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Herz und Wissen



Capitel XXII.

Am Nachmittage des auf Ovid’s Abreise folgenden Tages befanden sich die Damen im Gallileeschen Hause in Zurückgezogenheit in ihren Zimmern.

Der Schreibtisch in Mr. Gallilee’s Boudoir war mit Briefen bedeckt. Da lagen das Contobuch ihres Banquiers und ihr Chequebuch —— denn Mr. Gallilee hatte seine Angelegenheiten schon lange ganz und gar seiner Frau überlassen —— und neben dem Chequebuch lag ein mit Zahlengruppen bedecktes Blatt Papier, das in zwei Columnen getheilt war. Die Ziffern an der rechten Columne waren oben in eine Zeile gefaßt, während die linke Columne ganz damit ausgefüllt war. Den Fächer in der Hand, die Feder im Tintenfaß, saß Mrs. Gallilee vor dem Tische und dachte.

Es war der heißeste Tag der Saison und der Fächer daher immer in Bewegung. Sah sie die Columne rechts an, so zeigten ihre Berechnungen ihr die Bilanz bei der Bank; sah sie links, so zeigten sie ihr ihre Schulden, von denen einige theilweise, andere überhaupt noch nicht bezahlt waren. Wandte sie sich Trost suchend hiervon ab, nach den Briefen, so stieß sie auf höfliche Bitten um Geld, an erster Stelle von Kaufleuten und dann von den Secretairen fashionabler Wohlthätigkeitsvereine. Dazwischen lagen allerlei Einladungen die ebenfalls pecuniäre Verbindlichkeiten repräsentierten, denn sie bedurfte dazu neuer Anzüge und mußte die Gastfreundschaft durch Diners und Unterhaltungen in ihrem Hause erwidern. Geld und nichts als Geld, welches sie entweder schon schuldete oder noch ausgeben mußte —— und woher sollte sie es nehmen?

Soweit ihre pecuniären Hilfsquellen in Betracht kamen, waren ihre Einnahmen sich ebenso regelmäßig gleichbleibend, als ihre Ausgaben beständig wachsend. Zweimal im Jahre ging das regelmäßige Einkommen aus dem angelegten Capitale in gleicher Höhe ein, und sie wußte daher besser, was sie zahlen konnte, als was sie wieder für Verpflichtungen einzugehen haben mochte Mit Takt und Geschicklichkeit war es möglich, ihre Gläubiger theilweise zu befriedigen und noch weitere sechs Monate den Schein zu wahren —— aber was dann?

Nachdem sie verschiedene Cheques ausgefüllt, ihre Correspondenz mit den Geschäftsleuten erledigt und dann noch über ihre Beiträge zu den Wohlthätigkeitsveranstaltungen bestimmt hatte, nahm die eiserne Matrone ihren Fächer wieder auf, fächelte sich Kühlung zu und faßte die Frage der Zukunft fest in’s Auge. Dabei drehte sich ihr ganzes Sinnen um einen Mittelpunkt —— ihren Sohn Ovid. Blieb derselbe, ganz seinem Berufe lebend, unverheirathet, so stand ihr damit eine letzte Hilfsquelle offen. Seit Jahren schon hatte er sein vom Vater ererbtes Vermögen durch den Ertrag seiner ärztlichen Praxis vermehrt und verschiedene Tausende von Pfunden zurückgelegt —— aus dem einfachen Grunde, weil er sonst nichts damit anzufangen wußte, da er keinen kostspieligen Neigungen fröhnte. Die Großmuth ihres Bruders hatte Mrs. Gallilee bis soweit die harte Nothwendigkeit erspart, ihrem Sohne ein Bekenntniß zu machen, wie aber die Sachen jetzt standen, mußte sie ihm die demüthigende Wahrheit mittheilen, und Ovid würde thun, was sein Onkel früher gethan hatte.

Das war die Aussicht, wenn er Junggeselle blieb. Aber er hatte sich entschlossen, Carmina zu heirathen. Was würde daraus werden, wenn sie so schwach war, dies zu gestatten?

Sie würden natürlich Kinder bekommen, und wenn nur eins derselben am Leben blieb, so bedeutete das den Verlust des prächtigen Vermögens, das dem Testamente nach Mrs. Gallilee und ihren Töchtern zufallen sollte, falls Carmina ohne Nachkommen stürbe.

Da Mrs. Gallilee Carmina nach sich selbst beurtheilte —— und beurtheilt nicht Jeder, auch wenn er noch so klug ist, seine Mitmenschen nach sich selbst? —— so war sie überzeugt, daß nach der Verheirathung für sie auch nicht ein Pfennig übrig bleiben würde, um ihr die mit jeder neuen Concession, die sie den Anforderungen der Gesellschaft machte, ständig zunehmenden Schulden bezahlen zu helfen. Die junge Frau würde das großartige Beispiel ihrer Tante vor Augen haben und ja wirklich ein erbärmliches Geschöpf sein, wenn sie nicht die achttausend Pfund, die Beide —— Ovid’s Verdienst mitgerechnet —— jährlich haben würden, in dem Bemühen, mit der gesellschaftlichen Stellung Lady Northlake’s zu rivalisieren, vollständig darauf gehen ließe. Rechnete Mrs. Gallilee zu diesem Resultate noch den Verlust der tausend Pfund jährlich, die ihr als Vormünderin zu Gebote standen, solange das Mündel in ihrer Obhut wäre, so hatte sie das ganze Unglück vollständig vor Augen.

»Schande für mich und ein glänzendes Elend für meine Kinder: das ist der Preis, den ich bezahle, wenn Ovid und Carmina ein Paar werden.«

Als sie innerlich ihre Gedanken in dieser Form zusammenfaßte, legte sie ruhig den Fächer fort, aber ihr Aussehen verkündete Böses —— und Ovid war bereits auf der See und Teresa fern in Italien!

Die Uhr auf dem Kaminsims schlug fünf, und pünktlich mit dem Glockenschlage erschien die Jungfer, um ihrer Herrin die gewohnte Tasse Thee zu bringen. Aus die Frage Mrs. Gallilee’s nach der Gouvernante antwortete das Mädchen, daß dieselbe auf ihrem Zimmer sei.

»Der Herr ist mit ihnen spazieren gegangen.«

»Haben dieselben ihre Musikstunde schon gehabt?«

»Nein, noch nicht, gnädige Frau. Mr. Le Franc sagte gestern, daß er heute Abend um sechs kommen würde.«

»Weiß Mr. Gallilee darum?«

»Ja, ich hörte, daß Miß Minerva es ihm sagte, als ich den Fräulein beim Ankleiden half.«

»Schön. Bitte Miß Minerva, auf ein Wort zu mir zu kommen!

Miß Minerva saß in ihrem Schlafzimmer am offenen Fenster und sah mit leerem Blicke auf die Hinterwände der Straße hinter Fairfield Gardens. Auch sie, bei der die böse Laune wieder die Oberhand hatte, dachte an Ovid und Carmina; zu frisch stand ihr ja noch die Abschiedsscene vom vorigen Tage vor Augen.

Je mehr sie über alles Das, was in dieser kurzen Zeit geschehen war, nachdachte, desto erbitterter wurde sie auf sich selbst. Hatte doch diese eine Schwäche, der sie unterlag, sie offen entwürdigt, ohne daß sie nur den Versuch eines Widerstandes gemacht hätte. Die Furcht, sich zu verrathen, wenn sie von dem Manne, den sie heimlich liebte, vor seiner Familie Abschied nähme, hatte sie bewogen, sich eine Gunst von Carmina zu erbittert, und das unter Umständen, die ihre Rivalin vielleicht die Wahrheit ahnen lassen konnten. Dann, als sie mit Ovid allein war, hatte sie nicht vermocht, ihre Aufregung zu beherrschen, und hatte —— was noch schlimmer war —— in ihrem Eifer, beim Scheiden einen guten Eindruck auf ihn zu machen, versprochen —— ja, in diesem Momente des Impulses ehrlich versprochen, sich Carmina’s Glück besonders angelegen sein zu lassen, Carmina’s, die in einem Tage die Hoffnung von Jahren vernichtet; die ihn ihr entrissen; die ihn umschlungen, als er nach oben geeilt war, die ihn geküßt —— vor der Dienerschaft in der Halle —— inbrünstig schamlos geküßt hatte!

Von ihren Erinnerungen in wahnsinnige Wuth versetzt, sprang sie von ihrem Stuhle auf und sah hinunter auf das Pflaster des Hofes —— es war tief genug, um bei einem Sprunge aus dem Fenster sofort den Tod zu finden. Kalte Verzweiflung zuckte durch die Hitze ihres Aergers; sie lehnte sich über die Fensterbrüstung —— und wer weiß was geschehen wäre, da sie nichts von Furcht verspürte, wenn nicht in diesem Augenblicke draußen Jemand gesprochen hätte.

Es war die Jungfer, eine von Miß Minerva’s vielen Feindinnen im Hause, die jetzt, anstatt hereinzukommen, durch die geöffnete Thür sprach. »Mrs. Gallilee wünscht Sie zu sehen«, sagte dieselbe und machte sofort die Thür wieder zu.

Mrs. Gallilee! Der bloße Name schien ihr in diesem Augenblick verheißungsvoll, schien sie mit Hoffnung —— mit sündiger, abscheulicher Hoffnung zu erfüllen.

Sie verließ das Fenster und trat vor den Spiegel und schrak vor ihrem eigenen hageren Gesicht zurück. Dann goß sie Bau de Cologne und Wasser in ihr Waschbecken und wusch sich damit den brennenden Kopf und die Augen. Darauf ordnete sie sich das Haar fast ebenso sorgfältig, als ob es gegolten hätte, vor Ovid zu erscheinen, um ein ruhiges Aeußere zur Schau zu tragen, damit seine Mutter ihr Geheimniß nicht erriethe; denn sie ahnte nicht im Entferntesten, daß dieselbe schon lange darum wußte. Aber die Kniee zitterten unter ihr und sie mußte sich eine Minute setzen.

Wurde sie nur zu einer gewöhnlichen Berathung über häusliche Angelegenheiten verlangt, oder sollte Aussicht vorhanden sein, die Frage wegen Ovid’s und Carmia’s vorbringen zu hören?

Sie glaubte, was sie hoffte: daß die Zeit gekommen, da Mrs. Gallilee einer Alliierten —— vielleicht einer Mitschuldigen bedürfe. Mochte dieselbe nur die Trennung der beiden Liebenden beabsichtigen —— dann war sie bereit, ihr in jeder von beiden Eigenschaften behilflich zu sein. Und wenn jene zu vorsichtig war, um mit ihrem Zwecke herauszurücken? Miß Minerva war auch in diesem Falle für ihre Beschäftigerin bereit; der Zweifel, welchen ihr fruchtlose Fragen eingegeben, als sie mit Carmina allein in deren Zimmer war —— der Zweifel, ob nicht in dem letzten Theile des Testamentes, den sie nicht gehört hatte, ein Schlüssel zu Mrs. Gallilee’s Motiven zu finden sein könnte, war ihr noch immer gegenwärtig.

»Die Gelehrte ist nicht unfehlbar«, dachte sie, als sie bei Mrs. Gallilee eintrat. »Wenn ihr nur ein einziges unbedachtes Wort über die Zunge schlüpft, so werde ich es auffangen!«

Das Benehmen Mrs. Gallilee’s war von vornherein ermuthigend; dieselbe hatte ihren Schreibtisch verlassen und ruhte müde und muthlos in einem Lehnstuhle —— das Bild einer Frau, die einer helfenden Freundin bedurfte.

»Der Kopf thut mir weh vom Rechnen und Briefeschreiben«, sagte sie. »Ich möchte Sie bitten, meine Correspondenz für mich zu vollenden.«

Als Miß Minerva dann ihren Platz am Pulte einnahm, entdeckte dieselbe sofort, daß die unvollendete Correspondenz nur ein falscher Vorwand war; denn es war weiter nichts zu thun, als drei Cheques für Subscriptionen zu wohlthätigen Zwecken, die an dem Datum fällig waren, mit den gewohnten Briefen an drei Secretaire abzufertigen, eine Arbeit, die in fünf Minuten geschehen war.

»Haben Sie noch etwas zu thun?« fragte die Gouvernante dann.

»Nicht daß ich wüßte. Würden Sie mir wohl meinen Fächer geben? Ich fühle mich vollständig hilflos —— mir ist heute ganz elend zu Muthe.«

»Vielleicht macht das die Hitze?«

»Nein, die Ausgaben. Die Anforderungen an unsere Hilfsquellen scheinen mit jedem Jahre zuzunehmen. Es ist durchaus gegen mein Princip, die —— ganze Einnahme draufgehen zu lassen —— und doch bin ich dazu genöthigt.«

Auch hierin erkannte die Gouvernante wieder einen falschen Vorwand, der offenbar nur in der Absicht gebraucht wurde, den wirklichen Zwecks weshalb sie gerufen war, als etwas zufällig im Laufe des Gespräches Auftauchendes hinzustellen. Indessen gab sie dem nöthigen Bedauern mit bereitwilliger Unschuld Ausdruck.

»Dürfte ich da wohl zur Sparsamkeit rathen?« fragte sie mit unerschütterlichem Ernst.

»Das ist ja ein ausgezeichneter Rath«, gab Mrs. Gallilee zu; »wie aber soll ich das anfangen? Diese Zeichnungen zum Beispiel gehen eigentlich über das hinaus, was ich geben sollte; aber was würde geschehen, wenn ich den Betrag mindern? Ich würde mich dadurch nur ungünstigen Vergleichen mit anderen Leuten unseres Ranges in der Gesellschaft aussetzen.«

»Vielleicht kämen Sie mit einem Pferde aus«, bemerkte Miß Minerva, geduldig die von ihr erwartete Rolle weiterspielend.

»Aber Beste, sehen Sie sich die Leute an, die nur ein Pferd haben! Kann ich, wie ich situiert bin, zu denselben hinabsteigen? Glauben Sie nicht, daß ich für meine Person mir einen Pfifferling aus dergleichen machte. Nein —— was ist mein Stolz und mein Vergnügen im Leben? Die Bildung meines Geistes. Aber ich habe eine Lady Northlake zur Schwester und darf mich meiner Familienverbindungen nicht gänzlich unwerth zeigen. Außerdem habe ich zwei Töchter, deren Interesse ich bedenken muß. In einigen Jahren wird Maria bei Hofe vorgestellt werden und wird dank Ihnen eins der gebildetsten Mädchen in England sein. Denken sie sich Maria’s Mutter in einen: Einspänner! Liebes Kind! erzählen Sie mir von ihren Stunden. Macht sie noch immer solche Fortschritte?«

»Examinieren Sie sie, Mrs. Gallilee; ich kann mich für das Resultat verbürgen.«

»Nein, Miß Minerva, dazu habe ich zu viel Vertrauen zu Ihnen. Nebenbei bin ich ja in einem der wichtigsten Bildungsfächer Maria’s ganz von Ihnen abhängig, da ich nichts von Musik verstehe. Für ihre Fortschritte in der Richtung sind Sie allerdings nicht verantwortlich, doch ich möchte gern wissen, ob Sie in dieser Beziehung mit ihr zufrieden sind?«

»Ja, vollständig.«

»Sie glauben nicht, daß sie —— wie soll ich mich ausdrücken? —— soll ich sagen, daß sie Mr. Le Franks Können entwächst?«

»Gewiß nicht.«

»Halten Sie Mr. Le Frank vielleicht auch für befähigt, Jemand, der älter und vorgeschrittener ist als Maria, in zufriedenstellender Weise zu unterrichten?«

Bis soweit hatte Miß Minerva die an sie gestellten Fragen mit gut verhehlter Gleichgültigkeit beantwortet; diese letzte aber erweckte ihre Aufmerksamkeit. Warum zeigte Mrs. Gallilee jetzt zum ersten Mal ein Interesse an Mr. Le Franks Lehrfähigkeit? Wer war dieser ältere und vorgeschrittenere Jemand, für dessen Erscheinen im Gespräche die vorigen Fragen so sanft den Weg gebahnt hatten? Sie war jetzt auf ihrer Hut und antwortete:

»Ich habe Mr. Le Frank immer für einen ausgezeichneten Lehrer gehalten.«

»Können Sie mir keine bestimmtere Antwort geben?« fragte Mrs. Gallilee.

»Ich kenne die musikalische Ausbildung des Jemand, von dem Sie sprechen, durchaus nicht«, entgegnete die Gouvernante., »Ja, ich weiß nicht einmal, ob Sie von einer Dame oder von einem Herrn sprechen.«

»Ich spreche von meiner Nichte Carmina«, sagte Mrs. Gallilee ruhig.

Diese Worte brachten jeden weiteren Zweifel zur Ruhe, denn nach solch geschickter Vorbereitung konnte die Erwähnung Carmina’s nur zu dem Thema ihrer Heirath führen —— Mrs. Gallilee war endlich bei dem Zwecke, den sie im Auge hatte, angekommen.


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