihm erhalten, die ihn in seiner gegenwärtigen Gemüthsstimmung interessiert haben dürften.

So aber ging er hinaus, ohne den Mann anzusehen und ohne zu ahnen, daß seine Diener mehr von Midwinter’s letzten Augenblicken in Thorpe-Ambrose wußten, als er selber. Vor kaum zehn Minuten waren der Fleischer und der Gewürzkrämer dagewesen, um den Betrag ihrer Rechnungen in Empfang zu nehmen ——und beide hatten gesehen, wie Midwinter seine Reise begonnen hatte.

Der Gewürzkrämer hatte ihn unsern vom Hause zuerst getroffen, wie er mitten im Regengusse stehen geblieben war und mit einem zerlumpten kleinen Spitzbuben, der Plage der ganzen Nachbarschaft, gesprochen hatte. Die gewohnte Impertinenz des Buben war beim Anblick des Mantelsacks, den der Herr trug, noch frecher, als gewöhnlich hervorgetreten Und was hatte der Herr zur Erwiderung gethan? Er war stehen geblieben, hatte ein trauriges Gesicht gemacht und beide Hände sanft auf die Schultern des Knaben gelegt. Der Gewürzkrämer hatte dies mit eigenen Augen gesehen, und mit seinen eigenen Ohren hatte er ihn sagen hören: »Du armer kleiner Kerl! Ich weiß besser, als die meisten Leute, die einen guten Rock auf dem Leibe haben, wie der Wind und der Regen durch eine zerlumpte Jacke dringen.« Und bei diesen Worten hatte er in seine Tasche gegriffen und die Frechheit des Knaben mit einem Schilling belohnt. »Hier nicht ganz richtig«, sagte der Gewürzkrämer, seine Stirn berührend. »Das ist meine Meinung von Mr. Armadales Freund!«

Der Fleischer hatte ihn später am andern Ende der Stadt gesehen. Abermals war er im Regengusse stehen geblieben —— und zwar diesmal, um nichts Merkwürdigeres als einen alten halbverhungerten Hund zu betrachten, der auf einer Thürschwelle zitterte. »Ich behielt ihn im Auge«, sagte der Fleischer, »und was that er wohl? Er kam herüber in meinen Laden und kaufte ein Stück Fleisch, das für einen Christenmenschen gut genug gewesen wäre. Gut. Er sagt guten Morgen und geht wieder über die Straße und, auf mein Wort, er kniet auf der nassen Thürschwelle nieder, nimmt sein Messer aus der Tasche, zerschneidet das Fleisch und gibt es dem Hunde. Fleisch, sage ich Ihnen nochmals, das für einen Christenmenschen gut genug war, Madame«, schloß der Fleischer zur Köchin gewendet, »ich bin kein harter Mann, aber Fleisch ist Fleisch, und es wird dem Freunde Ihres Herrn recht geschehen, wenn er noch eines Tages Mangel leidet.«

In der Gesellschaft dieser unvergeßlichen alten Sympathien für die alte unvergeßliche Zeit hatte er seinen einsamen Weg angetreten, die Stadt hinter sich liegen lassen und war in dem dichten Regen verschwunden. Der Gewürzkrämer und der Fleischer hatten ihn zuletzt gesehen und ihn beurtheilt, wie alle großen Naturen vom Gewürzkrämer- und Fleischergesichtspunkte aus beurtheilt werden.


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