Wilkie Collins - Logo - Klicken, um Navigationsmenü einzublenden
 

Ein tiefes Geheimnis



Sechstes Kapitel

Warten und Hoffen

Die Woche des Wartens verging, aber von Onkel Joseph ging keine Nachricht in Porthgenna Tower ein.

Am achten Tage schickte Mr. Frankland einen Boten nach Truro mit dem Auftrage, Mr. Buschmanns Laden aufzusuchen und dem in demselben zurückgelassenen Gehilfen zu fragen, ob er Nachricht von seinem Herrn erhalten habe.

Im Laufe des Nachmittags kehrte der Bote zurück und meldete, Mr. Buschmann habe seit seiner Abreise an seinen Gehilfen einen einzigen kurzen Brief geschrieben und ihn benachrichtigt, er sei gegen Abend glücklich in London angelangt, von seinem Landsmann, dem deutschen Zuckerbäcker, gastfreundlich bewillkommnet worden, habe die Adresse seiner Nichte durch einen Zufall entdeckt, der ihm alle Mühe der Nachforschung erspart, und beabsichtige nun, sie zu einer frühen Stunde des nächsten Morgens aufzusuchen. Seit dem Eingang dieses Briefes habe der Gehilfe keine weitere Mitteilung von ihm erhalten und wisse daher auch nicht, wann er seine Rückkehr erwarten könne.

Die auf diese Weise erlangte Nachricht war nicht von der Art, daß dadurch die Ermutigung, welche der Zweifel und die Ungewißheit der vergangenen Worche in Mistreß Frankland erzeugt, gehoben worden wäre.

Ihr Gatte bemühte sich, diese Niedergeschlagenheit ihres Gemüts zu bekämpfen, indem er sie darauf aufmerksam machte, daß Onkel Josephs ominöses Schweigen ebenso wahrscheinlich durch die Abgeneigtheit, als durch die Unfähigkeit seiner Nichte, mit ihm nach Truro zurückzukehren, verursacht werden könne. Im Hinblick auf Saras außerordentliche Empfindlichkeit und kopflose Scheu erklärte er es für möglich, daß Rosamundes Botschaft, anstatt sie zu beruhigen, ihr vielleicht im Gegenteil neue Befürchtungen eingeflößt habe und sie deshalb in dem Entschlusse bestärte, sich außerhalb des Bereichs aller Mitteilungen von Porthgenna Tower zu halten.

Rosamunde hörte geduldig zu, während diese Ansicht des Falles ihr vorgetragen ward und gab zu, daß dieselbe unbestreitbar vernunftgemäß sei; dennoch aber war die Bereitwilligkeit, mit welcher sie zugab, daß ihr Gatte Recht und sie Unrecht haben könne, von keiner Besserung im Zustande ihrer Gemütsstimmung begleitet.

Die Auslegung, welche der alte Mann in Bezug auf die Verschlechterung von Mistreß Jazephs Handschrift gemacht, hatte einen lebhaften Eindruck auf ihr Gemüt geäußert und dieser Eindruck war durch ihre eigene Erinnerung an das bleiche Gesicht, als sie einander in West Winston gesehen, noch mehr bestärkt worden. Mochte daher Mr. Frankland auch noch so überzeugend folgern, so war er doch nicht im Stande, die Überzeugung seiner Gattin, daß Onkel Josephs Schweigen nur in der Krankheit seiner Nichte seinen Grund habe, zu erschüttern.

Die Rückkehr des Boten von Truro machte jeder weitern Diskussion über dieses Thema vor der Hand ein Ende, weil die beiden jungen Ehegatten dadurch bewogen wurden, sich mit der Erwägung einer Frage von weit größerer Bedeutung zu beschäftigen. Welches Verfahren hatten sie nun, nachdem sie einen Tag über die festgesetzte Woche gewartet, bei dem Mangel aller Nachrichten von London oder von Truro, wonach sie ihre künftigen Maßnahmen hätten richten können, einzuschlagen?

Leonards erste Idee war, sofort an Onkel Joseph unter der Adresse zu schreiben, welche dieser bei Gelegenheit seines Besuchs in Porthgenna Tower zuückgelassen. Als dieser Vorschlag Rosamunde mitgeteilt ward, widersprach sie demselben aus dem Grunde, weil die notwendige Frist, ehe die Antwort auf den Brief ankommen könnte, einen bedeutenden Zeitverlust zur Folge haben würde, während es vielleicht von der höchsten Wichtigkeit war, auch nicht den Verlust eines einzigen Tages zu riskieren. Wenn Mistreß Jazeph durch Krankheit abgehalten ward, die Reise zu unternehmen, so war es notwendig, sie sofort aufzusuchen, weil ja diese Krankheit sich verschlimmern konnte.

War sie bloß mißtrauisch gegen die ihr gemachten Mitteilungen, so war es ebenso wichtig, persönliche Unterhandlungen mit ihr zu eröffnen, ehe sie Gelegenheit fand, sich wieder an irgend einer Zufluchtsstätte zu verbergen, welche Onkel Joseph dann vielleicht nicht im Stande war, ausfindig zu machen.

Die Wahrheit dieser Folgerungen war einleuchtend, Leonard aber zögerte, denselben beizutreten, weil sie die Notwendigkeit einer Reise nach London in sich schlossen. Wenn er ohne seine Gattin dorthin ging, so gab seine Blindheit ihn in die Gewalt fremder Personen und Dienstleute, während es sich doch um Erörterungen von der zartesten Art handelte, bei welchen die größte Verschwiegenheit beobachtet werden mußte. Ließ er sich von Rosamunde begleiten, so ward es notwendig, das Kind mitzunehmen und dann auf einer langen und anstrengenden Reise von mehr als zweihundertfünftig Meilen sich alle Arten von Verzögerungen und Unbequemlichkeiten preiszugeben.

Rosamunde begegnete diesen beiden Schwierigkeiten mit ihrer gewohnten Geradheit und Entschiedenheit. Den Gedanken, daß ihr Gatte in seinem hilflosen, abhängigen Zustande, unter irgend welchen Umständen irgend wohin reise ohne von ihr begleitet zu sein, erklärte sie sofort für etwas so Ungereimtes und Widersinniges, daß davon gar nicht die Rede sein könne.

Dem zweiten Einwand, daß es nicht geraten erscheine, das Kind den Zufälligkeiten und Anstrengungen einer langen Reise auszusetzen, begegnete sie duch den Vorschlag, daß sie gemächlich und in ihrem eigenen Wagen nach Exeter reisen und sich dadurch aller möglichen Bequemlichkeit und Fülle an Raum dadurch versichern sollten, daß sie, wenn sie die Eisenbahn in Exeter erreichten, einen Wagen für sich allein nähmen.

Nachdem sie auf diese Weise die Schwierigkeiten, welche sich der Reise entgegenzustellen schienen, beseitigt, kam sie wieder auf die unbedingte Notwendigkeit, dieselbe zu unternehmen, zurück. Sie erinnerte Leonard daran, wie wichtig es sei, sofort Mistreß Jazephs Aussage in Bezug auf die Echtheit des in dem Myrtenzimmer gefundenen Briefes sowohl wie in Bezug auf Ermittelung aller näheren Umstände des außerordentlichen Betrugs zu hören, welcher von Mistreß Treverton an ihrem Gatten verübt worden.

Ebenso sprach sie auch von ihrem eigenen sehr natürlichen Wunsche, den Schmerz, welchen sie, ohne es zu ahnen, in dem Schlafzimmer zu West Winston der Person zugefügt, deren Fehltritte und Kümmernisse sie zu achten verpflichtet war, so viel als in ihren Kräften stand, wieder gutzumachen, und nachdem sie auf diese Weise alle Beweggründe dargelegt, welche ihren Gatten und sie selbst nötigten, keine Zeit zu verlieren, in persönliche Mitteilung mit Mistreß Jazeph zu treten, kam sie wieder zu dem unvermeidlichen Schlusse, daß in der Lage, in welche sie jetzt versetzt wären, es keine andere Wahl für sie gäbe, als die Reise nach London unverweilt anzutreten.

Ein wenig weitere Überlegung überzeugte Leonard, der vorliegende dringliche Fall sei von der Art, daß dadurch alle Versuche, ihm durch halbe Maßregeln zu begegnen, unmöglich gemacht wurden. Er fühlte, daß seine eigenen Überzeugungen mit denen seiner Gattin übereinstimmten und er beschloß demgemäß, sofort und ohne weitere Unentschlossenheit oder weiteren Verzug zu handeln.

Ehe noch der Abend zu Ende ging, ward den Dienern in Porthgenna zu ihrem großen Erstaunen befohlen, die Reisekoffer zu packen und in der Poststadt zu einer frühen Stunde des nächsten Morgens Pferde zu bestellen.

Am ersten Tage der Reise brachen die Reisenden auf, sobald der Wagen bereit war, rasteten gegen Mittag in einem Gasthaus an der Landstraße und übernachteten in Liskeard. Am zweiten Tage langten sie in Exeter an und übernachteten hier. Am dritten Tage erreichten sie London mit der Eisenbahn zwischen sechs und sieben Uhr abends.

Als sie sich bequem in ihrem Hotel für die Nacht eingerichtet und nachdem eine Stunde Ruhe sie in den Stand gesetzt hatte, sich ein wenig von den Strapazen des Tages zu erholen, schrieb Rosamunde auf Geheiß ihres Gatten zwei Briefe.

Der erste war an Mr. Buschmann gerichtet und meldete diesem einfach ihre Ankunft und ihren angelegentlichsten Wunsch, ihn den nächsten Morgen so zeitig als möglich in ihrem Hotel zu sehen. Zum Schlusse ward er dringend ersucht, ihre Gegenwart in London seiner Nichte so lange zu verschweigen, bis er mit ihnen gesprochen habe.

Der zweite Brief war an den Anwalt der Familie, Mr. Nixon, gerichtet, denselben Gentleman, der vor länger als einem Jahre auf Mistreß Franklands Wunsch den Brief geschrieben, welcher Andrew Treverton von seines Bruders Tod und von den Umständen, unter welchen derselbe erfolgt war, in Kenntnis setzte. Jetzt schrieb Rosamunde in ihres Gatten und in ihrem eigenen Namen an Mr. Nixon weiter nichts, als daß er es möglich machen möchte, nächsten Morgen auf dem Wege nach seinem Bureau in ihrem Hotel mit vorzusprechen und seine Meinung über eine Privatsache von großer Wichtigkeit hören zu lassen, die sie genötigt habe, die Reise von Porthgenna nach London zu unternehmen.

Dieser Brief und der an Onkel Joseph wurden noch an demselben Abend, wo sie geschrieben worden, durch einen Boten an ihre Adresse befördert.

Der erste Besuch, welcher sich am nächsten Morgen einfand, war der Anwalt – ein kluger, geschmeidiger, höflicher alter Herr, welcher Kapitän Treverton und auch schon dessen Vater gekannt hatte. Er kam in der bestimmten Erwartung, in Bezug auf gewisse mit der Herrschaft Porthgenna zusammenhängende Schwierigkeiten befragt zu werden, welche der dortige Geschäftsagent nicht im Stande sei, zu schlichten und die vielleicht von zu verwickelter und verworrener Art seien, um mit leichter Mühe schriftlich dargelegt zu werden.

Als er hörte, worin die Anlegenheit eigentlich bestand und als ihm der in dem Myrtenzimmer gefundene Brief vorgelegt ward, sah er sich zum ersten Male im Laufe eines langen Lebens und einer mannichfaltigen Praxis unter allen möglichen Klienten so überrascht, daß seine Denkkraft auf einige Augenblicke geradezu gelähmt und er nicht im Stande war, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen.

Als jedoch Mr. Frankland, nachdem er diese Mitteilung gemacht, den Entschluß zu erkennen gab, die Kaufsumme für Porthgenna Tower, sobald die Echtheit des Briefes genügend dargetan sei, wieder herauszuzahlen, erlangte der alte Jurist den Gebrauch seiner Zunge sofort wieder und protestierte gegen diese Absicht seines Klienten mit der aufrichtigen Wärme eines Mannes, welcher die Vorzüge des Reichtums gründlich zu schätzen und recht wohl wußte, was es heißt, ein Vermögen von vierzigtausend Pfund zu gewinnen oder zu verlieren.

Leonard hörte geduldig und aufmerksam zu, während Mr. Nixon von juristischem Standpunkte aus dagegen sprach, den Brief an und für sich als ein gültiges Dokument zu betrachten und Mistreß Jazephs Aussage in Verbindung damit in Bezug auf Mistreß Franklands wirkliche Herkunft als entscheidend gelten zu lassen. Er verbreitete sich über die Unwahrscheinlichkeit, daß Mistreß Trevertons vorgeblicher Betrug an ihrem Gatten begangen worden sei, ohne daß andere Personen, außer ihrer Zofe und ihr selbst, in das Geheimnis eingeweiht gewesen wären. Er erklärte es für übereinstimmend mit aller Erfahrung der menschlichen Natur, daß eine oder mehrere dieser Personen entweder aus Bosheit oder aus Mangel an Vorsicht von diesem Geheimnis gesprochen hätten und daß die daraus hervorgehende Bloßstellung der Wahrheit im Laufe einer so langen Zeit von zweiundzwanzig Jahren zur Kenntnis einiger der vielen Leute im Westen von England sowohl als in London, welche die Familie Treverton persönlich oder dem Rufe nach kannten, hätte kommen müssen.

Von diesem Einwand ging er auf einen zweiten über, welcher die mögliche Echtheit des Briefes als eines schriftlichen Dokuments zugab, aber zugleich die Wahrscheinlichkeit behauptete, daß es unter dem Einflusse einer Geistesstörung auf Mistreß Trevertons Seite zu Stand gekommen, welche die Zofe damals ein Interesse gehabt zu begünstigen, obschon sie vielleicht nach dem Tode ihrer Herrin gezögert, es bei einem Versuch, von dem Betruge Nutzen zu ziehen, auf die möglichen Folgen ankommen zu lassen.

Nachdem Mr. Nixon diese Ansicht, durch welche nicht bloß das Schreiben des Briefes, sondern auch das Verbergen desselben erklärt ward, geltend gemacht, bemerkte er in Bezug auf Mistreß Jazeph weiter, daß jede Aussage, die sie tun würde, in juristischer Beziehung von geringem oder gar keinem Werte sein würde und zwar wegen der Schwierigkeit, oder – wie er lieber sagen möchte – der Unmöglichkeit – die Identität des in dem Briefe erwähnten Kindes mit der Dame festzustellen, welche er jetzt die Ehre hätte als Mistreß Frankland anzureden und welche kein nicht mit voller gesetzlicher Glaubwürdigkeit begabtes Dokument in der ganzen Welt ihn veranlassen könnte, für eine andere Person als die Tochter seines alten Freundes und Klienten Kapitän Treverton zu halten.

Nachdem Leonard die Einwendungen des Juristen angehört, räumte er die Scharfsinnigkeit derselben ein, gestand aber gleichzeitig, daß sie in seiner Ansicht über den Inhalt des Briefes oder in seiner Überzeugung hinsichtlich des Verfahrens, welches er einzuschlagen für seine Pflicht halte, keine Änderung hervorgebracht hätten. Er wollte, sagte er, Mistreß Jazephs Aussage abwarten, ehe er einen entscheidenden Schritt täte; wäre diese Aussage aber von der Art und würde sie auf eine Weise gegeben, welche ihn überzeugte, daß seine Gattin kein moralisches Recht auf das Vermögen, welches sie jetzt besäße, habe, so würde er es der Person, welcher dieses Recht zustünde – nämlich Mr. Andrew Treverton – sofort zurückerstatten.

Als Mr. Nixon fand, daß keinerlei neue Argumente oder sonstige Vorstellungen Mr. Franklands Entschluß wankend machen und daß keine besondere Ansprache an Rosamunde sie im mindesten anstacheln konnte, ihren Einfluß zu benutzen, um ihren Gatten zu einer Änderung seines Entschlusses zu bewegen, da er ferner nach allem, was er gehört, überzeugt war, daß Mr. Frankland, wenn ihm noch viele weitere Einwendungen entgegengestellt würden, entweder einen andern Juristen zu Rate ziehen, oder es auf die Gefahr ankommen lassen würde, einen verhängnisvollen juristischen Irrtum dadurch zu begehen, daß er in der Sache hinsichtlich der Wiedererstattung des Geldes auf eigene Faust handle, so verstand er sich endlich – obschon unter Protest – dazu, seinem Klienten den Beistand, dessen er bedurfte, zu leisten, im Fall es notwendig ward, mit Andrew Treverton in Mitteilung zu treten.

Mit höflicher Resignation hörte er Leonards kurze Aufzählung der Fragen an, welche er Mistreß Jazeph vorzulegen gedachte, und sagte, als die Reihe des Sprechens an ihn kam, mit dem möglichst geringsten Anflug von Sarkasmus, daß dies vom moralischen Gesichtspunkt aus betrachtet ganz vortreffliche Fragen seien und ohne Zweifel Antworten zur Folge haben würden, die ein höchst romantisches Interesse besitzen müßten.

„Aber“, setzte er hinzu, „da Sie schon ein Kind haben, Mr. Frankland, und da Sie – wenn ich mir erlauben darf, in dieser Beziehung eine Vermutung auszusprechen – im Laufe der Jahre deren mehrere bekommen können und da diese Kinder, wenn sie heranwachsen, von dem Verlust Ihres mütterlichen Vermögens hören und zu wissen wünschen werden, warum es geopfert ward, so möchte ich – indem ich die Sache bloß auf Familienrücksichten basiere und von dem juristischen Standpunkt ganz absehe – empfehlen, daß Sie sich von Mistreß Jazeph außer der mündlichen Aussage, welche Sie ihr abzufragen gedenken – und gegen deren Zulässigkeit ich in diesem Falle nochmals protestiere – auch eine schriftliche Erklärung verschaffen, welche Sie einmal nach ihrem Tode zurücklassen und durch welche Sie in den Augen Ihrer Kinder gerechtfertigt werden können, im Fall die Notwendigkeit einer solchen Rechtfertigung sich in der Zukunft herausstellen sollte.“

Der Wert dieses Rats war zu einleuchtend, als daß derselbe hätte verschmäht werden können. Auf Leonards Wunsch setzte Mr. Nixon sofort das Schema einer Erklärung auf, in welcher die Echtheit des von der verstorbenen Mistreß Treverton auf ihrem Sterbebett an ihren Gatten gerichteten Briefes bestätigt und die Wahrheit der darin enthaltenen Angaben sowohl in Bezug auf den an Kapitän Treverton verübten Betrug, als auf die behauptete Herkunft des Kindes bezeugt ward.

Mr. Nixon sagte Mr. Frankland, daß er wohltun würde, Mistreß Jazephs Unterschrift dieses Dokument durch die Namen zweier gesetzlich gültigen Zeugen attestieren zu lassen, überreichte dann die Erklärung Rosamunde, damit diese sie ihrem Gatten vorläse, und als er fand, daß keine Einwendung gegen irgend einen Teil der Schrift gemacht ward und daß er in dem gegenwärtigen ersten Stadium der Maßnahmen von keinem weitern Nutzen sein könne, erhob er sich, um sich zu entfernen.

Leonard behielt sich, da nötig, eine weitere Besprechung im Laufe des Tages vor und Mr. Nixon beurlaubte sich, indem er bis zum letzten Augenblick sienen Protest wiederholte und erklärte, daß ihm im ganzen Laufe seiner Praxis noch nie ein so außerordentlicher Fall und ein so starrköpfiger Klient vorgekommen sei.

Beinahe eine Stunde verging nach der Entfernung des Juristen, ehe ein zweiter Besuch gemeldet ward. Nach Verlauf dieser Zeit hörte man das willkommene Geräusch von Fußtritten sich der Tür nähern und Onkel Joseph trat in das Zimmer.

Rosamundes durch Besorgnis und Unruhe geschärfte Beobachtungsgabe entdeckte gleich in dem Augenblicke, wo er erschien, eine Veränderung in seinem Aussehen und Benehmen. Sein Gesicht war abgezehrt und abgespannt und sein Gang hatte, als er weiter in das Zimmer hereinschritt, jene Munterkeit und Flinkheit verloren, die ihn auf so komische Weise kennzeichnete, als Rosamunde ihn in Porthgenna Tower zum ersten Male sah. Er versuchte seinen ersten begrüßenden Worten eine Entschuldigung wegen seines Spätkommens hinzuzufügen, Rosamunde aber unterbrach ihn in ihrer Begier, die erste wichtige Frage zu tun.

„Daß Sie die Adresse Ihrer Nichte ermittelt haben, wissen wir“, sagte sie hastig, „aber weiter wissen wir nichts. Ist es mit ihr wie Sie fürchteten? Ist sie krank?“

Der Alte schüttelte wehmütig den Kopf.

„Was sagte ich Ihnen, als ich Ihnen die Briefe zeigte?“ entgegnete er. „Sie ist so krank, Madame, daß nicht einmal die Botschaft, die Sie mir in Ihrer Güte an Sie auftrugen, ihr etwas nützen konnte.“

Diese wenigen einfachen Worte erfüllten Rosamundes Herz mit einer seltsamen Furcht, welche sie gegen ihren eigenen Willen, als sie wieder zu sprechen versuchte, zum Schweigen brachte. Onkel Joseph verstand den besorgten Blick, den sie auf ihn heftete und die rasche Gebärde, die sie nach dem Stuhle machte, der dem Sofa, auf welchem sie mit ihrem Gatten saß, zunächst stand.

Onkel Joseph nahm auf dem Stuhle Platz und vertraute ihnen nun alles, was er zu sagen hatte.

Seine erste Frage, sagte er, als er die Wohnung seines Landsmanns, des deutschen Zuckerbäckers, erreicht hatte, bezog sich auf die Örtlichkeit des Postbüros, an welches die Briefe seiner Nichte adressiert waren, und er erfuhr, daß es kaum zehn Minuten Weges von dem Hause seines Freundes entfernt sei. Das Gespräch, welches in Bezug auf den Zweck seiner Reise nach London und die Hoffnungen und Befürchtungen, womit er sie unternommnen, folgte, führte zu weitern Fragen und Antworten, welche mit der Entdeckung endeten, daß der Bäcker unter seinen anderen Kunden auch die Wirtin eines Logishauses in der Nähe mit gewissen leichten Zwiebacken versorgt, wegen welcher sein Laden berühmt war. Diese Zwiebacke wurden zum Gebrauche einer kranken Frau gekauft, welche in dem Logishause wohnte und die Wirtin gab bei einer der vielen Gelegenheiten, wo sie in den Laden kam und über ihre eigenen Angelegenheiten plauderte, ihre Verwunderung zu erkennen, daß eine so augenscheinlich achtbare und in allen ihren Zahlungen so pünktliche Person wie ihre Mitbewohnerin von keinem Freunde oder Bekannten besucht würde und daß sie unter dem Namen „Mistreß James“ lebte, während ihre Wäsche mit „S. Jazeph“ gezeichnet sei. Als man zu diesem außerordentlichen Ergebnis einer Konversation gelangte, die von dem einfachsten Beginn, den man ich denken konnte, ausgegangen war, hatte Onkel Joseph sich sofort die Adresse des Logishauses notiert und sich am nächsten Morgen zu einer frühen Stunde hinbegeben.

Während der Nacht hatte ihn die Bestätigung seiner Befürchtungen in Bezug auf seine Nichte sehr traurig gestimmt und als er sie am darauffolgenden Morgen sah, erschrak er über die heftige Aufregung ihres Nervensystems, welche sie kund gab, als er sich ihrem Bett näherte. Dennoch aber gab er den Mut und die Hoffnung nicht eher auf, als bis er Mistreß Franklands Botschaft mitgeteilt hatte und nun fand, daß dieselbe durchaus nicht die beruhigende Wirkung äußerte, welche er fast mit Gewißheit davon erwartet hatte.

Anstatt die Kranke zu beschwichtigen, schien er dieselbe vielmehr von neuem aufzuregen und zu beunruhigen. Außer einer Menge genauer Erkundigungen über Mistreß Franklands Aussehen, über ihr Benehmen gegen ihn, über die genauen Worte, die sie gesprochen, welche Erkundigungen er alle mehr oder weniger zu ihrer Zufriedenheit beantworten im Stande war, hatte sie zwei Fragen an ihn gerichtet, die er gar nicht beantworten konnte.

Die erste dieser Frage war: Ob Mistreß Frankland etwas in Bezug auf das Geheimnis gesagt hätte? Die zweite war: Ob sie zufällig ein Wort fallen gelassen, welches zu der Vermutung berechtige, daß sie die Lage des Myrtenzimmers ausfindig gemacht?

Während Onkel Joseph noch am Bett seiner Nichte gesessen und sich, wiewohl vergebens, bemüht hatte, die freundlichen und beruhigenden Worte von Mistreß Franklands Botschaft als eine genügende Antwort auf die Fragen zu betrachten, die er selbst nicht im Stande war auf eine direktere und überzeugendere Weise zu erledigen, war der die Kranke behandelnde Arzt eingetreten. Nachdem dieser die nötigen Fragen über ihr Befinden getan und noch eine Weile über gleichgültige Dinge gesprochen, hatte er Onkel Joseph verstohlen beiseite genommen und ihm mitgeteilt, daß der Schmerz in der Gegend des Herzens und die Schwierigkeit des Atmens, worüber seine Nichte klagte, von ernsterer Bedeutung wären, als ein in dergleichen Dingen nicht Eingeweihter vielleicht geneigt wäre zu glauben. Deshalb bäte er ihn, ihr keine Botschaften von irgend jemand mehr zu überbringen, wenn er nicht im voraus vollkommen überzeugt wäre, daß dadurch ihr Gemüt sofort und für immer von der geheimen Unruhe, die es jetzt peinigte, befreit würde – einer Unruhe, durch die ihre Krankheit mit jedem Tage verschlimmert und alle ärztliche Hilfe fast vollständig unnütz gemacht werde.

Nachdem Onkel Joseph noch eine Weile bei seiner Nichte gesessen und mit sich selbst zu Rate gegangen, hatte er beschlossen, diesen Abend, nachdem er in die Wohnung seines Freundes zurückgekehrt wäre, privatim an Mistreß Frankland zu schreiben. Das Abfassen dieses Briefes hatte ihm mehr Zeit gekostet, als jemand, der ans Schreiben gewöhnt ist, glauben würde.

Endlich, nachdem er mit vielem Zeitaufwand eine Reinschrift von vielen Konzepten gemacht und dabei durch öftere Besuche bei seiner Nichte unterbrochen worden, hatte er einen Brief zu Stande gebracht, in welchem er das, was seit seiner Ankunft in London geschehen war, in einer Sprache erzählte, von der er hoffte, daß sie verstanden werden würde. Aus einer Vergleichung der Daten ergab sich, daß dieser Brief Mr. und Mistreß Frankland auf ihrer Reise gekreuzt haben mußte.

Der Brief enthielt weiter nichts, als was er selbst soeben mündlich erzählte, ausgenommen, daß er auch – als Beweis, daß die Entfernung die Furcht, welche das Gemüt seiner Nichte quälte, nicht vermindert hatte – die Erklärung mitteilte, welche sie ihm wegen des Verschweigens ihres wahren Namens gegeben, so wie des Grundes, aus welchem sie ihren Aufenthalt bei fremden Personen genommen, während sie doch Freunde in London hatte, zu denen sie gehen konnte.

Diese Erklärung hätte vielleicht nicht den Brief zu verlängern gebraucht, denn sie enthielt der Hauptsache nach ganz dasselbe, was Onkel Joseph schon gesagt, als er von dem Beweggrund sprach, welcher Sara veranlaßt, sich in Truro von ihm zu trennen.

Mit diesen letzten Worten war die traurige und einfache Geschichte des alten Mannes zu Ende.

Nachdem Rosamunde eine Weile gewartet, um ihre Selbstbeherrschung wiederzuerlangen, berührte sie ihren Gatten, um dessen Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken, und flüsterte ihm zu:

„Nun kann ich wohl alles sagen, was ich in Porthgenna zu sagen wünschte?“

„Ja, alles“, antwortete er. „Wenn du die nötige Standhaftigkeit zu besitzen glaubst, Rosamunde, so ist es am angemessensten, daß er es von dir selbst höre.“

Nachdem der erste natürliche Ausdruck von Erstaunen vorüber war, bot die Wirkung, welche die Enthüllung des Geheimnisses auf Onkel Joseph äußerte, den auffallendsten Gegensatz, den man sich denken kann, zu der, welche sie auf Mr. Nixon geäußert. Kein Schatten von einem Zweifel verdunkelte das Gesicht des alten Mannes, kein Wort eines Widerspruchs entfiel seinen Lippen. Die einzige Gemütsbewegung, die in ihm erregt ward, war einfache, ungetrübte Freude. Er sprang mit seiner ganzen natürlichen Behendigkeit auf seine Füße, seine Augen funkelten wieder von all ihrem natürlichen Glanze – in dem einen Augenblick klatschte er in die Hände wie ein Kind, im nächsten warf er seinen Hut in die Höhe und bat Rosamunde, sich von ihm sofort an das Bett seiner Nichte führen zu lassen.

„Wenn sie Sara erzählen, was Sie soeben mir erzählt haben“, rief er, indem er über das Zimmer eilte, um die Tür zu öffnen, „so geben Sie ihr den Mut zurück, richten sie von ihrem Krankenlager auf und machen sie gesund, ehe noch der Tag um ist.“

Ein mahnendes Wort von Mr. Frankland verschloß ihm plötzlich den Mund und er ließ sich schweigend und aufmerksam wieder auf den Stuhl nieder, von welchem er den Augenblick zuvor aufgesprungen war.

„Bedenken Sie, was der Arzt Ihnen gesagt hat“, sagte Leonard. „Die plötzliche Überraschung, welche Sie so glücklich gemacht hat, könnte für Ihre Nichte sehr verderblich sein. Ehe wir die Verantwortlichkeit auf uns nehmen, mir ihr über einen Gegenstand zu sprechen, der sie ganz gewiß heftig aufregen wird – wie sorgfältig wier auch dabei zu Werke gehen mögen – müssen wir, glaube ich doch, um der Sicherheit willen erst ihren Arzt um Rat fragen.“

Rosamunde unterstützte den Vorschlag ihres Gatten mit Wärme und meinte mit der ihr eigentümlichen Ungeduld, die nie von Aufschub etwas wissen wollte, man solle den Arzt sofort auffinden.

Onkel Joseph erklärte – ein wenig widerstrebend wie es schien – zur Antwort auf die an ihn gerichteten Fragen, er wisse die Wohnung des Doktors und derselbe sei in der Regel kurz vor ein Uhr nachmittags zu Hause anzutreffen.

Es war jetzt gerade halb eins und Rosamunde zog mit Zustimmung ihres Gatten sofort die Klingel, um eine Droschke holen zu lassen. Schon stand sie, nachdem sie diesen Befehl erteilt, im Begriff ihren hut aufzusetzen, als der alte Mann ihr Einhalt tat, indem er mit einem gewissen Anschein von Zögern und Verlegenheit fragte, ob man es für nötig hielte, daß er Mr. und Mistreß Frankland zu dem Arzte begleite. Ehe man noch diese Frage beantworten konnte, setzte er hinzu, wenn man nichts dagegen hätte, so wäre es ihm weit lieber wenn er im Hotel zurückbleiben und warten dürfte, um dann, wenn sie zurückkämen, die Instruktionen zu empfangen, welche sie ihm vielleicht zu geben hätten.

Leonard war mit diesem Wunsche sofort einverstanden, ohne sich nach den Gründen desselben zu erkundigen; Rosamunde dagegen war neugieriger und fragte, warum er lieber allein in dem Hotel zurückbleiben, als mit ihnen zu dem Doktor gehen wolle.

„Ich kann den Mann nicht leiden“, sagte Onkel Joseph. „Wenn er von Sara spricht, so macht er ein Gesicht, als ob er glaubte, sie werde nie wieder von ihrem Bett aufstehen.“

Mit dieser kurzen Antwort ging er mit halb verlegener Miene fort ans Fenster, als ob er nicht gern weiter etwas sagen wollte.

Die Wohnung des Doktors war nicht ganz in der Nähe gelegen, doch kamen Mr. und Mistreß Frankland noch vor ein Uhr dort an und trafen ihn zu Hause.

Es war ein junger Mann mit einem sanften, ernsten Gesicht und von ruhigem, stillen Wesen. Tägliche Berührung mit Leiden und Kummer hatten seinen Charakter vielleicht vor der Zeit ernst und wehmütig gestimmt.

Rosamunde stellte sich und ihren Gatten ihm als Personen vor, welche sich für seine Patientin in dem Logishause lebhaft interessierten, und überließ es dann Leonard, die ersten Fragen in Bezug auf den Gesundheitszustand ihrer Mutter zu tun.

Die Antwort des Arztes begann mit einigen höflichen Worten, welche augenscheinlich den Zweck hatten, seine Zuhörer auf eine weniger hoffnungsvolle Mitteilung vorzubereiten, als sie vielleicht zu empfangen erwarteten. Indem er alle rein technischen Bemerkungen vermied, sagte er ihnne, daß seine Patientin unzweifelhaft an einer ernsten Herzkrankheit leide. Von welcher Beschaffenheit diese Krankheit eigentlich sei, dies war, wie er offen gestand, eine zweifelhafte Sache, die von verschiedenen Ärzten auf verschiedene Weise erklärt ward. Nach der Meinung, die er sich selbst nach den Symptomen gebildet, glaubte er, die Krankheit seiner Patientin hinge mit derArterie zusammen, welche das Blut unmittelbar aus dem Herzen udrch das ganze System führt. Da er gefunden, daß sie sehr abgeneigt war, Fragen in Bezug auf die Art und Weise ihres frühern Lebens zu beantworten, so könne er nur erraten, daß die Krankheit schon alt und durch eine gewaltige Gemütserschütterung in Verbindung mit darauf gefolgter langer nagender Gemütsunruhe – von welcher ihr Gesicht unverkennbare Spuren zeigte – entstanden und daß dieselbe noch durch die Anstrengung einer Reise nach Londn verschlimmert worden sei, welche sie, wie sie gestanden, zu einer Zeit unternommen, wo große Erschöpfung des Nervensystems sie eigentlich zum Reisen ganz unfähig gemacht hätte. Nach seiner Ansicht sei es seine schmerzliche Pflicht, ihren Freunden zu sagen, daß jede heftige Gemütsbewegung ihr Leben unbestreitbar in Gefahr bringen würde. Könnte dagegen die Gemütsunruhe, an welcher sie gegenwärtig litte, gehoben und die Kranke in ein ruhiges bequemes Landhaus unter Leute gebracht werden, welche unablässig bedacht wären, sie still und ungestört zu halten und dafür zu sorgen, daß es ihr an nichts fehle, so sei Grund zu hoffen, daß das weitere Vorschreiten der Krankheit gehemmt und ihr Leben noch um einige Jahre gefristet werden könne.

Rosamundes Herz hüpfte vor Freude bei dem Bild der Zukunft, welches ihre Phantasie nach den Andeutungen entwarf, welche in den letzten Worten des Doktors lagen.

„Es steht ihr alles, was Sie erwähnten, zu Gebote und mehr noch wenn es nötig ist!“ entgegnete sie eifrig, ehe noch ihr Gatte sprechen konnte. „O, Sir, wenn Ruhe unter gütigen Freunden alles ist, was das arme Herz Ihrer Patientin bedarf, dann können wir, Gott sei Dank, es geben.“

„Ja, wir können es geben“, sagte Lenny, an die letzten Worte seiner Gattin anknüpfend, „wenn der Doktor uns ermächtigt, seiner Patientin eine Mitteilung zu machen, welche geeignet ist, sie aller Unruhe zu überheben, die sie aber, wie ich bemerken muß, gegenwärtig durchaus nicht vorbereitet ist, zu empfangen.“

„Darf ich fragen“, sagte der Arzt, „wer mit der Mitteilung, von welcher Sie sprechen, beauftragt werden soll?“

„Es gibt zwei Personen, welche damit beauftragt werden können“, antwortete Leonard. „Die eine ist der alte Mann, den Sie am Bett Ihrer Patientin getroffen haben. Die andere ist meine Frau.“

„In diesem Falle“, entgegnete der Doktor, indem er Rosamunde ansah, „kann es keinem Zweifel unterworfen sein, daß diese Dame die geeignetste Person ist, diese Aufgabe zu übernehmen.“

Er schwieg, dachte einen Augenblick nach und sagte dann:

„Darf ich jedoch fragen, ehe ich Sie veranlasse, sich nach einer oder der andern Seite hin zu entscheiden, ob diese Dame meiner Patientin ebenso genau bekannt ist und auf demselben vertrauten Fuße mit ihr steht wie der alte Mann?“

„Ich fürchte, ich muß diese beiden Fragen mit Nein beantworten“, entgegnete Leonard. „Vielleicht muß ich Ihnen auch gleichzeitig sagen, daß Ihre Patientin meine Frau jetzt in Cornwall glaubt. Ihr erstes Erscheinen in dem Krankenzimmer würde daher, fürchte ich, die Leidende in hohem Grade überraschen und möglicherweise ein wenig erschrecken.“

„Unter diesen Umständen“, sagte der Arzt, „scheint es am rätlichsten, den alten Mann, so schlicht er auch ist, mit der Mitteilung zu beauftragen und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sein Erscheinen für die Kranke nichts Überraschendes haben kann. Wie ungeschickt er ihr auch diese Eröffnung machen möge, so wird er doch vor dieser Dame den großen Vorteil voraus haben, daß er an dem Bett der Kranken nicht unerwartet erscheint. Wenn das gewagte Experiment einmal gemacht werden muß – und nach dem, was Sie mir mitgeteilt, glaube ich, muß es geschehen – so haben Sie, glaube ich, keine Wahl als es mit der gehörigen Vorsicht und Anleitung dem alten Mann zu übertragen.“

Nachdem man zu diesem Schlusse gekommen war, gab es weder auf der einen noch auf der andern Seite weiter etwas zu sagen. Die Unterredung endete und Rosamunde und ihr Gatte eilten zurück von dem Hotel, um Onkel Joseph zu instruieren.

Als sie sich der Tür ihres Wohnzimmers näherten, waren sie überrascht, Musik darin zu hören. Als sie eintraten, sahen sie den alten Mann zusammengeduckt auf einem Stuhl sitzen und einer alten kleinen Spieluhr zuhören, welche dicht auf einem Tische neben ihm stand und ein Stück spielte, in welchem Rosamunde sofort die Arie „Schlage, schlage, lieber Junge“, aus Mozarts Don Juan erkannte.

„Ich hoffe, Sie werden mir verzeihen, daß ich mir zum Zeitvertreibe, während Sie nicht da waren, etwas habe vormusizieren lassen“, sagte Onkel Joseph, indem er verlegen in die Höhe fuhr und die Hemmfeder der Spieluhr berührte. „Dies ist von allen meinen Freunden und Gefährten der letzte, welcher mir geblieben ist. Der göttliche Mozart, der König aller Komponisten, die jemals gelebt, schenkte diese Spieluhr meinem Bruder Max, als derselbe Zögling der Musikschule in Wien war, mit eigener Hand. Seit meine Nichte mich in Cornwall verlassen, habe ich nicht den Mut gehabt, mir von Mozart aus diesem kleinen Kästchen heraus etwas vorsingen zu lassen, bis heute. Jetzt aber, wo Sie mich wegen Sara wieder froh und glücklich gemacht haben, sehnten meine Ohren sich wieder nach dem himmlischen Geklimper, welches, mag ich sein wo ich will, für mein Herz stets denselben freundlichen Klang hat. Doch genug damit“, sagte der alte Mann, indem er das Kästchen wieder in das an seiner Seite hängende Lederfutteral steckte, welches Rosamunde schon bemerkt, als sie ihn in Porthgenna zum ersten Male gesehen. „Ich will meinen Singvogel wieder in seinen Käfig stecken und nachdem dies geschehen ist, fragen, ob Sie mir gefälligst mitteilen wollen, was der Doktor zu Ihnen gesagt hat.“

Rosamunde beantwortete seine Frage, indem sie ihm den Hauptinhalt der Unterredung erzählte, welche zwischen ihrem Gatten und dem Doktor stattgefunden hatte. Dann begann sie unter vielen vorbereitenden Ermahnungen den alten Mann zu instruieren, wie er seine Nichte von der Entdeckung des Geheimnisses unterrichten sollte. Sie sagte ihm, daß die im Zusammenhange damit stehenden Umstände erst nicht als Ereignisse, welche wirklich geschehen wären, sondern als Ereignisse, die geschehen könnten, erzählt werden müßten. Sie legte ihm die Worte, die er zu diesem Zwecke zu sprechen hatte, in den Mund, indem sie die wenigsten und die einfachsten wählte, welche dieser Absicht entsprachen. Sie zeigte ihm, daß er beinahe unbemerkbar von der Entdeckung als einer Sache, welche geschehen sein könnte, auf die Entdeckugn als eine Sache, die wirklich geschehen wäre, übergehen könnte und prägte ihm als das wichtigste von allem ein, dem Gemüt seiner Nichte fortwährend die Tatsache vorzuhalten, daß die Entdeckung des Geheimnisses in den beiden Personen, die ein so großes Interesse daran gehabt, es ausfindig zu machen, nicht einen einzigen unfreundlichen Gedanken oder ein einziges bitteres Gefühl gegen sie erweckt habe.

Onkel Joseph hörte mit unerschütterlicher Aufmerksamkeit zu bis Rosamunde fertig war, dann erhob er sich von seinem Sitz, heftete seine Augen aufmerksam auf ihr Gesicht und entdeckte darin einen Ausdruck von Unruhe und Zweifel, den er ganz richtig auf sich selbst bezog.

„Soll ich, ehe ich fortgehe, Ihnen die Überzeugung geben, daß ich nichts vergessen werde?“ fragte er eindringlich. „Ich besitze allerdings keine große Erfindungsgabe, wohl aber ein gutes Gedächtnis, ganz besonders wenn es sich um etwas handelt, was Sara betrifft. Haben Sie daher die Güte und sehen Sie zu, ob ich Ihnen alles wiederhersagen kann, was Sie mir soeben einstudiert haben.“

Vor Rosamunde stehend und während er in seinem Blick und Wesen in seltsamer und rührender Weise an die längstvergangenen Tage seiner Kindheit erinnerte, wo er am Knie seiner Mutter seine ersten Aufgaben hergesagt, wiederholte er jetzt vom ersten bis zum letzten Worte die ihm erteilten Instruktionen mit einer Genauigkeit und mit einer Treue des Gedächtnisses, welches bei einem Mann von seinem Alter geradezu Erstaunen erregen mußte.

„Nun, habe ich mir alles ordentlich gemerkt?“ fragte er einfach, als er fertig war. „Und kann ich nun meiner Wege gehen und der armen Sara die gute Botschaft bringen?“

Er mußte immer noch eine Weile warten, während Rosamunde und ihr Gatte miteinander über das beste und sicherste Mittel berieten, dem Bekenntnis, daß das Geheimnis entdeckt war, die Kunde von ihrer eigenen Anwesenheit in London folgen zu lassen.

Nach einiger Überlegung forderte Leonard seine Gattin auf, das von dem Anwalt an diesem Morgen aufgesetzte Dokument zur Hand zu nehmen und auf die leere Seite des Papiers einige von ihm zu diktierende Zeilen zu schreiben, durch welche Mistreß Jazeph ersucht ward, die Erklärungsformel zu lesen und mit ihrem Namen zu unterzeichnen, sobald sie überzeugt wäre, daß dieselbe in keiner Beziehung von ihr etwas anderes verlange als die Bestätigung der genauesten Wahrheit.

Als sie hiermit fertig und das Blatt, auf welches Mistreß Frankland geschrieben, so zusammengebrochen worden, daß das von ihr Geschriebene die erste, zunächst in die Augen fallende Seite bildete, ersuchte Leonard seine Gattin, das Papier dem alten Manne zu geben und erklärte ihm, was er damit machen solle, mit folgenden Worten:

„Wenn Sie die Nachricht wegen des Geheimnisses Ihrer Nichte beigebracht und ihr vollauf Zeit gelassen haben, sich zu fassen, wenn sie Fragen in Bezug auf meine Gattin und mich selbst tut – was, wie ich glaube, geschehen wird – so händigen Sie ihr dieses Papier ein und ersuchen Sie sie, dasselbe zu lesen. Mag sie nun geneigt sein, es zu unterzeichnen oder nicht, so wird sie ganz gewiß fragen, wie Sie dazu gekommen sind. Dann sagen Sie ihr, Sie hätten es von Mistreß Frankland erhalten – bedienen Sie sich des Wortes ‚erhalten’, damit sie anfangs glaube, es sei Ihnen von Porthgenna  mit der Post zugesendet worden. Wenn Sie finden, daß sie die Erklärung unterzeichnet und daß sie, nachdem sie dies getan, nicht sehr aufgeregt ist, so erzählen Sie ihr auf dieselbe allmälige Weise, auf welcher sie ihr die Wahrheit in Bezug auf die Entdeckung des Geheimnisses mitteilen, meine Frau habe Ihnen das Papier mit eigenen Händen gegeben und befinde sich jetzt in London –“

„Und hoffe und sehne sich, sie zu sehen“, sagte Rosamunde hinzu. „Sie, der Sie nichts vergessen werden, werden, wie ich überzeugt bin, auch dies nicht vergessen zu sagen, nicht wahr nicht?“

Bei diesem kleinen Kompliment, welches seinem guten Gedächtnis gemacht ward, errötete Onkel Joseph vor Freude, als ob er wieder ein Knabe wäre. Nachdem er versprochen, sich des in ihn gesetzten Vertrauens würdig zu zeigen und ehe noch der Tag um wäre, wiederzukommen und Mistreß Frankland von aller Ungewißheit zu befreien, nahm er Abschied und entfernte sich hoffnungsvoll und getrost, um sich seines wichtigen Auftrags zu entledigen.

Rosamunde sah ihm aus dem Fenster nach, wie er sich unter der wimmelnden Masse der Fußgänger auf dem Trottoirs rechts und links ausweichend den Weg bahnte, bis er ihren Augen entschwand. Wie flink bewegte sich die kleine zierliche Gestalt! Wie heiter strömte das unumwölkte Sonnenlicht auf das muntere Treiben in der Straße herab! Das ganze Sein der großen Stadt sonnte sich in der Sommerpracht des Tages, alle ihre gewaltigen Pulse schlugen höher und alle ihre Myriaden Stimmen flüsterten von Hoffnung.


Vorheriges Kapitel
Nächstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte