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Blinde Liebe

Fünfundsechzigstes Kapitel

Fanny kehrte nach London zurück. Teils ließen ihr ihre knappen Mittel keine andere Wahl, teils aber hatte es für sie auch keinen Zweck mehr, länger in Passy zu bleiben, nachdem sie alles erfahren hatte, was sie dort erfahren konnte.

Als sie in London ankam, hatte sie noch dreißig Schillinge in der Tasche, welche ihr von Mr. Mountjoys Geschenk übrig geblieben waren. Sie suchte sich eine billige Unterkunft und fand auch ein Zimmer bei Leuten, die anständig zu sein schienen. Sie musste dafür vier Schilling und sechs Pence wöchentlich zahlen und außerdem täglich einen Schilling für die Kost. Nachdem sie dort eingezogen, eilte sie in das Hotel Mr. Mountjoys, um Mrs. Vimpany alle die Neuigkeiten mitzuteilen, die sie brachte.

Jeder kennt die Enttäuschung, wenn die einzige Person in der Welt, die man gerade in dem Augenblick zu sehen und zu sprechen wünscht, nicht anwesend ist. Dann müssen die Neuigkeiten unterdrückt, die Schlüsse, die Zweifel, die Vermutungen hinausgeschoben werden. Diese Enttäuschung, fast ebenso groß als die in Bern, musste Fanny an der Tür des Londoner Hotels machen.

Mr. Mountjoy war nicht mehr dort.

Die Besitzerin des Hotels, welche Fanny kannte, kam selbst heraus und erzählte ihr, was geschehen.

»Mr. Mountjoy befand sich wohler«, sagte sie, »aber er war noch sehr schwach. Man schickte ihn daher nach Schottland unter der Pflege von Mrs. Vimpany. Er sollte langsam oder schnell hinreisen, ganz, wie er sich imstand fühlte. Ich habe für Sie die Adresse bekommen; hier ist sie. Ja, Mrs. Vimpany hat mir auch sonst noch etwas an Sie aufgetragen. Sie möchten, sagte sie, wenn Sie schrieben, den Brief an sie und nicht an ihn schicken. Sie meinte, Sie wüssten schon, warum.«

Fanny kehrte tief entmutigt in ihre Wohnung zurück. Sie war ganz erfüllt von dem schrecklichen Geheimnis, welches sie entdeckt hatte. Der einzige Mensch, welcher in dieser kritischen Lage einen Rat geben konnte, war Mr. Mountjoy, und er war fort. Sie wusste nicht, was aus ihrer Herrin geworden war. Was konnte sie tun? Der Verantwortlichkeit war mehr, als sie ertragen konnte.

Sie konnte nicht zweifeln, dass sich ihre Herrin in der Gewalt jener beiden Schurken befand, welche zu ihren anderen Verbrechen einen Mord hinzugefügt hatten. Was sie selbst betraf, so war sie allein, fast freundlos. In einer oder zwei Wochen würde sie auch mittellos sein. Wenn sie ihre Geschichte erzählte, welches Unheil konnte sie dadurch anstiften, und wenn sie schwieg, welches Unheil konnte dann folgen?

Sie setzte sich nieder, um an die einzige Freundin, die sie hatte, einen Brief zu schreiben. Aber ihr Verstand war infolge der Sorge und des Kummers wie eingefroren. Sie war nicht imstande, die Sache klar und deutlich zu berichten; die Worte fehlten ihr.

Sie war nicht zu jeder Zeit fähig, die Feder leicht zu führen, und fand sich daher auch jetzt nicht imstande, eine irgendwie vernünftige Erzählung von dem, was sich ereignet hatte, niederzuschreiben. Es wäre zu jeder Zeit schwierig gewesen, das, was sie wusste, so darzustellen, dass der sich daraus für sie ergebende Schluss auch dem Leser klar und deutlich entgegengetreten wäre, und jetzt war es für sie einfach ganz unmöglich; sie beschränkte sich daher auf einen einfachen, ziemlich nichtssagenden Bericht.

»Ich kann nur das eine sagen«, schrieb sie, »dass ich nach dem, was ich sah und hörte, gewichtige Gründe habe, zu glauben, dass Lord Harry überhaupt nicht tot ist.« Sie fühlte, dass dies ein sehr ungenügender Bericht war, aber sie konnte für den Augenblick nicht mehr geben. »Wenn ich wieder schreibe«, fuhr sie in ihrem Bericht fort, »nachdem ich von Ihnen gehört habe, werde ich Ihnen noch viel mehr sagen können; heute bin ich nicht dazu fähig. Ich bin zu sehr niedergedrückt und ich fürchte mich, zu viel zu sagen; außerdem habe ich kein Geld mehr, und ich muss mich nach Arbeit umsehen. Ich habe indessen keine Sorge um meine Zukunft, weil meine Herrin mich gewiss nicht vergessen wird. Ich bin fest davon überzeugt. Meine Angst um sie und die furchtbaren Geheimnisse, welche ich entdeckt habe, die sind es, welche mir keine Ruhe lassen.«

Mehrere Tage vergingen, bevor eine Antwort kam, und dann war es eine Antwort, welche ihr wenig half. »Ich habe keine guten Nachrichten für Sie«, schrieb Mrs. Vimpany; »Mr. Mountjoy ist immer noch sehr schwach. Was daher auch Ihr Geheimnis sein mag, so bitte ich Sie, ihm in seiner gegenwärtigen Lage nichts davon mitzuteilen. Er ist über alle Maßen betrübt und zugleich empört über Lady Harrys Entschluss, wieder zu ihrem Gatten zurückzukehren. Es wäre kaum zu verstehen, wenn ein Mann wie Mr. Mountjoy auch jetzt noch der treue Freund und beharrliche Liebhaber sein sollte, und er hat es auch wirklich über sich gebracht, zu erklären, daß er alle freundschaftlichen Beziehungen zu Iris abgebrochen habe. Dennoch konnte er es nicht länger in London aushalten. Alles dort erinnerte ihn an sie. Trotz seines schwachen Gesundheitszustandes bestand er darauf, seine Besitzung in Schottland aufzusuchen. Krank, wie er war, würde er keinen Widerspruch und Aufschub geduldet haben. Wir reisten in sehr kleinen Abschnitten, hielten uns in Peterborough, York, Durham, Newcastle und Berwick auf; an einigen Orten nur eine Nacht, an anderen aber mehrere. Trotz aller meiner Vorsichtsmaßregeln war er in besorgniserregender Weise erschöpft, als wir seine Besitzung am Solway Firth endlich erreichten. Ich ließ den Doktor des Ortes holen, der etwas zu verstehen scheint. Jedenfalls ist er klug genug, um einzusehen, dass in diesem Fall mit Medizin und Apotheken nichts zu machen ist. Vollständige Ruhe und vollständiges Fernhalten von allen aufregenden Gedanken ist unerlässlich notwendig; deswegen darf Mr. Mountjoy auch keine Zeitung lesen. Das trifft sich sehr gut, weil, wie ich vermute, Lord Harrys Tod in den Blättern angezeigt worden ist, und weil der Gedanke, dass die Frau, welche er liebt, Witwe geworden, ihn jedenfalls furchtbar aufregen würde. Sie werden jetzt verstehen, warum ich die Botschaft an Sie in dem Hotel zurückließ, und warum ich ihm Ihren Brief nicht gezeigt habe. Ich sagte ihm nur, dass Sie, ohne Ihre Herrin zu finden, zurückgekehrt wären. »Sprechen Sie mir niemals mehr von Lady Harry«, sagte er gereizt; deshalb habe ich auch nichts weiter gesagt. Was den Geldpunkt anbetrifft, so bin ich im Besitz von einigen Pfunden, die zu Ihrer Verfügung stehen. Sie können sie mir einmal später wieder zahlen, wenn Sie imstande dazu sind. Ich habe an etwas gedacht, an das neue Weltblatt, zu dessen Besitzern ja Lord Harry gehört. Wo Lady Harry sich auch befinden mag, so viel ist sicher, sie wird das Blatt in die Hände bekommen. Lassen Sie eine Annonce unter ihrer Adresse dort einrücken, in der Sie ihr mitteilen, dass Sie ihren Aufenthaltsort nicht wüssten, dass Sie aber selbst jeden Brief erhalten würden, der unter Ihrer Adresse an ein von Ihnen angegebenes Postamt geschickt würde. Ich glaube, dass Sie auf eine solche Annonce hin eine Antwort von ihr erhalten werden, wenn sie nicht wünscht, allein und unentdeckt zu bleiben.«

Fanny hielt diesen Vorschlag für annehmbar. Nach sorgfältiger Überlegung schrieb sie folgende Annonce:

»Fanny M. an L. H.

»Ich bin nicht imstande gewesen, Ihre Adresse ausfindig zu machen. Bitte, schreiben Sie mir an das Postamt Hunterstreet, London W. C.«

Sie bestellte, dass diese Annonce an drei Sonnabenden eingerückt werde; man sagte ihr, es sei besser, wenn sie nicht drei auf einander folgende Sonnabende wähle, sondern immer einen dazwischen frei lasse. Ermutigt durch das Gefühl, dass etwas, wenn auch nur wenig, geschehen sei, setzte sie sich nieder, entschlossen, einen Bericht aufzuschreiben, in welchem sie alles genau so, wie es geschehen war, erzählte. Ihr Hass und ihr Argwohn gegen Mr. Vimpany unterstützten sie dabei, dass sie sich, so merkwürdig es auch klingt, genau an die nackten Tatsachen hielt, denn es war durchaus nicht ihr Wunsch, irgendwelche Beschuldigungen und Anklagen zu erheben. Sie wollte nur die einfachen Geschehnisse niederschreiben und zwar so, dass jeder, welcher ihren Bericht las, zu dem gleichen Schluss wie sie selbst kommen musste.

Nachdem sie mit ihrem Bericht fertig geworden, was sehr viel Zeit in Anspruch nahm, kaufte sie ein Buch mit leeren Blättern und schrieb ihn noch einmal ab. Dabei kam sie darauf, noch zwei oder drei Tatsachen hinzuzufügen, die ihr bei der ersten Niederschrift entgangen waren. Dann fertigte sie noch eine zweite Abschrift an, diesmal ohne Namen von Leuten und Orten. Diese zweite Abschrift schickte sie als eingeschriebenen Brief an Mrs. Vimpany.

Inzwischen war die Meldung von dem Tode Lord Harrys erfolgt. Diejenigen, welche die Familiengeschichte kannten, sprachen ihre unverhohlene Freude über dieses Ereignis aus. »Das Beste, was er jemals getan hat. - Das wird seinen Angehörigen angenehm sein. - Ein schlechter Mensch weniger auf der Welt. - Ein wahres Glück, dass er gestorben ist. Ich glaube, er war aber auch verheiratet. - Er war einer von den Menschen, die alles mögliche getan haben. - Schade, dass man nicht sein Leben beschreiben kann.« Das waren ungefähr die Bemerkungen, welche man über den Tod des jungen Edelmanns machte. Am nächsten Tag war er so vergessen, als ob er gar nicht gelebt hätte. So pflegt es im Leben zu gehen.


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