Armadale
Siebentes Kapitel.
1. Mr. Bashwood an Miß Gwilt.
Thorpe-Ambrose, den 20» Juli 1851.
»Verehrtes. Fräulein! Durch einen Privatboten empfing ich Ihr werthes Schreiben, in dem Sie mir befohlen, nur durch die Post mit Ihnen zu verkehren, solange Grund zu glauben vorhanden, daß der bei Ihnen vorsprechende Besuch beobachtet werde. Darf ich mir die Freiheit nehmen, zu sagen, daß ich mit respectvoller Sehnsucht der Zeit entgegensehe, wenn ich wieder die einzige wahre Seligkeit genießen darf, die ich je gekannt habe, das Glück, persönlich zu Ihnen reden zu können?
Ihrem Wunsche zufolge, daß ich nämlich diesen Tag —— Sonntag —— nicht vorübergehen lassen solle, ohne mich im geheimen von dem zu unterrichten, was sich im Herrenhause zutrüge, nahm ich heute Morgen die Schlüssel und begab mich nach der Administrationskanzlei. Den Dienern erklärte ich meine Anwesenheit dadurch, daß ich ihnen sagte, ich hätte eine gewisse Arbeit vor, deren schleunigste Vollendung von größter Wichtigkeit sei. Dieselbe Entschuldigung würde, wenn ich Mr. Armadale begegnet wäre, auch ihm gegenüber ausgereicht haben, doch fand keine solche Begegnung statt.
Obwohl ich meiner Ansicht nach sehr zeitig in Thorpe-Ambrose anlangte, kam ich doch zu spät, um selbst etwas von einem sehr ernstlichen Zerwürfniß zu sehen oder zu hören, welches zwischen Mr. Armadale und Mr. Midwinter vorgefallen war. Das Wenige, was ich Ihnen darüber mittheilen kann, habe ich von einem der Diener erfahren. Der Mann sagte mir, er habe sehr laute Stimmen —— die der beiden Herren —— in Mr. Armadale’s Wohnzimmer gehört. Bald darauf war er hineingegangen um zu melden, daß das Frühstück serviert sei, und fand Mr. Midwinter in einem Zustande so fürchterlicher Aufregung, daß derselbe sich aus dem Zimmer führen lassen mußte. Der Lakai wollte ihn auf sein Zimmer bringen, damit er sich still auf sein Bett lege und beruhige. Doch Mr. Midwinter widersetzte sich dem und sagte, er wolle erst in einem Zimmer des Erdgeschosses einen Augenblick bleiben, und bat allein gelassen zu werden. Kaum war der Mann wieder im Souterrain angelangt, als er hörte, wie die Hausthür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Er lief zurück und bemerkte, daß Mr. Midwinter fortgegangen sei. Es regnete zur Zeit in Strömen und bald darauf brach das Gewitter los. Jedenfalls ein entsetzliches Wetter zum Ausgehen! Der Diener meint, Mr. Midwinter sei nicht recht bei Sinnen gewesen. Ich hoffe von Herzen, daß dies nicht der Fall war. Mr. Midwinter ist einer von den Wenigen, denen ich in meinem Leben begegnet bin, die mich freundlich behandelt haben.
Da ich hörte, daß Mr. Armadale noch immer in seinem Wohnzimmer sei, begab ich mich in die Expedition, die, wie Sie sich vielleicht erinnern werden, aus derselben Seite des Hauses gelegen ist, und ließ die Thür und das Fenster ein wenig offen, um auf Alles lauschen zu können, was passieren würde. Verehrtestes Fräulein, es gab eine Zeit, wo ein solches Verfahren im Hause meines Prinzipals mir als kein sehr ziemliches erschienen sein würde. Lassen Sie mich Ihnen indessen die Versicherung geben, daß ich weit entfernt bin, jetzt eine solche Ansicht zu hegen. Ich bin stolz auf Alles, wodurch ich Ihnen dienstbar werde.
Das Wetter schien sich der Wiederannäherung Mr. Armadale’s und Miß Milroys, die Sie so zuversichtlich erwarten und von der Sie von Allan unterrichtet werden möchten, hoffnungslos in den Weg zu stellen Seltsamerweise aber bin ich gerade wegen des Wetters in der Lage, Ihnen die verlangte Auskunft zu ertheilen. Vor etwa einer Stunde trafen sich Mr. Armadale und Miß Milroy unter folgenden Umständen. Gleich beim Ausbruche des Gewitters sah ich einen der Reitknechte vom Stalle herüberlaufen und hörte ihn an das Fenster seines Herrn klopfen. Mr. Armadale öffnete das Fenster und fragte, was der Bursche wolle. Der Reitknecht sagte, die Frau des Kutschers sende ihn mit einer Bestellung. Sie habe von ihrem Zimmer über dem Stalle, das auf den Park hinausgeht, Miß Milroy ganz allein im Schutze der Bäume stehen sehen. Da dieser Theil des Parks ziemlich entfernt von des Majors Wohnung sei, habe sie gemeint, ihr Herr werde vielleicht wünschen, daß man Jemand zu der jungen Dame hinaus sende und sie ins Haus zu kommen bitte, namentlich da sie sich an eine Stelle geflüchtet, die bei einem Gewitter sehr gefährlich sein dürfte.
Sowie Mr. Armadale den Mann gehört, ließ er wasserdichte Mäntel und Regenschirme bringen und lief, anstatt dies der Dienerschaft zu überlassen, selber in das Wetter hinaus.
Von einem der Stubenmädchen, das die junge Dame aus ein Schlafzimmer geführt und dort mit den trockenen Kleidern versehen hatte, deren sie bedurfte, erfuhr ich dann, daß Miß Milroy später in den Salon hinabgeleitet worden und daß Mr. Armadale dort bei ihr sei. Die einzige Möglichkeit, Ihre Instructionen zu befolgen und von dem, was zwischen ihnen vorging, Kenntniß zu erlangen, war, daß ich mitten im strömenden Regen ums Haus herum und durch die äußere Thür nach dem Gewächshause ging, das, wie Sie wissen, mit dem Salon in Verbindung steht. In Ihrem Dienste schrecke ich vor nichts zurück, theures Fräulein Ihnen zu Gefallen ließe ich mich mit Vergnügen jeden Tag durchnässen Und wenngleich man mich auf den ersten Blick vielleicht für einen ältlichen Mann halten möchte, so macht mir ein solches Bad doch nicht eben viel aus. Ich versichere Ihnen, ich bin nicht so alt, wie ich aussehe, und habe eine kräftigere Constitution, als es den Anschein haben mag.
Mich im Gewächshause nahe genug heranzuwagen, um, ohne selbst gesehen zu werden, zu sehen, was im Salon vorging, war mir unmöglich. Doch drang der größere Theil ihrer Unterhaltung bis zu mir, ausgenommen wenn sie flüsternd mit einander sprachen. Folgendes ist das Wesentliche von dem, was ich hörte. Ich entnahm, daß Miß Milroy sich wider Willen hatte bewegen lassen, in Mr. Armadales Hause vor dem Gewitter Schutz zu suchen. Wenigstens sagte sie dies und gab zwei Gründe dafür an. Der erste war, daß ihr Vater allen Verkehr zwischen dem Parkhäuschen und dem Herrenhause untersagt habe. Mr. Armadale begegnete diesem Einwande durch die Versicherung, daß ihr Vater diesen Befehl in einer völlig irrthümlichen Meinung ertheilt habe, und bat sie, ihn nicht ebenso grausam zu behandeln wie ihr Vater. Vermuthlich ließ er sich hierbei in Erklärungen ein; da er aber die Stimme senkte, bin ich nicht im Stande zu sagen, welcher Art dieselben waren. Seine Sprache, wenn ich dieselbe hören konnte, war verwirrt und unbeholfen. Indessen schien sie verständlich genug, um Miß Milroy zu überzeugen, daß ihr Vater nach einer falschen Auslegung der Umstände gehandelt habe. Wenigstens nehme ich dies an; denn als ich wieder etwas von der Unterhaltung verstehen konnte, sah die junge Dame sich auf ihren zweiten Einwand zurückgedrängt, der darin bestand, Mr. Armadale habe sich sehr garstig gegen sie benommen und reichlich verdient, daß sie nie wieder mit ihm spräche. Dagegen versuchte Mr. Armadale sich gar nicht zu vertheidigen. Er stimmte mit ihr darin überein, daß er sich schlecht gegen sie benommen und wohl verdient habe, daß sie nie wieder mit ihm spräche. Zugleich aber bat er sie zu bedenken, daß er seine Strafe bereits erlitten. Er sei in der Nachbarschaft discreditirt und sein liebster Freund, sein einziger vertrauter Freund in der Welt, habe sich diesen Morgen wie alle Andern gegen ihn gewandt. Weder in der Nähe noch in der Ferne gebe es ein einziges lebendes Wesen, das er lieb habe, ihn zu trösten, ihm ein freundliches Wort zu sagen. Er sei einsam und elend und sein Herz sehne sich nach ein wenig Freundlichkeit, und dies sei seine einzige Entschuldigung dafür, wenn er jetzt Miß Milroy bitte, zu vergessen und zu vergeben.
Die Wirkung dieser Worte auf die junge Dame sich zu denken muß ich leider Ihnen überlassen, denn trotz der größten Anstrengung konnte ich nicht hören, was sie sagte. Ich glaube indeß fast sicher, daß ich sie weinen und Mr. Armadale sie anflehen hörte, ihm nicht das Herz zu brechen. Sie flüsterten sehr viel mit einander, was mich außerordentlich verdroß. Nachher hatte ich eine große Angst auszustehen. Mr. Armadale kam nämlich ins Gewächshaus, um einige Blumen zu pflücken, glücklicherweise aber nicht bis dahin, wo ich mich versteckt hatte, sondern er ging in den Salon zurück und das Geplauder begann von neuem, wahrscheinlich in engster Vertraulichkeit, wovon ich zu meinem großen Bedauern nichts hören konnte. Halten Sie mir es nicht für übel, daß ich Ihnen so wenig zu berichten habe. Ich kann nur hinzufügen, daß Miß Milroy, sowie das Gewitter nachließ, mit den Blumen in der Hand und von Mr. Armadale aus dem Hause begleitet fortging. Meine eigene bescheidene Ansicht ist die, daß er in der Zuneigung, welche die junge Dame zu ihm hegt, den mächtigsten Fürsprecher besaß.
Dies ist Alles, was ich heute mitzutheilen habe, eins ausgenommen, was ich hörte und zu erwähnen mich schäme. Aber Ihr Wort ist mir Gesetz, und Sie haben mir befohlen, Ihnen nichts zu verheimlichen.
Einmal fiel die Rede auf Sie, theures Fräulein. Ich glaube gehört zu haben, daß Miß Milroy das Wort Geschöpf aussprach, und ganz gewiß weiß ich, daß Mr. Armadale, während er eingestand, wie er Sie einstmals bewundert habe, hinzusetzte, daß die Umstände ihn seitdem seine Thorheit hätten einsehen lassen. Ich wiederhole seinen eigenen Ausdruck, der mich vor Entrüstung zittern machte. Der Mann, welcher Miß Gwilt bewundert, lebt, wenn ich dies zu sagen wagen darf, im Paradiese. Die Achtung, wenn sonst nichts Anderes, hätte wenigstens Mr. Armadale’s Lippen schließen sollen. Er ist mein Brodherr, ich weiß es wohl, aber jetzt, wo er Bewunderung für Sie eine Thorheit genannt hat, muß ich ihn, obwohl nur sein Untergebener, aus tiefstem Herzen verachten.
In der Hoffnung, daß ich so glücklich bin, Sie soweit zufrieden gestellt zu haben, und mit dem aufrichtigen Wunsche, die Ehre Ihres fortgesetzten Vertrauens zu verdienen, verbleibe ich,
theuerstes Fräulein,
Ihr dankbarer und ergebener Diener
Felix Bashwood.«
2. Mrs. Oldershaw an Miß Gwilt.
»Diana-Street. Montag den 21. Juli.
Meine liebe Lydia! Ich muß Dich mit diesen wenigen Zeilen belästigen. Ich schreibe sie bei unserm gegenwärtigen Beziehungen zu einander aus Pflichtgefühl gegen mich selbst.
Mit dem Tone Deiner beiden letzten Briefe bin ich ganz und gar nicht zufrieden, noch weniger aber damit, daß ich heute Morgen keinen Brief von Dir erhalten, und dies, nachdem wir übereingekommen, daß ich während unserer gegenwärtigen zweifelhaften Aussichten täglich von Dir hören solle! Ich kann mir Dein Benehmen nur in einer Weise erklären; ich kann nur annehmen, daß die Geschichte in Thorpe-Ambrose ganz verpfuscht ist und verkehrt geht.
Dir Vorwürfe zu machen ist nicht die Absicht dieser Zeilen, denn wozu sollte ich wohl Zeit, Worte und Papier verschwenden? Ich möchte Dich nur an gewisse Erwägungen erinnern, die Du zu vergessen geneigt zu sein scheinst. Soll ich sie mit deutlichen Worten nennen? Ja, denn ungeachtet all meiner Fehler bin ich doch die personificirte Offenheit.
Erstens habe ich ebenso wohl wie Du ein Interesse daran, daß Du Mrs. Armadale von Thorpe-Ambrose wirst. Zweitens habe ich Dich, meiner gut Rathschläge gar nicht zu gedenken, mit dem Gelde versehen dessen Du zur Ausführung Deines Zweckes bedurftests. Drittens habe ich Deine Schuldverschreibungen auf, kurze Fristen für jeden Heller, den ich Dir so geliehen, in Händen. Viertens und letztens lasse ich, obgleich ich als Freundin gegen Fehler nachsichtig bin, als Geschäftsfrau nicht mit mir spielen. Damit genug Lydia, wenigstens für jetzt.
Bitte, denke nicht, daß ich im Zorne schreibe; ich bin nur bekümmert und entmuthigt. Mein Gemüthszustand gleicht dem des Königs David. Hätt’ ich die Flügel einer Taube, so wollt’ ich fortfliegen und Ruhe finden.
Herzlich die Deine
Maria Oldershaw.«
3. Mr. Bashwood an Miß Gwilt.
»Thorpe-Ambrose, den 21. Juli.
Theuerstes Fräulein! Sie werden diese Zeilen wahrscheinlich einige Stunden nach dem Empfange meines gestrigen Briefes erhalten. Ich habe den ersten Brief gestern Abend auf die Post gegeben und werde diesen heute noch vor Mittag absenden.
Der Zweck. meines gegenwärtigen Schreibens ist, Ihnen noch fernere Neuigkeiten aus diesem Hause mitzutheilen Ich habe die Unaussprechliche Freude, Ihnen anzukündigen, daß Mr. Armadale’s schmachvolle Bewachung Ihrer Person zu Ende ist. Die Beobachtung Ihrer Handlungen soll mit diesem Tage aufhören. Ich schreibe, verehrtes Fräulein, mit Thränen in den Augen, Freudenthränen, welche durch Gefühle hervorgerufen werden, die ich in meinem letzten Briefe auszusprechen gewagt habe. Verzeihen Sie mir diese persönliche Bemerkung. Ich kann, ich weiß nicht warum, mich viel besser schriftlich als mündlich gegen Sie aussprechen.
Ich muß mich zu fassen suchen und dann mit meinem Briefe fortfahren.
Eben war ich diesen Morgen auf das Bureau gekommen, als Pedgift der ältere mir in das Herrenhaus folgte, um auf Wunsch Mr. Armadale aufzuwarten. Es ist unnöthig zu sagen, daß ich sofort alle kleinen Geschäfte, die es dort für mich gab, verschob, da ich fühlte, es handle sich vielleicht um Ihre Interessen. Zu meiner außerordentlichen Freude kann ich Ihnen mittheilen, daß die Umstände mich diesmal begünstigten Unter dem offenen Fenster stehend konnte ich die ganze Unterredung mit anhören.
Mr. Armadale sprach sofort in den deutlichsten Worten. Er ertheilte Befehl, daß die zu Ihrer Beobachtung gedungene Person unverzüglich entlassen würde. Ersucht, diese plötzliche Sinnesänderung zu erklären, machte er kein Geheimniß daraus, daß dieselbe dem Eindrucke beizumessen sei, den das gestern zwischen ihm und Mr. Midwinter Vorgefallene auf ihn gemacht habe. Mr. Midwinter’s Worte, wie höchst ungerecht dieselben immer gewesen, hätten ihn dessen ungeachtet überzeugt, daß keine Nothwendigkeit ein an sich so niedriges Mittel wie die Benutzung eines Spions entschuldigen könne, und nach dieser Ueberzeugung sei er jetzt zu handeln entschlossen.
Hätten Sie mir nicht Ihre strengen Befehle ertheilt, Ihnen von dem, was hier vorgeht und was sich irgendwie auf Sie bezieht, nichts zu verheimlichen, so würde ich mich wirklich schämen, Ihnen zu berichten, was Mr. Pedgift seinerseits erwiderte. Allerdings hat er gütig an mir gehandelt. Aber selbst wenn er mein eigener Bruder wäre, vermöchte ich ihm nimmer den Ton, in dem er von Ihnen sprach, und die Hartnäckigkeit zu vergeben, mit welcher er Mr. Armadale umzustimmen versuchte.
Er begann mit einem Angriffe auf Mr. Midwinter. Mr. Midwinter’s Ansicht, meinte er, sei die schlechteste, die man überhaupt fassen könne, denn es liege am Tage, daß Sie, theuerstes Fräulein, ihn um die Finger gewunden hätten. Da er mit dieser unzarten Bemerkung, der Niemand, der Sie kennt, nur einen Augenblick Glauben schenken könnte, keinen Eindruck machte, so erwähnte Mr. Pedgift zunächst Miß Milroy’s und fragte Mr. Armadale, ob er es gänzlich aufgegeben habe, sie zu beschützen Was er damit meinte, begreife ich nicht; ich kann es Ihnen nur zur eigenen Erwägung berichten. Mr. Armadale erwiderte kurz, er habe seinen eigenen Plan zu Miß Milroy’s Schutze gefaßt, und die Verhältnisse hätten sich in dieser Beziehung verändert, oder etwas der Art. Mr. Pedgift aber blieb hartnäckig Er wurde, ich erröthe, es zu schreiben, sogar immer verbissener. Er wollte Mr. Armadale zunächst bereden, einen oder den andern seiner Gutsnachbarn, die sich gegen sein Betragen am entschiedensten ausgesprochen hätten, gerichtlich zu belangen, und zwar einzig und allein zu dem Zwecke —— ich weiß wirklich kaum, wie ich es ausdrücken soll —— um Sie als Zeugin vorladen zu können. Noch mehr. Da Mr. Armadale abermals nein sagte, kehrte Mr. Pedgift, der, dem Klange seiner Stimme nach zu urtheilen, nur an die Thür gegangen zu sein schien, wieder um und schlug vor, man solle einen geheimen Polizisten aus London kommen lassen, damit dieser Sie blos einmal ansehe. »Das ganze Geheimniß, das Miß Gwilt umgibt", sagte er, »ist vielleicht eine einfache Frage der Identität Es wird nicht viel kosten, einen Mann aus London kommen zu lassen, und es verlohnt sich wohl des Versuchs, zu erfahren, ob ihr Gesicht im Hauptbureau der Polizei bekannt ist oder nicht.« Von neuem wiederhole ich Ihnen, theuerste Dame, daß ich diese abscheulichen Worte nur aus Pflichtgefühl gegen Sie berichte, und erkläre Ihnen, daß ich an allen Gliedern zitterte, als ich dieselben hörte.
Ich will jedoch fortfahren, denn ich habe Ihnen noch mehr mitzutheilen.
Mr. Armadale sagte noch immer nein, das muß ich zu seiner Ehre eingestehen, obgleich ich ihn nicht leiden kann. Er schien über Mr. Pedgift’s Hartnäckigkeit ärgerlich zu werden und sprach in etwas gereiztem Tone. »Als wir uns das letzte Mal über diesen Gegenstand unterhielten«, sagte er, »haben Sie mich zu einer Handlungsweise beredet, deren ich mich seitdem herzlich geschämt habe. Sie sollen mich nicht zum zweiten Male zu etwas Aehnlichem überreden, Mr. Pedgift.« Das waren genau seine Worte. Mr. Pedgift schien hierauf seinerseits gereizt und erwiderte hastig: »Erscheint Ihnen mein Rath in diesem Lichte, Sir, so bedienen Sie sich desselben für die Zukunft lieber so wenig wie möglich. Ihr Ruf und Ihre Stellung sind in der Angelegenheit zwischen Ihnen und Miß Gwilt öffentlichen Angriffen ausgesetzt, und in einem höchst kritischen Augenblicke bestehen Sie darauf, Ihren eigenen Weg einzuschlagen, der meiner Ansicht nach nur zu einem schlimmen Ziele führen wird. Nach Allem, was ich in dieser sehr ernsten Sache bereits gesagt und gethan habe, kann ich mich nicht dazu verstehen, dieselbe mit gebundenen Händen weiter zu verfolgen, und solange ich öffentlich als Ihr Rechtsanwalt bekannt bin, kann ich sie auf Ehre nicht fallen lassen. Sie lassen mir keine andere Wahl, Sir, als der Ehre zu entsagen, Ihnen als gesetzlicher Rathgeber zu dienen« —— »Das bedaure ich zu hören", versetzte Mr. Armadale, »aber durch meine Einmischung in Miß Gwilt’s Angelegenheiten habe ich bereits genug zu leiden gehabt. Ich kann und will nichts weiter in der Sache thun.« —— »Sie mögen vielleicht nichts weiter darin thun, Sir", sagte Mr. Pedgift, »und ich werde gewiß nichts weiter darin unternehmen, denn ich nehme ferner kein Interesse an der Sache. Aber merken Sie auf meine Worte, Mr. Armadale: Sie sind mit dieser Geschichte noch nicht am Ende. Es ist sehr möglich, daß die Neugierde einer andern Person die Sache da, wo Sie und ich dieselbe fallen lassen, wieder aufnimmt und schließlich noch ein helles Licht aus Miß Gwilt wirft.«
Wie ich glaube, theile ich Ihnen ihr Gespräch Wort für Wort mit, theures Fräulein. Dasselbe hat einen unbeschreiblichen Eindruck auf mich gemacht, mich, ich weiß kaum warum, mit einer gewaltigen Angst erfüllt. Ich kann es mir durchaus nicht erklären, und noch viel weniger, was unmittelbar darauf geschah.
Mr. Pedgift’s Stimme schien, als er jene Worte sprach, mir fürchterlich nahe. Er muß am offenen Fenster gesprochen und, wie ich besorge, mich unter demselben erblickt haben. Ehe er das Haus verließ, hatte ich indeß Zeit, mich leise aus den Lorbeerbüschen zu schleichen, doch nicht um auf mein Bureau zurückzukehren. Ich ging deshalb die Auffahrt entlang, dem Parkwärterhäuschen zu, als wenn ich dort in Geschäftsangelegenheiten zu thun hätte.
Mr. Pedgift in seinem Gig holte mich bald ein und hielt still. »Sie sind also neugierig in Betreff Miß Gwilt’s?« sagte er. »Befriedigen Sie aus alle Fälle Ihre Neugierde, ich habe nichts dagegen.« Dies ängstigte mich natürlich, aber es gelang mir dennoch, ihn zu fragen, was er meine. Er antwortete nicht; er sah blos aus seinem Gig auf mich herab und lachte. »In meiner Praxis sind mir schon noch seltsamere Sachen vorgekommen als das!« sagte er plötzlich für sich und fuhr weiter.
Ich habe Sie mit diesem letzteren Ereignisse zu behelligen gewagt, in der Hoffnung, Ihr überlegener Scharfblick dürfte dasselbe, obgleich es Ihnen als völlig unwichtig erscheinen mag, sich erklären können. Meine schwachen Fähigkeiten —— das bekenne ich —— vermögen nicht zu ergründen, was Mr. Pedgift meint. Ich weiß nur, daß er nicht das Recht hat, mich einer solchen Impertinenz wie der Neugierde hinsichtlich einer Dame zu zähen, für die ich eine so glühende Achtung und Bewunderung hege. Ich wage nicht, mich wärmer auszudrücken.
Ich habe nur noch hinzuzufügen, daß ich, wenn Sie es wünschen, mich in der Lage befinde, Ihnen hier noch ferner von Nutzen zu sein. So eben kam Mr. Armadale auf das Bureau und theilte mir kurz mit, daß ich bis auf Weiteres während Mr. Midwinters fortgesetzter Abwesenheit die Verwalterstelle zu versehen habe.
Ich verbleibe, theuerstes Fräulein,
voll Sorge
und inniger Ergebenheit
der Ihre
Felix Bashwood.«
4. Allan Armadale an Se. Ehrwürden Deminus Brock.
« »Thorpe-Ambrose. Dienstag.
Mein lieber Mr. Brock! Ich befinde mich in trauriger Verlegenheit Midwinter hat sich mit mir gezankt und mich verlassen, mein Advocat hat sich mit mir gezankt und mich verlassen, und die liebe kleine Miß Milroy ausgenommen, die mir verziehen, hat die ganze Umgegend mir den Rücken gewandt. Ich bin sehr unglücklich hier allein in meinem Hause. Bitte, kommen Sie und besuchen Sie mich! Sie sind der einzige Freund, der mir noch bleibt, und ich sehne mich so sehr, Ihnen Alles zu erzählen. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß die Schuld nicht an mir liegt. Von Herzen
der Ihre
Allan Armadale.
N. S. Ich würde zu Ihnen kommen, denn dieser Ort hier ist mir förmlich verhaßt geworden, aber ich habe Gründe, mich für jetzt nicht zu weit von Miß Milroy zu entfernen.«
5. Robert Stapelton an Allan Armadale Esquire.
»Boscombe, Pfarrhaus.
Donnerstag Morgen.
Hochgeehrter Herr! Unter den Briefen auf dem Tische sehe ich auch einen von Ihrer Hand, den zu öffnen mein Herr, wie ich sagen zu müssen bedaure, nicht wohl genug ist. Er liegt an einer Art schleichenden Fiebers darnieder. Der Arzt sagt, dasselbe sei die Folge von Sorgen und Aengsten, die mein Herr zu ertragen nicht kräftig genug sei. Dies ist sehr wohl möglich, denn ich begleitete ihn, als er vorigen Monat nach London reiste, und seine eigenen Geschäfte, verbunden mit der Bewachung der Person, die uns später entwischte, erhielten ihn während der ganzen Zeit in einem Zustande banger Aufregung. Mir selbst erging es in dieser Beziehung nicht besser.
Noch vor ein paar Tagen sprach mein Herr von Ihnen. Er schien es nicht zu wünschen, daß Sie von seiner Krankheit unterrichtet würden, außer wenn sich sein Zustand verschlimmerte Aber ich denke, Sie sollten davon in Kenntniß gesetzt werden. Zugleich muß ich bemerken, daß es nicht schlechter mit ihm geht, im Gegentheil, vielleicht eine Kleinigkeit besser. Der Arzt sagt, er müsse sich vollkommen ruhig halten und dürfe um keinen Preis irgendwie aufgeregt werden. Deshalb bitte ich Sie, dies wohl zu beachten, das heißt, wenn Sie noch hierher zukommen denken. Ich habe vom Arzte Befehl, Ihnen zu sagen, daß es nicht nothwendig sei und meinen Herrn in dem Zustande, in dem er sich gegenwärtig befindet, nur aufregen würde.
Wenn Sie es wünschen, will ich bald wieder schreiben. Genehmigen Sie die Versicherung meiner Hochachtung und gestatten Sie mir, zu zeichnen als
Ihr ergebenster Diener
Robert Stapelton.
N. S. Die Yacht liegt neu betakelt und angestrichen, Ihrer Befehle gewärtig. Sie nimmt sich herrlich aus.«
6. Mrs. Oldershaw an Miß Gwilt.
»Diana-Street, den 24. Juli.
Miß Gwilt! Drei Tage hintereinander ist die Stunde der Morgenpost verstrichen, ohne mir eine Antwort auf meinen Brief zu bringen. Sind Sie durchaus darauf erpicht, mich zu insultiren? Oder haben Sie Thorpe-Ambrose verlassen? Wie dem immer sei, ich will mir Ihr Betragen nicht länger gefallen lassen. Das Gesetz soll Sie zur Rechenschaft ziehen, wenn ich es nicht vermag.
Ihr erster Wechsel (auf dreißig Pfund Sterling) ist am nächsten Dienstag, den 29., fällig. Hätten Sie sich nur mit der gewöhnlichsten Rücksicht gegen mich benommen, so würde ich denselben mit Vergnügen haben prolongieren lassen. So aber werde ich den Wechsel präsentieren und, wenn derselbe nicht bezahlt wird, meinem Anwalte Instructionen ertheilen, das übliche Verfahren einzuschlagen.
Die Ihre
Maria Oldershaw.«
7. Miß Gwilt an Mrs. Oldershaw.
»Thorpe-Ambrose, Paradiesplatz Nr. 5.
Den 25.
Juli.
Mrs. Oldershaw! Da die Zeit Ihres Anwalts ihm ohne Zweifel kostbar ist, schreibe ich Ihnen diese Zeile, um ihm behilflich zu sein, sobald er das übliche Verfahren einschlägt Er wird mich, des Arrestes’ gewärtig, im ersten Stock der obigen Adresse vorfinden. In meiner gegenwärtigen Lage und bei meinen gegenwärtigen Gedanken können Sie mir wahrscheinlich keinen bessern Dienst leisten, als indem Sie mich einsperren lassen.
L. G.«
8. Mrs. Oldershaw an Miß Gwilt.
»Diana-Street, den 26. Juli.
Meine Herzens-Lydia! Je länger ich in dieser gottlosen Welt lebe, desto deutlicher sehe ich ein, daß die Frauen keine schlimmeren Feinde besitzen als ihre eigenen Launen. In welch wahrhaft beklagenswerthen Briefstil wir verfallen sind! Welch ein trauriger Mangel an Selbstbeherrschung von Deiner Seite sowohl, meine Liebe, als von der meinigen!
Laß mich als die Aelteste die ersten Entschuldigungen machen, laß mich zuerst über meinen Mangel an Selbstbeherrschung erröthen Deine grausame Vernachlässigung, Lydia, trieb mich dazu, Dir zu schreiben, wie ich es that. Ich bin so empfindlich gegen schlechte Behandlung, wenn diese mir von einem Wesen geboten wird, das ich liebe und bewundere, und obgleich bereits über sechzig, bin ich im Herzen doch leider noch so jung! Nimm meine Entschuldigungen dafür an, daß ich mich meiner Feder bediente, anstatt meine Zuflucht zu meinem Taschentuche zunehmen. Vergib Deiner liebenden Maria dafür, daß sie im Herzen noch so jung ist!
Aber o, meine Liebe, wie hart von Dir, mich, obgleich ich Dir drohte, sogleich beim Worte zu nehmen. Wie grausam von Dir, mich, selbst wenn Deine Schuld sich auf das Zehnfache belaufen hätte, der schändlichen Unmenschlichkeit fähig zu halten, eine Busenfreundin hinsetzen zu lassen! Allgütiger Himmel! Habe ich es wohl verdient, nach der jahrelangen zärtlichen Vertraulichkeit, die uns mit einander vereint hat, so unbarmherzigerweise beim Worte genommen zu werden? Aber ich beklage mich nicht; ich traure nur über die Schwachheit unserer gemeinschaftlichen menschlichen Natur. Laß uns so wenig wie möglich von einander erwarten, meine Liebe; wir sind beide Frauen und können es nicht ändern. Wenn ich an den Ursprung unseres unglückseligen Geschlechts denke, wenn ich in Betracht ziehe, daß wir alle ursprünglich aus nichts Besserem als der Rippe eines Mannes und zwar einer Rippe von so geringem Werthe für ihn, daß er sie gar nicht vermißt zu haben scheint, gemacht worden sind, so bin ich über unsere Tugenden förmlich erstaunt und verwundere mich nicht im geringsten über unsere Fehler.
Ich schweife ein wenig ab, ich verirre mich in ernste Gedanken, wie jene charmante Persönlichkeit in Shakespeare, deren Phantasie losgelassen war. Noch ein letztes Wort, Theuerste, um Dir zu versichern, daß meine Sehnsucht nach einer Antwort auf diese Zeilen einzig und allein aus dem Wunsche entspringt, wieder in Deinem alten freundschaftlichen Tone von Dir zu hören, und gar nichts mit einer etwaigen Neugierde über Dein Thun und Treiben in Thorpe-Ambrose zu schaffen hat, die Neugierde ausgenommen, die Du selbst billigst Brauche ich noch hinzuzufügen, daß ich Dich, als um eine persönliche Gefälligkeit gegen mich, nach den gewohnten Bedingungen zu prolongieren bitte? Ich meine den kleinen Wechsel vom nächsten Dienstag und erlaube mir den Vorschlag, ihn auf Dienstag über sechs Wochen zu stellen.
Mit wahrhaft mütterlicher Liebe
die Deine
Maria Oldershaw.«
9. Miß Gwilt an Mrs. Oldershaw.
»Paradiesplatz, den 27. Juli.
So eben habe ich Deinen letzten Brief erhalten. Die schamlose Frechheit desselben hat mich empört. Wie, ich soll mich wie ein Kind behandeln, soll mir zuerst drohen und, wenn das nicht glückt, schmeicheln lassen? Du sollst mir schmeicheln, Du sollst erfahren, meine mütterliche Freundin, mit welch einer Art von Kind Du es zu thun hast.
Ich hatte Grund zu dem Schweigen, welches Dich so tief verletzt hat, Mrs. Oldershaw. Ich fürchtete mich, ja fürchtete mich förmlich, Dir das Geheimniß meiner Gedanken mitzutheilen. Jetzt aber bin ich von jeder solchen Furcht frei. Heute Morgen liegt mir nur daran, Dir meine Erkenntlichkeit auszudrücken für die Art und Weise, wie Du an mich geschrieben hast. Nachdem ich es mir wohl überlegt, denke ich Dir keinen schlimmeren Gefallen thun zu können, als wenn ich Dir das mittheile, was Du so sehnsüchtig zu erfahren verlangst. Demzufolge sitze ich hier an meinem Schreibpulte, entschlossen, Dich aufzuklären. Du sollst erfahren, was sich in Thorpe-Ambrose zugetragen hat, Du sollst meine Gedanken lesen, so deutlich, wie ich sie selbst erkenne. Wenn Du nach Lesung dieses Briefes nicht bitterlich bereust, Deinem ersten Entschlusse, mich einsperren zu lassen, solange Du noch die Macht dazu besaßest, nicht gefolgt zu sein, so heiße ich nicht Lydia Gwilt.
Womit schloß mein letzter Brief? Es ist mir entfallen und mir auch gleichgültig. Unterrichte Dich davon, so gut Du kannst, ich werde nicht weiter als auf die letzten acht Tage zurückgehen, das heißt bis auf vorigen Sonntag.
Wir hatten am Vormittage ein Gewitter, das sich gegen Mittag zu verziehen begann. Ich ging nicht aus, ich wartete ab, ob ich Midwinter sehen oder von ihm hören werde. (Ueberrascht es Dich, daß ich seinem Namen kein Mr. vorsetze? Wir sind jetzt so vertraut mit einander, meine Liebe, daß Mr. durchaus nicht am Orte sein würde.) Am Abende vorher hatte er mich unter sehr interessanten Verhältnissen verlassen. Ich hatte ihm gesagt, daß sein Freund Armadale mich vermittelst eines gedungenen Spions verfolge. Er hatte das nicht glauben wollen und war unverzüglich nach Thorpe-Ambrose gegangen, um die Sache aufzuklären. Ich hatte ihm meine Hand zum Kusse gereicht, ehe er fortging. Er hatte mir versprochen, am nächsten Tage, einem Sonntage, wiederzukommen. Ich fühlte, daß ich meinen Einfluß auf ihn gesichert hatte, und glaubte, daß er Wort halten werde.
Nun, wie gesagt, das Gewitter verzog sich. Der Himmel hellte sich auf; die Leute erschienen in ihren Sonntagskleidern, die Braten kamen von den Bäckern; ich saß träumend vor meinem erbärmlichen kleinen Klavier, hübsch gekleidet und schön aussehend, und noch immer kein Midwinter. Schon war es später Nachmittag und ich begann mich beleidigt zu fühlen, als mir ein Brief gebracht ward. Ein fremder Bote hatte ihn abgegeben, der sogleich wieder fortgegangen war. Ich sah den Brief an. Endlich Midwinter, wiewohl nur in Gestalt eines Briefes, anstatt in eigener Person. Ich fühlte mich beleidigter denn je, denn ich glaubte, wie schon bemerkt, meinen Einfluß auf ihn wirksamer geltend gemacht zu haben.
Der Inhalt des Briefes gab meinen Gedanken eine neue Richtung. Er überraschte mich, war mir unbegreiflich und interessant. Ich dachte den ganzen Tag hindurch an ihn.
Zuerst bat er mich um Verzeihung, das, was ich ihm mitgetheilt, bezweifelt zu haben. Mr. Armadale habe es mit seinen eigenen Lippen bestätigt. Sie hatten sich veruneinigt, wie ich dies erwartet hatte, und er und der Mann, der sein theuerster Freund auf Erden gewesen, waren jetzt auf immer von einander geschieden. Soweit war ich nicht überrascht. Die überschwängliche Art und Weise, in der er mir erzählte, wie er und sein Freund nun auf ewig von einander geschieden seien, belustigte mich, und ich erging mich in Muthmaßungen darüber, was er wohl denken werde, wenn ich meinen Plan ausführen und mir unter dem Vorwande, sie wieder mit einander zu versöhnen, den Zutritt ins Herrenhaus verschaffen würde.
Der zweite Theil seines Briefes gab mir jedoch zu denken Er lautet in seinen eigenen Worten folgendermaßen:
»Nur nach einem heftigen Kampfe mit mir selbst —— wie hart dieser Kampf war, vermag ich nicht mit Worten zu schildern —— habe ich mich dazu entschließen können, Ihnen zu schreiben, anstatt persönlich mit Ihnen zu sprechen. Eine unbarmherzige Nothwendigkeit fordert meine Zukunft. Ohne Zögern muß ich Thorpe-Ambrose, muß ich England verlassen und darf mich nicht mit Rückblicken aufhalten. Es sind Gründe, fürchterliche Gründe vorhanden, mit denen ich wahnsinnigerweise gespielt habe, daß ich Mr. Armadale nach dem zwischen uns Vorgefallenen nicht gestatte, daß er mich je wieder mit Augen erblickt oder von mir hört. Ich muß fort, um mit ihm nie wieder unter einem Dache zu schlummern, nie wieder dieselbe Luft mit ihm zu athmen. Unter falschem Namen muß ich mich vor ihm verbergen; ich muß Berge und Meere zwischen uns legen. Ich bin gewarnt worden, wie noch kein lebendes Wesen gewarnt ward. Ich habe die Ueberzeugung —— ich wage Ihnen nicht zusagen, warum —— aber ich habe die Ueberzeugung, daß, wenn ich dem Zauber folge, der mich zu Ihnen zurückzieht, dies für den Mann verhängnißvoll werden wird, dessen Leben so seltsam mit dem Ihrigen und dem meinigen verknüpft gewesen, dem Manne, welcher einst Ihr Verehrer und mein Freund war. Und dennoch, trotz dieses Gefühls, wiewohl ich es so deutlich empfinde, wie ich den Himmel über meinem Haupte sehe, bin ich so schwach, noch immer vor dem schweren Opfer, Sie niemals wiederzusehen, zurückzubeben! Ich ringe damit, wie man mit seiner Verzweiflung ringt. Vor kaum einer Stunde stand ich nahe genug, um das Haus zu sehen, in dem Sie wohnen, und ich zwang mich, wieder fortzugehen und den Anblick zu fliehen. Vermag ich mich jetzt, da mein Brief geschrieben, jetzt, da mir das nutzlose Bekenntniß entschlüpft ist, daß ich die erste Liebe für Sie fühle, die ich je gekannt habe, die beste Liebe, die ich je empfinden werde, noch weiter von Ihnen zu entfernen? Die nächste Zeit möge diese Frage beantworten; ich wage es nicht, noch mehr davon zu schreiben oder daran zu denken.«
Dies waren die letzten Worte. So wundersam schloß der Brief.
Ich fühlte eine förmlich fieberhafte Neugierde, zu wissen, was er meine. Daß er mich liebe, war natürlich leicht genug zu verstehen. Aber was wollte er damit sagen, daß er gewarnt worden sei? Warum konnte er nie wieder mit dem jungen Armadale unter einem Dache schlafen, nie wieder dieselbe Luft mit ihm athmen? Welcher Art konnte das Zerwürfniß sein, welches den einen nöthigte, sich unter falschem Namen vor dem andern zu verbergen und Berge und Meere zwischen sich und ihn zu legen? Und vor allem, warum sollte es dem verhaßten Lümmel, der das prachtvolle Vermögen besitzt und im Herrnhause wohnt, Verderben bringen, wenn er meinem Zauber wiche und wieder zu mir zurückkehrte?
In meinem ganzen Leben habe ich mich nach nichts so sehr gesehnt, als ihn wiederzusehen und diese Fragen an ihn zu richten. Im Verlaufe des Tages wurde ich förmlich abergläubisch darüber. Man gab mir eine Kalbsmilch und Kirschpudding zu Mittag, und wahrhaftig, ich zählte an den Kirschkernen ab, ob er kommen werde! Er kommt, kommt nicht, kommt, kommt nicht, und so weiter. Es endete mit »kommt nicht". Ich schellte und ließ abräumen. Ganz wüthend opponierte ich dem Schicksal. Ich sagte: »Er kommt!" und wartete zu Hause aus ihn.
Du kannst Dir nicht vorstellen, welches Vergnügen es mir macht, Dir alle diese kleinen Einzelheiten mitzutheilen. Rechne, o, meine Busenfreundin, meine zweite Mutter, rechne die Gelder zusammen, die Du mir auf die Chance vorgeschossen hast, daß ich Mrs. Armadale würde, und dann male Dir dieses athemlose Interesse aus, das ich für einen Andern fühle. O, Mrs. Oldershaw, welch ein Hochgenuß für mich, Dich so zu peinigen!
Der Tag verstrich. Ich klingelte abermals und ließ mir einen Eisenbahnfahrplan bringen. Welche Züge konnten ihn heute, am Sonntage, mir entführen? Die nationale Achtung vor dem Sabbath wollte mir wohl. Nur ein einziger Zug ging ab, und zwar war derselbe schon mehrere Stunden vorher abgefahren, ehe er an mich geschrieben hatte. Ich trat an den Spiegel. Er machte mir Complimente, daß ich der Weissagung der Kirschkerne widersprochen habe. Mein Spiegel sagte: »Stelle Dich hinter Deine Fenstergardine; er wird den langen, einsamen Abend nicht vergehen lassen, ohne noch einmal zu kommen, um das Haus zu sehen." Ich stellte mich hinter den Fenstervorhang und wartete mit seinem Briefe in der Hand.
Das triste Sonntagslicht verblich, und die triste Sonntagsstille auf der Straße ward noch stiller. Die Dämmerung brach herein und ich vernahm in der Stille seine nahenden Schritte. Mein Herz schlug laut. Denke nur, daß mir noch ein Herz bleibt! »Midwinter!" sagte ich zu mir selbst Und es war Midwinter.
Als er so nahe war, daß ich ihn sehen konnte, bemerkte ich, daß er langsam ging und nach jedem zweiten oder dritten Schritte zögerte und stehen blieb. Es schien, als zöge mein häßliches kleines Fenster ihn wider seinen Willen an. Nachdem ich gewartet, bis ich ihn ein wenig seitwärts vom Hause, aber noch immer innerhalb Sehweite von meinem unwiderstehlichen Fenster hatte stehen bleiben sehen, warf ich schnell meine Mantille um, setzte meinen Hut auf und schlüpfte durch die Hinterthür in den Garten hinaus. Mein Hauswirth und seine Familie waren beim Abendessen und Niemand sah mich. Ich öffnete das Mauerpförtchen und trat auf die Straße hinaus. In diesem unpassenden Augenblicke erinnerte ich mich plötzlich des Spions, den ich bisher vergessen und der mir ohne Zweifel irgendwo in der Nähe des Hauses auflauerte.
Nothwendigerweise brauchte ich Zeit zum Ueberlegen und in meinem derzeitigen Gemüthszustande war es mir ganz unmöglich, Midwinter abreisen zu lassen, ohne mit ihm gesprochen zu haben. In großen Schwierigkeiten entscheidet man, wenn überhaupt, gewöhnlich auf der Stelle. Ich beschloß ein Rendezvous für nächsten Abend mit ihm zu vereinbaren und inzwischen zu erwägen, wie ich diese Zusammenkunft werde bewerkstelligen können, ohne daß sie bekannt würde. So gab ich mich freilich den Qualen einer vierundzwanzigstündigen unbefriedigten Neugier preis, das fühlte ich zur Zeit sehr wohl, aber was blieb mir denn sonst übrig? Vor den Augen und möglicherweise vor den Ohren von Mr. Armadales Spion zu einem geheimen Einverständnisse mit Midwinter zu kommen, hieß fast so viel, als den Gedanken an den Besitz von Thorpe-Ambrose gänzlich aufgeben.
Da ich zufällig einen alten Brief von Dir in meiner Tasche fand, trat ich in das Seitengäßchen hinter der Mauer zurück und schrieb mit dem an meiner Uhrkette hängenden Bleistift auf das leere Blatt: »Ich muß und will mit Ihnen reden. Heute Abend ist es unmöglich, finden Sie sich jedoch morgen Abend um dieselbe Zeit auf der Straße ein, und dann verlassen Sie mich, wenn Sie wollen, auf immer. Wenn Sie dies gelesen haben, kommen Sie mir nach und sagen im Vorbeigehen, ohne sich umzusehen oder stehen zu bleiben: »Ja, ich verspreche es?«
Ich legte das Blatt zusammen und trat plötzlich hinter ihm hervor. Als er zurückfuhr und sich umwandte, ließ ich ihm das Billet in die Hand gleiten, die ich ihm hastig drückte, und ging weiter. Ehe ich noch zehn Schritte fort war, hörte ich ihn hinter mir. Ich kann nicht sagen, daß er sich nicht umblickte, ich fah seine großen schwarzen Augen im Zwielichte funkeln und mich in einer Sekunde vom Kopf bis zu den Füßen verschlingen; sonst aber that er, wie ich ihm befohlen. »Ich kann Ihnen nichts versagen«, flüsterte er, »ich verspreche« es. Dann ging er weiter und verließ mich. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, wie jener tölpelhafte Flegel Armadale unter solchen Verhältnissen Alles verdorben haben würde.
Die ganze Nacht hindurch quälte ich mich ab, wie ich unsere Zusammenkunft vor Entdeckung schützen sollte, aber ich fand keinen Ausweg. Schon war mir’s, als ob mich Midwinter’s Brief irgendwie unerklärlich betäubt hätte.
Der Montag Morgen machte die Sachen noch schlimmer. Von meinem getreuen Verbündeten, Mr. Bashwood, empfing ich die Nachricht, daß Miß Milroy und Mr. Armadale mit einander zusammengetroffen seien und sich versöhnt hätten. Du kannst Dir vorstellen, in welchen Zustand mich dies versetzte! Ein paar Stunden später liefen weitere Nachrichten von Mr. Bashwood ein, diesmal gute. Der boshafte Dummkopf zu Thorpe-Ambrose hatte endlich Verstand genug gehabt, sich zu schämen. Er hatte beschlossen, den Spion noch am selben Tage zu verabschieden, und sich infolge dessen mit seinem Advocaten überworfen.
Damit war also das Hinderniß, das zu übersteigen ich zu dumm war, für mich aufs erfreulichste aus dem Wege geräumt! Ueber die bevorstehende Zusammenkunft mit Midwinter brauche ich mir keine Sorge mehr zu machen und habe reichlich Zeit, zu überlegen, was ich jetzt, da Miß Milroy und ihr getreuer Schäfer wieder zusammengekommen, zunächst unternehmen muß. Solltest Du, es wohl glauben, daß der Brief oder der Mann —— ich weiß nicht, was von beiden —— sich meiner dermaßen bemächtigt, daß ich, was ich immer versuchen mochte, an nichts Anderes denken konnte, und dies zu einer Zeit, wo ich alle Ursache zu fürchten hatte, daß Miß Milroy sich auf dem besten Wege befinde, ihren Namen in Armadale zu verwandeln, und wo ich wußte, daß ich mich noch in keiner Weise meiner schweren Verpflichtungen gegen sie entledigt? Hat es wohl je etwas Widerwärtigeres gegeben? Ich kann mir’s nicht denken —— kannst Du’s?
Die Abenddämmerung kam endlich heran. Ich sah aus dem Fenster, und dort war er!
Augenblicklich ging ich zu ihm hinaus, während die Leute im Hause zu sehr in Essen und Trinken vertieft waren, um sonst auf irgend etwas Acht zu geben. »Wir dürfen nicht zusammen gesehen werden«, flüsterte ich. »Ich muß vorangehen und Sie müssen mir folgen.«
Er erwiderte nichts. Was in seinem Geiste vorging, kann ich nicht errathen, aber nachdem er, wie er versprochen, gekommen war, zögerte er förmlich, als hätte er halb und halb Lust, wieder fortzugehen.
»Sie sehen aus, als fürchteten Sie sich vor mir", sagte ich.
»Ich fürchte mich in der That vor Ihnen", antwortete er, »vor Ihnen sowohl als vor mir selbst.«
Das war nicht ermuthigend, nicht schmeichelhaft. Aber eine so rasende Neugier erfüllte mich, daß ich selbst noch größere Unhöflichkeit kaum beachtet haben würde. Ich ging einige Schritte nach den neuen Häusern zu und blieb dann stehen, um mich nach ihm umzusehen.
»Nachdem Sie mir Ihr Versprechen gegeben und nach einem Briefe, wie Sie ihn mir geschrieben, muß ich es da als eine Gunst von Ihnen erbitten?« sagte ich.
Eine plötzliche Veränderung ging mit ihm vor, augenblicklich war er an meiner Seite. »Ich bitte um Verzeihung, Miß Gwilt; führen Sie mich, wohin Sie wollen.« Nach dieser Antwort trat er ein wenig zurück und ich hörte ihn vor sich hin Murmeln: »Was sein soll, wird sein. Was geht es mich an oder sie?«
Die Worte konnten es nicht wohl sein, die mich leise erbeben ließen, denn ich verstand sie nicht, sondern nur der Ton, in dem er sie sprach. Ohne einen Schatten von Ursache fühlte ich mich halb geneigt, ihm gute Nacht zu wünschen und wieder ins Haus zu gehen. Das sieht mir nicht sehr ähnlich, wirst Du sagen. In der That nein! Es währte auch keine Minute. Deine Herzens-Lydia kam schnell wieder zur Vernunft.
Ich ging den halbfertigen Häusern und dem offenen Felde zu voran. Es wäre weit mehr nach meinem Sinne gewesen, hätte ich ihn mit mir ins Haus nehmen und beim Kerzenlichte mit ihm sprechen können. Aber ich hatte dies schon einmal riskiert und trug Bedenken, es in diesem Klatschneste und in meiner kritischen Lage noch einmal zu wagen. An den Garten war ebenso wenig zu denken, denn dort raucht der Hauswirth nach dem Abendessen seine Pfeife. Mithin blieb mir nichts Anderes übrig, als ihn zur Stadt hinauszuführen.
Im Weitergehen sah ich mich von Zeit zu Zeit um und bemerkte, wie er stets in derselben Entfernung undeutlich und gespenstisch im Zwielichte meinen Schritten folgte.
Ich muß auf eine kleine Weile abbrechen. Die Kirchenglocken läuten und machen mich toll mit ihrem Gebimmel. Wozu bedarf es in unsern Tagen, wo Jeder eine Uhr besitzt noch des Glockengeläutes, uns an den Beginn des Gottesdienstes zu mahnen? Wir brauchen ja keine Glocken, die uns ins Theater läuten! Welch eine ungeheure Schmach für die Geistlichkeit, daß sie uns zur Kirche läuten muß!
Endlich haben sie die Gemeinde hineingeläutet, und so kann ich meine Feder wieder ergreifen und fortfahren.
Ich war ein wenig im Zweifel, wohin ich ihn führen solle. Auf der einen Seite lag die Landstraße, doch konnten wir dort, so still dieselbe auch aussah, leicht Jemand begegnen, wo wir es am wenigsten erwarteten. Der andere Weg führte durch das Gebüsch. Dahin führte ich ihn.
Am entgegengesetzten Ende desselben, hart am Saume des Dickichts, befand sich eine kleine Bodensenkung, in der gefällte Bäume lagen, und jenseits derselben ein kleiner Teich, der still und weiß im Zwielicht glänzte. Am gegenüberliegenden Ufer zogen sich ausgedehnte Rasenflächen hin, auf die sich ein allmälig dichter werdender Nebel herabzusenken begann und die in der Ferne die schwarze Linie feierlich langsam heimkehrender Kühe zeigten. Kein lebendes Wesen war in der Nähe und kein Laut vernehmbar. Ich setzte mich auf einen der gefällten Bäume und sah mich nach ihm um. »Kommen Sie", sagte ich leise, »kommen Sie und setzen Sie sich zu mir.«
Warum gehe ich in alle diese Einzelheiten ein? Ich weiß es kaum. Der Ort machte einen unbegreiflich lebhaften Eindruck auf mich und ich kann nicht umhin, davon zu schreiben. Sollte ich ein schlimmes Ende nehmen, vielleicht auf dem Schaffot, so glaube ich, daß das Letzte, was ich sehen werde, ehe der Henker den Strick zieht, der kleine weiß schimmernde Teich mit den langen nebligen Wiesengründen und der heimziehenden Kuhheerde sein wird. Fürchte nichts, Du würdiges Geschöpf! Meine Phantasie spielt mir zuweilen seltsame Streiche und es ist vielleicht in diesem Theile meines Briefes etwas von dem gestern Abend genossenen Laudanum.
Er kam seltsam still, wie ein Mann, der im Schlafe wandelt, und setzte sich zu mir nieder. Der Abend war entweder sehr schwül oder ich bereits in einem förmlichen Fieber, ich konnte meinen Hut nicht auf dem Kopfe, die Handschuhe nicht an den Händen leiden. Das Verlangen, ihn anzusehen und mich zu überzeugen, was sein eigenthümliches Schweigen zu bedeuten habe, und die Unmöglichkeit, dies in der zunehmenden Dunkelheit zu bewerkstelligen, reizten meine Nerven in dem Grade, daß ich hätte schreien mögen. Ich nahm seine Hand, vielleicht daß dies mir half. Sie war glühend heiß und schloß sich augenblicklich fest um die meinige, Du weißt wohl, wie. Danach war an ein Schweigen nicht mehr zu denken. Das Gerathenste war, daß ich ihn sogleich anredete.
»Verachten Sie mich nicht", sagte ich. »Ich bin gezwungen, Sie an diesen einsamen Ort zu führen; es würde meinen Ruf gefährden, wenn man uns beisammen sähe.«
Ich wartete ein wenig. Seine Hand ermahnte mich abermals, das Schweigen nicht fortdauern zu lassen. Ich beschloß ihn zum Sprechen zu zwingen.
»Sie haben meine Neugier gespannt und zugleich mich erschreckt", fuhr ich fort. »Sie haben mir einen sehr seltsamen Brief geschrieben. Ich muß wissen, was er zu bedeuten hat.«
»Es ist zu spät, um dies zu fragen. Sie und ich haben den Weg eingeschlagen, auf dem jede Umkehr unmöglich ist." Er gab diese seltsame Antwort in einem Tone, der mir völlig neu an ihm war, in einem Ton, der mich sogar noch mehr beunruhigte, als sein Schweigen es so eben gethan hatte. »Zu spät«, wiederholte er, »zu spät! Sie können jetzt nur noch eine Frage an mich richten.«
»Welche Frage?«
Als ich dies sagte, theilte sich plötzlich ein heftiges Zittern von seiner Hand der meinigen mit und sagte mir, daß ich besser gethan haben würde, hätte ich geschwiegen. Ehe ich noch eine Bewegung machen, ehe ich noch denken konnte, hielt er mich bereits im Arm. »Fragen Sie mich, ob ich Sie liebe«, flüsterte er. In demselben Augenblicke sank sein Kopf auf meine Brust herab und eine unaussprechliche Qual in seinem Innern machte sich, wie dies bei uns oft geschieht, in einem leidenschaftlichen Thränenstrom und lautem Schluchzen Luft.
Mein erster Impuls war der einer Närrin. Ich war im Begriff, in unserer gewohnten Weise zu protestieren und ihn abzuwehren. Glücklicher- oder unglücklicherweise —— ich weiß nicht, was von beiden —— habe ich die zarte Empfindsamkeit der Jugend verloren und hielt deshalb die erste Bewegung meiner Hände und die ersten Worte auf meinen Lippen zurück. O mein Himmel, wie alt ich mich fühlte, während er sich an meiner Brust das Herz aufschluchzte! Wie ich der Zeit gedachte, wo er sich in den Besitz meiner Liebe hätte setzen können! Das Einzige, wovon er jetzt Besitz genommen, war meine Taille.
Ob ich ihn wohl bemitleidete? Einerlei. Jedenfalls erhob sich meine Hand so oder so, und meine Finger spielten sanft mit seinem Haar. Während ich ihn berührte, kamen mir fürchterliche Erinnerungen an frühere Zeiten in den Sinn und machten mich schaudern. Und dennoch that ich es. Welche Thörinnen die Weiber sind!
Ich will Ihnen keine Vorwürfe machen«, sprach ich sanft; »ich will nicht sagen, daß Sie einen grausamen Vortheil aus meiner Lage ziehen. Sie sind entsetzlich aufgeregt und ich will Ihnen Zeit lassen, sich ein wenig zu beruhigen.«
Hier schwieg ich, um zu überlegen, wie ich die Fragen stellen solle, die ich an ihn zu richten brannte. Aber vermuthlich war ich zu verwirrt oder vielleicht zu ungeduldig zur Ueberlegung. In den ersten Worten verrieth ich, was mich am meisten beschäftigte.
»Ich glaube nicht, daß Sie mich lieben«, sagte ich. »Sie schreiben mir so seltsame Dinge, Sie ängstigen mich mit Geheimnissen. Was wollten Sie damit sagen, als Sie schrieben, es werde Mr. Armadale Verderben bringen, wenn Sie zu mir zurückkehrten? Welche Gefahr kann für Mr. Armadale ——«
Ehe ich die Frage noch beenden konnte, richtete er plötzlich den Kopf auf und löste seine Arme. Wie es schien, hatte ich einen wunden Punkt berührt, der ihn wieder zur Besinnung brachte. Anstatt daß ich vor ihm zurückwich, bebte vielmehr er vor mir zurück. Ich fühlte mich beleidigt; warum, weiß ich nicht, aber ich war beleidigt, und mit meinem bittersten Nachdrucke dankte ich ihm dafür, daß er sich endlich erinnere, was er mir schuldig sei!
»Glauben Sie an Träume?« brach er plötzlich mit dem wunderlichsten Wesen los, ohne im geringsten auf das zu achten, was ich zu ihm gesagt hatte. »Sagen Sie mir«, fuhr er fort, ohne mir Zeit zur Antwort zu lassen, »standen Sie oder irgend einer Ihrer Verwandten je mit Allan Armadales Vater oder Mutter in Beziehung? Waren Sie oder irgend einer Ihrer Angehörigen jemals auf der Insel Madeira?«
Denke Dir mein Erstaunen, wenn Du kannst. Ich erstarrte. In einer Sekunde war ich starr an allen Gliedern. Offenbar wußte er, was sich ereignet hatte, als ich aus Madeira in Mrs. Armadales Diensten stand, aller Wahrscheinlichkeit nach, ehe er geboren war! Das war an sich schon überraschend genug. Und er hatte irgend welchen Grund, mich mit jenen Ereignissen in Beziehung zu bringen. Dies war noch überraschender.
»Nein«, sagte ich, sobald ich mich zu sprechen getraute. »Ich weiß nichts von seinem Vater oder seiner Mutter.«
»Und nichts von der Insel Madeira?«
»Nichts von der Insel Madeira.«
Er wandte den Kopf ab und begann zu sich selber zu sprechen.
»Seltsam!« sagte er. »So gewiß, wie ich an der Stelle des Schattens am Fenster war, so gewiß war sie an der Stelle des Schattens am Teiche!«
Unter andern Verhältnissen würde sein merkwürdiges Benehmen mich vielleicht beunruhigt haben, allein nach seiner Frage über Madeira fühlte ich mich von einer größeren Furcht ergriffen, die alle gewöhnliche Unruhe fern hielt. Ich brannte vor Angst und Neugier zu erfahren, wie er jene Kenntniß erlangt hatte und wer er eigentlich war. Vollkommen klar war mir, daß ich durch meine Frage nach Armadale ein Gefühl in ihm erweckt hatte, das ebenso mächtig war wie sein Gefühl für mich. Was war aus meinem Einflusse über ihn geworden?
Ich konnte nicht begreifen, was daraus geworden sei, aber ich konnte versuchen, ihn denselben wieder fühlen zu lassen, und ich that es.
»Behandeln Sie mich nicht grausam«, sagte ich; »ich war nicht grausam gegen Sie. O, Mr. Midwinter, es ist hier so einsam und so finster, ängstigen Sie mich nicht!«
»Sie ängstigen!« Er war augenblicklich wieder fest an meiner Seite. »Sie ängstigen!« Er wiederholte die Worte mit einem Erstaunen, als ob ich ihn aus einem Traume erweckt und ihn einer Sache beschuldigt hätte, die er im Schlafe gesprochen.
Ich sah, wie sehr ich ihn in Erstaunen gesetzt hatte, und so schwebte es mir auf der Zunge, ihn, da er nicht auf seiner Hut war, zu fragen, warum meine Frage nach Armadale eine solche Veränderung in seinem Benehmen gegen mich hervorgebracht hätte. Doch nach dem, was vorgefallen, hatte ich keinen rechten Muth, zu bald auf den Gegenstand zurückzukommen. Ein Etwas, vielleicht war es Instinct, veranlaßte mich, Armadale für den Augenblick in Ruhe zu lassen und zuerst von ihm selber mit ihm zu sprechen.
Wie ich bereits in einem meiner frühern Briefe gegen Dich erwähnte, habe ich gewisse Anzeichen in seinem Aussehen und Wesen wahrgenommen, die mich überzeugen, daß er in seinem vergangenen Leben etwas Ungewöhnliches gethan oder gelitten hat. Jedesmahl, wo ich ihn gesehen, habe ich immer argwöhnischer gefragt, ob er wirklich das ist, was er zu sein scheint, und allen meinen Zweifeln voran stand der, ob er unter seinem wahren Namen unter uns auftrete. Da ich hinsichtlich meiner eigenen Vergangenheit Geheimnisse zu bewahren und früher mehr als einen falschen Namen getragen habe, so bin ich jedenfalls um so schneller bereit, Andere zu beargwöhnen, wenn ich etwas Verdächtiges an ihnen bemerke. Von diesem Argwohn erfüllt, beschloß ich, ihn meinerseits durch eine unerwartete Frage zu erschrecken, wie er mich erschreckt hatte —— durch eine Frage nach seinem Namen.
Während ich überlegte, war auch er in Nachsinnen versunken, und zwar, wie sich dies bald herausstellte über das, was ich zu ihm gesagt hatte. »Es thut mir so leid, Sie geängstigt zu haben«, flüsterte er mit jener Zartheit und Demuth, die wir an einem Manne alle so herzlich verachten, wenn er zu andern Frauen spricht, und die uns allen so sehr gefällt, wenn er zu uns selber redet. »Ich weiß kaum, was ich gesagt habe«, fuhr er fort, »ich bin so entsetzlich verwirrt. Vergehen Sie mir, wenn Sie können, ich bin heute Abend nicht Herr meiner selbst!«
»Ich bin nicht böse«, sagte ich; »ich habe Ihnen nichts zu verzeihen. Wir sind beide thöricht, wir sind beide unglücklich.« Ich legte meinen Kopf an seine Schulter. »Lieben Sie mich wirklich?« fragte ich flüsternd.
Sein Arm wand sich wieder sanft um meine Taille, und ich fühlte, wie sein Herz immer schneller klopfte.
»Wenn Sie nur wüßten!« antwortete er leise, »wenn Sie nur wüßten ——« Er konnte nicht weiter. Ich fühlte, wie sein Gesicht sich dem meinigen näherte, deshalb ließ ich den Kopf tiefer sinken und hinderte ihn, als er im Begriff war, mich zu küssen. »Nein«, sagte ich, »ich bin nichts als ein Weib, für das Sie zufällig eine Caprice gefaßt haben. Sie behandeln mich, als ob ich Ihre verlobte Braut wäre.«
»Seien Sie meine verlobte Braut!« flüsterte er leidenschaftlich und versuchte meinen Kopf aufzurichten. Ich hielt diesen gesenkt. Das Grausen jener alten Erinnerungen, von denen Du weißt, überkam mich, und ich zitterte etwas, als er mich bat, sein Weib zu werden. Ich glaube nicht, daß ich mich wirklich ohnmächtig fühlte, aber eine ähnliche Empfindung ließ mich die Augen schließen. Sowie ich sie geschlossen hatte, that sich die Dunkelheit vor mir auf, als hätte sie der Blitz gesprengt, und in dem schauerlichen Schlunde stiegen die Gespenster jener andern Männer auf und sahen mich an.
»Sprich«, flüsterte er zärtlich. »Mein Leben, mein Engel, sprich!«
Seine Stimme brachte mich wieder zur Besinnung. Noch blieb mir Verstand genug, um mich zu erinnern, daß die Zeit verstreiche und daß ich ihm noch nicht meine Frage hinsichtlich seines Namens vorgelegt hatte.
»Gesetzt, ich fühlte dasselbe für Sie, was Sie für mich fühlen?« sagte ich. »Gesetzt, ich liebte Sie innig genug, um Ihnen das Glück meines ganzen Lebens anzuvertrauen?«
Ich schwieg einen Augenblick, um zu Athem zu kommen. Es war unerträglich schwül und still, die Luft schien gestorben zu sein, als die Nacht hereingebrochen war.
»Würden Sie mich redlich heirathen«, fuhr ich fort, »falls Sie mich unter Ihrem gegenwärtigen Namen heiratheten?«
Sein Arm glitt von meiner Taille nieder und ich fühlte, wie er einmal heftig zusammenschrak. Darauf saß er neben mir still, kalt und schweigend, als ob meine Frage ihn stumm gemacht hätte. Ich schlang meinen Arm um seinen Nacken und legte meinen Kopf wieder an seine Schulter. Welcher Art der Zauber immer war, den ich auf ihn ausgeübt, meine Nähe schien denselben zu brechen.
»Wer hat Ihnen gesagt« —— Er hielt inne. »Nein«, fuhr er fort, »Niemand kann es Ihnen gesagt haben. Was läßt Sie argwöhnen ——« Er hielt abermals inne.
»Niemand hat es mir gesagt«, erwiderte ich, »und ich weiß nicht, was mich auf den Verdacht gebracht hat Wir Frauen haben oft seltsame Einfälle. Ist Midwinter wirklich Ihr echter Name?«
»Ich kann Sie nicht hintergehen«, sagte er nach einer abermaligen Pause. »Midwinter ist nicht mein wahrer Name.«
Ich schmiegte mich ein wenig fester an ihn an.
»Wie ist Ihr wahrer Name?« fragte ich.
Er zögerte.
Ich erhob mein Gesicht, bis meine Wange die seine berührte. Mit meinen Lippen hart an seinem Ohre sagte ich:
»Wie, noch immer kein Vertrauen zu mir? Kein Vertrauen zu dem Weibe, das so gut wie bekannt hat, daß es Sie liebt, das so gut wie erklärt hat, daß es Ihr Weib werden will?«
Er wandte sein Gesicht dem meinigen zu. Zum zweiten Male versuchte er mich zu küssen, und zum zweiten Male hinderte ich ihn daran.
»Wenn ich Ihnen meinen Namen sage«, sprach er »so muß ich Ihnen noch mehr mittheilen.«
Abermals berührte ich seine Wange mit der Meinigen.
»Warum auch nicht?« sagte ich. »Wie kann ich einen Mann lieben oder gar heirathen, der mir ein Fremder bleibt?«
Darauf schien es mir keine Antwort zu geben, aber er antwortete.
»Es ist eine fürchterliche Geschichte«, sagte er. »Sie dürfte, wenn Sie dieselbe erfahren, einen Schatten über Ihr Leben werfen, wie sie ihn bereits über das meinige geworfen hat.«
Ich umschlang ihn mit meinem andern Arme und beharrte auf meinem Verlangen.Erzählen Sie; ich fürchte mich nicht; erzählen Sie mir Ihre Geschichte!«
Er begann dem Drucke meines Arms zu weichen.
»Wollen Sie das Geheimniß bewahren?« sagte er. »Wollen Sie es so hüten, daß es Niemand erfährt, außer Ihnen und mir?«
Ich versprach ihm, es geheim zu halten, und harrte in wahrhaft rasender Neugier. Zweimal wollte er beginnen und beide Male fehlte ihm der Muth.
»Ich kann nichts« rief er wild und verzweifelt aus. »Ich kann’s nicht erzählen!«
Meine Neugier oder wahrscheinlicher meine Heftigkeit durchbrach alle Schranken. Er hatte mich so aufgereizt, daß es mir gleichgültig ward, was ich that oder sagte. Ich schloß ihn plötzlich fest in die Arme und drückte meine Lippen auf die seinigen. Ich liebe Dich!« flüsterte ich mit einem Kusse. »Willst Du mir’s jetzt erzählen?«
Für den Augenblick war er sprachlos. Ich weiß nicht, ob ich es absichtlich gethan, um ihn toll zu machen. Ich weiß nicht, ob ich es in einem Muthausbruche unwillkürlich gethan habe. Nichts weiter steht fest, als daß ich sein Schweigen mir falsch gedeutet hatte. Sowie ich ihn geküßt hatte, stieß ich ihn wüthend von mir. »Ich hasse Sie!« sagte ich. »Sie haben mich dahin getrieben, daß ich mich vergessen habe. Verlassen Sie mich! Ich mache mir nichts aus der Dunkelheit. Verlassen Sie mich augenblicklich und lassen Sie sich nie wieder vor mir sehen!«
Er ergriff meine Hand und brachte mich zum Schweigen. Er sprach in neuem Tone, er befahl plötzlich, wie nur Männer es können.
»Setzen Sie sich«, sagte er. »Sie haben mir meinen Muth wiedergegeben, Sie sollen erfahren, wer ich bin?
In der uns rings umgebenden Stille und Finsternis gehorchte ich ihm und setzte mich wieder nieder.
In der uns rings umgebenden Stille und Finsternis nahm er mich wieder in die Arme und erzählte mir, wer er sei.
Soll ich Dir seine Geschichte vertrauen? Soll ich Dir seinen wahren Namen sagen? Soll ich Dir, wie ich drohte, die Gedanken zeigen, die aus dieser Unterredung mit ihm und aus Allem, was sich seitdem für mich ereignet, erstanden sind?
Oder soll ich, wie ich es ihm versprach, sein und damit zugleich mein eigenes Geheimniß bewahren, indem ich diesen ewig langen Brief gerade in dem Augenblicke schließe, wo Du vor Verlangen vergehst, mehr zu erfahren?
Dies sind ernste Fragen, Mrs. Oldershaw, ernster, als Du ahnst. Ich habe Zeit gehabt, mich abzukühlen, und beginne einzusehen, was ich zur Zeit, da ich die Feder ergriff, nicht einzusehen vermochte, nämlich daß es weise ist, die Folgen zu bedenken. Habe ich etwa mich selbst geängstigt, indem ich Dich zu ängstigen suchte? Wohl möglich, wie seltsam das immer scheinen mag, aber es ist wirklich möglich.´
So eben habe ich ein paar Minuten am Fenster gestanden, um zu überlegen. Ich habe noch reichlich Zeit zum Nachdenken, ehe die Post abgeht. Jetzt erst kommen die Leute aus der Kirche.
Ich will meinen Brief beiseite legen und einen Blick in mein Tagebuch werfen. Mit deutlichem Worten, ich muß erst sehen, was ich riskiere, wenn ich Dir traue, und mein Tagebuch wird mich lehren, was ohne Hilfe zu berechnen mein Kopf zu müde ist. In letzter Zeit habe ich die Geschichte meiner Tage (und zuweilen meiner Nächte) weit regelmäßiger als gewöhnlich niedergeschrieben, da ich unter gegenwärtigen Verhältnissen meine Gründe zu besonderer Vorsicht habe. Thue ich schließlich, was ich jetzt zu thun im Sinne habe, so wäre es Wahnsinn, wollte ich mich nur auf mein Gedächtniß verlassen. Das leiseste Vergessen des unbedeutendsten Ereignisses, das sich seit dem Abend meiner Unterredung mit Midwinter bis zu diesem Augenblicke zugetragen, dürfte mein völliges Verderben herbeiführen.
»Ihr völliges Verderben!« wirst Du sagen. »Was für ein Verderben kann sie meinen?«
Warte ein wenig, bis ich mein Tagebuch befragt habe, ob ich es Dir mit Sicherheit sagen darf.«
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