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Herz und Wissen



Capitel LIX.

Von so vielen zerstörten Hoffnungen hatte sich wenigstens eine erfüllt: —— sie waren wieder bei einander.

In dem verdunkelten Zimmer wären ihre matten Augen kaum im Stande gewesen zu sehen, wie qualvoll er litt, selbst wenn sie zu ihm aufgeblickt hätte. Aber es genügte ihr zu wissen, daß er neben ihr saß, und ihr Haupt an seiner Brust ruhen zu lassen, seinen Arm um ihren Nacken zu fühlen. »Ich bin glücklich, mein Theurer,« sagte sie, »diesen Augenblick noch erlebt zu haben.«

Das waren ihre ersten Worte —— nach dem ersten Kusse. Sie hatte gezittert und geseufzt, wie er an ihr Lager eilte und sich über sie beugte; es war die einzige Aeußerung all ihrer Liebe und all ihrer Freude, die ihr noch möglich war. Aber ihre Schwäche schwand, ihr letzter Rest von Kraft sammelte sich durch der Liebe sanftes Drängen. Stumm für alle anderen Freunde, war sie jetzt im Stande, zu Ovid zu sprechen.

»Sonst athmetest Du so leise,« sagte sie; »wie kommt es, daß ich Dich jetzt höre? Ach, Ovid, nicht weinen! Ich könnte es nicht ertragen.«

Gefaßt antwortete er ihr: »Fürchte Dich nicht, mein Liebling. Ich werde Dich nicht betrüben.«

»Und ich darf Dir sagen, was ich sagen möchte?«

»Gewiß.«

Sie war zufrieden. »Erst möchte ich noch ein wenig ruhen.«

Er antwortete nichts, niedergedrückt durch die schwere Hand der Verzweiflung.

Einst hatte es eine Zeit gegeben, als seine Kraft und Gesundheit erschüttert waren, da die dunklen Schatten der stillen Nacht, wie sie auf die Gefilde sich senkten —— da das schmetternde Lied der Lerche in der lichten Höhe des Mittagshimmels —— da die süßen, halb verlorenen Erscheinungen einer andern Welt, welche der Musik göttliche Klänge in uns wieder wachrufen —— da alles dies Thränen in seine Augen zu bringen vermochte. Jetzt waren seine Augen trocken! Seine einst so leicht erschütterten Nerven hatten auf den weiten Prairien und in der stärkenden Luft des fernen Westens Kraft und Festigkeit gefunden. Jenes Empfinden, das in Thränen zerfließt, ward überwältigt von der neuen Lebenskraft, welche seine Ideen durchströmte, unbekümmert darum, ob sie lebte oder ob sie starb. Jene tiefen Athemzüge, welche sie erschreckt, waren das letzte vergebliche Ankämpfen der Qual seiner Seele gewesen, welche durch die Kraft und Stärke seines Körpers den Weg zu den verlorenen Quellen der Thränen zu finden sich mühte, aber vergebens, denn die Kraft des Körpers trotzte der Schwäche der Seele. Die Natur hatte diesen Mann neugeschaffen —— und die Natur kennt kein Mitleid, kennt kein Erbarmen.

Es kostete ihr Mühe, ihre Gedanken wieder zu sammeln —— aber es gelang ihr —— sie war im Stande, ihm zu sagen, was ihr die Seele bewegte.

»Was meinst Du, Ovid? Wird es Deiner Mutter gleich sein, was mit mir geschieht, wenn ich todt bin?«

Er fuhr entsetzt empor bei diesen schrecklichen und doch so sanft, so geduldig gesprochenen Worten. »Du wirst leben, meine Carmina!« rief er. »Wozu wäre ich hier, wenn nicht dazu, Dich dem Leben zurück zu gewinnen.«

Sie machte keinen Versuch, ihm zu widersprechen. Aber ruhig, beharrlich kam sie auf den Gedanken zurück, der sie beherrschte.

»Sage Deiner Mutter, Ovid, daß ich ihr vergebe, und daß ich sie dafür nur um eine Gunst bitte. Ich bitte sie, mich Dir zu lassen, wenn mein Ende gekommen. Mein Theurer, ich fühle in mir ein unüberwindliches Grauen. Laß mich nicht in einem großen Kirchhof begraben werden, übervoll von den vielen Todten! Ich sah einmal ein Bild —— zu Hause, glaube ich, in Italien —— ein englisches Bild von einem kleinen Kirchhof auf dem Lande. Die Schatten der Bäume breiteten sich so friedlich über die stillen, einsamen Gräber. Versprich mir, Ovid, versprich mir, daß Du mich nach solch einem Orte bringst!«

Er versprach es, und sie dankte ihm.

»Es war noch etwas,« sagte sie dann nach einer längeren Pause. »Mein Kopf ist so müde. Ob ich mich nicht wieder darauf besinnen kann?«

Nach einer Weile fiel es ihr ein. »Ich möchte Dir ein Andenken geben. Bitte, nimm mir meine goldene Halskette ab.«

Er gehorchte ihr. An der Kette hing ein Medaillon mit ihrem theuersten Reichthum, den Bildern ihres Vaters und ihrer Mutter.

»Trage sie um meinetwillen,« flüsterte sie. »Hebe mich auf; ich möchte sie Dir selbst um den Hals legen.« Vergebens suchte sie die Kette zu schließen. Ihr Haupt sank wieder aus seine Brust. »Zu müde, —— immer jetzt —— so müde! —— Sage, daß Du mich lieb hast, Ovid.«

Er bestätigte es ihr.

»Küsse mich, Lieber!«

Er küßte sie.

»So, nun lege mich wieder auf mein Kissen Ich bin noch nicht achtzehn —— und ich fühle mich so alt wie achtzig. Ruhe! Nach nichts sehne ich mich, als nach Ruhe!« Liebevoll ihn anblickend, schlossen sich ihre Augen, langsam, allmälig —— dann öffneten sie sich noch einmal. »Bleibe nicht hier in diesem traurigen Zimmer, mein Liebling; ich werde Dich rufen lassen, wenn ich wieder aufwache.«

Das war der einzige ihrer Wünsche, dem er nicht gehorchte. Dann und wann faßten seine Finger ihren Puls und fühlten das schwache Schlagen desselben. Von Zeit zu Zeit beugte er sich über sie und ließ seine Wange von dem leisen Hauch ihres Athems streifen. Die Dämmerung kam, das Dunkel der Nacht begann das Zimmer zu ersticken. Und immer noch saß er regungslos an ihrem Lager, einem Manne gleich, der von unlösbarem Zauberbann gefesselt ist.


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