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Zwei Schicksalswege

Einunddreißigstes Kapitel

Miss Dunroß

Meinen einzigen Trost bei dem gänzlichen Zusammensturz meiner Hoffnungen auf eine Heirat mit Frau van Brandt fand ich darin, dass ich mich ganz der heiligen Pflicht widmete, meine Mutter in ihren letzten Lebenstagen treu zu pflegen.

Ihr wurde allmählig der erfrischende Einfluss einer ruhigen Lebensweise und milderen Luft fühlbar. Leider konnte die Besserung in ihrer Gesundheit nur eine vorübergehende sein, das wusste ich nur zu wohl, dennoch war es mir ein Trost sie schmerzfrei zu wissen und sie in der Nähe ihres Sohnes harmlos glücklich zu sehen. Außer den Tages- und Nachtstunden, die der Ruhe gewidmet werden mussten, verließ ich sie nie. Bis zu dieser Stunde gedenke ich noch der Bücher, die ich ihr vorlas, der sonnigen Stelle am Meeresstrande, wo ich mit ihr saß, der Kartenspiele, die wir miteinander spielten, des unbedeutenden Alltagsgesprächs, das sie belustigte, wenn sie sich zu angegriffen für andere Beschäftigungen fühlte, mit einer Innigkeit wie sie an keiner anderen meiner Erinnerungen haftet. Das sind meine unvergänglichen Reliquien; auf diese Taten aus meinem Leben werde ich am freudigsten zurücksehen, wenn die Alles verhüllenden Schatten des Todes mich umschließen.

Meine Gedanken, die sich in einsamen Stunden meist mit Personen und Ereignissen aus der Vergangenheit beschäftigten, wanderten unzählige Male zu Miß Dunroß und Shetland zurück. Kein Gefühl des Grauens begleitete nun mehr meine lästigen Zweifel über das, was der schwarze Schleier mir in Wirklichkeit verborgen haben mochte, wenn ich jetzt daran zurückdachte. Je entschiedener meine späteren Erinnerungen an Miss Dunroß mit der Vorstellung eines unsagbaren, körperlichen Gebrechens verknüpft waren, um so höher stieg die edle Natur dieses Weibes in meiner Achtung.

Die Versuchung, dem Versprechen, das ich scheidend ihrem Vater gegeben hatte, ungetreu zu werden, trat zum ersten Male seit ich Shetland verlassen hatte an mich heran. Wenn ich wieder des in tiefer Nacht gestohlenen Kusses gedachte, wenn ich mir die zarte weiße Hand vergegenwärtigte, die mir durch die dunklen Vorhänge ihr letztes Lebewohl zuwinkte und wenn sich zu diesen Bildern die Erinnerung an das gesellte, was meine Mutter vermutete und Frau van Brandt im Traume gesehen hatte, wurde mein Verlangen, Miss Dunroß auf irgend eine Weise zu versichern, dass ihr Platz in meiner Erinnerung und in meinem Herzen unnehmbar sei, stärker, als dass menschliche Kraft ihr widerstehen konnte. Ich hatte mein Ehrenwort verpfändet, dass ich weder schreiben noch nach Shetland zurückkehren wollte. Tag für Tag erwog ich nun die Frage, wie ich auf irgend eine Weise im Geheimen mit ihr in Verbindung treten bunte. Es bedurfte nur eines Winkes, um mich auf die Fährte zu bringen und, aus Ironie des Zufalls, war es gerade meine Mutter durch die ich diesen Wink erhielt.

Von Zeit zu Zeit sprachen wir immer noch von Frau van Brandt. Meine Mutter hatte sich vollkommen überzeugt, indem sie mich bei Gelegenheiten, wo wir mit Bekannten in Torquay zusammen waren, beobachtet hatte, dass keine andere Frau, welches auch immer ihre Reize sein mochten, in meinem Herzen den Platz einnehmen konnte, den die Frau besaß, die ich verloren hatte. Sie wollte, weil sie nur auf diesem Wege ein Glück für mich absah, den Gedanken an meine Verheiratung mit Frau van Brandt nicht aufgeben. Meine Mutter äußerte sich dahin, dass wenn eine Frau einem Manne ihre Liebe eingestanden hat, es nur an dem Manne selbst liegen kann, wenn er sie trotz aller ersinnlichen Hindernisse nicht doch zu seiner Gattin macht· Nachdem sie wiederholentlich ihre Ansicht dahin ausgesprochen hatte, zwang sie mich durch folgende Worte, sie auch eines Tages in Erwägung zu ziehen:

»Eines stört während unseres hiesigen Aufenthalts mein Glück, Georg. Ich bin Dir in Deinem Verkehr mit Frau van Brandt hinderlich.«

»Du vergisst, dass sie England verlassen hat,« sagte ich, »ohne mir zu sagen, wo sie zu finden ist.«

»Wäre ich Dir jetzt nicht eine Bürde, mein lieber Sohn, so würdest Du sie bald genug auffinden. Aber warum kannst Du ihr nicht unter den obwaltenden Verhältnissen wenigstens schreiben? Missdeute meine Gründe nicht, George! Wenn ich die geringste Hoffnung hätte, dass Du sie vergessen könntest, wenn ich Dich von einer der reizenden Frauen, die wir hier kennen, nur einigermaßen angezogen sähe, so würde ich sagen, wir wollen nie mehr an Frau van Brandt denken oder von ihr sprechen. Dein Herz, mein lieber Sohn, ist aber allen Weibern bis auf dieses eine verschlossen. Sei denn auf Deine Weise glücklich und lass mich das noch sehen bevor ich sterbe. Sicher wird der Elende, dem dieses arme Geschöpf sein Leben opfert, sie früher oder später schlecht behandeln oder verlassen und dann muss sie sich zu dir wenden. Benimm ihr also den Glauben, dass Du ihren Verlust ruhig erträgst. Je entschlossener Du ihren Bedenken entgegentrittst, je mehr wird sie Dich im Stillen lieben und verehren. Das ist so Frauenart. Schreibe ihr erst und sende ihr dann irgend ein kleines Geschenk. Du hattest neulich die Absicht, mich in das Atelier des jungen Künstlers zu führen, der kürzlich hier seine Karte abgegeben hat. Ich höre, dass er wundervolle Miniaturbilder malt. Warum willst Du Frau van Brandt nicht Dein Bild schicken?

Das war ein Einfall, nach dem ich vergeblich gesucht hatte! Wenn das Bild auch ganz überflüssig war, um meine Sache bei Frau van Brandt zu vertreten, so war es das günstigste Mittel mit Miss Dunroß in Beziehungen zu treten, ohne gerade entschieden das Versprechen zu brechen, das ihr Vater mir abgefordert hatte. Ohne ihr ein Wort zu schreiben, ohne ihr eine Botschaft zu senden, konnte ich ihr auf diese Weise sagen, wie dankbar ich ihrer gedachte und konnte in den bittersten Augenblicken ihres trüben, einsamen Lebens, freundlich mein Andenken in ihr wach rufen.

Gleich an demselben Tage ging ich allein zu dem Künstler. Während der Stunden, die meine Mutter in ihrem Zimmer verbrachte, wurden die Sitzungen gehalten, bis das Bild vollendet war. Ich ließ es in ein einfaches, goldenes Medaillon mit einer Kette fassen und übergab sofort mein Geschenk der einzigen Person, von der ich sicher war, dass sie es an seinen Bestimmungsort befördern würde. Diese war der alte Freund, dessen in dieser Erzählung als Sir James erwähnt worden ist und der mich auf dem Regierungsschiff mit nach Shetland nahm.

Es bedurfte keiner Rückhaltung als ich Sir James die nötigen Auseinandersetzungen schrieb, denn wir hatten damals auf der Rückreise mehr denn einmal vertraulich über Miss Dunroß gesprochen. Sir James hatte ihre traurige Geschichte von dem in Lerwick wohnenden Arzte gehört, da dieser ein alter Universitätsfreund war. Diesem Herrn bat ich ihn, mein Geschenk anzuvertrauen, und zögerte nicht, ihm bei diese Gelegenheit die Zweifel auszusprechen, die ich über das Geheimnis hegte, das der schwarze Schleier barg. Freilich war es unmöglich vorauszusagen, ob der Doktor diesen Zweifel heben konnte. Ich erlaubte mir nur den Vorschlag, durch eine ganz gebräuchliche Nachfrage nach dem Befinden der Miss Dunroß, den Gegenstand vorsichtig anzuregen.

Bei der langsamen Verbindung, wie man sie in jener Zeit nur ermöglichen konnte, musste ich auf die Antwort von Sir James, nicht wie jetzt nur Tage, sondern Wochen warten. Sein Brief erreichte mich noch obenein erst nach ungewöhnlich langer Zeit. Ob dadurch oder durch andere mir unerklärliche Gründe veranlasst, es überkam mich so entschieden die Vorahnung schlechter Nachrichten, dass ich mich nicht entschließen konnte, das Siegel in Gegenwart meiner Mutter zu erbrechen. Ich wartete bis ich mich in mein Zimmer zurückziehen konnte - und öffnete da erst den Brief.

Meine Ahnung hatte mich nicht getäuscht. Sir Jamess Antwort enthielt nur folgende Worte »Die einliegenden Zeilen erzählen ohne meine weitere Ausführung ihre traurige Geschichte selbst. Ich beklage sie nicht, aber ich bin für Sie tief betrübt.«

Der eben erwähnte Brief war von dem Arzte in Lerwick an Sir James gerichtet. Ich schreibe ihn ohne Zusatz wörtlich ab:

»Durch das stürmische Wetter der letzten Tage hat sich das Schiff, welches unseren Verkehr mit dem Festlande vermittelt, etwas verspätet. Ich erhielt Ihren Brief daher heute erst. Mit ihm zugleich kam eine kleine Schachtel an, die ein goldenes Medaillon an einer Kette enthielt, dessen Sie als das Geschenk erwähnen, welches ich auf Ihren Wunsch eigenhändig im Auftrage eines Ihrer Freunde, dessen Namen Sie nicht nennen können, an Miss Dunroß übergeben soll.

»Sie haben mich unbewusst, indem Sie mir diese Verhaltungsmaßregeln gaben, in eine sehr schwierige Lage gebracht.

Die unglückliche Dame, für die das Geschenk bestimmt ist, geht raschen Schrittes ihrem Ende entgegen - sie beschließt ein Leben, dessen mannigfache und furchtbare Leiden den Tod für sie wirklich als Gnade und Befreiung erscheinen lassen. Unter diesen traurigen Umständen ist es, wie ich glaube, wohl verzeihlich, wenn ich zögere ihr das Medaillon im Geheimen zu übergeben, weiß ich doch nicht mit welchen Erinnerungen dieses Andenken verknüpft ist und wie ernste Aufregungen es in ihr hervorrufen kann.

In dieser zweifelhaften Lage habe ich es gewagt, das Medaillon zu öffnen - und zögere nun um so mehr es abzugeben. Welche Erinnerungen sich für meine unglückliche Patientin an dieses Bild knüpfen, ahne ich natürlich nicht; ich weiß nicht ob sein Anblick sie in ihren letzten Lebensaugenblicken mit Freude oder Schmerz erfüllen wird. Ich habe also beschlossen es morgen bei meinem Besuche mit mir zu nehmen und es dann ganz von den Umständen abhängig zu machen, ob ich es ihr gebe oder nicht. Unsere Post geht erst in drei Tagen nach dem Süden ab, ich lasse diesen Brief also offen, bis ich Ihnen das Resultat mitteilen kann.

»Soeben komme ich von meinem Besuch bei ihr nach Hause zurück. Ich bin ganz verzweifelt, dennoch will ich versuchen Ihnen klar und genau mitzuteilen, was sich zutrug.

Als ich sie heut morgen zuerst sah, hatten ihre sinkenden Kräfte sich für einige Augenblicke erholt. Die Wärterin meldete mir, dass sie die ersten Morgenstunden hindurch geschlafen hatte. Dem Schlafe waren Fiebersymptome mit leichten Fantasien vorangegangen. Die Worte, die ihr während dieses Zustandes entschlüpften, schienen sich hauptsächlich auf einen Abwesenden zu beziehen, den sie »George« nannte. Wie man mir berichtete, war es ihr lebhaftestes Verlangen »George« noch vor ihrem Tode wiederzusehen.

Bei dieser Mitteilung durchflog mich der Gedanke, dass das Bild in dem Medaillon möglichenfalls das Bild jenes Abwesenden sein möchte. Ich hieß die Wärterin das Zimmer zu verlassen und ergriff ihre Hand. Teils auf ihre eigene, bewundernswürdige Stärke und Willenskraft bauend, teils in dem Bewusstsein, dass sie mir als ihrem alten Freunde und Ratgeber vertraute, erwähnte ich der Äußerungen, die sie in ihrem Fieberzustande gemacht hatte. Dann sagte ich zu ihr: Sie wissen, dass jedes Ihrer Geheimnisse bei mir treu bewahrt ist, sagen Sie mir also, ob Sie von George irgend ein kleines Liebeszeichen oder Andenken erwarten?

Meine Frage war getan. Der schwarze Schleier, den sie immer trug, verhüllte ihr Gesicht, so dass nichts mir den Eindruck verraten konnte, den ich auf sie hervorbrachte, es sei denn ihre wechselnde Temperatur oder eine leichte Bewegung der Hand, die ich unter der seidenen Bettdecke in der meinen hielt.

Zuerst schwieg sie. Ihre kalte Hand wurde plötzlich heiß und drückte die meine lebhaft. Ihr Atem wurde beengt. Sie sprach mit großer Anstrengung und legte mir nur die eine Frage vor:

»Ist er hier?«

Ich sagte: »Es ist außer mir niemand hier.«

»Haben Sie einen Brief für mich?«

Ich sagte: »Nein.«

Sie lag eine Zeit lang still. Ihre Hand erkaltete wieder und ließ allmälig die meine los. Endlich sagte sie: »Eilen Sie, Doktor! Was es auch sein mag, geben Sie es mir, ehe ich sterbe.«

Ich wagte das Experiment, öffnete das Medaillon und gab es ihr in die Hand.

Zuerst zögerte sie, wie es schien es anzusehen und sagte nur: »Wenden Sie mich so im Bett um, dass mein Gesicht nach der Wand zu liegt.« Ich gehorchte. Mit dem Rücken gegen mich gekehrt, lüftete sie ihren Schleier und besah darin, wie ich glaube, das Bild. Ein langer, leiser Schrei entfuhr ihr, nicht voll Schmerz oder Qual, nein, ein Aufschrei der Wonne, des Entzückens. Ich hörte, wie sie das Bild küsste. So sehr ich durch meinen Beruf auch an ergreifende Eindrücke für Auge und Ohr gewöhnt bin, so erinnere ich mich nie durch irgend etwas so ganz überwältigt worden zu sein, wie ich es in diesem Augenblicke war. Ich musste aufstehen und an das Fenster gehen.

Kaum eine Minute war verflossen, als ich wieder an das Bett trat. Sie hatte den Schleier wieder über das Gesicht gezogen. Ihre Stimme war viel schwächer geworden, so dass ich sie nur vernehmen konnte, wenn ich mich über sie neigte und mein Ohr an ihre Lippen legte.

»Hängen Sie es um meinen Hals,« flüsterte sie.

Ich schlang ihr die Kette des Medaillons um den Hals. Sie versuchte die Hand danach auszustrecken, aber die Kräfte versagten ihr.

Sein Sie mir behilflich es zu verbergen,« sagte sie.

Ich unterstützte ihre Hand. Sie verbarg das Medaillon unter dem weißen Gewande, das sie an dem Tage trug, an ihrem Busen. Ihre Atemnot nahm zu. Ich legte sie höher auf das Kopfkissen, aber das Kissen war nicht hoch genug. So lehnte ich ihren Kopf an meine Schulter und öffnete teilweise den Schleier. Als sie eine augenblickliche Erleichterung empfand, sprach sie wieder.

»Versprechen sie mir,« sagte sie, »dass keine fremde Hand mich berühren soll. Versprechen Sie mir, mich zu begraben, wie ich bin.«

Ich gab ihr das Versprechen.

Ihr stockender Atem beschleunigte sich. Sie war kaum noch fähig die nächsten Worte auszustoßen:

»Bedecken Sie mein Gesicht wieder.«

»Ich verhüllte es mit dem Schleier. Sie lag schweigend da. Plötzlich setzte das mühsame Atmen aus. Sie fuhr zusammen und erhob den Kopf von meiner Schulter.

»Haben Sie Schmerzen?« fragte ich.

»Ich bin im Himmel,« war ihre Antwort.

»Während sie sprach, sank ihr Kopf an meine Brust zurück. In diesem letzten Ausruf der Freude hatte sie ihren Atem ausgehaucht. Der Augenblick ihrer höchsten Wonne war der Augenblick ihres Todes geworden. Endlich hatte Gottes Barmherzigkeit sie erreicht.«

Ich will meinen Brief beenden, ehe die Post abgeht.

Ich habe alle Anordnungen zur Erfüllung meines Versprechens getroffen. Das Medaillon an ihrem Busen verborgen, ihr Gesicht mit dem schwarzen Schleier verhüllt, so wird man sie begraben. Ein edleres Wesen hat nie auf dieser Welt geatmet. Sagen Sie dem Freunde, der ihr sein Bildnis sandte, dass ihre letzten Augenblicke voller Glückseligkeit waren, weil sein Geschenk ihr bewies, dass er ihrer gedachte.

Soeben finde ich eine Stelle in Ihrem Briefe, die ich noch nicht beantwortet habe. Sie fragen mich, ob dem beharrlichen Verbergen ihres Gesichts hinter dem Schleier etwas Tieferes zu Grunde lag, als das, womit sie den Personen ihrer Umgebung diesen Umstand erklärte. Es ist wahr, dass sie unter einer krankhaften Empfindlichkeit gegen die Einwirkung des Lichtes litt, aber es ist ebenso wahr, dass das nicht die einzige und nicht die schlimmste Wirkung der Krankheit war, an der sie litt. Sie hatte einen anderen Grund um ihr Gesicht zu verbergen, einen Grund, den nur zwei Personen kennen, der Arzt, der in dem Dorfe, das nah bei ihres Vaters Hause liegt, lebt und ich. Wir haben uns beide verpflichtet, nie einem sterblichen Wesen zu enthüllen, was unsere Augen gesehen haben. Selbst vor ihrem Vater haben wir unser furchtbares Geheimnis verborgen und sind entschlossen es mit ins Grab zu nehmen. So hätte ich demjenigen, in dessen Auftrag Sie mir schreiben, nichts weiter über diesen tief traurigen Gegenstand zu berichten. Wenn er jetzt ihrer gedenkt, möge er sie sich in der Schönheit vorstellen, die kein irdisches Gebrechen mehr zerstören kann - in der Vollkommenheit eines befreiten Geistes, der in der Gemeinschaft mit Gottes Engeln ewig selig ist.

Schließlich lassen Sie mich in meinem Briefe noch hinzufügen, dass der arme, alte Vater sein Leben nicht in dem Hause am See in freudloser Einsamkeit beschließen wird. Er wird den Rest seines Tage unter meinem Dache verleben; mein treues Weib wird ihn pflegen und meine Kinder werden ihn daran erinnern, dass das Leben auch noch lichte Seiten hat.«

So schloss der Brief. Ich legte ihn bei Seite und ging aus. Die Einsamkeit meines Zimmers gemahnte mich in unerträglicher Weise an die tiefe Einsamkeit meines zukünftigen Lebens. Meine Interessen in dieser geschäftigen Welt waren jetzt auf einen einzigen Gegenstand beschränkt - auf die Sorge um die zerrüttete Gesundheit meiner Mutter. Eine von den beiden Frauen, deren Herzen meist in liebevollem Verständnis für das meine geschlagen hatten, lag nun im Grabe, die andere war mir im fernen Lande für immer verloren. Ich begegnete meiner Mutter in ihrem kleinen Ponywagen auf dem Fahrwege am Strande, wie sie langsam in dem milden Wintersonnenschein dahin fuhr. Ich entließ den Kutscher, der sie fuhr und ging, die Zügel in der Hand, neben dem Wagen her. Wir plauderten ruhig über alltägliche Gegenstände. Ich verschloss der trüben Zukunft, die vor mir lag, meine Blicke und versuchte zwischen meinem Herzweh hindurch, entschlossen der gegenwärtigen Stunde zu leben.


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