Armadale
Siebentes Kapitel.
Mr. Pedgift sen. (Thorpe-Ambrose) an
Mr. Pedgift
jun.(Paris).
»High-Street, den 20. December.
Mein lieber Augustus!
Gestern habe ich Deinen Brief empfangen. Du scheinst Deine Jugend, wie Du’s nennst, nach Herzenslust zu genießen. Gut! Genieße Deine Ferienzeit. Als ich in Deinem Alter war, habe ich auch meine Jugend aufs beste genossen und, merkwürdig! ich habe es noch nicht vergessen.
Du fragst mich nach Neuigkeiten und bittest besonders um nähere Auskunft über die mysteriöse Geschichte im Sanatorium.
Die Neugier, mein lieber Sohn, ist eine Eigenschaft, die, namentlich in unserm Berufe, manchmal zu großen Resultaten führt; ob sie indes in diesem Falle viel ergibt, möchte ich bezweifeln. Alles, was ich über das Sanatoriumgeheimniß weiß, das weiß ich von Mr. Armadale, und in mehr als einem wichtigen Punkte tappt er völlig im Dunkeln. Wie sie in das Haus gelockt worden sind, habe ich Dir schon erzählt, ebenso, wie sie die Nacht dort zugebracht haben. Hierzu kann ich jetzt fügen, daß Mr. Midwinter bestimmt etwas passierte, was ihn seines Bewußtseins beraubte, und daß der Doctor, der in die Sache verwickelt zu sein scheint, sich aufs hohe Pferd setzt und in seinem Sanatorium nicht behelligt sein will. Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, daß das elende Weib, wie es nun auch zu seinem Tode gekommen, todt gefunden worden ist, daß eine Leichenschau die Sache näher untersucht, daß es sich herausgestellt, daß sie als Kranke im Hause aufgenommen worden, und daß das medicinische Gutachten sich dahin ausgesprochen hat, sie sei infolge eines Schlagflusses gestorben. Meine Ansicht aber ist, daß Mr. Midwinter seine besonderen Gründe haben mag, mit dem Zeugniß, das er wohl hätte geben können, nicht vor die Oeffentlichkeit zu treten. Ebenso habe ich Grund zu argwohnen, daß Mr. Armadale aus Rücksicht für ihn mit seinen Aussagen zurückgehalten hat, und daß das Verdict bei der Leichenschau, ohne daß ich darum Jemand einen Vorwurf machen will, wie so viele andere bei ähnlichen Anlässen, einer ganz oberflächlichen Untersuchung der Sache entsprungen ist.
Nach meiner festen Ueberzeugung ist der Schlüssel des ganzen Räthsels darin zu suchen, daß das elende Geschöpf versuchte, als Mr. Armadale’s Wittwe zu figuriren, sobald sie die Kunde von seinem vermeintlichen Tode in den Zeitungen las. Warum aber und durch welche unbegreifliche Finten sie Mr. Midwinter bewogen hat, sie, wie der Trauschein darthut, unter Mr. Armadale’s Namen zu heirathen, vermag sich Mr. Armadale selbst nicht zu erklären. Aus dem einfachen Grunde, weil die Leichenschau sich nur auf die aus ihren Tod bezüglichen Umstände beschränkte, kam dieser Punkt bei der Untersuchung nicht zur Sprache. Auf die Bitte seines Freundes hat Mr. Armadale alsbald Miß Blanchard seinen Besuch gemacht und durch sie den alten Darch bitten lassen, über den Anspruch, der wegen des Wittweneinkommens bei ihm erhoben worden ist, unverbrüchliches Schweigen zu beobachten. Da der Anspruch niemals anerkannt worden ist, so hat sich selbst unser steifnackiger Herr College unverzüglich herbeigelassen, dem Anliegen zu willfahren. Demgemäß wurde die Angabe des Doctors, daß seine Kranke die Wittwe eines Gentleman Namens Armadale sei, unangefochten gelassen und so die Sache vertuscht. Sie ist auf dem großen Kirchhofe beerdigt worden, der sich in der Nähe ihrer Todesstätte befindet. Niemand als Mr. Midwinter und Mr. Armadale, der durchaus mitgehen wollte, hat ihr die letzte Ehre erwiesen, und auf ihrem Grabstein steht nichts weiter eingeschrieben als die Anfangsbuchstaben eines Taufnamens und das Datum ihres Todes. So ruht sie endlich nach allem Bösen, was sie gethan, und so haben die beiden Männer, denen sie Uebles zugefügt, ihr vergeben.
Du fragst ferner, ob Grund zu der Annahme vorhanden sei, daß der Doctor aus der Geschichte wirklich mit so reinen Händen hervorgeht, wie sie aussehen? Mein lieber Augustus, ich glaube, der Doctor ist schon in mehr schlimme Händel verwickelt gewesen, als wir je werden ausfindig machen können, und hat von dem Stillschweigen, das sich Mr. Midwinter und Mr. Armadale selbst auferlegt, seinen Nutzen zu ziehen gewußt, wie Schurken immer aus dem Mißgeschick und der Noth ehrlicher Leute ihren Nutzen zu ziehen wissen. Es steht fest, daß er wider die falsche Angabe hinsichtlich Miß Milroy’s nichts einzuwenden fand, und nach meiner Old-Bailey-Praxis ist das hinreichend für mich. Evidenz gegen ihn ist nicht das Jota da, und was eine Vergeltung anlangt, so kann ich nur von Herzen wünschen, daß sie in dem langen Laufe, den sie zusammen machen werden, schließlich die schlauere von beiden sein möge. Für jetzt ist dazu nicht viel Aussicht vorhanden. Wie ich höre, beabsichtigen die Freunde und Bewunderer des Doctors ihm ein Zeugniß zu überreichen, worin ihre Theilnahme bei dem traurigen Begebniß, das auf die Eröffnung seines Sanatoriums einen so tiefen Schatten geworfen, und ihr ungemindertes Vertrauen in seine Rechtschaffenheit und seine ärztliche Befähigung ausgedrückt werden sollen.
Wir leben, Augustus, in einer Zeit, welche das Gedeihen jedweder Schurkerei, die so vorsichtig ist, den nöthigen guten Schein zu wahren, außerordentlich begünstigt. In unserm aufgeklärten neunzehnten Jahrhundert betrachte ich den Doctor als einen Mann der in die Höhe kommen wird.
Um jetzt auf angenehmere Gegenstände als das Sanatorium zu kommen, will ich Dir mittheilen, daß Miß Neelie so frisch und gesund ist wie früher und nach meiner bescheidenen Meinung hübscher aussieht als je. Sie befindet sich unter der Obhut einer verwandten Dame in London, und Mr. Armadale überzeugt sie, falls sie es etwa vergessen wollte, Tag für Tag von dem Factum seines Daseins. Im Frühling soll ihre Hochzeit stattfinden, wenn nicht vielleicht Mrs. Milroy’s Tod die Festlichkeit aufschiebt; die Aerzte sind nämlich der Ansicht, daß die arme Dame endlich ihrer Auflösung entgegengeht. Es ist nur noch eine Frage von Wochen oder Monaten, wie sie sagen. Sie ist übrigens im höchsten Grade verwandelt, ruhig und sanft und mit ihrem Manne und ihrer Tochter äußerst zärtlich und liebevoll; nach dem Urtheile der Aerzte ist aber eben diese Wandelung ein Anzeichen ihres nahen Todes. Dem Major kann man dies schwer beibringen; er sieht nur, daß sie wieder ihrem bessern Selbst gleicht, wieder so wird wie damals, als er sie geheirathet, und stundenlang sitzt er an ihrem Bette und erzählt ihr von seiner wunderbaren Uhr.
Mr. Midwinter, von dem Du wohl zunächst etwas erfahren willst, geht rasch seiner Genesung entgegen. Nachdem er anfangs den Aerzten, nach deren Meinung er an einer bedenklichen Nervenerschütterung litt, über deren Ursachen der Kranke das hartnäckigste Schweigen beobachtete, ernstliche Besorgnisse eingeflößt hatte, erholt er sich jetzt, wie nur, um abermals den Ausspruch der Doctoren zu citiren, Menschen von seinem reizbaren Temperamente sich erholen können. Er und Mr. Armadale haben zusammen eine stille Wohnung bezogen; ich habe ihn besucht, als ich das letzte Mal in London war. Sein Gesicht zeigte noch die Spuren von Gram und Leiden, die an einem so jungen Manne traurig anzusehen waren, allein er sprach von sich selbst und seiner Zukunft mit einem Muthe und einer frohen Zuversicht, um die ihn Männer, doppelt so alt wie er, nach dem, was er, wie ich vermuthe, zu leiden gehabt hat, beneiden dürften. Verstehe ich mich nur etwas auf Menschen, so ist er kein gewöhnlicher Mensch, und wir werden noch Ungewöhnliches von ihm hören.
Du wirst Dich wundern, wie ich nach London gekommen bin. Ich bin mit einem Retourbillet (vom Sonnabend bis zum Montag) hinaufgefahren, um in der streitigen Sache mit unsern Agenten zu conferiren. Es war ein harter Streit, doch, merkwürdig genug, fiel mir gerade, als ich gehen wollte, der richtige Gesichtspunkt ein; ich nahm wieder in meinem Stuhle Platz und brachte die Frage in wenigen Minuten zur Entscheidung. Natürlich logierte ich in unserm Hotel in Covent-Garden. William, der Kellner, erkundigte sich nach Dir mit der Herzlichkeit eines Vaters, —— und Mathilde, das Stubenmädchen, erzählte mir, daß Du sie bei Deiner letzten Anwesenheit in London fast beredet hättest, sich einen hohlen Zahn herausnehmen zu lassen. Ich hatte den zweiten Sohn unseres Agenten (den jungen Menschen, dem Du den Scherznamen Mustapha geegeben, als er einen solchen Heidenlärm wegen der türkischen Papiere erhob) am Sonntage zu Tische geladen. Abends passierte ein kleiner Vorfall, der, als im Zusammenhange stehend mit einer gewissen alten Dame, welche nicht zu Hause war, als Ihr, Du und Mr. Armadale, früher einmal ihre Wohnung in Pimlico aufsuchtet, vielleicht bemerkenswerth ist.
Wie alle Ihr jungen Leute von heute wurde Mustapha nach Tische unruhig. »Lassen Sie uns eine öffentliche Belustigung besuchen, Mr. Pedgift«, sagte er. »Oeffentliche Belustigung? Wie, am Sonntagabend?« erwiderte ich. »Ganz recht, Sir«, sagte er. »Gewiß, das Schauspiel auf der Bühne verbietet man Sonntags, aber das Schauspiel auf der Kanzel hindert man nicht. Kommen Sie und lassen Sie uns unsern neuesten Sonntagsdarsteller sehen.« Da er keinen Wein mehr trinken wollte, so blieb mir nichts übrig, als mit ihm zu gehen.
Wir begaben uns direct nach einer Straße des Westend und fanden sie mit Equipagen verbarrikadiert. Wäre es nicht eben Sonntag gewesen, so hätte ich gedacht, wir gingen in die Oper. »Was habe ich Ihnen gesagt?« spricht Mustapha, während er mich an eine offene Thür zieht, an welcher unter einem mächtigen Gassterne ein Zettel der Vorstellung angeheftet ist. Ich hatte gerade Zeit wahrzunehmen, daß wir uns zu einer der Sonntagsabendpredigten über den Prunk und die Eitelkeiten der Welt begaben, die ein »Sünder, der ihnen einst gedient hat«, abhält, als Mustapha mich an den Ellenbogen stieß und flüstert: »Eine halbe Krone ist der fashionable Preis.« Als ich mich umsah fand ich mich zwischen zwei gesetzten alten Herren mit Tellern in den Händen, die mit dem fashionablen Preis bereits außerordentlich gefüllt waren. Mustapha bevorzugte den einen, ich den andern Teller. Dann gingen wir durch zwei Thüren in einen langen Saal, der gedrängt voll Menschen war, und dort auf der Tribüne stand als Redner der Versammlung nicht ein Mann, sondern eine Frau, und die Frau war Mrs. Oldershaw! In Deinem ganzen Leben hast Du keine größere Beredtsamkeit gehört. Sie war, solange wir auch zuhörten, niemals um ein Wort oder einen Satz verlegen, und was den Inhalt ihrer Rede angeht, so kann ich sie als eine Erzählung von Mrs. Oldershaw’s Praxis unter gefallenen Weibern darstellen, die mit frommen und reuevollen Flosken verschwenderisch verziert war. Du wirst fragen, wer denn das Publikum ausmachte? Vor allen Dingen Weiber, Augustus, und so wahr ich selig zu werden hoffe, sämtliche alte Vetteln der fashionablen Welt, die Mrs. Oldershaw zu ihrer Zeit gefirnißt und emailliert hatte. Jetzt saßen sie keck auf den ersten Plätzen mit ihren rothgeschminkten Backen und befanden sich in einem Zustande andächtigen Amusements, der wunderbar anzusehen war! Ich wartete das Ende der Rede nicht ab und dachte bei mir, als ich hinausging, an das, was Shakespeare irgendwo sagt: »Herr mein Gott, was für Narren sind wir Sterbliche!«
Habe ich Dir noch etwas zu erzählen? Nur noch eins, soweit ich mich besinnen kann.
Der unselige alte Bashwood hat die Besorgnisse wahr gemacht, die ich, wie Du weißt, seinetwegen hegte, als er von London hierher zurückgebracht wurde. Es ist nicht der geringste Zweifel mehr, daß er wirklich das ganze bischen Verstand verloren hat, das er einst besaß. Er ist vollkommen unschädlich und vollkommen glücklich und würde uns gar keine Noth machen, wenn wir ihn nur abhalten könnten, in seinem neuen Anzug schmunzelnd und lächelnd umherzugehen und alle Welt zu seiner bevorstehenden Hochzeit mit dem schönsten Weibe in England einzuladen. Natürlich endet die Geschichte damit, daß ihn die Gassenjungen zu ihrer Zielscheibe wählen und daß er tagtäglich Schmutzbedeckt nach Hause kommt. Sowie seine Kleider wieder gereinigt sind, fällt er in seinen Lieblingswahn zurück und stolziert vor der Kirchenthür in der Rolle eines Bräutigams einher, der auf Miß Gwilt wartet. Wir müssen sehen, daß wir den armen Burschen für die kurze Zeit, welche er noch zu leben hat, irgendwo unterbringen. Wer hätte gedacht, daß ein Mann in seinen Jahren sich noch verlieben und daß das Unheil, welches die Schönheit jenes Weibes angestiftet hat, aus unsern alten Schreiber einen so traurigen Einfluß ausüben könnte!
Für jetzt aber Adieu, mein lieber Sohn. Wenn Du in Paris eine besonders hübsche Tabaksdose siehst, so denke, daß Dein Vater, obschon er Ehrengaben perhorrescirt, gegen ein Geschenk von seinem Sohne nichts einzuwenden hat.
Dein Dich liebender
A. Pedgift sen.
Nachschrift.Höchst wahrscheinlich ist der Streit, dessen, wie Du erwähnst, die französischen Zeitungen gedenken, jener verhängnißvolle Streit unter fremden Matrosen auf einer der Liparischen Inseln, bei dem ihr Kapitän ums Leben kam, wirklich ein Streit zwischen jenen Bösewichten gewesen, welche Mr. Armadale beraubten und seine Yacht in den Grund bohrten. Zum Glück für die menschliche Gesellschaft können diese Kerle nicht immer den äußern Schein wahren und in ihrem Falle erreichte die Vergeltung gelegentlich einmal die Schurken.«
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