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Mann und Weib



Vierundsechzigstes Kapitel - Das Mittel

Der neue Tag brach an, die Sonne ging auf, im Hause fing es an, lebendig zu werden. Weder innerhalb noch außerhalb des Fremdenzimmers war irgend etwas Bemerkenswerthes vorgefallen Um die Zeit, wo verabredeter maßen der Besuch in Holchester House gemacht werden sollte, waren Geoffrey und Hester Dethridge allein in dem Schlafzimmer, in welchem Anne die Nacht zugebracht hatte.

»Sie ist schon zum Ausgehen angekleidet und wartet auf mich im Vordergarten«, sagte Geoffrey. »Sie wollten mich hier allein sprechen. Was wünschen Sie?«

Hester wies auf das Bett hin.

»Wollen Sie es von der Wand abgerückt haben?«

Hester nickte mit dem Kopf. Sie rückten zusammen das Bett einige Fuß von der Scheidewand ab. Nach einer kurzen Weile sagte Geossrey wieder: »Es muß heute Nacht geschehen. Ihre Freunde können sich in’s Mittel legen, die Magd kann wieder kommen. Es muß heute geschehen.«

Hester verneigte sich langsam.

»Wie lange verlangen Sie im Hause allein gelassen zu werden?«

Sie hielt drei Finger in die Höhe.

»Meinen Sie damit drei Stunden?«

Sie nickte mit dem Kopfe.

»Werden Sie in dieser Zeit damit fertig werden?«

Sie nickte abermals. Sie sah ihm nie, wenn er mit ihr sprach, in die Augen. In ihrer Art, ihm zuzuhören, in jeder kleinsten Bewegung, die sie zu machen gezwungen war, drückte sich immer dieselbe stumpfe Ergebenheit gegen ihn aus, derselbe stumme Schauder vor seiner Person. Er hatte das schon lange unangenehm empfunden, aber bisher schweigend ertragen. In dem Augenblick, wo er das Zimmer verlassen wollte, wurde er über den Zwang, den er sich bis dahin angethan hatte, ungeduldig. Zum ersten Mal gab er seiner Empfindung Ausdruck. »Zum Teufel, warum können Sie mir nicht in’s Gesicht sehen?«

Sie nahm von feiner Frage nicht die mindeste Notiz. Zornig wiederholte er dieselbe. Nun erst schrieb sie etwas auf ihre Tafel und hielt ihm noch immer, ohne ihn anzusehen, dieselbe entgegen.

»Ich weiß ja, daß Sie sprechen können«, sagte er. »Sie wissen ja, daß ich dahinter gekommen bin. Wozu denn also die alberne Posse mit mir spielen?«

Unverwandt hielt sie ihm die Tafel entgegen. Er warf den Blick darauf und las: »Ich bin stumm für Sie und blind für Sie, lassen Sie mich.«

»Sie lassen!« wiederholte er. »Es ist ein bischen spät, so zimperlich zu thun nach dem, was Sie begangen haben. Wollen Sie Ihr Bekenntuiß wieder haben oder nicht?«

Bei dem Wort »Bekenntniß« erhob sie zum ersten Mal ihren Kopf. Ein leichtes Roth überflog ihre fahlen Wangen, ein krampfhafter Ausdruck des Schmerzes zuckte einen Augenblick durch ihr todtenähnliches Gesicht. Das einzige Interesse welches diese Frau jetzt noch an das Leben knüpfte, war der Wunsch, das Manuscript, das man ihr weggenommen hatte, wieder zu erhalten. Das war das Einzige, für das ihr stumpf gewordener Verstand noch eine schwache Empfänglichkeit bewahrt hatte.

»Vergessen Sie nicht, was Sie bei unserem Handel zu thun übernommen haben, und ich werde auch meine Verpflichtungen erfüllen«, fuhr Geoffrey fort. »Sie wissen ja, wie die Sache steht. Ich habe Ihr Bekenntniß gelesen und finde, daß etwas darin fehlt. Sie sagen darin nicht, wie Sie es gethan haben. Ich weiß, Sie haben ihn erstickt, aber ich weiß nicht wie, und ich muß es wissen. Sie sind stumm und können es mir nicht sagen. Sie müssen also an der Wand hier dasselbe vornehmen, was Sie damals an der Wand in Ihrem Hause gethan haben. Sie riskiren nichts dabei; keine Seele kann Sie sehen, Sie sind ganz allein im Hause. Wenn ich wiederkomme, lassen Sie mich diese Wand genau so finden, wie jene andere Wand damals in dem Augenblick bei Anbruch des Tages war, wissen Sie, als Sie, das Handtuch in der Hand, auf den ersten Schlag der Kirchenglocke warteten. Lassen Sie mich die Wand so finden und Sie sollen Ihr »Bekenntniß« morgen zurückhaben.«

Als er zum zweiten Mal des Bekenntnisses gedachte, regte sich die fast erloschene Energie in dem Weibe noch einmal. Rasch griff sie nach der Tafel an ihrer Seite, schrieb mit eiligen Zügen etwas auf dieselbe und hielt sie ihm mit beiden Händen unter die Augen. Er las die Worte: »Ich will nicht warten, ich muß es noch heute Abend haben.«

»Denken Sie, ich trage Ihr Bekenntniß mit mir herum?« sagte Geoffrey. »Ich habe es nicht einmal im Hause.«

Sie schwankte nach rückwärts und sah zum ersten Male auf.

»Beunruhigen Sie sich nicht«, fuhr er fort, »es ist versiegelt mit meinem Petschaft und liegt sicher im Gewahrsam meines Banquiers. Ich habe es selbst auf die Post gebracht. Vor Kleinigkeiten schrecken Sie nicht zurück, Mrs. Dethridge. Wenn ich es im Hause irgendwo verschlossen hätte, so würden Sie vielleicht das Schloß erbrochen haben, sobald ich den Rücken gekehrt hätte, und wenn ich es gar bei mir trüge, so hätte ich vielleicht in einem kurzen Augenblick bei Anbruch des Tages das Handtuch über’s Gesicht bekommen. Der Banquier wird Ihnen, sobald Sie eine von mir unterzeichnete Ordre dazu vorweisen, Ihr Bekenntniß genau so wiedergeben, wie er es von mir bekommen hat. Thun Sie, was ich Ihnen gesagt habe und Sie sollen die Ordre noch heute Abend haben.«

Sie athmete tief auf. Geoffrey wandte sich der Thür zu und sagte: »Ich bin diesen Abend um sechs Uhr wieder hier. Wird es bis dahin fertig sein?«

Sie nickte mit dem Kopfe.

Nachdem sie so auf seine erste Bedingung eingegangen war, trat er mit der zweiten hervor. »Nach meiner Rückkunft«, nahm er wieder auf, »werde ich, wenn sich eine Gelegenheit dazu darbietet, auf mein Zimmer gehen, zuvor aber im Speisezimmer klingen. Sobald Sie klingeln hören, müssen Sie hinaufgehen, um mir dann oben zu zeigen, wie Sie die Sache damals in dem leeren Hause gemacht haben.«

Sie nickte abermals mit dem Kopfe.

In demselben Augenblick wurde die Hausthür unten geöffnet und wieder geschlossen Geoffrey ging nun sofort hinunter. Es war möglich, daß Anne etwas vergessen hatte, und sie mußte um jeden Preis verhindert werden, jetzt wieder auf ihr Zimmer zu gehen. Er traf sie auf dem Vorplatz. »Bist Du’s überdrüssig, im Garten zu warten?« fragte er kurz.

Sie wies nach dem Speisezimmer hin und sagte: »Der Postbote hat mir eben durch das Pfortengitter hindurch einen Brief für Dich gegeben, ich habe ihn im Speisezimmer auf den Tisch gelegt.«

Geoffrey trat ein. Die Adresse des Briefes war von Mrs. Glenarm’s Hand. Er steckte den Brief ungelesen in die Tasche, kehrte zu Anne zurück und sagte: »Wir müssen rasch gehen, sonst versäumen wir den Zug.« So machten sie sich nach Holchester House auf den Weg.


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