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Die Blinde



Elftes Kapitel - Blinde Liebe

Lucilla saß, als ich ins Wohnzimmer trat, am Clavier.

»Ich habe mich nach Ihnen gesehnt«, sagte sie. »Ich habe das ganze Haus nach Ihnen durchsuchen lassen. Wo sind Sie gewesen?«

Ich sagte ihr, wo ich gewesen sei.

Mit einem Schrei des Entzückens sprang sie auf.

»Sie haben ihn dahin gebracht, Ihnen sein Vertrauen zu schenken; Sie haben alles herausgebracht;: Sie haben zwar nur gesagt: »Ich bin in Browndown gewesen«, aber ich habe es an Ihrer Stimme gehört, daß Sie Alles wissen. Heraus damit,heraus damit!«

Ich erzählte ihr nun, während Sie regungslos dastand und kaum zu athmen wagte, Alles was zwischen Oscar und mir vorgegangen war. Kaum war ich mit meinem Berichte fertig, als sie hochroth und leidenschaftlich aufgeregt nach der Thür ihres Schlafzimmers eilte.

»Was wollen Sie thun?« fragte ich

»Ich will meinen Hut und meinen Stock holen «

»Wollen Sie ausgehen?«

»Ja.«

»Wohin?«

»Können Sie das noch fragen? Natürlich nach Browndown!«

Ich bat sie, einen Augenblick zu warten und mich erst anzuhören. Ich brauche wohl kaum hinzuzufügen, daß ich mit ihr zu reden wünschte; um ihr klar zu machen, daß es unschicklich für sie sein würde, an einem und demselben Tage einen ihr fremden Mann zum zweiten Male zu besuchen. Ich erklärte ihr unumwunden, daß eine solche Handlungsweise hinreichen würde, ihren Ruf in Gefahr zu bringen. Das Ergebniß meiner Einmischung war merkwürdig und höchst interessant; es zeigte mir, daß die Tugend der Bescheidenheit — ich rede wohlgemerkt nicht von der Tugend der Wohlanständigkeit — ein künstliches Gewächs ist und daß die Entwickelung dieser Tugend nicht durch den Einfluß der Rede, sondern durch den des Gefühles bewirkt wird. Man stelle sich vor, daß ich in der ebenerwähnten Weise mit einem anderen zum ersten Male verliebten Mädchen spräche, was würde das Mädchen thun? Es würde sicherlich in eine unruhige Verwirrung gerathen und aller Wahrscheinlichkeit nach, während es mir zuhörte, lieblich erröthen. Aber Lucilla’s hübsches Gesicht zeigte nur einen Ausdruck, den der Enttäuschung, vielleicht untermischt mit etwas Erstaunen. Ich hielt sie schon damals für das, was sie, wie ich mich später überzeugte, wirklich war: das reinste Geschöpf, das die Erde jemals getragen hat. Und doch zeigte sich bei ihr keine Spur von der natürlichen und ein Mädchen so gut kleidenden Verwirrung, keine Spur von dem lieblichen, dem Weibe eigenen Wechseln der Farbe, das ich so sicher erwartet hatte, und dabei war sie, wohlgemerkt, von ungewöhnlich feinfühliger und impulsiver Natur, und sonst bei den geringfügigsten Anlässen sehr leicht erregt und immer bereit, ihrer Erregung Ausdruck zu geben. Was hatte das zu bedeuten? Es zeigte sich mir hier eine eigenthümliche Wirkung des schrecklichen Leidens, welches ihr Leben verdunkelte, und es bedeutete, daß Bescheidenheit wesentlich der Ausfluß unseres Bewußtseins davon ist, daß die Augen Anderer uns beobachten und daß Blindheit aus dem einfachen Grunde nie verschämt ist, weil sie — nicht sehen kann! Das bescheidenste Mädchen ist im Dunkeln kühner gegen ihren Geliebten. Ein Mädchen oder eine Frau, die zum ersten Male in einem Actsaale als Modell sitzen soll und sich vor dieser Schaustellung ihrer Reize entsetzt, läßt sich schließlich doch überreden, ein Künstleratelier zu betreten, wenn man ihr die Augen verbindet. Meine arme Lucilla hatte immer eine Binde vor den Augen, sie konnte ihren Geliebten nie sehen. Sie war mit den Leidenschaften eines Weibes aufgewachsen und hatte doch nie die Grenzen der furchtlosen und reinen Unschuld eines Kindes überschritten. O, wenn jemals einem Menschen ein heiliges Pfand anvertraut war, so mußte ich mich als den Hüter eines solchen Pfandes betrachten! Ich konnte es nicht ertragen, das arme hübsche blinde Gesicht nach meinen letzten Worten mit einem solchen Ausdruck der Unempfindlichkeit mir zugekehrt zu sehen Ich ergriff ihren Arm und zog sie aus meinen Schooß: »Liebes Kind«, sagte ich sehr ernst, »Sie dürfen heute nicht wieder zu ihm gehen.«

»Ich habe ihm aber so viel zu sagen«, antwortete sie ungeduldig. »Ich möchte ihm sagen, wie tief ich für ihn empfinde und wie sehr es mir am Herzen liegt, sein Leben, wenn es mir möglich ist, glücklicher zu gestalten.«

»Meine liebe Lucilla! Das dürfen Sie einem jungen Manne nicht sagen. Das wäre so gut, als wenn sie ihm geradeheraus erklärten, das sie ihn lieben!«

»Ich liebe ihn!«

»Still, still. Behalten Sie das für sich, bis Sie gewiß sind, daß er Ihre Liebe erwidert. Es gebührt dem Manne, mein Liebling, und nicht dem Weibe, bei solchen Gelegenheiten seine Gefühle zuerst zu offenbaren.«

»Das ist sehr hart für die Frauen. Wenn sie zuerst fühlen, sollten sie auch ihre Gefühle zuerst aus sprechen dürfen.« Sie schwieg einen Augenblick nachdenklich und sprang dann plötzlich von meinem Schooße auf, indem sie ungestüm rief: »Ich muß ihn sprechen. Ich muß ihm sagen, daß ich seine Geschichte gehört habe und daß ich darnach nicht schlechten sondern nur besser von ihm denke!«

Wieder wollte sie fort, « um ihren Hut zu holen. Meine einzige Hoffnung sie zurückzuhalten, beruhte auf der Möglichkeit, sie zu einem Compromiß zu bewegen.

»Schreiben Sie ihm ein Billet«, sagte ich, bedachte dann aber plötzlich, daß sie blind sei.

»Sie sollen mir dictiren«, fügte ich hinzu, »ich will für Sie schreiben. Begnügen Sie sich damit für heute um meinetwillen, Lucilla.

Das arme Kind gab mit einigem Widerstreben nach.

Aber sie weigerte sich eifersüchtig, mich für sie schreiben lassen.

»Mein erstes Billet an ihn muß ganz von mir geschrieben sein«, sagte sie, »ich kann schreiben auf meine eigene weitläufige Manier. Es dauert lange; und ist langweilig, aber es geht doch. Sehen Sie! einmal her.«

Sie ging mir voran an einen in einer Ecke des Zimmers stehenden Schreibtisch, setzte sich und hielt eine Weile nachdenklich die Feder in der Hand. Plötzlich übergoß ihr unwiderstehlich liebliches Lächeln wie ein Strom von Licht ihr Antlitz »O!« rief sie, »jetzt weiß ich, wie ich ihm sagen will, was ich denke «

Indem sie die von ihrer rechten Hand gehaltene Feder mit den Fingern der linken leitete, schrieb sie langsam in großen kindischen Lettern das Folgende:

»Lieber Herr Oscar, ich habe Alles über Sie er fahren. Bitte, schicken Sie mir die kleine goldene Vase.

Ihre Freundin Lucilla.«

Sie couvertirte und adressirte den Brief und klatschte vor Freude in die Hände »Er wird verstehen, was das zu bedeuten hat«, sagte sie fröhlich.

Es war vergebens, ihr zum zweiten Mal Vorstellungen zu machen. Ich klingelte, — natürlich unter Protest, denn was sollte man davon denken, daß sie ein Geschenk von einem Herrn annehmen wollte, welchen sie diesen Morgen zum ersten Mal gesprochen hatte, — und der Stallknecht wurde mit dem Brief nach Browndown geschickt. Indem ich diese Concession machte, sagte ich mir:

»Ich will Oscar schon im Zaum halten, er ist der lenksamere von Beiden!«

Die Zeit bis zur Rückkehr des Stallknechts war nicht leicht auszufüllen Ich schlug vor, etwas zu: musiciren; aber Lucilla war noch zu voll von der Angelegenheit, die ihr Interesse so ganz in Anspruch nahm. Plötzlich fiel es ihr ein, daß ihr Vater und ihre Stiefmutter beide davon unterrichtet werden müßten, daß Herr Dubourg vollkommen würdig sei, in dem Pfarrhause als Gast empfangen zu werden; sie beschloß, ihrem Vater zu schreiben.

Bei dieser Gelegenheit machte sie keine Schwierigkeit, mir zu dictiren und mich für sie schreiben zu lassen. Wir brachten zusammen einen enthusiastischen, etwas überschwänglichen Brief zu Stande. Ich war keineswegs sicher, daß wir damit dem ehrwürdigen Finch eine günstige Meinung von unserem neuen Nachbarn beibringen würden. Indessen das war nicht meine Sache. Ich erschien bei dieser Angelegenheit in einem sehr günstigen Lichte, als die besonnene fremde Dame, welche darauf bestanden hatte, Nachforschungen anzustellen. Ueberdies war es für mich eine Ehrensache, in einem Briefe, den ich für eine Blinde schrieb, an dem, was mir dictirt wurde, kein Wort zu ändern. Als der Brief fertig war, schrieb ich die Adresse des Hauses in Brighton, in welchem sich Herr Finch damals gerade aufhielt und wollte eben das Couvert schließen, als mich Lucilla zurückhielt.

»Warten Sie einen Augenblick«, sagte sie, »schließen Sie den Brief noch nicht.«

Ich begriff nicht recht, warum ich das Couvert noch offen lassen sollte und warum Lucilla ein wenig verlegen aussah, als sie mir untersagte, den Brief zu schließen, Ich erhielt bald einen neuen unerwarteten Aufschluß über den Einfluß, den Blindheit auf die von ihr Betroffenen übt. — Nachdem wir miteinander Rath gehalten hatten, waren wir übereingekommein daß ich Frau Finch von der Aufklärung des Geheininisses in Browndown benachrichtigen solle. Lucilla gestand offen, daß sie keinen besonderen Geschmack an der Gesellschaft ihrer Stiefmutter finde, und ebensowenig an der jedem sich lange bei dieser fruchtbaren Dame Aufhaltenden, unvermeidlich obliegenden Verpflichtung, ihr Schnupftuch aufzuheben oder ihr Baby zu halten. Ich erhielt einen Schlüssel zu der Verbindungsthür zwischen den beiden Theilen des Hauses und ging fort. Ehe ich meinen Auftrag ausrichtete, ging ich einen Augenblick in mein Schlafzimmer, um meinen Hut und meinen Sonnenschirm wegzulegen. Als ich wieder an der Thür des Wohnzimmers vorüberkam, fand ich, daß dieselbe von Jemandem, der das Zimmer nach mir betreten hatte angelehnt gelassen war und hörte ich Lucilla sagen: »Nimm den Brief aus dem Couvert und lies ihn mir vor.«

Ich ging weiter über den Corridor an der Thür vorüber, sehr langsam, wie ich bekennen muß, und hörte, wie die alte Amme Lucilla die ersten Sätze des Briefes, den ich unter ihrem Dictat geschrieben hatte, laut vorlas. Der unüberwindliche Argwohn der Blinden, welche, in fortwährendem Mißtrauen gegen die Personen um sie her, immer fürchten, von einem der Glücklichen, die sehen können betrogen zu werden, hatte Lucilla getrieben, mich, selbst in einer so geringfügigen Angelegenheit, wie dieser Brief es war, hinter meinem Rücken aus die Probe zu stellen. Sie bediente sich Zillahs Augen, um sich zu vergewissern, daß ich wirklich Alles, was sie dictirt hatte, geschrieben habe, gerade wie sie sich bei vielen späteren Gelegenheiten meiner Augen bediente, um sich zu vergewissern, daß Zillah Aufträge zu häuslichen Besorgungen pünktlich ausgeführt habe. Keine noch so lange Erfahrung von der treuen Ergebenheit derer, welche mit ihnen leben, beruhigt die Blinden ganz.

Wie traurig muß es sein, in ewiger Finsterniß zu leben!

In dem Augenblick, wo ich die Verbindungsthür öffnete, war es, als hätte ich gleichzeitig alle Thüren der Schlafzimmer im Pfarrhause geöffnet.

Kaum hatte ich den Vorplatz betreten, als die Kinder aus einem Zimmer nach dem anderen wie Kaninchen aus ihren Höhlen hervor huschten.

»Wo ist Eure Mama?« fragte ich.

Die Kaninchen antworteten mir mit einem allgemeinen Gekreisch und huschten wieder in ihre Höhlen zurück.

Ich ging die Treppe hinunter, um mein Glück im Erdgeschoß zu versuchen. Aus dem Fenster des Treppenabsatzes hatte man eine Aussicht auf den Vordergarten. Ich sah hinaus und erblickte unsere kleine Zigeunerin, die pausbackige Jicks, ganz allein im Garten umherstreifen, offenbar um die nächste Gelegenheit zu erspähen, wo sie sich ungesehen davonmachen könnte.

Dieses merkwürdige kleine Geschöpf machte sich nichts aus der Gesellschaft der andern Kinder. Zu Hause pflegte sie nachdenklich in einer Ecke des Zimmers zu sitzen und ihre Mahlzeiten, wenn irgend möglich, auf dem Fußboden zu nehmen. Außerhalb des Hauses streifte sie umher bis ihre Kräfte erschöpft waren, und legte sich dann wie ein kleines Thier an die erste beste Stelle zum Schlafen. Sie blickte zufällig auf, während ich am Fenster stand. Als sie meiner ansichtig wurde, deutete sie mit der Hand nach der Pforte des Pfarrhauses. »Was giebts?« fragte ich. Die kleine Zigeunerin antwortete: »Jicks will da hinaus.«

In demselben Augenblick benachrichtigte mich das Geschrei eines Baby von unten her, daß ich mich in nächster Nähe von Frau Finch befinde. Ich ging dem Geschrei nach, bis ich an die Schwelle einer offenstehen den großen Speisekammer am äußersten Ende des Vorplatzes gelangte. In der Mitte der Kammer saß Frau Finch, damit beschäftigt, der Köchin Haushaltsgegenstände zu verabreichen. Dieses Mal war sie mit einem Unterrock begleitet und in einen Shawl gehüllt, und hatte das Baby und den Roman, flach auf dem Rücken liegend, auf dem Schoß.

»Acht Pfund Seife? Ich möchte wohl wissen, wo das Alles bleibt!« stöhnte Frau Finch unter dem Accompagnement des schreienden Baby’s. »Fünf Pfund Soda für das Waschhaus? Man sollte glauben, wir besorgten die Wäsche für das ganze Dorf. Sechs Pfund Lichte? Sie müssen die Lichte essen wie die Russen; wer hat je gehört, daß man sechs Pfund Lichte in einer Woche verbrennt? Zehn Pfund Zucker? Wer bekommt denn all’ den Zucker? Ich nehme nie Zucker, ich bekomme das ganze Jahr keinen Zucker zu kosten. Vergeudung, nichts als Vergeudung!« Bei diesen Worten blickte Frau Finch nach der Thür und wurde meiner ansichtig. »O, Madame Pratolungo! Wie geht es Ihnen? Gehen Sie nicht fort; ich bin gerade fertig. Eine Flasche Wichse? Meine Schuhe sehen ja aus, daß es eine Schmach für das ganze Haus ist. Fünf Pfund Reis? Wenn ich indische Dienstboten hätte, würden fünf Pfund Reis ein Jahr lang für dieselben ausreichen. Hier, bringen Sie die Sachen nach der Küche. Entschuldigen Sie meinen Anzug, Madame Pratolungo. Wie soll ich mich anziehen, bei Allem was ich zu thun habe? Wie sagen Sie? Meine Zeit muß sehr in Anspruch genommen sein? Ach, das ist es ja gerade! Wenn man des Morgens eine halbe Stunde verloren hat und sie nicht wieder einbringen kann, nicht zu gedenken des Ausgebens in der Speisekammer und des Verspätens des Mittagessens für die Kinder und des verdrießlichen Baby’s, so zieht man rasch einen Unterrock an, wirft sich einen Shawl über und läßt die Dinge gehen wie sie gehen wollen. Wo mag nur mein Schnupftuch geblieben sein? Hatten Sie wohl die Güte, zwischen den Flaschen hinter Ihnen nachzusehen? O, hier ist es schon; das Baby liegt darauf. Darf ich Sie bitten, mir das Buch einen Augenblick zu halten? Ich glaube das Baby wird ruhiger sein, wenn ich es anders herumliege.«

Bei diesen Worten legte Frau Finch das Baby auf den Bauch und klopfte es weidlich auf den Rücken Aber der nicht zu beschwichtigende Säugling schrie nur um so lauter. Seine Mutter schien dieses Geschrei durchaus nicht zu rühren. Die resignirte häusliche Märtyrerin blickte ruhig zu mir auf, während ich, den Roman in der Hand, fassungslos vor ihr stand.

»O, das ist eine sehr interessante Geschichte«, fuhr sie fort. »Es kommt natürlich sehr viel Liebe darin vor. Sie kommen deshalb her, nicht wahr? Ich erinnere mich, ich versprach gestern, Ihnen das Buch zu leihen.«

Noch ehe ich antworten konnte erschien die Köchin, wieder, um sich noch weitere Haushaltungsgegenstände zu holen. Frau Finch wiederholte die Forderungen der Köchin eine nach der anderen in Tönen der Verzweiflung.

»Noch eine Flasche Essig? Ich glaube Sie begießen den Garten mit Essig. Noch mehr Stärke? Ich bin überzeugt, daß bei der Wäsche der Königin nicht so viel Stärke wie bei uns verbraucht wird. Sandpapier? Sandpapier wird in diesem verschwenderischen Hause wie Makulatur behandelt. Ich werde es dem Herrn sagen. Wenn es so fortgeht, kann ich wahrhaftig nicht mit meinem Hausstandsgelde auskommen. Gehen Sie nicht fort, Madame Pratolungo, ich werde gleich fertig sein. Wie, Sie müssen fort? O, dann legen Sie, bitte das Buch wieder auf meinen Schoß und werfen Sie doch einmal einen Blick hinter jenen Sack; der erste Band ist heute Morgen da hinuntergefallen und ich habe noch keine Zeit gehabt, ihn wieder aufzuheben. — Sandpapier? Meinen Sie, ich könnte Sandpapier hexen? Haben Sie den ersten Band gefunden? Ach, da ist er! Ganz mit Mehl bedeckt; der Sack wird wohl ein Loch haben. — Zwölf Bogen Sandpapier in einer Woche gebraucht! Wozu? Ich möchte doch wohl wissen wozu? Vergeudung, schmähliche, sündhafte Vergeudung!«

In diesem Stadium von Frau Finchs Gejammer machte ich mich mit dem Buche davon und verschob die Mittheilung in Betreff Oscar Dubourgs auf eine passendere Gelegenheit. Die letzten Worte, die ich beim Hinausgehen noch durch das Geschrei des Baby hindurch vernahm, betrafen noch immer den verschwenderischen Verbrauch von Sandpapier. Vergießen wir eine Thräne über Frau Finchs Leiden und überlassen wir sie ihren Jeremiaden über häusliche Verschwendung in der duftigen Atmosphäre ihrer Speisekammer.

Ich hatte eben Lucilla über das Fehlschlagen meiner Expedition nach dem Vorderhause berichtet, als der Stallknecht mit der goldenen Vase und einem Briefe zurückkehrte. Oscar’s Antwort war nach dem Vorbilde von Lucillais Billet geflissentlich kurz gefaßt. »Sie haben mich wieder zu einem glücklichen Menschen gemacht. Wann darf ich der Vase folgen?« Diese beiden Sätze bildeten den ganzen Brief.

Zu einer zweiten Discussion mit Lucilla gab die Frage Veranlassung, ob es schicklich sei, daß wir Oscar in Abwesenheit des Ehrwürdigen Finch empfingen. Alles was ich erreichen konnte, war, daß ich sie über redete zu warten, bis sie wenigstens von ihrem Vater gehört haben werde, wogegen ich mich bereit erklären mußte, am nächsten Morgen wieder in der Richtung nach Browndown mit ihr spazieren zu gehen. Durch diese neue Concession gelang es mir, sie zu beruhigen.

Sie hatte sein Geschenk empfangen, sie hatte Briefe mit ihm gewechselt; das war für den Augenblick genug, um sie zu befriedigen.

»Glauben Sie, daß er auf dem Wege ist, sich in mich zu verlieben?« fragte sie mich, ehe sie sich mit ihrer goldenen Vase ins Bett legte, grade wie sie als Kind ein neues Spielzeug mit sich ins Bett genommen haben würde. »Lassen Sie ihm Zeit, liebes Kind«, antwortete ich. »Nicht Jedem ist es gegeben, in einer so ernsten Angelegenheit wie diese so rasch vorzugehen wie Ihnen.« Mein Scherz übte keine Wirkung auf sie. »Nehmen Sie die Kerze fort«, sagte sie. »Ich bedarf ihrer nicht, ich kann ihn mit meinem inneren Auge sehen.« Sie legte sich bequem auf ihrem Kissen zurecht und klopfte mir mit neckischem Trotz auf die Wange, als ich mich über sie beugte. »Gestehen Sie nur, daß ich jetzt gegen Sie im Vortheil bin«, sagte sie. »Sie können im Dunkeln nicht ohne Ihre Kerze sehen; ich könnte in diesem Augenblick durch das ganze Haus gehen, ohne einen einzigen Fehltritt zu thun.«

Ich glaube aufrichtig, an jenem Abend war das »arme Fräulein Finch« das glücklichste Mädchen der Welt!


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