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Dritter Band - Suchen und Finden

Erstes Kapitel - Noch einige Entdeckungen

Als Zack in das Zimmer trat und seinen wunderlichen Freund mit gekreuzten Beinen, die Hände in den Taschen, in seiner gewöhnlichen Ecke gravitätisch sitzen sah, auf der einen Seite eine Branntweinflasche und auf der andern ein Licht, brach er in ein schallendes Gelächter aus und stampfte so ungestüm mit dem Fuße auf, dass das kleine dünne Häuschen in seiner Grundfeste zu zittern schien. Mr. Marksman ertrug all dieses Geräusch und Gelächter, sowie den nachfolgenden Spott und die Scherzhaftigkeit, —— dass er seine Passion für Madonna in der Branntweinflasche ertränke —— mit der ruhigsten, musterhaftesten Geduld. Die so dargelegte Selbstbeherrschung ging nicht ohne Lohn vorüber. Zack wurde der Spaß, als sie keine Wirkung übten, und ebenso der Erzählung alberner Geschichten müde, die unbeachtet blieben. Er wendete sich nun auf einmal von dem fantastischen zum praktischen Mr. Marksman, indem er plötzlich eine ganz unerwartete und sehr wichtige Neuigkeit mitteilte.

»Nebenbei, Mat«, sagte er, »wir müssen die Stube kehren, alles reinigen vor morgen Abend und uns ein respektables Ansehen geben, so gut wir können. Denn mein Freund Blyth will morgen einen ruhigen geselligen Abend mit uns verleben. Ich blieb zurück, bis alle Besucher verschwunden waren, um noch mit ihm zu reden.«

»Meinst Du, dass er kommt, um mit uns beiden ein Glas Grog zu trinken und eine Pfeife Tabak zu rauchen?« fragte Mr. Marksman etwas erstaunt.

»Ich meine, er kommt ganz sicher hierher, aber Pfeife und Grog berührt er gar nicht. Er ist der beste und prächtigste Kerl in der Welt, aber ich muss bekennen, dass er Limonade und Tee vorzieht. Rauchen macht ihn sogleich krank, und was Grog betrifft, so glaube ich, dass er von einem Jahre zum andern auch nicht einen Tropfen über die Zunge bringt. Ein schwacher Kopf zum Trinken«, schloss Zack und gab sich hierbei ein gewisses Air der Überlegenheit in den Bacchanalien.

Mr. Marksman schien wieder in seine gewöhnliche Gedankenversunkenheit gefallen zu sein. Er gab keine Antwort, hielt aber die Branntweinflasche vors Licht, um zu sehen, wie viel Spiritus noch darin vorhanden war.

»Quält Euren Kopf nicht mit Sorgen über den Branntwein! Ihr bedürft keines Tropfens für Blyth«, scherzte Zack, als er seines Freundes Bewegung sah. »Ich sage, alter Knabe, dass Ihr das beste Werk in der Welt tatet, als Ihr Valentins Gemälde rettetet. Ihr habt dadurch sein Herz ganz gewonnen. Er war verteufelt argwöhnisch über meine Freundschaft mit Euch; aber jetzt —— beim Jupiter! —— glaubt er, dass die Sprache kein Wort habe, das gut genug für Euch sei. Er sagte, dass er außerordentlich erfreut sein würde, Euch noch einmal danken zu können. Erzählt ihm einige Eurer herrlichen Geschichten. Ich habe ihm schon durch ein paar Nacherzählungen in Erstaunen versetzt. Erzählt ihm, als Ihr und die andern Personen dem Hungertode nahe wart und eben das Los werfen wolltet, wer zur Nahrung der andern getötet werden sollte. Herr Gott! Wie bleich er werden wird, wenn er dies hört! Und wie gastfreundlich wir ihn behandeln werden —— werden wir nicht? Ihr macht ihm das Haar zu Berge stehend und ich —— ich mache ihm einen Tee.«

»Was macht er mit seinen Gemälden?« fragte Mr. Marksman. »Verkauft er sie? ——«

»Versteht sich!« antwortete Zack ganz zuversichtlich, »und bekommt schreckliche Summen Geldes dafür.« Sobald Zack Gelegenheit fand, eines Freundes Wichtigkeit zu vergrößern, erhob er sie sogleich zu einer großartigen Tatsache, welche unbestreitbar sei.

»Er bekommt viel Geld dafür?« fuhr Mr. Marksman fort. »Da sammelt er wohl Schätze?«

»Er sammelt Geld?« gab Zack zurück. »Ihr machtet wohl niemals eine schlechtere Vermutung in Eurem Leben. Ich glaube nicht, dass er jemals nur fünf Groschen gesammelt hat. Wenn Mrs. Blyth sich nicht in ihn verliebt hätte, so würden gewiss nicht dreißig Taler von einem Jahre zum andern bei ihm zu finden sein.«

Es trat eine kleine Pause ein. Mr. Marksman schloss seine Kiste zu und dachte: »Ich wundere mich, ob ——«

Zack sprach aber weiter: »Er ist der freigebigste Mann in der Welt und der beste Zahler; fragt nur irgendjemand unter seinen Geschäftsleuten.« Dabei zündete er sich eine Zigarre an, während Mr. Marksman seine im Geiste begonnene Konjektur fallen ließ und bald zu andern Fragen überging. Einen Teil der gewünschten Auskunft hatte er vom jungen Thorpe bereits erhalten. Er wusste nun, dass, als Mr. Blyth am Tage der Gemäldeschau sein Bureau bei Annäherung Mr. Gimbles so plötzlich rasch verschloss, dies nicht des Geldes wegen geschah, wie er zuerst vermutet hatte.

»Gedenkt er morgen Abend noch jemand mitzubringen?« fragte Mr. Marksman.

»Jemand? Jemand? —— Wen zum Teufel soll er mitbringen? Warum? —— Ihr alter Barbar erwartet wohl, dass er Madonna in unsere lustige Junggesellen-Kneipe mitbringt, um beim Grog und Tabakrauchen zu präsidieren? —— Erwartet Ihr das? ——«

»Wie alt ist das junge Frauenzimmer?« fragte Mat, indem er nachdenkend das Licht mit den Fingern putzte.

»Immer noch denkend an seine Tochter«, jauchzte Zack mit erneutem Gelächter. »—— Sie ist älter, als sie aussieht; das kann ich Euch sagen. Ihr werdet sie etwa achtzehn oder neunzehnjährig schätzen, aber sie ist dreiundzwanzig Jahr, das ist faktisch. Ruhig! Ihr werdet sonst noch durchs Fenster wandern, wenn Ihr nicht ruhiger in Eurer wunderlichen Ecke sitzt.«

Dreiundzwanzig! Das war ja die Zahl, welche er vorhin gefunden hatte, als er an den Fingern von 1828 bis 1851 rechnete, bevor Zack erschien.

»Ich vermute, Ihr werdet nun ganz ruhig und kalt sagen, dass sie zu alt für Euch ist,« spottete Zack, »oder Ihr mögt bevorzugen, einige andre Fragen zu tun. Ich will Euch was sagen, alter rauer Eisbär, Euer inquisitiver Charakter ist ——«

»Lass das Gerede!« unterbrach Mat, sprang schnell empor und nahm ein schmutziges Pack Karten vom Kamin. »Ich habe keine Fragen nötig und auch keine Antworten. Lass uns einen Schluck Grog nehmen und eine Partie Bettelmanns spielen. Komm heran!«

Sie setzten sich nieder, spielten ein paar Stunden und tranken eifrig Grog. Zack gewann, und der belebende, inspirierende Einfluss des Grogs erheiterte ihn sehr. Sein gutes Glück brachte ihm viele Groschen aus des Gegners Tasche, und bei jedem neuen Gewinn steigerte sich auch seine Freude bis zur höchsten Ausgelassenheit. Diese Fröhlichkeit schien sich sogar dem gleichgültigen und unerschütterlichen Mat mitzuteilen, denn er brach einmal beim Kartenmischen in ein grunzendes Gelächter aus.

Da sich nur äußerst selten seine innere Fröhlichkeit durch äußerliche Symptome kundgab, so war Zack, welcher eben die Karten abheben wollte, so erstaunt, dass er es unterließ und erst mit Kuriosität inquirierte, weshalb sein Freund so grunze. Zuerst weigerte sich Mat, es zu sagen, —— nach fortwährendem Pressen von Zacks Seite erklärte er jedoch, dass ihm die Erinnerung an das, was Zack ihm nach Verlassen des Gemäldesaales mitgeteilt, ins Lachen gebracht habe; und endlich —— als Thorpe sich auch damit noch nicht beruhigte und noch dringender inquirierte —— bekannte er, dass er an das »alte Weib« gedacht, von dem Zack erzählt habe, dass es recht bösartig über ihn hergefallen sei, als er dem jungen Mädchen ein Geschenk zu geben beabsichtigte. Dieser Umstand, fügte Mat hinzu, hätte sein Zwerchfell gekitzelt und er würde einen Kronenthaler darum gegeben haben, wenn er dem ganzen Zank vom Anfang bis zum Ende mit hätte beiwohnen können. Zack, dessen Gemütszustand eben genau in der rechten Stimmung war, dass das, was seinen Freund erheiterte, auch ihn zur Fröhlichkeit trieb, ergriff mit größter Lustigkeit die von Mat angeregte humoristische Seite des Gegenstandes. Er begann sogleich mit einer Beschreibung der persönlichen Sonderbarkeiten der armen Mrs. Peckover und zwar in der allerlächerlichsten Übertreibung. Mr. Marksman horchte mit einer wahrhaft bewunderungswürdigen Aufmerksamkeit auf Zacks Schilderung und schien sich dabei sehr erstaunlich über jedes Wort zu amüsieren. Zack lief endlich ins Schlafzimmer, riss die zwei Kissen vom Bette und band eins vorn, das andere hinter sich, dann hüllte er sich in die gestickte Steppdecke, watschelte nun als Mrs. wieder ins Wohnzimmer und stellte jene Szene dar, wie Mrs. Peckover an jenem denkwürdigen Abende in Blyths Hause ihn an seinem Vorhaben recht mysteriös verhinderte.

Zack war wirklich ein guter Mimiker; er stellte jetzt die Stimme, Manieren, den Gang und alle Sonderbarkeiten der Mrs. Peckover so charakteristisch treffend dar, —— dass Mat beständig lachte, seinen großen Kopf von einer Seite auf die andere warf und mit seiner schweren Faust auf dem Tische Beifall klatschte. Ermutigt durch die außerordentliche Wirkung seiner musterhaften Darstellung, ging Zack die ganze Szene mit Mrs. Peckover vom Anfang bis zum Ende durch. Er repräsentierte das exzellente Frauenzimmer in allen ihren verschiedenen Redensarten und ahmte ihre Bestürzung nach, als er ihr drohte, treppauf zu laufen und Mr. Blyth zu fragen, ob Madonna wirklich ein Haarbracelet habe. Ihr Kauderwelsch und ihre lächerlichen Gebärden stellte er so humoristisch und belustigend hin, dass Mr. Marksman eifrig und laut erklärte, kein bezahltes Schauspiel im Theater würde ihm dies Vergnügen gewährt haben.

In diesem Moment hatte Zack den höchst möglichen Grad seiner improvisierten dramatischen Darstellung erreicht, sich aber auch abgemattet und ermüdet. Er warf Kissen und Steppdecke bei Seite und gedachte den Rest des Abends ruhig auf seinem Stuhle zu verbringen. Demgemäß mischte er sich noch ein zweites Glas Grog, zündete eine andere Zigarre an und widmete die Aufmerksamkeit, welche er von diesen beiden Genüssen noch erübrigte, einem beliebten Unterhaltungsblatt, genannt: »Bells Leben in London«. Sein Freund unterbrach ihn mit keinem Worte, erst dann, als er das Blatt zur Hand nahm, sagte Mat ganz nachlässig: er glaube das Original von Mrs. Peckover zu entdecken, wenn es ihm je in den Straßen Londons begegnen sollte. Darauf erwiderte Zack, das wäre nicht leicht möglich, weil Mrs. Peckover in Rubbleford lebe, wo ihr Mann beschäftigt sei und sie selbst eine Meierei und einen Kuchenladen habe. »Sie kommt höchstens einmal des Jahres nach London«, ergänzte Zack, als er seine Zigarre anzündete, »und dann verbringt die alte Schönheit ihre ganze Zeit in Blyths Hause.«

Mr. Marksman horchte sehr aufmerksam auf diese Antwort, machte aber nicht die geringste Bemerkung, dann ging er in das Hinterzimmer und wusch das Geschirr auf, das zum Junggesellenhaushalt gehörte, reinigte Töpfe und Kaffeeschalen, alles zu Ehren und in Erwartung von Mr. Blyths Visite.

Zack —— auf dem sowohl die hohe als niedrige Literatur stets narkotisch wirkte, ward immer schlaftrunkener über seiner Zeitung; er ließ den Grog kalt werden, die Zigarre aus dem Munde fallen und verfiel endlich in einen festen Schlaf auf seinem Stuhle. Als er wieder schauernd vor Kälte aufwachte, stand seine Uhr still, das Licht war bis auf den Leuchter heruntergebrannt und das Kaminfeuer ausgegangen; auch Mr. Marksman war nicht mehr zu sehen, weder im Vorder- noch im Hinterzimmer, er war verschwunden. Der junge Thorpe kannte seines Freundes seltsame Liebhaberei, über Nacht auszugehen, um den Morgen beim ersten Lichtstrahl zu empfangen; daher war er auch nicht erstaunt, sich allein zu finden. Er wankte schlaftrunken zu Bett und gähnte noch folgende Worte: »Ich werde wahrscheinlich morgen früh den alten Knaben wiedersehen, wenn ich erwache.«

Aber diese Vermutung erwies sich am folgenden Morgen als trügerisch. Der erste Gegenstand, den Zacks Augen am folgenden Morgen erblickten, als er gegen elf Uhr langsam erwachte, war ein Arm, welcher einen Brief vorsichtig durch die nur teilweise geöffnete Tür des Schlafzimmers reichte. Obgleich keineswegs verächtlich in muskulärer Entwickelung, war dies doch nicht der behaarte Herkulesarm von Mat. Es war nur der Arm einer Dienerin der gewöhnlichen Arbeiten, welche der barbarische Mr. Marksman in solch heilsamer Furcht hielt, dass sie es noch nie gewagt hatte, ihren ganzen Körper in die verbotene Region seines Zimmers zu führen, seitdem er sie bezogen hatte. Zack sprang aus dem Bett und nahm den Brief. Er kam von Valentin und lud ihn ein, sogleich in des Malers Wohnung zu erscheinen, weil seine Mutter da sei und ihn ernstlich zu sprechen wünsche.

Als er die wenigen Zeilen von Mr. Blyth las, dachte er nicht ohne Angst an das Zusammentreffen mit seiner Mutter von Angesicht zu Angesicht, was noch nicht stattgefunden, seitdem er seine elterliche Heimat verlassen hatte. Ohne einen Augenblick zu zögern, zog er hastig seine Kleider an und eilte fort, bald schnell gehend, bald laufend, um ja nicht als sorglos oder ungehorsam erscheinen zu wollen. In des Malers Hause angekommen, ward er in ein Parterrezimmer gewiesen; darin saß Mrs. Thorpe und Mr. Blyth, letzterer ihr Gesellschaft leistend. Die Begegnung zwischen Mutter und Sohn war von beiden Seiten charakteristisch. Ohne Valentin so viel Zeit zu lassen, vom Stuhl zur Tür zu gelangen; ohne einen Augenblick zu warten, um zu sehen, was für Gefühle seine Mutter ihm entgegenbringe; und ohne auch nur im geringsten zu berücksichtigen, was für Schaden er ihrem Kopfputz zufüge, sprang er auf sie zu, umarmte sie ungestüm und küsste sie so herzlich ab, wie in den Tagen seiner Kinderzeit und sie —— die arme Frau —— stotterte leise ein Wort des Tadels —— dann verlor sie die Stimme —— endlich presste sie ein Geldpaket in seine Hand und weinte an seiner Brust, ohne auch nur ein Wort weiter zu sprechen. So machte sie es früher, als Zack noch ein Knabe war, und dasselbe tat sie noch heute in der bösen trüben Zeit.

Es dauerte lange, ehe Mrs. Thorpe ihre Selbstbeherrschung, welche sie beim ersten Anblick ihres Sohnes verloren hatte, wieder gewann; denn die große Gemütsaufregung hatte sie ganz außer sich gebracht. Ihr eigener Wunsch war gewesen, allein nach Zacks Wohnung zu gehen, aber Mr. Blyth, den sie um Rat gefragt hatte, wollte nichts davon hören, bis er selbst gesehen hatte, was für Leute darin wohnen und was es für ein Haus sei. Er bestand darauf, dass die Zusammenkunft in seiner eigenen Wohnung, als dem geeignetsten Ort, stattfinden solle, und betonte dies mit solchem Ernst, dass sie nicht fähig war, ihm zu widersprechen. Trotz ihres ehelichen Gehorsams war sie dennoch ohne ausdrückliche Erlaubnis ihres Mannes in Mr. Blyths Wohnung getreten, aber nur mit Furcht und Zittern. Die vorherige Unentschlossenheit und Gemütsaufregung und der Akt zweifelhafter Schicklichkeit waren schon hinreichend gewesen, sie zu entnerven, bevor sie des Malers Wohnung erreichte. Ihre Gemütsunruhe wurde aber noch zehnfach größer, als sie, während Mr. Blyth das Briefchen an Zack schrieb, die Treppe stieg, um die so lange suspendiert gewesene Bekanntschaft mit Mrs. Blyth wieder zu erneuern und dem armen taubstummen Mädchen die Hand zu schütteln. Alle diese verschiedenen Gefühlssituationen hatten ihre schwache Widerstandskraft und Selbstbeherrschung erschöpft, demzufolge unterlag sie ganz ohne Kampf schon beim ersten Anblick ihres Sohnes, denn sie sah ihn zum ersten Mal wieder, seitdem er ein Flüchtling aus der Heimat geworden war.

Zack drückte recht sehr seine Zerknirschung aus und wiederholte mehrere mal das Versprechen, den Plan zu befolgen, welchen Mr. Blyth ihm vorgeschlagen hatte, als sie sich am Schlagbaum trafen. Er war dabei so eifrig, dass seine Mutter nicht Ruhe genug bekam, um nur drei Worte zusammenhängend sprechen zu können, ohne in Tränen auszubrechen. Als sie sich endlich soweit erholt hatte, um in ruhiger Stimmung einige Worte zu ihm zu sagen, sprach sie nicht etwa von seinen früheren Vergehen, wie er erwartet hatte, auch nicht von seinen zukünftigen Aussichten, sondern nur von dem Logis, das er gegenwärtig bewohne, und von dem Fremden, mit dem er in Freundschaft getreten sei. Obgleich Mat durch seine galante Rettung des »Columbus« Valentins wärmste Gunst erlangt hatte, so war dieser doch viel zu gewissenhaft, um dadurch Facta zu verschönern; er hatte also auch seine Bedenken gegen Zacks Mutter über dessen gegenwärtiges Wohnen und seine Gesellschaft ausgesprochen. Mrs. Thorpe war furchtsam und daher auch misstrauisch, wie alle furchtsamen Leute. Sie bat jetzt ihren Sohn mit wahrhaft nervöser Heftigkeit, seine versprochene Besserung damit zu beginnen, dass er Kirk Street verlasse und die gefährliche Bekanntschaft mit einem ganz Fremden abbreche, welcher sich gewiss früher oder später als ein Mann der abscheulichsten Prinzipien entlarven werde und der ja nach seinem eigenen Bekenntnis ein Vagabund der faulsten Sorte sei.

Zack verteidigte seinen Freund gegen seine Mutter genau so, als er es bereits gegen Valentin getan hatte. Mr. Marksman habe ganz uninteressiert ihn mit Geld versehen, als er dessen bedurfte; er habe ihm Gastfreundschaft erwiesen und sogleich ein Bett gegeben, als er nicht wusste, wo er sein Haupt hinlegen sollte; er sei, obgleich etwas exzentrisch in seinen Gewohnheiten, dennoch der beste, generöseste, zuverlässigste und respektabelste Mann auf der Welt. Mrs. Thorpe sprach ein Wort gegen die Vortrefflichkeit der Beweise ihres Sohnes, behielt aber nichts desto weniger ihre eigene Meinung, welche er nicht zu erschüttern vermochte. Er versprach ihr demnach, in dieser, wie in allen andern Angelegenheiten Mr. Blyths Meinung als endgültig zu befolgen. Diese gegebene Versicherung nebst der Anzeige, dass Mr. Blyth im Begriff stehe, diesen Abend Mr. Marksman in seiner Wohnung in Kirk Street zu besuchen, um sich selbst ein Urteil zu bilden, schienen Mrs. Thorpe zu genügen und zu beruhigen. Nachdem sie nun zur traurigen Notwendigkeit gezwungen war, die fortdauernde Abwesenheit ihres Sohnes aus dem Hause ertragen zu müssen, ruhte ihre Hoffnung für dessen zukünftiges Glück einzig und allein auf Mr. Blyth.

Nachdem die erste Schwierigkeit sanft vorübergegangen war, fragte Zack mit ängstlicher Besorgnis, ob nach seines Vaters Zorn noch auf seine Unterstützung zu rechnen sei. Diese Frage war eine der unglücklichsten. Mrs. Thorpes Augen füllten sich sogleich wieder mit Tränen, als sie dieselbe anhörte. Die Antwort, welche sie ihrem Sohne hierauf zu erwidern hatte, war sehr niederschlagender und hoffnungsloser Art.

Der gefährliche Anfall von Herzklopfen, welcher Mr. Thorpe am Tage der Flucht seines Sohnes aus Baregrove-Square ergriffen hatte, war durch die angewandten ärztlichen Mittel erfolgreich gelindert worden. Aber es hatte sich seiner seit einigen Tagen eine große Niedergeschlagenheit des Geistes bemächtigt, gegen welche der Arzt keinen schnellen Prozess einer Kur anzugeben musste. Einsilbig von jeher, war Mr. Thorpe jetzt noch einsilbiger geworden. Seine gewöhnliche Energie schien ganz verschwunden zu sein. Er besorgte zwar noch die täglichen Geschäfte verschiedener Art, aber ganz mechanisch und zeigte nicht das geringste Interesse, weder für die Personen noch für die Begebenheiten, mit denen er in Berührung kam. Seinen Sohn hatte er in den letzten zwei Tagen nur ein einziges Mal erwähnt, und nicht etwa um ihn zu reklamieren, oder sich zu erkundigen, wo und wie er sich befände, sondern nur um zu sagen, dass sein Name niemals wieder genannt werden möchte.

Der Arzt entdeckte zwar die Ursache dieser plötzlichen ernsten Moralalteration an Mr. Thorpe, konnte aber nur sagen, dass das ganze Nervensystem schon seit Jahren in einem Zustande bedeutender Schwäche gewesen sei, und dass ein viel leichterer Stoß als derjenige, den er soeben empfangen, hingereicht haben würde, es ganz zu brechen, wie es sich jetzt ereignet habe. Das einzig mögliche Mittel, seine verlorene Gesundheit wieder zu erlangen, wäre ein Wechsel des Ortes und der Luft, gänzliche Ruhe und totale Enthaltung aller geistigen Beschäftigungen —— selbst der leichtesten, wie Briefschreiben und so weiter. Als dieser Rat Mr. Thorpe erteilt ward, weigerte er sich standhaft, ihn zu befolgen. Er lehnte es ab, weder für die Gegenwart, noch für die nächsten drei Monate seine ehrenvolle Stellung aufzugeben oder sie seinen zahlreichen Freunden zu überlassen, welche gern geneigt waren, ihm seine Arbeiten und Pflichten zu erleichtern. Er sagte in seinem desperatesten Tone, welcher sich jetzt gar nicht änderte, dass die Vollbringung seiner Pflichten das erste, letzte und beste Interesse sei, was er noch am Leben habe; und dass er seine verschiedenen Beschäftigungen so lange versehen werde, als er noch existiere. Es war nutzlos, ihn durch Argumente von seinem Entschluss abzubringen, weder seine Frau noch irgendjemand anders vermochte seine Resolution zu ändern.

Soweit Zacks Interesse oder Besorgnis jetzt betroffen war, so hatte er wenigstens für die Gegenwart keine Kollision zu gegenwärtigen. Als Mrs. Thorpe, nach Empfang des Valentinschen Briefes, ihrem Manne gesagt hatte, dass der weggelaufene Sohn sich in sichern guten Händen befände, hatte er nicht einmal gefragt, wie sie befürchtete, »in was für Händen?«. Und als sie andeutete, dass es doch wohl ratsam sei, den armen Jungen bei seiner schmalen Existenz zu unterstützen, das heißt, so lange er sich auf dem richtigen Wege befinde und sich durch die erwähnte sichere Hand führen ließe, —— auch da hatte er weder Einwürfe noch Fragen gemacht, sondern nur genickt und erwidert, sie solle tun, was ihr beliebe. Einige für sich hin geflüsterte Worte hatte sie nicht verstanden. Sie konnte daher nur die traurige Wahrheit wiederholen, dass, seitdem seine Kraft gänzlich geschwunden war, alle seine früheren Pläne und Ansichten hinsichtlich der Zukunft seines Sohnes in seiner Melancholie und plötzlichen Gemütsumstimmung untergegangen seien. Infolgedessen glaubte sie es auch wagen zu dürfen, in das Arrangement einzugehen, mit Zack zusammenzutreffen und ihm eine kleine Geldunterstützung zu geben, was Mr. Blyth als die größte Notwendigkeit in diesem traurigen Falle betrachtete.

Die Aufzählung aller dieser kleinen Besonderheiten, welche noch öfters durch unnötige Lamentationen von der einen und durch nutzlose Selbstvorwürfe von der andern Seite unterbrochen ward, hatte viel mehr Zeit weggenommen, als sich Mutter und Sohn einbilden mochten. Endlich entdeckte Mrs. Thorpe, dass sie schon viel länger vom Hause abwesend sei, als sie ursprünglich beabsichtigte. Sie erhob sich plötzlich in großer Angst —— nahm einen flüchtigen Abschied von Valentin, welcher in seinem Garten spazierte, sandte viel herzliche Grüße an die Ladies und wandte sich nach ihrer Wohnung in Baregrove-Sqare. Zack begleitete sie bis zum Eintritt in Square. Beim Abschiednehmen zeigte er nochmals eine große Offenheit seiner Reue und zwar in einer sehr unerwarteten desperaten Manier, indem er sich wirklich erbot, mit seiner Mutter nach Hause zurückzukehren, wenn sie es wünsche. Mrs. Thorpe jammerte und wollte ihn beim Wort nehmen, aber sie erinnerte sich noch rechtzeitig an des Doktors Befehl und an den kritischen Zustand ihres Gemahls; daher gestand sie Zack, dass noch nicht die günstige Zeit seiner Rückkehr erschienen sei. Hiernach versprachen sie sich gegenseitig, durch Valentins Vermittlung miteinander zu korrespondieren, und verabschiedeten sich sehr traurig, just als sie eben in Baregrove-Square eintraten. Mrs. Thorpe eilte in nervöser Eile nach ihrer Wohnung und Zack in niedergeschlagener Stimmung nach Mr. Blyths Hause.

Wie hatte sich aber Mr. Marksman mittlerweile beschäftigt, seitdem er seinen jungen Freund allein im Logis zu Kirk Street gelassen hatte?

Er war wirklich ausgegangen, wie Zack vermutete, und hatte einen seiner Nachtspaziergänge unternommen, der ihn in das Land hinausführte, noch ehe das erste Morgengrauen und der erste Strahl des Lichts im fernen Osten zu erblicken war. Für gewöhnlich machte er diese Fußtouren in der seltsamen nächtlichen Zeit nur infolge seiner Ruhelosigkeit, welche, durch sein vagabundierendes Leben erzeugt, ihm nicht gestatten, die Morgenstunden im Bette zu verschlafen, wie es andere Leute belieben. Bei dieser Gelegenheit war er zwar nicht ohne eine besondere Absicht ausgegangen; er hatte Kirk Street nicht bloß eines gewöhnlichen Spazierganges wegen verlassen, sondern in der Absicht, klar zu denken. Denn Mats Gehirn war niemals so reich und fruchtbar an Gedanken und Mitteln, als wenn er sich frei in frischer Luft bewegte.

Kein Wort, auch nicht das unbedeutendste, war in vergangener Nacht von Zacks Lippen gefallen, das ihn nicht in dem Entschluss bestärkt hätte, Valentins Haarbracelet besitzen zu wollen; und jedes dieser Worte sollte ihm Mittel und Wege angeben, wie und auf welche Art er in dessen Besitz gelange. Die erste große Notwendigkeit, welche sich ihm bei diesem Plane aufdrängte, war, auf Mittel zu sinnen, durch welche Art des Malers Bureau geheim geöffnet werden könne. Zweitens war noch zu erdenken, wie man sich demselben wohl unbeobachtet nähern könne. Mat hatte bemerkt, dass Mr. Blyth den Bureauschlüssel an seiner Uhrkette trug, und er hatte ja auch gehört, dass er ihn in Kirk Street besuchen wolle. Am Abende der Visite musste daher zuerst das Mittel der geheimen Bureauöffnung entdeckt werden. Aber wie?

Dies war das Problem, dessen Lösung sich Mr. Marksman auf der einsamen Nachtpromenade vorgenommen hatte.

In was für eine Zahl innerlich vorbereitender Pläne und Entwürfe er sich ergangen hatte, bevor er sein gewünschtes Resultat erreichte, würde nicht leicht zu beschreiben sein. Wie gewöhnlich wanderten seine Gedanken von einem Gegenstand zum andern und dies in der irregulärsten Manier. In der Tat, sie irrten weit umher nach der neuen Welt, in verschiedenen Sagen und Geschichten, die er gehört, unter die vagabundierenden Kameraden aller Länder, mit denen er die Prärien Amerikas durchstreift hatte, und wer weiß, wo seine Phantasie noch herum schweifte. Als sein Geist aus diesen längst vergangenen Zeiten und fremden Gegenden wieder in die Gegenwart und zu den gegenwärtigen Schwierigkeiten zurückkehrte, dachte er auch an den heute Abend zu erwartenden Gast. Auch hatte er inzwischen das sich gesetzte verwickelte Problem gelöst.

Nicht ein einziges wisperndes Wort über den Plan war von Mr. Marksmans Lippen gefallen, als er sich umwandte und in dem frischen Wintermorgen wieder zur Stadt zurückkehrte. Vorsichtig wie er war, schien er doch einige Andeutungen über sein Projekt durch gewisse Handlungen zu manifestieren, als er zurückkam, oder sein Begriff der Gastfreundschaft und die hierauf bezüglichen Vorbereitungen, welche er für den Empfang Mr. Blyths machte, waren so barbarisch, extravagant und weit mehr exzentrisch, als alle seine Gedanken und Ideen zusammengenommen.

Anstatt nach Hause zu gehen, als er in Kirk Street angekommen war, ging er erst in verschiedene Läden der Nachbarschaft, um Einkäufe für die heutige Bewirtung seines Gastes zu machen. Zuerst kaufte er zwei oder drei Zitronen und dann ein Pfund Hutzucker. Soweit war sein Verhalten noch erklärlich; aber es wurde nach und nach immer unbegreiflicher, je mehr er in verschiedenen Straßen auf und abwanderte, sich beständig umblickte, vor jedem Schlosserladen und Eisenhändler stehen blieb, die darin befindlichen Personen musterte und dann mit sich beratend weiter ging. Auf diese Weise näherte er sich im Verlaufe der Zeit einer kleinen schmutzigen Reihe Häuser mit sehr übel aussehenden Bewohnern beiderlei Geschlechts, welche in abgesonderten Gruppen teils zum Fenster herausblickten, teils vor der Tür herumlungerten. Eintretend in den schmutzigen Laden eines dieser Häuser, fand er denselben geteilt in ein Lager alter rostiger Eisen- und Stahlwaren und in ein gleiches Lager mit neuen glänzenden Waren dieser Art. Hinter dem Ladentische stand ganz allein ein schmutziger buckeliger Mann und sortierte alte Nägel. Mat, welcher unbegreiflicher Weise an den respektablen Eisenläden vorübergegangen war, trat unerklärlicherweise in den unansehnlichen Schmutzladen und begrüßte den kleinen Buckeligen hinter dem Ladentische. Die Konferenz beider wurde in einem ziemlich leisen Tone geführt und endete ganz zu beiderseitiger Genugtuung; denn der schmutzige Buckelige pfiff eine Weise, während er seine Nägel weiter sortierte, und Mr. Marksman murrte zu sich selbst, als er aus dem Laden trat: »Das ist ganz recht, —— recht so.«

Sein nächster Gang —— Bezug habend auf den Empfang Mr. Blyths —— war noch mysteriöser als der vorhergehende. Er trat in einen Spezereiladen unter dem Titel: »Italienisches Warenhaus« und kaufte ein kleines Stück gereinigtes feines Wachs! Nachdem er diesen Kauf gemacht und das Wachs in die Tasche gesteckt hatte, trat er in das öffentliche Lokal seiner Wohnung gegenüber und kaufte nicht nur eine Flasche Branntwein, sondern auch eine Flasche alten Jamaika Rum.

Der junge Thorpe war noch nicht von Blyth zurückgekehrt, als Mr. Marksman mit seinen Gegenständen in der Wohnung ankam. Er stellte die Flaschen, den Zucker und die Zitronen in den Schrank —— warf einen befriedigten Blick auf das gereinigte Geschirr —— schürte das Feuer und häufte reichlich Kohlen an, um es stets brennend zu erhalten, dann setzte er sich in die Ecke auf seine Kalmuckröcke —— wiegte sich gemütlich hin und her und bedeckte das Gesicht mit einem Taschentuch, und indem er seine Hände in die Tasche steckte und so zufällig das Wachs berührte, lachte er etwas mürrisch und brummte dann hinter dem Taschentuch:

»Nun, ich bin jetzt ganz bereit für Zacks Freund«, dann überließ er sich dem Schlaf.



Kapiteltrenner

Zweites Kapitel - Die indianische Mixtur

Gleich der großen Mehrzahl jener Personen, welche von der Natur mit hochfliegenden Lebensgeistern begabt sind, war auch Zack bei gewissen Zeiten und Gelegenheiten fähig, von der höchsten ausgelassensten Freude zu den tiefsten Tiefen der Verzweiflung zu sinken, ohne jene Zwischenstufen einer mäßigen Heiterkeit, traurigen Niedergeschlagenheit oder tränenvollen Grams durchzugehen. Nachdem er sich von seiner Mutter verabschiedet hatte und wieder in Valentins Hause erschienen war, zeigte er die größte lamentabelste, verzweiflungsvollste Gemütsstimmung, er ging alle seine Vergehen durch und betrachtete deren Wirkung auf seines Vaters Geist mit den bittersten Selbstvorwürfen, so dass Valentin durch diese quälenden Bekenntnisse wirklich ängstlich und bestürzt ward. Des Malers gut geartete Natur war kein Freund von trostloser Verzweiflung irgendeiner Art und von jener Reue, welche nur sorgenvoll in die Vergangenheit und nicht auch zugleich hoffnungsvoll in die Zukunft blickte. Er legte seinen Pinsel nieder, womit er soeben das »Goldene Zeitalter« auffrischen wollte, und setzte sich neben Zack, um ihn zu trösten. Er sagte, dass wenn Zack seine neuen Studien recht fleißig und aufmerksam verfolge, ihm hohe Ehre und Kredit bevorstände. Er würde Ruhm gewinnen, wenn er seine Arbeit im Britischen Museum und in der Privatschule nicht schwänze und versäume. Auch würde er seinen Vater wieder versöhnen, wenn er ihm bewiese, dass er zum Künstler geboren sei, und wenn er ihm endlich eine in den Schulen der Royal-Akademie ehrenvoll gewonnene Preismedaille vorzeigen könne. —— Eine charakteristische Eigentümlichkeit jener Leute, deren Geist stets aus einem Extrem in das andere rennt, ist —— dass sie im allgemeinen diese Wechsel der Gemütsstimmung mit der größten Leichtigkeit durchgehen. Zack hatte während der Zeit den großen Vorrat von Mr. Blyths Tröstungen ganz in sich gesogen, dann eine vortreffliche glänzende Mahlzeit mit genossen und eine Stunde bei den Ladies verlebt; hierdurch hatte er seine gewohnte Heiterkeit der vollständigsten Art und Weise wieder erlangt. Jetzt prophezeite er seine eigene Reformation und sein zukünftiges Glück ebenso zuversichtlich, als er zwei Stunden zuvor seinen Ruin prophezeit hatte. Er wandte sich nun nach Kirk Street, um zu sehen, ob Freund Mat zu Hause und bereit sei, Valentin diesen Abend zu empfangen. Dabei hüpfte er so flink und schwang seinen Stock so freudig, als wenn er schon die Preismedaille der königlichen Akademie gewonnen und hierdurch eine glänzende Rechtfertigung bei seinem Vater erlangt hätte.

Sieben Uhr war als die Stunde festgesetzt, wo Mr. Blyth in den Zimmern der Mister M. Marksman und Z. Thorpe junior erscheinen wollte. Er erschien pünktlich zur festgesetzten Stunde, leicht gekleidet in einen kurzen blauen Frackrock, dessen scharfer Schnitt und hohes fabelhaftes Alter ihn unter seiner ganzen Bekanntschaft berühmt gemacht hatte. Nach dem, was ihm Zack von den seltsamen Sonderbarkeiten des Charakters erzählt hatte, erwartete er einen lächerlichen unzivilisierten Empfang von Mr. Marksman und fand, als er in Kirk Street ankam, seine Erwartungen in jeder Hinsicht vollkommen bestätigt.

Schon auf den kleinen dunklen Holztreppen des Tabakladens begegnete seiner Nase ein eigentümlich gemischter Geruch von Leber und Speck, Branntwein und Tabakrauch, welcher ihm schon von weitem aus den Türspalten des Gastzimmers entgegenkam. Als er in das Zimmer trat, erblickten seine Augen zuerst Zack, welcher den Hut auf hatte und sehr eifrig mit Reinigung eines sehr staubigen Teppichs beschäftigt war. Mr. Marksman saß am Kamin vor einer Bratpfanne mit offenem Rock und auf die Schultern zurückgelegten Hemdärmeln, den Bratspieß in der Hand und vor sich auf dem Kamin ein Glas dampfenden Grogs. »Halloh! Mat, hier ist der geehrte Gast dieses Abends erschienen, bevor ich den Teppich vollständig gereinigt und niedergelegt habe«, rief Zack, während er seinen Freund mit dem langen Wischlappen in die Rippen schlug.

»Wie befinden Sie sich?« sagte Mr. Marksman mit familiärer Leichtigkeit, ohne sich von seiner Bratpfanne wegzubewegen, nahm aber den Bratspieß zwischen die Zähne und reichte seine rechte Hand Mr. Blyth zum Willkommen dar. »Lassen Sie sich nieder, wo es Ihnen beliebt, und wenn Sie irgendetwas aus dem Bäckerladen da unten brauchen, so rufen Sie nur durch die Fußbodenspalte unter den Kalmuckröcken.« »Er meint Tabak, wenn er Bäcker sagt«, unterbrach ihn hier Zack. »Wollen Sie ein paar gebratene Toffeln knabbern?« fuhr Mat fort, indem er sich seine holländische Pfeife mit dem Bratspieß anzündete. »Mit einer Portion gebratener Leber und Speck, wozu wir Sie geladen haben, lassen sich die Toffeln leichter hinunter essen. Niedlich und gestreift, nicht wahr?« Mit diesen Worten stach Mr. Marksman ein Stückchen Speck an und zeigte es über seine Schulter Mr. Blyth, welcher noch ganz bestürzt mitten im Zimmer stand.

»Oh, köstlich! Deliziös!!« rief Valentin aus, während er sich an dem Geruch zu laben schien, als wäre es ein Blumenstrauß. »Wirklich, mein teurer Herr ——« Er sagte nichts mehr, trippelte aber während dem auf einer großen Zahl Flaschenstöpsel herum, welche zerstreut auf dem Boden lagen, und verlor das Gleichgewicht. Hätte ihn Zack nicht sogleich aufgefangen, so wäre er sicherlich der Länge nach hingefallen, während er seine höfliche Antwort an Mr. Marksman hersagte.

»Warum stellst Du nicht einen Stuhl hin?« brummte Mat, indem er vorwurfsvoll von seiner Bratpfanne auf Zack blickte und während Valentin durch dessen Hilfe seine vorige Position wieder erlangte.

»Ich war eben im Begriff, diesen Teil des Fußteppichs zu reinigen, als Ihr hereintratet«, sagte Zack, sich verteidigend und führte Mr. Blyth zu einem Sessel.

»Oh, erwähnen Sie es nicht«, sagte Valentin lächelnd zu Mat. »Es war nur meine Ungeschicklichkeit, mein ——« Hier stockte er plötzlich wieder. Zack hatte ihn vor einer Tafel platziert, welche mit einem großen, schmutzigen Tuche bedeckt war, das bis auf den Fußboden reichte. Mr. Blyth nahm daran gemächlich Platz, stellte seine Füße unter den Tisch —— aber, o, weh! während er so ungeniert unter der Tafel ausruhen wollte, kam er mit einem Haufen leerer Flaschen, Austernschalen, und zerbrochenen Töpfergeschirrs in solch fatale Berührung, dass er vor Schreck sprachlos ward. Nachdem er sich von seiner Bestürzung erholt hatte, rief er: »Verzeihen Sie! ich hoffe, keinen Schaden getan zu haben! In demselben Augenblicke fiel wieder eine ganze Lawine Austernschalen auf seine Füße und einige zerbrochene Flaschen rollten mitten in die Stube.

»Umgestoßen, alter Knabe! Stoßt so viel um, als euch beliebt«, rief Zack, setzte sich neben Mr. Blyth und stieß eine zweite Lawine Austernschalen umher. »Tatsache ist, wir sind zum Essen hier, machen aber einstweilen eine Polterkammer unterm Tische. Diese Idee ist neu, denke ich —— wenn auch nicht zeitgemäß, so doch neu und geistreich, was viel besser ist.«

»O wundervoll sinnreich!« sagte Valentin, welcher jetzt sowohl sich zu amüsieren als über seinen Empfang zu erstaunen begann. »Etwas unzeitgemäßer vielleicht, als Du sagtest, Zack, aber neu und nicht unangenehm, vorausgesetzt, man ist es so gewohnt. Was ich über alles liebe ——« ergänzte Mr. Blyth, indem er die Hände freudig rieb und abermals auf eine Flasche trat »was ich über alles liebe, ist, dass ich mich so durch und durch frei und leicht fühle. Wisst, ich fühle mich hier schon wirklich heimisch, obgleich ich noch niemals in meinem Leben hier war! —— Kurios, Zack, ist es nicht so?«

»Toffeln!« brüllte Mr. Marksman plötzlich von seinem Feuerplatze aus. Valentin stutzte über das unerwartete Freudengeschrei hinter ihm und noch mehr über die großen knolligen Kartoffeln, welche jetzt über seinen Kopf geflogen kamen, von Zack geschickt aufgefangen und auf das schmutzige Tischtuch gelegt wurden.

»Zwei, drei, vier, fünf, sechs«, rief Mat weiter, mit der einen Hand die Bratpfanne haltend und mit der andern die gebratenen Kartoffeln einzeln nach und nach über Mr. Blyths Kopf werfend, damit sie der junge Thorpe fangen konnte. »Was denkt Ihr, über unsere Art Kartoffeln aufzutischen in Kirk Street?« fragte Zack mit triumphierender Miene.

»Oh, kapital«, stotterte Valentin, sich jedes Mal ängstlich duckend, sobald eine Kartoffel über seinen Kopf flog. »Kapital! So frei und leicht —— so ergötzlich frei und leicht.«

»Bereit mit Eueren Tellern! —— jetzt kommt die Leber!!« schrie Mat mit einer wahrhaft martialischen Kommandostimme, wandte jetzt sein großes, rot erhitztes, schwitzendes Gesicht nach der Tafel, in der einen Hand die zischende Bratpfanne und in der andern den langen Bratspieß haltend.

»Mein teurer Herr, es tut mir unendlich wehe, dass Sie alle Mühe haben«, rief Mr. Blyth. »Bitte, lassen Sie mich Ihnen helfen!«

»Nein, ich vermag es allein«, erwiderte Mr. Marksman mit höflicher Freundlichkeit und gutem Humor.

»Überlasst ihm die ganze Arbeit, Blyth«, sagte Zack; »lasst ihn nur gehen und bedauert ihn nicht. Er wird seine ganze Arbeit vollenden, wenn er ernsthaft vor seiner Leber und seinem Speck sitzt, das kann ich Euch versichern. Passt nur auf, wenn er beginnt, —— er hält seine Mahlzeit gleich dem Löwen im zoologischen Garten. ——«

Mr. Marksman schien Zacks Geschwätz sehr willkommen zu sein und es als ein wohlverdientes Kompliment zu betrachten, denn er liebkoste den jungen Thorpe, winkte freundlich nach Valentin und setzte sich endlich in bloßen Armen zu seiner Portion Leber und Speck. Es war gewiss ein seltsamer und überraschender Anblick, Mat essen zu sehen. Stück um Stück, ohne dazwischen einen Bissen Brot zu nehmen, steckte er das Fleisch in den Mund —— drehte es augenscheinlich einmal durch die Zähne —— und dann schluckte er es sogleich ganz hinunter. In der Zeit, wo Mr. Blyth ein Viertel von seiner Portion Leber und Speck, und Zack dies Hälfte von der seinigen gegessen, hatte Mr. Marksman eine ganze frageale Mahlzeit beendigt, den Mund mit der Hand und die Hand an der Hose abgewischt und dann noch zwei Gläser starken Rum und heißes Wasser für sich und Zack gemischt. Dann begann er die Komposition eines dritten Glases, in das er heißes Wasser, Zucker, Zitronensaft und Rum fortwährend tropfenweise eingoss, so dass es unmöglich zu sagen war, welches Ingredienz die Oberhand in der ganzen Mischung hatte. Als der Becher auf diese kuriose Art gefüllt war, setzte er ihn mit einem andeutenden Schlage auf die Tafel, dicht neben Valentins Teller.

»Versucht einen Mund voll davon, beginnt damit«, sagte Mat. »Wenn Sie es gern trinken, sagen Sie ja; wenn nicht, nein; dann mache ich es besser.«

»Sie sind sehr gütig, sehr gütig in der Tat«, antwortete Mr. Blyth und beäugte den Becher von der Seite mit etwas Konfusion und Zaudern; »aber wirklich —— obgleich ich nicht so undankbar erscheinen sollte —— ich befürchte, ich muss —— Zack, Du hast doch wohl gesagt zu Deinem Freund ——«

»Das habe ich getan«, sagte Zack und schlürfte seinen Grog mit unendlichem Wohlgefallen hinunter.

»Tatsache ist, mein teurer Herr«, ergänzte Valentin, »ich habe den schwächsten Kopf in der Welt für starke Liqueurs jeder Art ——»«

»Dies ist kein starker Liqueur«, unterbrach Mr. Marksman emphatisch und wischte mit seinen Fingern den Schaum von seines Gastes Becher.

»Vielleicht«, fuhr Mr. Blyth fort, »ich müsste sagen Grog.«

»Dies ist kein Grog«, erwiderte Mat und tippte einige Mal an den Becher.

»Nun«, rief Valentin noch erstaunter, »so sagen Sie mir doch, was es ist?«

»Indianische Mixtur«, antwortete Mr. Marksman mit drei festen Schlägen auf den Tisch.

Mr. Blyth und Zack lachten über ihren wunderlichen Freund, welcher, wie sie glaubten, einen Spaß beabsichtige.

Mat blickte aber beständig und streng von dem einen zum andern und wiederholte dann mit gravitätischer Miene: »Indianische Mixtur.«

»Was für ein kurioser Name! Wie wird sie gemacht?« fragte Valentin.

»Genug Branntwein, zu vertilgen das Wasser. Genug Rum, zu vertilgen den Branntwein und das Wasser. Genug Zitronensaft, zu vertilgen den Rum, den Branntwein und das Wasser. Und endlich genug Zucker, welcher die Herrschaft über alles erlangen muss. Das ist Indianische Mixtur«, antwortete Mr. Marksman mit vollkommener Ruhe und Überlegung.

Zack begann noch lauter zu lachen, während Mat noch viel ernster wurde. Mr. Blyth fühlte nur ein gewisses Interesse für die indianische Mixtur. Er rührte misstrauisch mit dem Löffel und fragte dann recht kurios, wie Mr. Marksman sie zu machen gelernt habe.

»Als ich aus war, dort drüben in Nord-West«, sagte Mat und deutete die genannte Himmelsgegend mit dem Kopfe nickend an.

»Wenn er sagt Nord-West und schüttelt so mit seinem alten hohlen Kopfe, da meint er Nord-Amerika«, erklärte Zack.

»Als ich aus war, in Nord-West«, wiederholte Mat gleichgültig über Zacks Unterbrechung »—— arbeitend mit der Sucherbande und unser Liqueur in der großen Kälte knapp ging, während wir den allerstärksten hätten haben müssen, da waren wir genötigt, von einem Tropfen Spiritus, einer Prise Zucker und einer großen Masse Wasser ein Getränke zu bereiten. Dies Gemisch tauften wir »Indianische Mixur«, weil es ein solch schwaches Getränk war, dass selbst ein Frauenzimmer sich nicht hätte davon betrinken können. Diese Mixtur habt Ihr jetzt vor Euch. Weil ich wusste, dass Ihr keinen ordentlichen Grog trinkt, deshalb bereitete ich Euch unser amerikanisches Getränk. Rührt es nicht solange mit dem Löffel, sonst entflieht auch noch der kleine Tropfen Spiritus. Versucht es!«

»Lasst michs versuchen —— lasst sehen, wie schwach es ist«, rief Zack, während er mit dem Löffel nach dem Glase reichte.

»Steckt Deine Nase nicht in andern ihre Töpfe«, sagte Mr. Marksman und schlug Zacks Löffel geschickt aus dessen Hand, just als er eben in Mr. Blyths Becher schöpfen wollte. »Bleib bei Deinem Grog, ich bei dem meinigen und er bei seiner indianischen Mixtur.« Mit diesen Worten legte er seinen nackten Ellenbogen auf den Tisch und beobachtete mit großer Kuriosität Mr. Blyths erstes Schlürfchen.

Der Versuch war nicht erfolgreich. Als Mr. Blyth sich zum Becher neigte, schien das ganze Wasser der Indianischen Mixtur in seine Augen und der Spiritus in seine Lunge getreten zu sein. Er schüttelte das Haupt, hustete, ward blass und rief: »Zu stark!«

»Zu heiß, meint Ihr!« sagte Mat. »Nein, in der tat —— ich meine wirklich —— zu stark«, stotterte der arme Mr. Blyth.

»Versuchs noch einmal«, flüsterte Zack, welcher sich wieder weit auf seinen Grund und Boden in die Nähe seines Glases zurückgezogen hatte. »Versuchs noch einmal, Euer Liqueur kam vorhin in die unrechte Kehle.«

»Mehr Zucker«, sagte Mr. Marksman und —— warf ein paar Klumpen in das Glas. »Mehr Zitronensaft«, er quetschte einige Tropfen hinein und »mehr Wasser«, dabei goss er ungefähr einen Teelöffel voll aus dem Kessel in Mr. Blyths Glas. »Versucht es noch einmal!«

»Ich danke, tausend Dank! Wirklich, ich muss sagen, es schmeckt mir jetzt viel lieblicher«, sagte Mr. Blyth und begann recht vorsichtig einen Löffel voll zu schlürfen.

Mr. Marksman schien über diese Bemerkung ganz außerordentlich erfreut zu sein. Er legte seine Pfeife nieder, nahm das Glas zur Hand, nickte dann zu Valentin und Thorpe, geradeso wie vorhin, als er den Nord-Westpunkt andeutete, und murmelte feierlich: »Auf unser Wohl!« Dabei leerte er sein Glas auf einen Zug bis zur Hälfte.

»Auf unser Wohl!« wiederholte Mr. Blyth tapfer nach dem Glas greifend und ohne Hilfe des Löffels trinkend.

»Auf unser Wohl!« stimmte Zack ein und leerte sein Glas bis zur Neige. »Wirklich, Mat, es ist wirklich ein ergötzlicher Anblick, dass Eure schlafenden geselligen Eigenschaften jetzt erwachen und bekunden, dass Ihr auch in das gesellige Leben eingeweiht seid. Was meint Ihr, wenn Ihr nächstens einen Ball hier gäbet? Ihr seid just der Mann, mit den Ladys zu verkehren, wenn Ihr Euch nur überwinden könntet, Euren Rock anzuziehen und Eure lohbraunen Arme vor der Öffentlichkeit zu verbergen.«

»Tun Sie es nicht, mein teurer Herr! Ich bitte Sie inständig darum, tun Sie es nicht«, rief Valentin, als Mr. Marksman eben zu einem Gefühl der Schicklichkeit erwachte, Zacks letzten Wink beachtete und seine aufgestreiften Hemdärmel herunterzog. »Bitte, bleiben Sie in Ihrer Bequemlichkeit und lassen Sie die Ärmel, wie sie waren —— bitte, tun Sie es! Als ein Künstler habe ich Ihre Arme vom professionellen Gesichtspunkt betrachtet und sehr bewundert, seitdem wir zu Tische saßen. Ich versichere Sie, bei allen meinen langen Erfahrungen in lebenden Modellen habe ich nie solch eine großartige glänzende Entwickelung der Muskeln gefunden, wie bei Ihnen.«

Mit diesen Worten bewegte er seine Hand einige mal an Mats Arme auf und ab, betrachtete sie mit halb geschlossenen Augen und seitwärts geneigtem Kopfe, just wie es eine Gewohnheit war, die Gemälde zu betrachten. Mr. Marksman starrte, schmauchte gewaltig, faltete die Objekte von Blyths Bewunderung über seine Brust, kratzte sich dann bescheiden am Ellenbogen und blickte äußerst verlegen zum jungen Thorpe. »Ja, die vortrefflichste Muskularentwicklung, welche ich je Gelegenheit zu studieren hatte«, wiederholte Mr. Blyth, trommelte mit den Fingern auf der Tafel und konzentrierte seinen kritischen Scharfsinn in ein Auge, während er das andere total schloss.

»Weg damit, Blyth«, demonstrierte Zack, »blickt nicht so eifrig auf des alten Knaben Arme, als wären es Beefsteaks! Ihr mögt von der Entwickelung seiner Muskeln so viel halten, als Euch beliebt, werdet aber nicht den geringsten Begriff davon haben, so lange Ihr sie noch nicht versuchtet. Ich sage Euch, Mat! Springt auf und zeigt ihm, wie stark Ihr seid. Entblößt Eure Zehe und zeigt sie ihm!« Dabei stieß er Mr. Marksman ganz unhöflich vom Stuhle. »Kommt her, Blyth! Geht zur Seite —— gebt ihm Eure Hände zu halten —— stellt Euch auf die Zehe seines rechten Fußes, aber wankt nicht —— Körper und Arme steif —— und —— nun! —— was sagt Ihr jetzt zu seiner Muskelentwickelung? ——« schloss Zack mit einem Tone voll erhabenen Triumphs, als eben Mr. Marksman seinen rechten Fuß, auf dem der Maler stand, zwei Fuß in die Höhe hob und den erstaunten Mr. Blyth in der Luft hielt, während er selbst ganz ruhig auf dem linken Beine stand.

Der Zuschauer, der die Vollendung dieses Kraftkunststückes betrachtete, musste sagen, dass es wohl keine komischer menschliche Figur gebe, als eben Mr. Marksman jetzt darstellte. Seine schwarze Gehirnschädelkappe hatte sich etwas seitwärts verschoben und ließ nun den Kahlkopf einige Zoll hervorblicken, das von der Anstrengung purpurrot gewordene Gesicht ging in eine wahrhaft grinsende Frage über, und die dicke, schwere, nur auf einem Beine stehende Figur vollendete noch das Lächerliche der ganzen Erscheinung. Aber dennoch war Mr. Blyth der mehr lächerlichere Gegenstand als Mat, er schwebte nervös zitternd auf Mats Fuße in der Luft und schwankte unsicher hin und her auf seiner starken Stütze; dann erfasste ihn ein Zittern und Beben, das von den Spitzen seiner schwarzen krausen Haare ausging und sich bis auf die Spitzen seiner Frackschlippen erstreckte. Dabei war sein rundes rosiges Gesicht mit den glänzenden Augen zum personifizierten Schrecken erstarrt, während die plumpen Wangen durch ein ängstliches Lächeln sich in widerliche Falten legten. Es war so ungemein absurd dass, als es der junge Thorpe erblickte, er in ein unauslöschliches Gelächter ausbrach. »Oh, Mat, Mat!« schrie Zack, in seinen Stuhl zurückfallend, »blickt ihn an! Ums Himmelswillen, blickt in sein Gesicht, bevor ihr ihn niederlasst.«

Aber Mr. Marksman wurde durch diesen Ausruf nicht im geringsten bewegt. Seine ganze Aufmerksamkeit, seine ganze Sehkraft war in diesen paar Momenten nur auf Mr. Blyths Uhrkette gerichtet. Daran hing der kleine glänzende Bureauschlüssel, über seiner Westentasche hin und her baumelnd. Als Mats rechter Fuß den Maler langsam emporhob, schwankte der Schlüssel vorwärts und rückwärts; während ihn nun Mr. Marksmans Augen recht gierig anstierten, schien er verführerisch zu sagen: »komm, nimm mich! komm, nimm mich! ——«

»Wundervoll! Wundervoll!« rief Mr. Blyth mit beruhigten und befriedigten Blicken, als er wohlbehalten niedergelassen wurde.

»Ja, ihm ist nichts unmöglich, er kann alles«, sagte Zack. »Er kann Euch mit den Zähnen an Eurer Pumphose in die Höhe heben.«

»Danke Dir, Zack, ich bin vollkommen überzeugt und befriedigt und mag nun nichts weiter versuchen«, erwiderte Mr. Blyth und kehrte in größter Eile zur Tafel zurück.

»Der Grog ist kalt geworden«, brummte Mat. »Könnt Ihrs jetzt leichter hinunter schlürfen«, ergänzte er, indem er ihm die Indianische Mixtur darreichte.

»Deliziös, köstlich«, erwiderte Blyth und trank jetzt wirklich mit Zacks Kühnheit. »Jetzt ist sie kühler, man schmeckt den Zucker. So oft ich auch gewöhnlichen Grog getrunken habe, niemals war er süß genug. Das Deliziöse hiervon ist, dass er reichlich mit Zucker versehen und nebenbei noch das Verdienst hat, was beim gewöhnlichen Grog nicht der Fall ist, ganz harmlos zu sein. Es schmeckt stark, ganz sicher, und ich bin keine starken Getränke gewohnt. Aber wie Sie gesagt haben, versteht sich, es muss harmlos sein —— ganz harmlos, ich bezweifle es nicht.« Er schlürfte noch einmal recht kräftig, um hierdurch selbst die Überzeugung von der vollendeten Harmlosigkeit der Indianischen Mixtur zu erlangen.

Während Mr. Blyth so sprach und trank und wieder sprach, suchte Mr. Marksman in seiner Hosentasche das Stückchen Wachs. In dem Augenblick schwieg Valentin, sogleich rief aber Mat sehr lebhaft: »Einen andern Toast! Einer von Euch bringt einen andern Toast aus!« wiederholte er mit barbarischer Jovialität, nahm sein Glas in die rechte Hand und behielt die linke in der Hosentasche.

»Gebt einen andern Toast, Ihr alter krakeelender Wilder!« erwiderte Zack. »Ich trinke auf einmal die Gesundheit von Fünf: Mr. Blyth, Mrs. Blyth, Madonna, Columbus und das goldene Zeitalter sollen leben —— drei vorzügliche Personen und zwei glorreiche Gemälde; fügen wir sie friedlich zusammen und trinken wir auf langes Leben, gute Gesundheit und glückliche Erfolge!« So rief der junge Gentleman und machte dabei sehr schnelle rapide Fortschritte im Grog trinken.

»Wissen Sie, ich bin ängstlich, ich muss den Platz wechseln, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Mr. Blyth, nachdem er für den soeben ausgebrachten Toast gedankt hatte. »Das Feuer hier, hinter mir, ist geworden zu ——«

»Wechselt mit mir«, fiel ihm Mr. Marksman ins Wort. »Ich sitze weder gern zu warm, noch zu kalt.«

Valentin akzeptierte das Anerbieten mit Dank. »Nebenbei, Zack, ——« sagte er, indem er sich in seines Gastfreundes Stuhl behaglich, aber vom Kamin weit entfernt niederließ, »ich war eben im Begriff, mir von unserm exzellenten Freunde hier eine Gunst zu erbitten, als Du jenen wundervollen, unvergleichlichen Beweis großer Kraft erwähntest, den wir soeben erlebt haben. Sie sind mir schon eine ganz unschätzbare Stütze und Hilfe gewesen, mein teurer Herr«, fuhr er fort, indem er sich zu Mat wandte und seine ganze gesellige Herzlichkeit entfaltete, welche durch den inspirierenden Einfluss der Indianischen Mixtur immer mehr belebt wurde. »Sie haben mir durch die Rettung meines Gemäldes eine unaussprechliche Verpflichtung auferlegt; ich bin Ihnen so viel Dank schuldig, dass ich es gar nicht wagen kann, Sie noch um eine andere Gunst zu bitten; aber wirk ——«

»Ich wünsche, Ihr könntet Euren Kopf aufschließen und sagtet mit kurzen Worten, was Ihr wollt«, unterbrach ihn Mat. »Ich bin einer von der rauhhäutigen, dickköpfigen Sorte, das bin ich. Ich bin nicht Gentleman genug, um solches Parlieren zu verstehen. Es tut mir nicht gut, es quält mich nur bis zum Schwitzen.« Dabei wischte sich Mr. Marksman mit den Hemdärmeln den Schweiß von der Stirn, gleichsam als Beweis seiner Aussage.

»Ganz recht, sehr recht!« rief Mr. Blyth und schlug ihn in der freundlichsten Art auf die Schulter.

»Nun denn, mit klaren Worten, ——- als ich vorhin erwähnte, wie sehr ich vom künstlerischen Gesichtspunkte aus Ihre Arme bewunderte, wollte ich mir nur den Weg zu der Frage bahnen, ob Sie mir wohl gütigst erlauben wollten, dass ich an Ihren vortrefflichen Armen Studien in Schwarz und Weiß machen dürfte? Nämlich als Vorbereitung zu einem großen Gemälde, das ich später zu malen gedenke. Ich meine die klassische Figurenkomposition —— Du kennst sie Zack, denn Du hast die Skizze gesehen —— wie Herkules den Erymanthischen Eber zu König Eurystheus bringt —— ein großartiges Sujet. Und unseres Freundes Arme und Brust —— in der Tat, wenn er so gütig sein und zum Sitzen einwilligen wollte —— würden mir die besten Modelle zu meinen Studien sein.«

»Was der Teufel treibt er?« fragte Mat, sich an Zack wendend, nachdem er Valentin einige Augenblicke sprachlos angestarrt hatte.

»Er will Eure Arme malen, versteht sich, wenn Ihr so gütig seid und es geschehen lasst; vorläufig versteht Ihr noch nichts davon, aber wenn Ihr zu sitzen beginnt, die Zigarre im Munde, so werdet Ihr Mr. Blyth danken, dass er einen Herkules aus Euch macht, und ihn bitten, Euch so oft als möglich das Malerzimmer besuchen zu lassen«, antwortete Zack in heiterer offener Manier.

»Was, Malerzimmer? Wo ist es?« fragte Mat noch in dunkler, fast stupider Unwissenheit, wenn auch nur scheinbar.

»Mein Malerzimmer«, erwiderte Valentin. »Wo Ihr die Gemälde saht und mir gestern den Columbus rettetet.«

Mat dachte einige Augenblicke nach, — dann fuhr er plötzlich auf und seine Augen leuchteten wieder intelligent. »Ich werde kommen«, sagte er, »sobald Ihr’s wünscht —— je eher, je besser«, schlug mit der Faust emphatisch auf den Tisch und trank dann Valentin recht herzlich zu.

»Das ist ein Wort, herzensguter Kerl!« schrie Mr. Blyth mit großem Enthusiasmus, während er in Erwiderung Mr. Marksman zutrank. »Je eher, desto besser, habt Ihr gesagt! Kommt morgen Abend!!«

»Ja wohl! Sehr wohl! Morgen Abend«, stimmte Mr. Marksman bei. Während dem arbeitete seine linke Hand in der Tasche und modulierte die plastische Substanz, welche er am Morgen im Laden gekauft, zu allen möglichen Formen.

»Ich würde Euch gebeten haben, am Tage zu kommen«, redete Valentin weiter, »aber, Du weißt Zack, ich habe das goldene Zeitalter noch zu überfirnissen und eine oder zwei kleine Stellen am Columbus zu ändern; —— und dann, zu Ende der Woche, muss ich aufs Land reisen wegen jenen Porträts, von denen ich Dir sagte, und welche nötiger sind als ich dachte. Ich möchte wohl gern die Studien von unseres Freundes Armen erst nach meiner Rückkehr machen; aber dann bin ich auch nicht für einen Tag sicher, und dann liebe ich es auch, zu guter Gelegenheit den Moment zu erhaschen, wenn ich kann, und —— und —— kurz gesagt, wenns genehm ist, lasst uns morgen Abend beginnen. Du wirst mit unserm Freunde kommen, versteht sich, Zack? Ich darf sagen, dass ich vielleicht morgen die Ordre für Dich haben werde, in dem Museum zu studieren. Aber für die Privatakademie ——«

»Keine Beleidigung! Aber ich kann nicht länger mit ansehen, dass Ihr fortwährend auf dem Grunde Eures Glases herumrührt.« Bei diesen Worten ergriff Mat Valentins Glas und goss den Rest in den Kamin, dann widmete er sich gastfreundlich der Bereitung eines zweiten Ersatzmittels des wohlschmeckenden und unschädlichen Getränks, der Indianischen Mixtur.

»Ein halbes Glas«, rief Mr. Blyth. »Schwach —— erinnert Euch meines armen Kopfes, und bitte, macht es schwach.«

Bei diesen Worten schlug die Glocke auf dem benachbarten Kirchturm.

»Nur neun«, rief Zack und blickte prahlerisch auf seine Uhr, die er Tages zuvor wieder aus dem Pfandhaus geholt hatte. »Gießt den Rum hinein, Mat, sobald Ihr’s getan habt, stellt den Kessel wieder ans Feuer —— und nun, meine Jungens, wollen wir den Abend ernsthaft verleben! ——«

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Wäre ein vierter Gentleman in der kleinen Soiree, welche Mr. Marksman und Mr. Thorpe der jüngere in ihrem Zimmer zu Kirk Street gaben, zugegen gewesen, um den Abend so zu verleben, wie es Zack nannte; und hätte dieser Gentleman die festliche Gesellschaft gegen neun Uhr verlassen —— um in den Straßen etwas frische Luft zu genießen —— und wäre wieder gegen zehn Uhr zu den lustigen Kumpans zurückgekehrt, so würde er ganz außerordentlich erstaunt gewesen sein —— vorausgesetzt, dass er kein gar zu träger Phlegmatiker wäre —— beim Anblick des sonderbaren Wechsels, welcher in dem Zeitraum einer Stunde in den Manieren und Gesprächen Mr. Valentin Blyths vorgegangen war.

Möglich, dass der schlichteste Gentleman schon durch den Geruch des heißen Grogs und des dicken Tabakdampfes, welcher das ganze Zimmer erfüllte, übermäßig gereizt worden wäre; möglich auch, dass das zweite Getränk der Indianischen Mixtur die Quantität eines halben Glases überschritten hatte, oder nicht die erforderliche wässerige Schwäche besaß und ihm demzufolge in den Kopf gestiegen war; genug, was auch die reizende Ursache gewesen sein mochte, die Veränderung, welche seit neun Uhr in seiner Stimme, seinem Blick und in seinen ganzen Manieren vor sich gegangen war, war bemerkenswert genug, um als ein moralisches Phänomen betrachtet zu werden. Er plauderte jetzt ununterbrochen über nichts weiter als über die schönen Künste. Er stritt mit seinen beiden Gesellschaftern und beharrte stolz auf seiner eignen erhabenen Klugheit, wenn irgendeiner ein Wort zu widersprechen wagte. Dabei war er bei seinen Bewegungen so geräuschvoll als Zack und so rau als Mat. Seine Haare waren über die Stirn gefallen und seine Augen blickten düster; der Halskragen hing liederlich über die Binde herab; kurz gesagt: er war nicht mehr der wahrhafte Valentin Blyth, sondern nur noch ein benebeltes Konterfei desselben.

Der junge Thorpe hatte, trotz der leichten Wandelbarkeit seines Gehirns, welche ihm von Natur eigen war, den ganzen Abend hindurch wacker mit getrunken, mit gestritten und an allem Teil genommen. Jetzt aber veränderte sich seine Gemütsstimmung fortwährend, —— in einem Moment war er unerträglich geräuschvoll und lärmend, im andern schien er wieder in die tiefsten Tiefen der Träumerei versunken zu sein. Mr. Marksman allein blieb beständig unverändert. Da saß er —— unbekümmert um das hinter ihm flammende Feuer —— noch dann und wann mit der linken Hand in die Tasche greifend —— rauchend, trinkend und starrte mit seinem mürrischen Selbstbewusstsein seine beiden Gesellschafter an.

»Da schlägts zehn«, murmelte Mat, als die Glocke schlug. »Ich sagte, wir wollen bis zehn Uhr fröhlich sein. Wir sind es.«

Zack nickte feierlich und starrte eine hervor rollende leere Flasche an. Er war wieder in einen andern unergründlich tiefen Gedanken versunken —— Der sechste binnen einer halben Stunde.

»Haltet beide Euer Maul!« schrie Mr. Blyth. »Ich bestehe auf Erklärung, des disputierten Punktes, ob wir Maler nicht ganz ebenso abgehärtet und stark wie andere Menschen sind. Ich bin selbst Maler und sage, es verhält sich so. Wenn ich auch in allen andern Dingen mit Euch übereinstimme, —— denn Ihr seid die zwei besten Kerls von der Welt —— hierin aber nicht; und wenn Ihr sagt, ist nicht —— so sage ich doch —— ist. —— Seit ruhig und blickt mich an!! Wir Maler sind die Götter der Erde! —— Ihr mögt lachen oder nicht, —— wir sinds!! Ihr mögt stundenlang von großen Generälen und Ministern sprechen —— die beiden glorreichen Namen Michelangelo und Raphael stellen sie alle in Schatten, und Eure Argumente sind direkt widerlegt. Als Michelangelos Nase zerbrochen war, glaubt Ihr, er beachtete es? Blickt auf sein Leben und seht, ob ers tat! Das ist alles! Mein Gemäldesaal ist vierzig Fuß lang, und das ist jetzt ein wichtiger Beweis. Als ich den Columbus und das Goldene Zeitalter malte, stand eins an diesem Ende —— Nord, und das andere an jenem —— Süd. Sehr gut. ich ging unaufhörlich zwischen den beiden Gemälden vorwärts und rückwärts, von einem zum andern, und ruhte keinen Tag lang. Dies ist eine Tatsache, und der Beweis ist, dass ich an beiden gleichzeitig arbeitete. Einen Pinselstrich an Columbus. —— einen Gang in die Mitte des Zimmers, um den Effekt zu sehen —— umgedreht —— einen Gang nach dem Goldnen Zeitalter —— einen Pinselstrich an dem Goldnen Zeitalter —— einen andern Gang wieder in die Mitte des Zimmers, um den Effekt zu sehen —— wieder umgedreht —— und zurück zum Columbus. Fünfzehn Stunden täglicher Studien, übereinstimmend mit der Berechnung eines meiner Freunde und einschließlich der zahlreichen Gänge, welche ich auf meiner tragbaren Treppe auf und ab machen musste, um an den obersten Teil des Columbus zu gelangen —— ist nicht ein solcher Mann, der dies vermag, stark und abgehärtet? —— Stark? Ha! ha! ha! O, ich fühle meine Beine, Zack. Sind sie stark und muskulös, oder nicht? ——«

Bei diesen Worten schlug er mit seinem Löffel den jungen Thorpe recht hart an den Kopf und versuchte hurtig aus dem Sessel zu springen, taumelte aber so ungeschickt, dass er seinen Teller mit den schmierigen Resten Leber und Speck herunter warf. Zack erwachte aus seinem Dusel, setzte und kniff Valentin mit solch kräftiger Malice in die Beine, dass er laut aufschrie vor Schmerzen. In dieser ganzen Zeit saß Mr. Marksman ganz unbeweglich ernsthaft auf seinem Platze nächst dem Feuer. Jetzt stieß er ruhig Mr. Blyths zerbrochenem mit Speck und Leber, Messer und Gabel herunter gefallenen Teller in die zeitweilige Vorratskammer unter dem Tische —— und schmauchte ruhig und ernsthaft weiter wie immer.

»Eure Beine, in der Tat«, rief Zack und stieß Valentin wieder in den Stuhl zurück, »steckt sie gleich wieder unter den Tisch, oder ich werde ernsthaft mit Euch zusammenkommen. Ich frage Euch, Mat, wisst Ihr, weshalb Mr. Blyth stets solch infernalisch enge und dicke Pluderhosen trägt? —— Ich kann Euch sagen —— er ist außerordentlich stolz auf seine Beine!«

»Nein!« schrie Valentin und schlug mit der Faust heftig auf die Tafel. »Es ist meine Idee des Kostüms, auf das ich stolz bin, weil es mit dem Fortschritt des Zeitalters harmoniert. Als ein Künstler verharre ich bei den ewigen Prinzipien des Geschmacks, welche darin bestehen, dass die Kleidung den Linien der menschlichen Form folgen muss. Ich sagte meinem Schneider Trimbry gleich anfangs, dass ich niemals meine Beine in ein paar Säcke stecken würde. Ich sagte ihm, dass ich mich nicht um die wechselnden Moden stimmte, machte Zeichnungen und lehrte ihn die Anatomie der menschlichen Beine, brachte ihn zum Nachdenken, und was ist die Folge? Trimbry ist einer der außerordentlichsten Charaktere, die ich kenne. Er ist der einzige Mann in England, welcher mich mit einer gut sitzenden Hose versehen kann; und wie merkwürdig —— er kann sie nur dann machen, wenn er betrunken ist.«

»Oh——h——h! Welch eine unglaublich interessante Anekdote!« rief Zack spottend und lachend.

»Es ist wahr!« schrie Mr. Blyth. »Seid ruhig und ich werde es beweisen. Trimbry diniert um die Mittagszeit. Vor derselben ist er stets nüchtern und stupid, nach dem Mittagsessen aber stets betrunken und intelligent. Hört, jetzt komme ich auf den Hauptpunkt. Als er mir einstmals eine Hose brachte, baumelte sie an den Knien und schlug an der Hüfte eine Fuß lange Falte. Mr. Trimbry, sagte ich, was meint Ihr dazu? Sir, erwiderte er, ich kann Sie nicht auf gemeine Art betrügen. Das ist die erste Hose, welche ich vor meinem Mittagsmahl für Sie zuzuschneiden versuchte, und kurz gesagt, ich habe mich vermessen. Wenn Sie mir diesen Irrtum gütigst verzeihen wollen, so verspreche ich, treu und wahr, dass es niemals wieder vorkommen soll. Versteht sich, ich entschuldigte ihn, und der Irrtum hat sich nie wieder ereignet. Nun möchte ich gern wissen, ob irgendjemand etwas darüber zu sagen hat?«

Als Valentin schwieg, schob ihm Mr. Marksman höflich ein anderes Glas der Indianischen Mixtur hin, das er während Valentins Rede bereitet hatte. Die Wirkung dieser Handlung der Gastfreundschaft war sehr wohltuend und schmeichelnd. Er hatte in den letzten zehn Minuten sich immer mehr an Zack gewandt und nur mit ihm disputiert. Als er aber jetzt niederblickte, und der duftende Wohlgeruch der Mixtur in seine Nase strömte, entfaltete sich sein Antlitz zu einem sehr genialen und wohlwollenden Lächeln. Während seine linke Hand den Becher zitternd zu den Lippen führte, reichte er mit der rechten über den Tisch, streckte sie Mr. Marksman brüderlich entgegen und sagte zärtlich:

»Mein teurer Freund! Wie gütig sind Sie!« Er setzte das Glas wieder nieder und wandte sich jetzt von Zack ganz weg, schien überhaupt vergessen zu haben, dass noch solch eine Person wie der junge Thorpe im Zimmer anwesend sei »—— Mein teurer Freund! Bitte, wie bereiten Sie die Indianische Mixtur?«

»Er hat’s Euch schon gesagt!« rief Zack und warf ein Stück Zitronenschale in Valentins Gesicht.

»Er hat‘s mir schon gesagt«, echote Mr. Blyth mit honigsüßer Stimme und nahm gar keine Notiz von Zacks geworfener Zitronenschale.

»Ich sage Euch, Mat, lasst das Schmauchen sein, zum Henker damit! Erzählt uns etwas!!« rief der junge Thorpe. »Erzählt uns eine von Euren schreckenerregenden Geschichten, oder Blyth wird wieder mit seinen verkrüppelten Beinen prahlen und, ehe wir ihm das Maul stopfen können, wieder von Trimbry, dem Schneider schwatzen. Redet, Mat! Erzählt uns die schauerliche Geschichte, wie Ihr Euren Skalp verlort.«

»Wie Ihr Euren Skalp verlort —— oh?« wiederholte Valentin in sanftem melodiösen Tone, schlürfte behaglich seine Mixtur, lehnte seinen Kopf still an die Wand zurück und nahm nicht die geringste Notiz mehr von Zack.

Mat legte seine Pfeife nieder , blickte Mr. Blyth sehr aufmerksam an —— und begann dann mit beispielloser Bereitwilligkeit und Gelehrigkeit seine Geschichte, ohne noch eine andre Nötigung zu erwarten. Zack bereitete sich vor, alles in vollkommener Bequemlichkeit mit anhören zu können; er drehte sich seitwärts an der Tafel, den Rücken nach Valentin gewandt und streckte seine großen Beine recht behaglich nach ihrer vollen Länge auf dem Fußboden aus.

Mr. Marksman war sehr interessant und unterhaltend, wenn er seine eignen Erlebnisse berichten. Aber in diesem besonderen Falle dehnte er sonderbarerweise seine Erzählung zu langweiliger, ermüdender Breite aus. Anstatt in gedrängter Kürze das furchtbar schreckliche Abenteuer zu berichten, verweilte er jetzt bei den unbedeutendsten und kleinsten Einzelheiten der mörderischen Jagd, welche ihm beinahe das Leben gekostet hatte. Dabei erzählte er eins nach dem andern in schwerem summenden Tone her, ohne die Stimme auch nur im geringsten zu ändern. Nach etwa zehn Minuten langer schläfriger Ausdauer der Geschichtsstrafe, welche Zack sich selbst auferlegt hatte, begann auch er in das Reich der Träume zu versinken, aber ein ziemlich starkes Schnarchen dicht hinter ihm brachte ihn plötzlich wieder zur Besinnung. Er blickte um sich und fand Mr. Blyth mit weit geöffnetem Munde und den Kopf an die Wand gelegt —— tief und sanft schlafend.

»Halt!« flüsterte Mat, als Zack eben eine ausgepresste halbe Zitrone in Mr. Blyths Mund stecken wollte. »Weck ihn nicht auf. Willst Du um Austern mitspielen?«

»Spielen? Ich dachte, ich wäre bereit«, erwiderte Zack. »Gebt uns ein Gericht —— Sally liegt um diese Zeit schon im Bett —— Ich werde gehen und ihn herausholen. Aber, ich sage, ich scheue mich doch.«

»Hol die Austern erst«, sagte Mat und brachte vom Kredenztische eine gelbe Schüssel. »Lassen wir ihn erwachen mit einer kalten Auster im Munde. Komm! Ich will Dich zur Treppe hinabbegleiten, das Licht unten stehen und die Tür halb geöffnet lassen, dass Du wieder ruhig hereinkommen kannst. Standhaft, Junge! und wenn Du über den Weg gehst, denk an die Schüssel.« Mit diesen Worten verließ Mr. Marksman unten an der Haustür Zack und eilte sogleich wieder zu seinem Gast herauf.

Valentin schlief noch fest und schnarchte sehr stark. Mat griff sogleich in die Tasche und holte sein am Morgen gekauftes Stückchen Wachs heraus. Dann ergriff er Mr. Blyths Uhrkette und drückte mit dem daran befindlichen Bureauschlüssel ein Modell in das weiche Wachs; dieses erhaltene Modell steckte er in eine zinnerne Tabaksschachtel und die Schachtel in die Tasche, dann nahm er ruhig seinen alten Platz wieder ein.

»Nun«, sagte Mat, indem er den schlafenden Mr. Blyth betrachtete und seine Pfeife wieder anzündete, »nun, Maler! Erwacht, sobald es Euch beliebt.«

Es dauerte nicht lange, so kehrte Zack zurück. Ein heftiger Stoß an die Haustür zeigte seinen Eintritt an —— ein starkes Stolpern und konfuses Gerassel markierte seine Anwesenheit auf der Treppe —— ein schrillender Krach, ein schwerer Fall und ein brüllendes Gelächter verkündete seine Nähe unweit der Tür. Mat rann sogleich hinaus und fand ihn auf dem Flur liegend, die schöne gelbe Schüssel in Scherben und ein Dutzend Austernschalen nach allen Richtungen zerstreut.

»Verletzt?« fragte Mat, packte ihn beim Kragen und schleppte ihn ins Zimmer.

»Nicht im geringsten«, antwortete Zack so herzlich lachend, als wäre sein Fall ein ergötzlicher Scherz gewesen. »Ich habe Mr. Blyth aufgeweckt (welch schlechtes Missgeschick) und unsern Spaß mit der kalten Auster verdorben; habe ich’s nicht! Oh Gott! wie er starrt!«

Valentin war wirklich starr. Er hatte sich aufgemacht, an der Wand angelegt und blickte jammervoll umher. Entweder sein Schlummer oder die plötzlich lärmende Manier, durch die er erweckt wurde, hatte diese traurige Veränderung erzeugt. Als er inneward, durch was für eine Schwäche er sich hatte überwältigen lassen, verließ ihn alle Kordialität und Gesprächigkeit. Er schüttelte sein Haupt traurig, sagte, dass seine Verdauung in Folge des Trinken ganz gestört sei, und bestand darauf, direkt nach Hause zu geben, mochte Zack auch sagen, was er immer wollte. Der Hausherr, welchen das große Geräusch aus dem Laden heraufgetrieben hatte, wünschte, dass die Gesellschaft bald geschlossen würde, bevor noch mehr Grog getrunken werden möchte; er lief diensteifrig wieder zur Treppe hinab und rief einen Droschkenkutscher. Dies Manöver glückte. Als Mr. Blyth das Rollen des Wagens vor der Tür hörte, schrie er peremtorisch nach Hut und Rock und, nach einigen freundschaftlichen Einwendungen half ihm Mr. Marksman selbst mit der aufmerksamsten höflichsten Manier in den Wagen.

»Seht, ob oben die Lichter aus sind und der Junge im Bette liegt, wollt Ihr?« sagte Mat zu seinem Mietsherrn, als sie zusammen vor der Haustür standen. »Ich will meinen Dampf ins Freie blasen und noch einen Spaziergang in frischer Luft machen.«

Mit diesen Worten wanderte er eilig weiter, als er aber ans Ende der Straße kam, ging er nicht nördlich nach dem Felde und von woher die kalte erfrischende Luft wehte, sondern wandte sich südlich nach dem schmutzigsten kleinen Gässchen in der Nachbarschaft, in welche die barmherzige frische Luft schon seit vielen Jahren hineinzuwehen versucht hatte, aber stets von dem furchtbaren Schmutze und den beinahe mephitischen Dünsten dieses Distrikts stets gehörig zurückgewiesen wurde.

Mit noch schnelleren Schritten richtete jetzt Mr. Marksman seinen Gang nach jener Reihe kleiner schmutziger Häuser, welche er schon am Morgen besucht hatte, und stand dann zum zweiten Mal vor dem Eisenwarenladen. Er war verschlossen, aber ein düsteres Licht glimmte durch das Schlüsselloch. Und als Mat mit seinen Knöcheln an die Türe klopfte, ward sie sogleich von demselben schmutzigen Buckeligen geöffnet, mit dem er am Morgen einige Zeit konferiert hatte.

»Bekommen es?« fragte der Buckelige in sonderbar klagender Weise, als die Tür geöffnet ward.

»Jawohl, jawohl«, antwortete Mat in seinem rauen tiefen Basston und reichte dem buckeligen Manne die zinnerne Tabakschachtel.

»Wir sagten zu morgen Abend, sagten wir nicht?« sprach der Buckelige.

»Nicht später als sechs!« fügte Mat hinzu.

»Nicht später als sechs«, wiederholte der andere und schloss die Tür sanft zu, als Mr. Marksman auf die Straße trat und nun wirklich nordwärts die frische kühlende Luft aufsuchte.



Kapiteltrenner

Drittes Kapitel - Die Gartentür

»Gut oder übel, ich versuchs diese Nacht.« Dies waren die ersten Worte, welche am Morgen nach Blyths Visite aus Mr. Marksmans Lippen kamen, als er allein mitten unter den festlichen Überbleibseln des vergangenen Abends in seinem Zimmer zu Kirk Street stand. »Diese Nacht«, wiederholte er, zog seinen Rock aus und präparierte ihn zu seiner heutigen Toilette in einen Eimer kalten Wassers mit Hilfe einer kurzen Stange gelber Seife.

Obgleich noch frühe, war sein Geist doch schon einige Stunden mit Betrachtungen über die zweite Schwierigkeit, welche zwischen ihm und dem Besitz des Haarbracelets stand, beschäftigt gewesen, auf welche Art diese Schwierigkeit am besten zu überwinden sei. Das erste Haupterfordernis zu Ausführung des Planes hatte er bereits erlangt, wie war es aber am leichtesten zu benutzen? Er wusste, dass der falsche Schlüssel diesen Abend in seine Hand gelangen werde, wie aber sollte er ihn benutzen, ohne vom Eigentümer oder andern Personen des Hauses entdeckt zu werden?

Für diese soeben aufgetauchte wichtige Frage konnte er keine bessere Antwort finden, als die in den vorhin gewisperten Worten lag. Entweder Erfolg oder Missgeschick, —— er war entschlossen, den Versuch zu machen. Auf einen definitiven Plan hatte er verzichtet, er wollte dem ersten besten glücklichen Zufall vertrauen, welchen der Abend bringen möchte. »Ich habe doch bei hellem Tageslicht die Lokalitäten des Zimmers, das sie Gemäldesaal nennen, hinreichend beschaut«, dachte Mat, welcher noch hartnäckig die ihm bevorstehende Schwierigkeit hin und her erwog, während er sein Gesicht eben in zwei Hände voll zischenden Seifenschaums tauchte. ——

Er war noch eifrig mit Waschen in kaltem Wasser beschäftigt, als ein lautes Gähnen im nächsten Zimmer, welches nach und nach in ein schreckliches Geheul überging, Zacks Erwachen ankündigte. Einige Minuten später erschien der junge Gentleman in seinen Schlafrock gehüllt an der Tür, aber in düsterer Gemütsverfassung. Seine Augen waren rot unterlaufen und blinzelten, seine Wangen scheckig und aufgedunsen, die Haare verwirrt und schmutzig. Mit der einen Hand hielt er die Stirn, jammerte fortwährend und stellte so ein abschreckendes Bild der Trunkenheit dar.

»Oh Gott, Mat!« wimmerte er, »mein Kopf will bersten.«

»Tauch ihn in einen Eimer voll kalten Wassers und geh dann mit mir spazieren,« sagte sein Freund.

Zack befolgte diesen Rat wohlweislich. Als sie Kirk Street verließen, lenkte Mat den Gang so, dass sie bei Blyths Hause vorbei mussten, um ins Feld zu kommen. Wie er vermutete, machte der junge Thorpe den Vorschlag, eine Minute einzukehren, um zu sehen, wie sich Mr. Blyth nach den Festivitäten dies vergangenen Abends befinde und sich zu vergewissern, ob er noch geneigt sei, Mr. Marksmans Arme diesen Abend zu malen.

»Ich argwöhne, Ihr brautet die Indianische Mixtur nicht so schwach, als Ihr sagtet«, bemerkte Zack schlau, indem er an der Türklingel zog. »Es war ein schlechter Spaß. Aber wirklich, Blyth ist ein solch gutherziger Kerl, dass es zu schlecht scheint —— kurz, tut es nicht wieder, Mat, das ist alles, was ich wünsche.«

Mr. Marksman leugnete mürrisch jede Absicht ab, als habe er den Gast betrügen und ihn zu starkem Liqueur verführen wollen. Sie gingen in den Gemäldesaal und fanden Mr. Blyth dort, aber blass und zerknirscht, jedoch sich männlich vorbereitend, das Goldne Zeitalter zu lackieren, obgleich seine Hände zitterten und seine zusammengezogenen Augenbrauen Kopfschmerz verrieten.

»Ah Zack, Zack! ich müsste Dich hofmeistern über gestern Abend«, rief Valentin, »aber ich habe nicht das, Recht dazu, denn ich bin ja der schlechteste von uns beiden. Mir ist abscheulich übel diesen Morgen; das ist’s, was ich verdiene. Ich schäme mich vor mir selbst, und das verdiene ich ebenfalls. Nicht ein Fingerhut voll Spiritus soll jemals wieder über meine Lippen kommen. Ich werde für meine ganze Lebenszeit bei meiner Limonade und meinem Tee bleiben. Nie wieder Indianische Mixtur! Nicht, mein teurer Herr ——« fuhr Valentin fort, sich an Mr. Marksman wendend, welcher eben einige verstohlene Blicke nach dem Bureau geworfen hatte, »—— nicht, mein teurer Sir, als wollte ich Sie blamieren, oder als zweifelte ich daran, dass Sie das Getränk, welches Sie so gütig waren für mich zu mischen, nicht schwach gering gemacht hätten, aber für Leute mit stärkeren Köpfen als der meinige; —— Nein! es war nur mein eigener Fehler, mein Mangel an Vorsicht. Und wenn ich nicht vergangene Nacht schlecht aufgeführt habe, was ich überzeugt bin getan zu haben, so bitte ich Sie um Verzeihung ——«

»Unsinn!« schrie Zack, welcher sah, dass Mat sich wegbewegen wollte, statt eine Antwort zu geben. »Unsinn! Ihr wart ein vortrefflicher Gesellschafter. Wir waren drei ausgezeichnete Geister, und Ihr wart Numero Eins von dem geselligen Trio. Weg mit Melancholie! Lasst uns diese Nacht eine mäßige Orgie halten, um Buße zu tun für die vergangene Nacht. Seid Ihr noch geneigt, Mats Arme zu malen? Es wird ihm Vergnügen bereiten, zu kommen, und mir ebenfalls. Wir werden uns vortrefflich aufheitern, aber nur mit Weißbrot, Tee und Wasser.«

»Versteht sich, ich habe noch dieselbe Absicht«, erwiderte Mr. Blyth. »Ich hatte noch meine volle Besinnung, als ich Dich und Deinen Freund zum Abend einlud. Ich werde nicht fähig sein, viel zu tun an der Zeichnung, fürchte ich, denn ein dieser Morgen angekommener Brief ruft mich eilig aufs Land. Eine andre Porträtarbeit erwartet mich morgen. Es ist mir sehr unpässlich und niemals in meinem Leben fühlte ich mich so unwillig, mein Haus zu verlassen als eben jetzt. Ich bin höchst unruhig darüber —— und kann doch nicht sagen, warum ich’s bin. Dessen ungeachtet, es gibt Geld zu verdienen, ich muss annehmen und gehen.«

»Warum?« fragte Zack, »warum wollt Ihr gehen, wenn Ihr’s nicht gern tut? Ihr braucht das Geld so nötig nicht.«

»Ah, ich muss«, sagte Valentin. »Still! Sag kein Wort zu Lavinia (hier ging seine Stimme in ein bloßes Gewisper über). Ich habe die silberne Jagdvase bestellt, von der ich neulich zu Dir sprach. Es ist just so ein Stück, wie sie es liebt, und es wird eine schöne Zierde ihres Zimmers werden.«

»Wie teuer?« fragte Zack in vertraulichem Geflüster. »Schrecklich, Zack, dreißig Guineen!« erwiderte Mr. Blyth schwer atmend. »Zwei oder drei Porträts werdens decken —— das ist mein Trost. Vier davon habe ich in Aussicht, wenn ich diese Lohnarbeit verrichte. Du siehst also, ich muss gehen, ob gern oder nicht, oder renne in Schulden, wozu ich nicht den Mut habe; beileibe nicht. Ich kann diesen Abend nur die Außenlinien der Arme Deines Freundes zeichnen und muss mir die übrige Arbeit bis nach meiner Rückkehr vorbehalten. —— Soll ich die Skizze für Sie herunternehmen mein teurer Sir, dass Sie dieselbe näher, betrachten können?« fragte Valentin Mr. Marksman mit lauter Stimme. »Ich wage zu denken, dass es eine meiner gewissenhaftesten Studien der wirklichen Natur ist.«

Während Mr. Blyth und Zack vorhin zusammen leise sprachen, war Mr. Marksman von ihnen weg bis zum Ende des Zimmers gegangen und vor einer Tür stehen geblieben, welche an der Innenseite mit Eisenplatten, oben und unten mit Riegeln versehen war und aus dem Studierzimmer in den hinteren Garten führte. Über dieser Tür hing eine große Kreidezeichnung, —— die gewissenhafteste Studie der wirklichen Natur, welche Valentin meinte und von der er glaubte, sie sei das spezielle Objekt von Mats Betrachtung.

»Nein, Nein! bemüht Euch nicht, jetzt die Skizze zu holen«, antwortete Zack wieder für seinen Freund.

»Wir gehen aus, um uns durch eine lange Promenade zu erfrischen und können hier nicht länger verweilen. Beliebt’s Euch, so kommt mit uns.«

»Nein! ——« Valentin wollte in den ersten zwei Stunden das Zimmer noch nicht verlassen.

»Ihr tätet besser«, drängte Zack. »Ihr braucht keineswegs immer zu studieren, wenn man ein so fruchtbarer Mann ist, wie Ihr seid. Oder halt! Wenn Ihr durchaus nicht mit spazieren wollt, was sagt Ihr zu einem Hockspringen im Garten, um die Spinnwebe aus Eurem Gehirn zu fegen? Ich habe Eure Praxis seit wer weiß wie lange nicht gesehen. Kommt mit! Mat ist steif im Springen, aber er hat einen famosen Rücken.« Bei diesen Worten rann Zack an die Gartentür, nur sie aufzuschließen.

»Nein, nein!« rief Mr. Blyth. »Kein Hockspringen heute. Ich kann auch nicht angestrengt exerzieren, wenn ich Kopfweh habe. Geht, macht Euren Spaziergang und kommt gegen sieben Uhr wieder, aber keiner weiter als Ihr beiden. Ich werde bis dahin wieder wohl sein, ich hoffe es, und werde mich freuen, Euch wieder zu sehen.«

»Nun, Mat«, rief Zack, »was in aller Welt starrt Ihr an? Die Gartentür oder die Skizze?«

»Das Gemälde, versteht sich«, antwortete Mr. Marksman mit ungewöhnlicher Schärfe und Reizbarkeit.

»Es soll für Sie heruntergenommen werden, damit Sie es diesen Abend näher betrachten können«, sagte Mr. Blyth, vergnügt über den Eindruck, den seine Skizze auf Mat gemacht hatte.

»Wie befinden sich die Ladies?« fragte Zack, als er mit seinem Freunde das Studienzimmer verließ. Dann flüsterte er leise zu Valentin: »Vermutet Mrs. Blyth etwas über die Indianische Mixtur?«

»Vermuten?« erwiderte Valentin erstaunt. »Ich habe ihr diesen Morgen alles haarklein erzählt.«

»Ich werde es sehen, wenn ich diesen Abend hinaufkomme«, dachte Zack und war doch etwas erschrocken über den neuen Beweis vollkommener Offenheit, welche zwischen dem Maler und seiner Gattin stattfand.

Nachdem sie Mr. Blyths Atelier verlassen hatten, durchwanderten der junge Thorpe und sein Kompagnon einen teilweise überbauten Gang, welcher aus Valentins hinteren Garten heraus auf die Straße und ins Feld führte. Kaum hatten sie sechs Schritte getan, so wurde Mat, welcher im Hause so unbegreiflich schweigsam und stupid gewesen war, jetzt ebenso unbegreiflich redselig und spaßhaft.

Zuerst bestand er darauf, die an Valentins Mauer liegenden Holzstücke, welche zum Bau eines Hauses verwendet werden sollten, zu besteigen, dann über die Mauer zu blicken, um zu sehen, was für eine Art Garten der Maler habe. Zack zerrte ihn bei den Rockschlippen herunter, aber Mats scharfes Auge hatte schon den ganzen Garten überblickt, den Gang, welcher nach des Malers Studienzimmer führte, und ja sogar die messingenen Handgriffe nicht außer Acht gelassen.

Als er nun endlich zum Weitergehen gleichsam gezwungen ward, begann er wieder recht hartnäckig und inquisitorisch allerlei zu fragen, ganz so wie am Tage der Gemäldeschau. Zuerst wünschte er zu wissen, ob etwa fremde Gäste heute Abend bei Mr. Blyth erscheinen würden. Dann erinnerte er daran, dass Valentin beim Abschied gesagt: Niemand anders als wir selbst, und ob etwa des Malers Frau im Saale erscheinen würden. Nachdem Zack diese Fragen verneint hatte, ging Mat zur dritten über und wünschte zu wissen, ob vielleicht das junge Frauenzimmer, so nannte er Madonna, beständig mit Mrs. Blyth oder allein in der Gesellschaft erscheinen würde?

Über die letzte Frage peinigte Zack seinen Kompagnon wieder mit jenen vielen schlechten Witzen, welche er schon vorher über Mats verzehrende Leidenschaft für Madonna gemacht hatte. Mr. Marksman ließ ihn wie gewöhnlich gehen und ganz nach seines Herzens Befriedigung Unsinn treiben, führte aber zuletzt durch seine Geduld doch die gewünschte Antwort herbei. Der junge Thorpe ward wieder auf kurze Zeit vom gesunden Menschenverstand erleuchtet und informierte ihn nun, dass Madonna, ausgenommen nur unter ganz außerordentlichen Umständen, niemals den Gemäldesaal abends besuche, wenn Mr. Blyth Gesellschaft halte. »Aber, freut Euch, Cupido«, fügte Zack, wieder in seinen Unsinn fallend, hinzu; »Ihr sollt Euch nicht unbemitleidet über sie härmen, wenn ich helfen kann. Ich werde hinauf zu Mrs. Blyth gehen und Madonna auf irgendeine Art herunter in den Saal führen. Sie wird dann Eure Augen blenden und Euer altes ledernes Herz soll durch und durch gefesselt werden. Dann werdet Ihr hinreichend befähigt sein, die lange und ehrenvolle Liste von Madonnas Verehrern zu vermehren.«

Mat nahm von dem letzten absurden Geschwätz gar keine Notiz, sondern ging sogleich zu neuen Fragen über.

Jetzt wünschte er zu wissen, um welche Zeit Mr. Blyth und seine Familie gewöhnlich zu Bette gingen. Und als Zack sein größtes Erstaunen über diese Frage äußerte, bemerkte er, dass er nur deshalb gefragt habe, um die richtige Stunde zur Verabschiedung zu wählen. Als der junge Thorpe diese Antwort hörte, erzählte er bereitwillig und sorglos wie gewöhnlich, dass des Malers Familie regelmäßig noch vor elf Uhr zu Bett ginge; fügte auch noch hinzu, dass es wohl ganz besonders notwendig sei, den Studiensaal frühzeitig zu verlassen, weil Valentin wahrscheinlich morgen aufs Land reisen und den ersten Morgenzug benutzen werde.

Mats nächste Frage erfolgte erst nach einigen Minuten Stillschweigens. Möglicherweise dachte er darüber nach, in welch beste Form er sie wohl kleiden möchte. Wenn dies der Fall war, so entschied er sich endlich für die möglichst kürzeste Form des Ausdrucks, denn er fragte nur mit den Worten, was für eine Art Frauenzimmer des Malers Weib sei.

Zack antwortete charakteristisch mit der höchsten Lobrede auf Mrs. Blyth, ging dann von der Lady zur Beschreibung ihres Wohnzimmers über und schilderte es als außerordentlich glänzend und schön.

Mat horchte aufmerksam, dann sagte er, er vermute, Mrs. Blyth sei den Kuriositäten zugetan und liebe allerlei fremde Nippsachen. Zack beantwortete diese Frage nicht bejahend, sondern fügte nur hinzu, er glaube, dass diese erwähnten Kuriositäten und Nippsachen sie am Leben erhielten und amüsierten. Dann schweifte er zu einer langen Erzählung ab über der armen Mrs. Blyth erste Krankheit, und nachdem er diesen traurigen Gegenstand erschöpft hatte, endete er mit der Ansprache an Mr. Marksman, die Konversation auf einen weniger trauervollen Gegenstande zu führen.

Auch Mat schien dieses Thema fallen lassen zu wollen, denn er versank abermals in Stillschweigen. Er machte weder einen Versuch, die Konversation zu wechseln, noch stellte er eine weitere Frage, ja, er äußerte kein Wort, keinen Laut mehr.

Nachdem Zack es vergeblich versucht hatte, ihn wieder ins Plaudern zu bringen, zündete er sich aus Verzweiflung eine Zigarre an, und so wanderten sie stillschweigend weiter. —— Mr. Marksman die Hände in den Taschen, blickte beständig zur Erde und schien so ganz von der Außenwelt abgezogen und in sein tiefstes Innere versenkt zu sein, als machte er die tiefsten Studien. Als sie in die Nähe von Kirk Street kamen, begann Mat allmählich wieder über verschiedene gleichgültige Gegenstände zu reden, ohne sich weder über Mr. Blyth, noch über dessen Familie zu befragen. Sie erreichten ihr Logis erst gegen halb fünf Uhr. Zack ging in das Schlafzimmer, um seine Hände zu waschen. Währenddessen nahm Mr. Marksman die schon bekannte Ledertasche aus der Ecke, holte den Federfächer und den indianischen Tabaksbeutel heraus und wickelte beide in ein Papier. Dann rief er Zack und sagte ihm, dass er in eine Barbierstube gehen und sein Gesicht rein rasieren lassen wolle, bevor sie zu Mr. Blyth gingen. Nach diesen Worten verließ er mit seinen zwei Paketen in der Hand das Haus.

»Wenn alles fehlschlägt, so versuche ich’s diese Nacht mit der Gartentür«, sagte Mat zu sich selbst, und verfolgte die Richtung nach dem bekannten Eisenwarenladen. »Dies wird mir den Maler gewinnen und das wird ihm Zack später senden«; dabei steckte er Fächer und Tabaksbeutel in seine Rocktaschen. Ein schlaues Lächeln überflog seine Lippen, als er beide Gegenstände auf diese Art verbarg, aber es verschwand bald wieder und ging in ein kurioses Zusammenziehen des oberen Gesichtsteiles über. Er murmelte noch einmal den Namen Marie, welcher so oft über seine Lippen gekommen war, und beschleunigte dann rein mechanisch seine Schritte, wie es seine Gewohnheit war, wenn ihn etwas beunruhigte.

Als er den Eisenladen erreichte, fand er den Buckeligen mit der zinnernen Tabakschachtel in der Hand an der Tür. Bei dieser Gelegenheit wechselten beide nicht ein Wort zusammen. Der schmutzige Ladendiener rasselte triumphierend mit der Schachtel und händigte sie dann seinem Kunden ein; Mat griff in seine Westentasche, winkte und überreichte ihm ein Goldstück. Nach dieser kurzen Zeremonie des Gebens und Nehmens schieden Beide, ohne sich ein einziges Abschiedswort zu sagen; der Buckelige ging an seinen Ladentisch und Mr. Marksman nach einer Barbierstube.

Auf dem Wege zum Barbier öffnete Mat die Schachtel einen Augenblick, nahm den falschen Schlüssel heraus, welcher, obgleich von schlechterem Metall, doch ebenso glänzte wie das Original, und steckte ihn sorgfältig in seine Westentasche. Dann ging er in einen Kaufladen und kaufte ein Wachslicht und eine Schachtel Zündhölzer. »Die Gartentür ist fest; ich werde es mit der Gartentür versuchen«, dachte Mr. Marksman, als er sich in der Barbierstube auf den Stuhl setzte und Ordre zum Rasieren gab.

Punkt sieben Uhr klingelten Mr. Blyths Gäste an der Tür. Als sie in die Halle getreten waren, flüsterte Mat zu Zack: »Hier war’s, wo das alte Weib Euch anpackte und sich wie eine Närrin benahm? ——«

»Ja, ja, aber sagt Blyth nichts davon. Er ist der alten Mutter Peckover ungemein zugetan und würde gewiss mit mir böse werden, wenn er wüsste, dass ich mit Euch meinen Spott über sie getrieben hatte.«

Als sie in den Studiensaal traten, fanden sie Mr. Blyth schon zu ihrem Empfang bereit, mit seinem Reißbrett zur Seite und der Kartonskizze des neuen Gemäldes: »Herkules bringt den Erymanthischen Eber zum König Eurystheus«. Er sagte, dass er seine Kopfschmerzen verloren habe und sich vollkommen wohl fühle, Zack aber merkte, dass er sich nicht in seiner gewöhnlichen guten Laune befand. Mat beobachtete nichts weiter als die Gartentür und begab sich in deren Nähe, sobald die erste Begrüßung vorüber war.

»Diesmal, mein teurer Sir«, sagte Valentin, auf Mat zugehend, »habe ich die Zeichnung heruntergenommen, welche Sie so gütig waren, diesen Morgen zu bewundern. Hier ist sie, wenn Sie selbige zu betrachten belieben.«

Mat, welcher sogleich beim ersten Blick gesehen, dass die Gartentür für die Nacht verriegelt und verschlossen sei, wandte sich schnell wieder um und betrachtete zu Mr. Blyths größter Freude die alte Kreidezeichnung mit der bewunderndsten Aufmerksamkeit. Sie stellte ein fünffach verriegeltes Tor dar. »Muss sie nicht wieder aufgerollt werden?« fragte Mat in Beziehung des malerisch baufälligen Originals, welches das Tor repräsentierte.

»Ja, in der Tat«, antwortete Valentin, da er dachte, es gelte der zerrissenen Beschaffenheit des Papiers, auf dem sich die Skizze befand; »ein Stückchen Bast und ein Bogen neues Papier zum Aufspannen werden sie wieder dauerhaft machen.«

Mat staunte. »Bast und Papier für ein fünffach verriegeltes Tor? Ihr gäbet einen hübschen Zimmermann!« fühlte er sich geneigt zu fragen, da aber Zack in diesem Augenblick zu sprechen begann, so verließ er die Skizze und hütete weislich seine Zunge.

»Nun Mat, entblößt Eure Brust und stellt Eure Arme in die richtige Position wie Mr. Blyth Euch sagt. Erinnert Euch, dass Ihr als Herkules gezeichnet werdet, und rüstet Euern Blick für den ganzen Abend, als brächtet Ihr eben den Erymanthischen Eber zum König Eurystheus«, sagte der junge Thorpe, sich ruhig am Kaminfeuer wärmend.

Während Mr. Marksman etwas linkisch und mit dem Ausdruck größten Erstaunens über den unbekannten Dienst, den er leisten sollte, sich der Oberkleider entledigte, rollte Valentin den Papierkarton seines klassischen Gemäldes auf der Flur auseinander; und nachdem er sich seines Sujets wieder erinnert, stellte er Mat in die gehörige Position des Herkules, gab ihm einen Stuhl statt des Erymanthischen Ebers in die Hand und platzierte Zack als König Eurystheus. Als dies geschehen, ruhte er wie gewöhnlich einige Zeit und betrachtete sein Zeichenmaterial etwas näher, bevor er zu arbeiten begann. Dann ergriff er zwei auf der Tafel liegende Schreiben, besah die Adressen und übergab sie dann feierlich Zack.

»Hier, Zack«, sagte er, »das gehört Dir. Nimm sie und stecke sie in Deine Tasche: lässt Du sie im Gemäldesaal, so gehen sie sicher verloren. Das größere Schreiben enthält für Dich die Erlaubnis, im Britischen Museum zu zeichnen. Das kleine ist ein Empfehlungsbrief an meinen Freund Mr. Strather, einen sehr gefälligen Künstler und Kurator der Little Bilge Street Drawing Akademie. Du tust am besten, Dich morgen vor elf Uhr zu melden. Mr. Strather wird mit Dir ins Museum gehen und Dir zeigen, wie Du beginnen musst, und Dich auch noch am selben Abend in die Drawing Akademie einführen. Zack, ich bitte und beschwöre Dich, sei beständig und aufmerksam. Erinnere Dich an alles, was Du Deiner Mutter und mir versprochen hast; zeige uns nun in ganzem Ernst, dass Du wirklich entschlossen bist, die Kunst zu studieren.«

Zack drückte seine große Dankbarkeit für seines Freundes Güte aus und erklärte mit der größten Inbrunst in Stimme und Manier, dass er alle seine früheren Fehler durch gute Führung und fortwährende Tätigkeit als Student der Kunst aussühnen werde. Nach einer abermaligen längeren Pause nahm endlich Valentin sein Zeichenmaterial zur Hand und begann zu arbeiten. Was Mat betrifft, so repräsentierte er gleich anfangs eine außerordentliche bewunderungswürdige Beständigkeit als Modell. Seine Augen wanderten dann und wann verstohlen nach der Gartentür, wenn Mr. Blyth nicht auf ihn blickte, oder nach seinem auf einem Stuhle hängenden Rocke, sobald sich Zack demselben näherte; aber sein Körper veränderte die angenommene Position nicht um ein Haar breit; selten bedurfte er zu ruhen und niemals klagte er über Kälte. Valentin erklärte ihn dann auch für ein vollkommenes Juwel von Sitzer, für ein Modell zum Herkules, bei dem es ein wahres Vergnügen sei, zu zeichnen.

Aber während die Studienarbeit leicht und hurtig vorwärts schritt, wollte die gewöhnliche Konversation auch nicht im geringsten Schritt halten. Was auch der junge Thorpe tun und sagen mochte, das Gespräch stockte immer mehr und ward stets träger und einsilbiger. Valentin war augenscheinlich in hoher Begeisterung, und Herkules hatte sich einem hartnäckigen, dummen, unrühmlichen Stillschweigen überlassen. In der Länge der Zeit gab auch Zack alle Bemühungen auf, die Geselligkeit des Abends zu befördern, er verließ den Studiensaal und ging eine Treppe höher, um die Ladies zu besuchen. Mat blickte ihm nach und schien sprechen zu wollen —— dann warf er einen Seitenblick aufs Bureau und äußerte nicht eine Silbe.

Mr. Blyths geistige Niedergeschlagenheit war nicht bloß seiner Unlust, seine Häuslichkeit auf kurze Zeit zu verlassen, zuzuschreiben, wie er diesen Morgen zum jungen Thorpe gesagt, sondern er hatte noch eine geheime Ursache der Ängstlichkeit, von der er Zack keine Andeutung gegeben, und welche zugleich mit dem Modell des Herkules verbunden war, dessen Brust und Arme er jetzt zeichnete. Das klare Faktum war, dass Mr. Blyths zartes Gewissen sorgenvoll schlug, wenn er sich des vollkommenen Vertrauens erinnerte, das Mrs. Thorpe in ihn gesetzt hatte, als er ihr versprach, die Oberaufsicht über ihren Sohn zu führen, und wenn er hernach gedachte, dass er, so wenig als Zack selbst, noch nicht das Geringste von Zacks fremden Kompagnon wusste. Seine Visite in Kirk Street, unternommen in der expressiven Absicht, des Jungen bestes Interesse zu wahren und zu erforschen, wer denn eigentlich Mr. Marksman sei, hatte geendigt in —— Beschämung seiner selbst, woran er sich gar nicht mehr erinnern mochte. »Teuer, teuer mir!« dachte Mr. Blyth, während er schweigsam die Außenlinien seines Gemäldes zeichnete, »—— wie schrecklich unklug und sorglos bin ich gewesen! Ich habe nichts erfahren und nichts ausgeforscht. Wie konnte ich? Es schien mir zu gemein und undankbar, einen Mann zu beargwöhnen, welcher einen Tag vorher mein Gemälde rettete und mir jetzt wieder den größten Dienst leistet. Und doch, ich versprach Mrs. Thorpe —— ich bin moralisch verantwortlich für Zack —— ich wollte erforschen, ob dieser freundschaftliche, gutherzige und nützliche Mann sich für ihn eignet; und jetzt, da er das Zimmer verlassen, möchte ich’s wohl versuchen. Möchte? —— Ich will.«

Nach diesem gewissenhaften Entschluss bereitete sich wirklich der simpelherzige Mr. Blyth vor, und begann so nach und nach recht schlau mit umschreibenden Worten zu fragen, wer er denn eigentlich sei.

Mat war ganz offen bei Beantwortung der Fragen, bezüglich seiner Wanderungen auf dem großen amerikanischen Kontinent. Er bekannte mit der größten Freimütigkeit, dass er als ein wilder Knabe, der zu Hause nicht Stand halten konnte, zur See gesandt worden sei, und ebenso offen bekannte er auch, dass er sich unter seinem wahren Namen nicht eingeführt habe. Als er an diesem Punkte, stockte seine Mitteilsamkeit. Er machte keine Witzeleien, und keine Ausflüchte, sondern erklärte einfach und gerade heraus, dass er nicht mehr sagen werde, als er gesagt habe. »Ich sagte zum Jungen«, schloss Mat, »als wir zum ersten Mal zusammen kamen: ich habe seit zwanzig Jahren meinen wirklichen Namen nicht gehört, und es ist mir ganz gleichgültig, ob ich ihn jemals wieder nennen höre. Das ist’s, was ich zu ihm sagte; und das ist’s, was ich auch zu Euch sage. Ich bin rau und knollig, das weiß ich; aber ich bin weder aus dem Gefängnis entsprungen, noch dem Galgen entlaufen ——«

»Mein teurer Sir«, unterbrach Valentin ängstlich beunruhigt, »bitte, bilden Sie sich nicht ein, dass solch beleidigende Ideen in meinen Kopf kommen könnten! Ich möchte vielleicht gedacht haben, dass Familienkummer —«

»Das ist’s!« fiel Mat hurtig ein. »Familienkummer! Bleibt dabei und Ihr habt das Rechte.«

Hierauf wechselte Mr. Blyth plötzlich bestürzt die Konversation, um über Zack zu reden, dessen zunehmender Geschmack an der nächtlichen Konsumption großer Quantitäten Grog den Maler mit großer Besorgnis erfüllte. Er würde dies in vielen beklagenden Worten zu Mat ausgesprochen haben, wenn ihm nicht gewisse Erinnerungen an die Indianische Mixtur und deren Gefolge von jovialen Konsequenzen die Zunge gebunden hätten. So beschränkte er sich demnach, nur so im allgemeinen von Zacks zukünftigen Aussichten zu reden, und versuchte Mr. Marksman die Notwendigkeit darzulegen, dass er seinen großen Einfluss über den Jungen geltend machen und ihn zu steter Tätigkeit anhalten müsse, auf dass nicht nur ein tüchtiger Künstler, sondern auch ein respektabler Mensch aus ihm werde. Mat hörte auf seines Wirtes Diskurs mit einem Anschein großer Aufmerksamkeit, aber seine Augen begannen ungeduldig zu zwinkern, sobald sie dann und wann zur Gartentür blickten. Und wenn er zu sprechen genötigt war, tat er solch kuriose Fragen über »tüchtige Künstler«, »respektvoller Mensch«, welche die größte Unwissenheit mit allen sozialen Verhältnissen und Konventionalitäten bekundeten, so dass Mr. Blyth wirklich verlegen wurde, passende Erwiderungen darauf zu machen. Hinsichtlich Mats ungeschickter Fragen und Valentins Unfähigkeit, abstrakte Ideen zu erklären, traf es sich für beide sehr günstig, dass just in dem Moment, wo ihre Unterhaltung in eine unentwirrbare Verirrung überging, dieselbe durch Zacks Rückkehr unterbrochen wurde.

Der junge Thorpe kündigte die annähernde Ankunft der Abendschüssel an und warnte Herkules, den Erymanthischen Eber nicht gehen zu lassen, aber auch seinen Nacken und seine Schultern zu bedecken, wenn er nicht den Witz der Dienstmagd herausfordern wolle. Bei dieser Andeutung legte Mr. Blyth sein Reißbrett zur Seite und Mr. Marksman zog schnell seine Flanellweste an; er hörte nicht auf des Malers zahlreiche Worte der größten Dankbarkeit und kleidete sich noch eiliger in seinen Rock. Dann steckte er die Hände in die Taschen und blickte Mr. Valentin an —— just als die Dienerin mit dem Essen erschien; hierauf drehte er sich ungeduldig herum und ging auf die andere Seite des Zimmers.

Als die Tür durch die weggehende Magd wieder geschlossen wurde, kehrte er mit dem Federfächer in der Hand wieder zu Mr. Blyth zurück und sagte in seiner gewöhnlichen schroffen Manier gerade heraus, dass er von Zack gehört habe, wie sich Mrs. Blyth in kränklichem Zustande befinde und allerlei Kuriositäten zugetan sei, und ob er wohl dächte, dass seine Frau einen solchen Fächer annehmen würde?

Valentin, welcher sich nach der erlebten Niederlage, Mr. Marksmans Ursprung zu ergründen, nicht mehr ganz behaglich fühlte, und welcher natürlich bezweifelte, dass die Schicklichkeit seiner Frau gestatten würde, ein Geschenk von einem ganz Fremden anzunehmen —— zauderte, stammelte und suchte vorläufig durch Anschauen und Bewundern des Fächers erst Zeit zu gewinnen. Er ward unzeremoniös von seinem wunderlichen Gast unterbrochen, bevor er nur drei Silben nacheinander aussprechen konnte. »Ich nahm ihn für ein Frauenzimmer mit herüber in die alte Welt«, sagte Mat und presste den Fächer in Mr. Blyths Hände, »als ich aber zurückkam, war es tot und verschwunden. Jetzt existiert kein weibliches Wesen mehr in England, das mich kennt und sich um mich bekümmert. Wenn Ihr zu stolz seid, das Ding in Eures Weibes Händen zu wissen, so werfts ins Feuer. Ich habe niemanden, kein einziges Wesen kann ich mein nennen, dem ich es geben könnte, —— aber ich kann und will es nicht länger bei mir behalten.«

In der Äußerung dieser Worte lag ein raues, schmerzliches Pathos und eine bittere Rückerinnerung an durchlebtes Unglück längst vergangener Zeiten. Und dieser klagende Ton eines tief schmerzlichen Seelenleidens berührte auch Valentins zartfühlende Brust mit sympathischer Wehmut. Sein Gefühl überwog die kalte Reflexion und veranlasste ihn, nicht nur das Geschenk anzunehmen, sondern auch die wärmste Versicherung zu geben, dass sich Mrs. Blyth ganz außerordentlich darüber freuen werde.

»Zack«, sagte er in einem tiefen Basston zum jungen Thorpe, welcher Mats letzte Rede staunend mit angehört hatte, »—— Zack, ich will sogleich hinaufgehen und Lavinia den Fächer überreichen, um nicht als gleichgültig gegen unseres Freundes Präsent zu erscheinen. Mach Du einstweilen die Honneurs bei dem Souper —— aber mit gehöriger Gastfreundschaft.«

Nachdem Mr. Blyth diese Worte gesprochen hatte, verließ er mit seiner geschäftlichen Eile den Saal. Einige Minuten nach Valentins Abgang griff Mat noch einmal in die Tasche, näherte sich dann mysteriös dem jungen Thorpe und öffnete vor ihm das Papier mit dem Indianischen Tabaksbeutel von Scharlachtuch und bunter Perlenstickerei.

»Glaubst Du wohl, dass das junge Frauenzimmer dies annehmen werde?« sagte er. »Ich habe ihn gefragt, (beziehend sich auf die letzten Worte an Valentin,) aber er blickte das Federding so wunderlich an und ——«

Hier unterbrach ihn Zack mit lautem Gelächter, schlug ihm den Beutel aus der Hand und verspottete seinen Freund unbarmherziger denn je. In der ersten Zeit schien Mat durch die schlechten Späße, sich bei einer gebildeten Dame durch den Tabaksbeutel eines Wilden insinuieren zu wollen, verdutzt zu sein; dann riss er ihn wütend empor und schwor ——

»Schwört nicht, Don Juan!« rief Zack mit unverbesserlicher Flatterhaftigkeit. »Ich will den Beutel hinauftragen zu ihr, und, wenn Blyth es gestattet, sie auf irgendeine Weise herunterführen. Oh, was wird das für ein Vergnügen werden, wenn ich den alten ledernen Knaben sanfte und verliebte Augen gegen Madonna machen sehe!« Mit diesen Worten eilte er lachend aus dem Saale, den Scharlachtabackbeutel in der Hand.

Mat horchte aufmerksam, bis Zacks rapide Schritte auf der Treppe verschwunden waren —— dann ging er schnell und leise zur Gartentür —— beschaute den Verschluss —— schloss sie auf —— schob die Riegel zurück —— öffnete sie leise und vergewisserte sich, dass sie durch Drehung des Handgriffs von außen geöffnet werden konnte —— dann machte er sie wieder zu, dem Anschein nach so fest wie vorher, überzeugte sich aber sehr genau, dass sie weder verschlossen noch verriegelt ward.

»Jetzt an die dicke Kommode!« dachte Mat, nahm den falschen Schlüssel aus der Tasche und eilte schnell zum Bureau. »Wenn Zack oder der Mr. Maler kommt, bevor ich Zeit habe, die geheime Schublade zu öffnen, so habe ich mich doch wenigstens für den zweiten Fall mit der Gartentür gesichert, sobald sie alle zu Bett sind.«

Als dieser Gedanke ihm durch den Kopf fuhr, hatte er soeben den Schlüssel ins Schloss gesteckt und begann zu drehen —— augenblicklich schlugen Schritte an sein scharfes Ohr, welche zur Treppe herabkamen.

»Zu spät!« murrte Mat. »Ich muss es mit der Gartentür versuchen.«

Er steckte seinen Schlüssel in die Tasche und eilte an den Kaminsitz zurück; kaum hatte er sich gesetzt, so trat Mr. Blyth ein.

»Ich bin sehr ärgerlich, dass Sie so ganz unzeremoniös allein gelassen sind«, sagte Valentin, dessen natürliche Höflichkeit ihm gebot, gegen seinen rauen Gast ebenso komplimentierend aufzutreten, als wenn Mr. Marksman der gebildetste Gentleman von ausgezeichneter Stellung gewesen wäre. »Es tut mir wirklich leid, dass Sie so verlassen wurden, ohne dass Ihnen ein Bissen offeriert ward«, ergänzte Valentin und wandte sich zur Tafel. »Mrs. Blyth, mein teurer Sir —— nehmen Sie da ein Stückchen Sandtorte —— wünscht, dass ich ihren besten Dank für Ihr schönes Geschenk aussprechen soll, —— die Flasche neben Ihnen enthält Branntwein. —— Sie bewundert die Arbeit —— Schwammkuchen? Ah, Sie dürfen nicht über zu große Süßigkeit besorgt sein —— und denkt, die Farbe der Mittelfedern ——«

In diesem Moment öffnete sich die Tür, Mr. Blyth blickte hin, seine Lippen schlossen sich plötzlich, er war starr vor Erstaunen. Denn herein trat Madonna in Begleitung des jungen Thorpe.

Valentin hatte sich durch seine Frau überreden lassen, dass das taubstumme Mädchen den Scharlachtabacksbeutel annehmen solle; aber weder sie noch Zack hatten ein Wort zu ihm gesagt, Madonna in den Studiensaal zu führen. Das einfache Faktum war, dass der junge Thorpe sich wohlweislich enthielt, sein eben nicht allzu kluges Projekt, welches er jetzt ausgeführt, gegen Mr. Blyth zu erwähnen, weil er im voraus musste, dass er es nicht zugegeben haben würde. Er wartete also, bis Valentin wieder zur Treppe hinuntergegangen war und seinem Gast die Honneurs machte! Als er nicht mehr hörbar war, bekannte Zack der Mrs. Blyth seine neue Grille und bemerkte, dass sie wieder hinreichend Stoff zu neuem Amüsement auf Mats Unkosten geben würde. Auch erklärte er, dass wenigstens eine der Damen gebunden sei, persönlich die Anzeige des Empfangs der Geschenke zu machen und ihre gemeinschaftliche Dankbarkeit gegen den freundschaftlichen Geber auszusprechen. Dabei deutete er Madonna durch Zeichen an, dass sie im Saale gewünscht werde, um dem generösen Mann für den Tabaksbeutel zu danken. Und ohne die schwachen Gegengründe anzuhören, nahm er sie bei der Hand und führte sie in den Saal. In Wahrheit, Mrs. Blyth sah auch keine große Unschicklichkeit darin, dass Madonna in Gegenwart Valentins dem Fremden vorgestellt werde. Überdies trieb sie noch die kuriose Neugier, etwas über Zacks wunderlichen Freund zu erfahren, und außerdem war sie gespannt, was Madonna für Eindrücke von dessen persönlichem Erscheinen und Manieren zurückbringen werde. Obgleich sie nun eben aus diesem Grunde zu dem etwas gewagten Vorschlage nicht Ja sagen wollte, welcher ihr von Zack gemacht ward, so fühlte sie sich aber auch nicht geneigt, streng Nein zu sagen. Und so ergriff Zack zur rechten Zeit die Gelegenheit und führte in seiner kühnen Dreistigkeit Madonna am Arm in den Saal; glühend vor Schadenfreude und mit triumphierender Miene trat er mit der holden Erscheinung vor die zwei dinierenden Gentleman.

Valentin warf ihm einen Blick zu, den er nicht beachtete. Der Maler wollte sein Adoptivkind sogleich wieder zur Treppe hinaufsenden, aber die Rücksicht der Höflichkeit hinsichtlich seines Gastes bewog ihn, sich zu beherrschen und davon abzustehen. Mr. Marksman ging sogleich beim Erscheinen Madonnas ihr einige Schritte entgegen.

Zack, welcher sogleich sah, dass er Mr. Blyth missfallen hatte und bei der ersten Gelegenheit einen Verweis bekommen werde, dachte in seiner Sorglosigkeit, dass es nun zu spät sei, sich wieder zurückzuziehen, und beschloss, seinen Jux zu Ende zu führen. Demzufolge führte er Madonna gleich zu Mat, der etwas konfus stehen geblieben war, in der maliziösen Absicht, seinen unzivilisierten Freund zu verwirren, indem er sie mit allen gekünstelten feinen Zeremonien entführte. Aber seine Absicht ward ganz unerwartet vereitelt, und zwar noch zur rechten Zeit durch Madonna selbst.

Wenige Proben, eine weibliche Natur zu ergründen, sind sicherer als die, wenn man das Benehmen einer Dame in Gegenwart eines in Konfusion geratenen Mannes beobachtet. Hat sie gar nichts in ihrem Kopfe, so vergisst sie den Vorteil ihres Geschlechts und wird konfuser als er ist. Hat sie nichts weiter als Einbildung im Gehirn, so wird sie ihren Vorteil grausam benutzen und den Mann verächtlich behandeln. Ist sie aber reich an Herz und Geist, so wird sie sogleich ihren Vorteil richtig gebrauchen und den Verlegenen durch ein huldreiches, liebevolles Wort oder freundlichen Blick ermutigen.

Als Madonna bemerkte, dass Mr. Marksman bei ihrer Annäherung etwas konfus und verdutzt zu werden schien, zog sie ihren Arm aus Zacks Arm und trat zu seinem unermesslichen Erstaunen dicht vor Mr. Marksman —— blickte ihm klar ins finstere, narbige Gesicht —— machte ihre Höflichkeitsbezeugungen —— schrieb schnell eine Zeile auf ihre Schiefertafel, dann offerierte sie ihm dieselbe mit Lächeln und Kopfnicken zum Lesen und Beantworten, wenn es ihm beliebe.

»Bei Gott!« rief Zack, seinem Erstaunen Worte gebend, »sie ist dem alten Eisenbart geneigt und macht ihn zu ihrem ersten Liebling. Wer würde jemals das gedacht haben?«

Valentin stand in der Nähe, tat aber, als höre er das Gespräch nicht. Er beobachtete einzig nur Madonna und Mr. Marksman. Gewohnt, dass das taubstumme Mädchen stets bei den ihr vorgestellten Fremden ihr Wohlgefallen oder Missbilligen in unschuldiger Reinheit offenbar zeige, und dass sie ersteres oft Personen bewies, nach deren Manieren man das Gegenteil hätte erwarten können —— war Valentin dennoch erstaunter als Zack, als er ihre Begrüßungen bemerkte. Es war ein unfehlbares Zeichen von Madonnas Billigung, wenn sie einen eingeführten Fremden aus eigener Neigung ihre Schiefertafel reichte. Bei Leuten, die ihr missfielen, hielt sie dieselbe stets beiseite, bis sie ihr förmlich abgefordert wurde.

Exzentrisch in jeder Angelegenheit, war Mat auch in seiner Konfusion beständig exzentrisch. Viele Männer, welche in Gegenwart einer jungen Dame blöde sind, offenbaren es durch Erröten —— Mat aber wurde blass. Andere, ähnlich bewegt, zittern und beben —— Mat stand ruhig wie eine Statue. Seine Augen wanderten langsam über die ganze Gestalt; zuerst betrachtete er ihre schönen braunen Haare, dann verweilte er einen Augenblick bei ihrem Angesicht, blickte auf die schwarz seidene Schürze mit niedlicher Tasche, auf die kleinen Schuhe und weißen Strümpfe und ihr graues Lieblingskleids. Er blickte erst dann wieder auf, als sie seine Hand berührte, indem sie ihm ihren Schieferstift reichte. Er las jetzt die von ihr geschriebenen Zeilen, worin sie ihm für den geschenkten Tabaksbeutel dankte, und versuchte, eine Erwiderung zu schreiben, aber seine Hand zitterte und seine Gedanken, wenn er irgendwelche hatte, schienen zu stecken. Er gab ihr die Tafel nebst Stift wieder zurück und blickte ihr voll in die Augen. In demselben Augenblicke überkam ein sonderbarer Wechsel sein Angesicht —— eine Veränderung gleich der, welche ihn im Strumpfhändlerladen zu Dibbledean überfiel.

»Zack möchte wohl unter vielen andern einen schlechteren Freund gefunden haben, als diesen Mann«, dachte Mr. Blyth, welcher bisher Mat still beobachtet hatte. »Vagabunden benehmen sich in Gegenwart junger Mädchen nicht so wie er.«

Mit diesen Gedanken näherte sich Valentin Mr. Marksman, um ihn aus seiner Verlegenheit zu bringen, indem er ihm zeigen wollte, wie mit Madonna kommuniziert werden müsse. Aber er ward von Zack unterbrochen. Dieser hatte sich von seinem Erstaunen erholt und begann wieder Unsinn zu treiben, mit der boshaften Absicht, Mats Verwirrung noch zu vermehren.

Während Mr. Blyth versuchte, Zack dadurch zum Schweigen zu bringen, dass er ihn an den gedeckten Tisch führte, war Madonna auf andere Art bemüht, den schwerfälligen, sonnverbrannten Mann, welcher durch ihre Anwesenheit ganz erschrocken zu sein schien, wieder zu beruhigen.

Sie ging zu einem Stuhle, welcher in einer Ecke an einer zweiten Tafel in der Nähe des Kamins stand, ließ sich nieder, holte ihren Scharlachbeutel hervor und zeigte Mat durch Gesten, was sie gesonnen sei hinein zu tun. Dann legte sie den Beutel geöffnet auf ihren Schoß und steckte verschiedene Arbeitsschachtelspielereien hinein: eine Rolle Seide, eine Elfenbeinnadelbüchse, einen silbernen Fingerhut mit emailliertem Rande, eine kleine Schere und noch andere Sachen ähnlicher Art —— welche sie aus den Taschen ihrer Schürze holte. Während sie sich also mit Füllung ihres Beutels beschäftigte, trommelte Zack mit dem Fuße auf den Dielen, um ihre Aufmerksamkeit an sich zu ziehen, dann präsentierte er ihr fragend eine Flasche Wein nebst Glas. Als das Trommeln ihre zarten Nerven berührte, blickte sie auf und winkte dann Zack, dass sie keinen Wein wünsche. In demselben Augenblick fiel aus ihrer Tasche eine Perlmutthaarnadelbüchse auf ihren Schoß und rollte unter den Stuhl, ohne dass sie es bemerkte, denn sie blickte nach der Speisetafel; auch Mat gewahrte es nicht, denn er folgte ihren Augen und Mr. Blyths Aufmerksamkeit war durch Zacks Geräusch in Anspruch genommen.

Als sie noch einige Kleinigkeiten aus ihren Taschen in den Beutel gesteckt hatte, schnürte sie denselben zusammen und hing ihn vermittelst des losen Riemens an ihren Arm; dann erhob sie sich, blickte Mr. Marksman an, nickte und zeigte auf den Beutel. Diese Handlung sollte den Gedanken aussprechen: »Sehen Sie, was ich für einen hübschen Arbeitsbeutel aus Ihrem Tabaksbeutel machen kann!«

Allem Anscheine nach war aber Mat nicht fähig, den Sinn dieser Gesten zu verstehen, so leicht sie auch auszulegen waren. Seine Gefühle schienen mehr und mehr bewegt zu werden, je länger er sie betrachtete. Als sie sich wegbewegte, ging er ihr einige Schritte nach und streckte ungeschickt seine Hand aus. »Der dicke Mann scheint jetzt etwas weniger Furcht vor mir zu haben«, dachte Madonna, und begegnete seinem plumpen Vorwärtsgehen mit einem Lächeln. Aber in dem Augenblick, wo er ihre Hand ergriff, durchrieselte ein Schauer ihren ganzen Körper und ihre Lippen schlossen sich. Es war ihr, als ob sie eine tote Hand berührt habe. »Oh! dachte sie, wie kalt ist seine Hand!«

»Hätte ich nicht ihre lebenswarme Hand gefühlt, ich würde geglaubt haben, Mariens Geist nachts im Traum zu sehen.« Diese düsteren Gedanken durchzogen Mats betrübten Geist, und als ihm Zack Wein präsentierte, wandte er sich ungeduldig weg und starrte gedankenlos ins Kaminfeuer.

Die Kälte von des fremden Mannes Hand durchzog noch eisig ihre Finger und trieb sie ängstlich, das Zimmer zu verlassen, obgleich sie nicht wusste, warum. Sie eilte hastig zu Valentin, legte die Hand aufs Herz und zeigte aufwärts. Valentin verstand das Zeichen und gab ihr die Erlaubnis, sogleich wieder in das Zimmer seiner Frau zurückkehren zu dürfen. Und bevor Zack sie zurückhalten konnte, war sie schon aus dem Saale geschlüpft, nachdem sie kaum acht Minuten darin verweilt hatte.

»Zack«, flüsterte Mr. Blyth, als die Tür geschlossen ward, »ich bin nicht erfreut darüber, dass Du Madonna herunterführtest. Du hast dadurch alle Anstandsregeln gebrochen und außerdem auch noch Deinen Freund in Konfusion gebracht, dass Du sie nicht vorher angemeldet hattest.«

»Oh, das hat durchaus nichts zu sagen«, unterbrach Zack. »Er ist nicht von der Sorte Männer, welche der Warnung und Vorbereitung bedürfen. Ich bitte um Entschuldigung wegen der Verletzung der Anstandsregeln, aber hinsichtlich Mats —— ei nun! es ist klar genug, was ihm Unrechtes geschehen ist. Er ist schön angekommen bei seiner Darstellung des Herkules. Ihr hieltet den armen, alten Knaben zwei Stunden lang in einer und derselben Stellung, ohne einen Lappen auf seinem Rücken, und dann wundert Ihr Euch ——«

»Gnade meiner Seele! Möge mir das nie wieder passieren. Es tut mir leid, Du hast Recht«, rief Valentin. »Lass uns ihm nun das Leben so angenehm wie möglich machen. Teuer mir, höchst schätzbar! Wie mischt man einen Grog?« Mr. Blyth war schon eine Zeit tätig gewesen, eine Spezies starker, feuriger Indianischer Mixtur für Mat zu bereiten. Er hatte den Versuch noch bei Madonnas Anwesenheit begonnen und trotz des leisen Dialogs mit Zack bis jetzt fortgesetzt. In seinem gastfreundlichen Eifer begann er den Becher mit Branntwein zu füllen und goss dann Xeresfeet hinzu, aber was nun? —— Die andern wichtigen Ingredienzen hatte er ganz und gar vergessen.

»Hier, Mat!« rief Zack. »Kommt und mischt Euch selbst etwas Heißes. Blyth versucht’s und kann’s nicht.«

Mr. Marksman, welcher die ganze Zeit über gedankenlos in das Feuer gestarrt hatte, wandte sich jetzt zu seinen Freunden nach der Tafel um. Er stutzte ein klein wenig, als er Madonna nicht mehr im Saale erblickte —— dann schaute er seitwärts zur Tür, durch welche sie verschwunden war und dann nach dem Bureau. Hatte er früher eigensinnig gewünscht, in den Besitz des Haarbracelets zu gelangen, so war es jetzt sein fester und unwiderruflicher Entschluss geworden, es in seine Hände zu bekommen.

»Es ist nicht passend, sich nach der jungen Lady umzusehen«, sagte Zack; »Ihr benahmt Euch so plump und wunderlich, dass Ihr sie aus dem Zimmer scheuchtet.«

»Nein, nein! so verhält es sich nicht«, unterbrach ihn Valentin gutherzig. »Bitte, nehmen Sie etwas Warmes zu sich. Ich bin ganz beschämt wegen meiner Vergessenheit, dass ich Sie so lange als Herkules stehen ließ; ich musste mich erinnern, dass Sie nicht als Modell gebraucht werden durften. Ich hoffe, dass Sie sich keine Erkältung zugezogen haben ——«

»Mich erkältet?« erwiderte Mat erstaunt. Er schien eben seine starke Entrüstung über solch eine Körperschwäche der zivilisierten Menschheit aussprechen zu wollen, die Worte waren schon auf den Lippen, als er aber Mr. Blyth ansah, beherrschte er sich.

»Ich bin besorgt, dass Sie durch die lange Stellung, welche Sie so gütig waren, auszuhalten, ermattet sind«, fügte Valentin hinzu.

»Nein«, antwortete Mat nach einigem Besinnen, »nicht ermattet, nur schläfrig. Ich tue am besten, wenn ich nach Hause gehe. Wie viel Uhr ist’s?«

Ein Blick auf Zacks Uhr belehrte ihn, dass es zehn Minuten nach Zehn sei. Jetzt streckte er seine Hand zum Abschied nach Valentin; dieser aber weigerte sich, ihn scheiden zu lassen, bevor er nicht noch etwas von der Abendtafel genossen habe. Er schenkte sich nach dieser Aufforderung noch ein Glas Branntwein ein, trank es aus, reichte abermals die Hand hin und sagte: »Gute Nacht.«

»Wohlan, ich will Sie nicht gegen Ihren Willen zwingen, noch länger zu verweilen«, sagte Mr. Blyth etwas verstimmt. »Ich will Ihnen nur danken für Ihre herzliche Güte, die Sie mir bewiesen haben, und lebe der Hoffnung, dass wir uns nach meiner Rückkehr vom Lande wiedersehen werden. Lebe wohl, Zack; ich werde morgen mit dem Frühzuge reisen. Je früher ich die neuen Porträts beendige, desto eher werde ich wieder vergnügt nach Hause kommen. Bitte, mein lieber Knabe, sei beständig und erinnere Dich Deines Versprechens, das Du Deiner Mutter gabst; geh morgen zu gehöriger Zeit zu Mr. Strather und halte Dich an Deine Arbeit, Zack — um unser aller Wohl —— halte Dich zu Deiner Arbeit!«

Beim Verlassen des Saales warf Mat noch einen scheidenden Blick auf die Gartentür. Wird vielleicht der Diener, welcher sie in der Abendstunde verschloss und verriegelte, noch einmal nachsehen, bevor er zu Bett geht? Oder wird Mr. Blyth, bevor er das Kaminfeuer löscht zur Tür gehen und sich von deren Verschluss versichern? — Wichtige Fragen, welche nur die Ereignisse der Nacht beantworten werden.

Zack war noch nicht auf die Straße gelangt, als er seines Freundes plumpes und ungeschicktes Benehmen in Gegenwart Madonnas gehörig zu verspotten und mit den maliziösesten Sarkasmen lächerlich zu machen begann. Mr. Marksman ließ ihn so lange schwatzen, als es ihm beliebte, und begnügte sich damit, ihm nicht eine einzige Silbe zu erwidern. Das gewöhnliche Resultat des Unbeachtetlassens der Zackschen Witze ward gar bald erreicht. Die satyrische Ader des jungen Thorpe strömte sich aus, bevor sie nur ihre Wohnung erreichten.

Ein klein wenig von Kirk Street entfernt, stand ein Theater, glänzende Gaslichter erhellten das Innere. Als sie an dessen Säulenhalle kamen, hielt Zack an.

»Es ist nur halb elf«, sagte er. »Ich gehe hinein und sehe den Schluss der Vorstellung. Wollt Ihr nicht mit?«

»Nein«, sagte Mat, »ich bin zu schläfrig; ich werde nach Hause gehen.«

Sie schieden. Während Zack in das Theater trat, richtete Mr. Marksman seine Schritte nach dem Tabakladen. Sobald er aber aus dem Schimmer des Gaslichtes vor der Theatertür war, kreuzte er die Straße und ging hurtig auf der andern Seite wieder nach Valentins Hause zurück.



Kapiteltrenner

Viertes Kapitel - Das Haarbracelet

Auch Mr. Blyths Geist versank schnell in Schläfrigkeit, als ihn seine Gäste verlassen und er die Vordertür seines Studiensaales verschlossen und verriegelt hatte. Er war überhaupt nicht so lebhaft wie zu andern Zeiten, wenn er eine kleine Reise antreten musste. Aber noch niemals hatte sich seiner eine solche beklommene Gemütsstimmung bemächtigt als diesmal am Vorabend seines ländlichen Ausflugs. Er seufzte sogar, als er einige Mal im Saale auf und ab ging.

Dreimal trat er der Gartentür ziemlich nahe, indem er von einem Ende des Zimmers zum andern ging. Aber seine Gedanken wanderten hinter seinen Gästen her und verweilten in ihrer Gesellschaft.

»Wer auch immer dieser Mr. Marksman sein mag«, dachte Valentin nach seinem vierten Rundgange, indem er sich dem Kaminfeuer näherte, »ich glaube nicht, dass auch nur ein schlechtes Haar an ihm ist; und das werde ich nächstens Mrs. Thorpe sagen, sobald ich sie zu sprechen bekomme.«

Er trat zum Kamin, um das Feuer auszulöschen, scharrte es zusammen und ließ nur noch einige Kohlen auf dem Rost. Als er dies getan, wärmte er sich einige Minuten und versuchte dann, ein Schlückchen seines Lieblingsgetränkes zu vertilgen, vermochte es aber nicht. Er brach zusammen und hauchte wieder einen recht kläglichen Seufzer aus.

»Was ist die Ursache meiner Betrübnis? Ich fühlte mich noch vor keiner Abreise so niedergedrückt wie jetzt.« Mit diesen nutzlosen, selbstquälerischen Reflexionen ging er zur gedeckten Tafel, trank ein Glas Wein, nahm ein Stückchen Sandtorte, zerschnitt unnötigerweise zwei Schwammkuchen und brach von jedem ein Stückchen ab. Aber er konnte weder essen noch trinken; daher beschloss er weislich, sein Licht anzuzünden und zu Bett zu gehen.

Nachdem er die Tafellichter ausgelöscht hatte, leuchtete er noch einmal mit seiner Handlampe im Saale umher und war eben im Begriff, denselben zu verlassen, als seine Augen auf die für Mat heruntergeholte Zeichnung »das fünffach verriegelte Tor« stießen. Er ging einige Schritte darauf zu, um es aufzuhängen, hielt aber auf halbem Wege inne, zauderte —— gähnte —— schauerte ein wenig —— dachte dann, dass es doch nicht der Mühe wert sei, das Ding heute Nacht noch über die Gartentür zu hängen, und so abermals gähnend, verließ er den Studiensaal.

Mr. Blyths zwei Domestiken schliefen in der Dachstube. Zehn Minuten, nachdem ihr Herr sein Schlafgemach betreten hatte, verließen sie die Küche, um sich ebenfalls nach ihrer Ruhestätte zu begeben. Patty, die Hausmagd, ging erst noch einmal durch den Gemäldesaal, um sich zu vergewissern, ob Feuer und Licht gehörig ausgelöscht sei. Polly, die Köchin, wanderte mit dem Lichte zum Schlafzimmer, als sie einige Treppen gestiegen, dachte sie noch einmal sorgsam an die Gartentür, deren Verschließung ihr übertragen war.

»Hast Du nach der Gartentür gesehen?« rief Polly zu Patty.

»Ja, ich tat es, als ich des Herrn Tee besorgte«, sagte Patty zu Polly und warf einen schläfrigen Blick in den dunklen Studiensaal.

»Tätest Du nicht besser, noch einmal hinzusehen, um sicher zu sein?« fügte die vorsichtige Köchin hinzu.

»Ist’s nicht dein Geschäft? —— blick Du hin«, erwiderte die sorglose Hausmagd.

»Still!« wisperte Valentin, welcher im Flanellschlafrock und Nachtmütze erschien; »schwatzt nicht hier, Ihr stört Eure Herrin. Geht zu Bett und plappert dort. Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Sir!« antwortete der treu ergebene weibliche Anhang des Hauses Blyth. Gehorchend ihres Herrn Befehl, mit dumm lächelnder Folgsamkeit, verschoben sie ihre Betrachtungen über die Gartentür auf zukünftige Gelegenheit.

Das Kaminfeuer im Studienzimmer erstarb allmählich. Nur dann und wann flammte noch eine dünne Flamme auf einen Augenblick empor und versank dann plötzlich wieder in das Dunkel der Nacht. Die ruhige nächtliche Stille ward nur zuweilen von jenen kleinen Wesen unterbrochen, welche leben im Dunkel der Nacht und sterben am Lichte des Tages; welche in der Wand krabbeln, mysteriös an den Möbeln nagen und eilig hin und her huschen. Ausgenommen dieses nächtlichen Geräusches, herrschte im Studiensaale vollkommene Stille. Auch in der ganzen Nachbarschaft war es ruhig. Man hörte keine Nachbarn in der Droschke nach Hause fahren; keine lärmenden Trunkenbolde durchwanderten die einsam gelegene Straße der Vorstadt, und der von den Feldern hereinwehende Nachtwind war zu sanft, um gehört zu werden. Selbst sogar der Hofhund des benachbarten Kunstgärtners war so ruhig in dieser Nacht, als wenn er stumm geworden wäre.

Diese Ruhe und Stille der Nacht währte, bis die Glocke ein Viertel auf zwölf geschlagen hatte; dann tönte aus den eisernen Stufen, welche an der hinteren Gartentür zum Saale führen, ein Geräusch von Fußtapsen. Als es verschwand, ward die Saaltür leise geöffnet und die schwarze schwerfällige Statur des Mr. Marksman erschien auf der Schwelle; es war eine düstere, finstere Gestalt —— aber im Hintergrunde strahlte hoffnungsvoll der Sternenhimmel. —— Er trat in den Gemäldesaal und schloss die Tür hinter sich zu und stand dann einige Minuten ängstlich horchend im Dunkel; hierauf holte er sein Wachslicht und die Zündhölzer aus der Tasche und zündete sich sogleich ein Licht an.

Nachdem dies geschehen war, horchte er noch einige Sekunden. Ausgenommen den Atem in seiner Brust, war alles ringsherum ruhig. Er schritt zum Bureau, erschrak aber plötzlich, als er an Mr. Blyths Statue mit römischer Toga und spanischem Hut anstrich; sie stand im Wege wie ein lebender Mensch. Er fluchte innerlich darob. Die Saaltür, welche ins Haus führte, war nicht ganz geschlossen; aber er nahm keine Notiz davon, sondern ging dicht vors Bureau. Dasselbe war dicht an dem Türpfosten. Schon hatte er den falschen Schlüssel in der Hand, und ohne weder rechts noch links zu sehen, steckte er ihn in das Schloss.

Eben hatte er das Bureau und die innere Schublade geöffnet, das Haarbracelet herausgenommen und das Bureau wieder verschlossen, —— da ertönte ein leises Geräusch auf der Haustreppe an sein Ohr. In demselben Augenblick erschien ein dünner Lichtstrahl durch die Türspalte. Er wurde schnell viel stärker, als sanfte Fußstapfen draußen auf dem Hausflur ertönten und sich dem Saale näherten.

Er hatte die Geistesgegenwart, sein Licht sogleich auszulöschen, das Haarbracelet in die Tasche zu stecken und sich leise von dem Bureau weg zu bewegen, welches an der Verschlussseite des Türpfostens stand; er trat dann an die Angelseite der Tür, so dass er durch deren Öffnen gedeckt und verborgen ward.

Vermöge seiner Geistesgegenwart hatte er diese Vorsicht gebraucht; aber er besaß nicht Selbstbeherrschung genug, einen unfreiwilligen Aufschrei zu unterdrücken welcher seinen Lippen entströmte, sobald der Lichtstrahl in seine Augen fiel. Ein heftiger Krampf zog plötzlich seine Halsmuskeln zusammen; er presste seine Faust gewaltsam gegen dieselben, um seine Stimme zu unterdrücken, welche zum Verräter an ihm selbst wurde. —— Das Licht kam näher, die Tür öffnete sich — öffnete sie sanft und weit, bis sie ihn selbst berührte, während er an der Wand angelehnt stand.

Sein Herz schien augenblicklich zu stocken, aber im andern Moment stürmte es wieder umso heftiger weiter und das Blut rauschte fieberhaft durch alle Adern seines Körpers, vom Kopf bis Fuß; dann aber erschlafften seine Nerven unter einem ganz unaussprechlichen Gefühl der Erleichterung. Er ward beinah durch ein Wunder von den Folgen seines Aufschreis gerettet, denn als die Tür geöffnet war —— erschien Madonna —— das taubstumme Mädchen wandelte herein in den Saal.

Sie hatte den Tabaksbeutel in ihrem Zimmer geöffnet, das Arbeitsmaterial herausgeholt und ihre Perlmutthaarnadelbüchse vermisst. Sie vermutete sogleich, dass sie dieselbe im Studiensaale verloren haben müsse, und fürchtete, dass sie dort zertreten werden könnte, wenn sie bis morgen früh liegen bliebe; sie hatte sich deshalb herunter gestohlen, um sie zu suchen. Ihr Haar war zurückgekämmt, aber noch nicht aufgerollt für die Nacht, sondern hing leicht über ihre Schultern herab. Ihr ganzes Wesen erschien jetzt viel reiner und klarer denn je; der Reiz der Unschuld ward noch durch ihr schönes weißes Nachtgewand erhöht. In ihrer Hand trug sie einen von Mrs. Blyth empfangenen schönen roten und blauen Leuchter. Sie bewegte sich langsam von der Tür in den Saal, beständig zur Erde gebückt und die Nadelbüchse suchend.

Mats Entschluss war gefasst, sobald er ihrer ansichtig wurde. Er verharrte so lange auf einer Stelle, bis sie etwa drei oder vier Schritte im Zimmer vorgeschritten war und ihm noch den Rücken zukehrte. Dann ging er ruhig und leise einige Schritte nach ihr zu, sich stets hinter ihrem Rücken haltend, und blies just in dem Augenblick ihr Licht aus, als sie es empor hob, um in der entgegengesetzten Richtung zu suchen.

Er hatte ganz richtig kalkuliert, dies Manöver unentdeckt ausführen zu können, denn er wusste, dass sie seinen Atem nicht zu hören vermochte und dass die Dunkelheit ihn verbergen und sie genötigt sein würde, das Zimmer zu verlassen, um ihr Licht wieder anzuzünden. Er hatte aber nicht berechnet, welche nachteilige Einwirkung diese Taktik auf ihre Nerven hervorbringen würde, denn er kannte den Schrecken nicht, der sie befiel, wenn sie in der Dunkelheit allein gelassen wurde, ein Schrecken, der durch den Verlust ihres Gehörs auf ihr Gefühlsleben viel stärker wirkte, als bei andern Personen. Auch hatte er nicht bedacht, dass er sie ihres einzigen mächtigsten Führers, des Gesichts, beraube, den sie nicht, wieaAndere, durchs Gehör ergänzen konnte.

Im Augenblick, als er ihr Licht ausblies, fiel der schöne chinesische Leuchter zur Erde, ein Todesschreck hatte sie ergriffen. Er fiel und zerbrach, verursachte aber nur ein dumpfes Geräusch, weil er auf eine auf der Diele liegende Decke traf. Kaum hatte er diesen Fall gehört, als auch sogleich ein dumpfes Gewimmer, ein unartikulierter Schrei wie: Feuer! sein Ohr traf; es war dies die einzige Äußerung, welche das arme erschrockene Mädchen zu tun vermochte. Das zitternde Geschrei ertönte so nah an seinem Ohre, dass er ihren Atem an seiner Wange zu fühlen glaubte.

Wenn sie ihn nun berührte? Oder wenn sie den Gang seiner Schritte fühlte, wie es vorhin bei Zack geschah, als er ihr ein Glas Wein anbot? Es war gleich gefahrvoll stehen zu bleiben —— als sich zu bewegen. Er stand ebenso hilflos als das hilflose Geschöpf neben ihm. Das dumpfe, fortwährende, gleichmäßige Wimmern traf sein Herz sehr peinvoll und erregte wieder jene unheimlichen Gedanken an die tote Marie Grice. Der Angstschweiß trat hervor, Kälte durchrieselte seine Glieder, ein Fieber folgte und trocknete ihm Hals und Mund aus, und zum ersten Mal in seinem Leben durchrieselte ein kalter Todesschauer seine Seele. —— Er, der noch nie gezittert unter den schrecklichsten Gefahren des Seelebens und der Wildnis, der seit mehr als zwanzig Jahren mit ihnen gespielt, wie ein Kind mit altem Spielzeug, —— ward jetzt von Todesangst durchschauert, als ob er am Sterben läge.

Doch schien es ihm, als ob das dumpfe Gewimmer allmählich schwächer würde und nicht mehr dicht in seiner Nähe sei. Und dann glaubte er eine Bewegung ihres Körpers und ein Rauschen ihres Kleides zu hören. Auch vernahm er ihre leisen Schritte und das Tasten ihrer Hände am Tische auf der entgegengesetzten Seite. Dann hörte er ihre Fußtritte nach der Tür zu und endlich ihr Kleid an der halb geöffneten Tür anstreichen. Jetzt erschallte der erste Fußtritt vom Hauspflaster außerhalb des Saales, dann das Wischen ihrer Hände an der Wand —— und all dieses Geräusch verschwand allmählich, je höher sie die Treppe stieg.

Als sie verschwunden und gänzliche Stille eingetreten war, überkam ihn auch das Gefühl der Sicherheit wieder —— seine Schlauheit und Entschlossenheit kehrte zurück. Er horchte noch ein klein wenig, und als er keine Störung unter den Schläfern, des Hauses gewahrte, wagte er ein Zündhölzchen anzuzünden, um so geräuschlos die Gartentür zu gewinnen. In einer Minute befand er sich in freier Luft, und in der zweiten außerhalb des Garten. Mit leichtem Herzen wanderte er die einsame Straße entlang und sah das Haarbracelet wohlverwahrt in seiner Tasche.

Er wagte nicht, es aus der Tasche zu holen und zu betrachten, fühlte aber auch nicht den geringsten Skrupel, nicht die geringsten Gewissensbisse über seine Tat und die Art, wie er zum Besitz des Haarbracelets gelangt war. Obgleich sehr gewissenlos in dieser Hinsicht, war er doch andererseits außerordentlich gewissenhaft. Denn als er an das arme, taubstumme Mädchen und den ihr verursachten Todesschrecken dachte, überkam ihn tiefes Bedauern und schmerzliche Reue. Wie geduldig und artig hatte sie sich bemüht, ihre Dankbarkeit für seine Gabe auszudrücken und anzudeuten, wozu sie dieselbe gebrauchen wolle. Und wie grausam hatte er sie in Furcht und Angst versetzt! »Ich wünsche, ich hätte sie nicht so erschrocken«, dachte Mat und eilte mit schnellen Schritten nach seiner Wohnung. »Ich wünsche, ich hätte ihr den grausamen Schrecken nicht verursacht.«

Aber die große Ungeduld, das Bracelet zu besehen, bekam gar bald die Übermacht über alle seine Gedanken und Gefühle. Er blieb unter einer Gaslaterne stehen und zog es aus der Tasche. Er konnte bemerken, dass es aus zweierlei Haaren verfertigt und auf dem goldnen Reif einige Buchstaben eingegraben waren. Aber seine Hand zitterte, seine Augen waren trüber als gewöhnlich und das Gaslicht hing zu hoch, um die Schriftzüge klar erkennen können.

Er steckte demzufolge das Bracelet wieder in die Tasche, murmelte etwas ungeduldig für sich hin und eilte dann mit noch größerer Schnelligkeit auf Kirk Street zu. Als er die Tür öffnete, traf er in der Hausflur die Frau des Tabakhändlers. Ohne ein Wort der Höflichkeit oder Entschuldigung nahm er ihr zu ihrem größten Erstaunen das Licht aus der Hand und wanderte zur Treppe hinauf. Da Zack noch nicht aus dem Theater zu Hause war, so konnte er jetzt das Haarbracelet ganz ungestört betrachten.

Sein erster Blick fiel auf den Goldreif, und als er denselben näher an das Licht hielt, vermochte er die eingegrabenen Buchstaben zu lesen:

»M. G. Zur Erinnerung an S. G.

Marie Grice Zur Erinnerung an Susanna Grice.«

Bei Äußerung dieser Worte erfasste seine Hand krampfhaft das Bracelet und sank dann schwerfällig aufs Knie.

Die Theatervorstellung, welcher Zack beiwohnte, ward durch Wiederholung einzelner Gesänge und Tänze so ausgedehnt, dass sie erst nach Mitternacht zu Ende ging. Als er das Theater verließ, machten sich sogleich die physikalischen Konsequenzen des Einatmens einer verdorben Atmosphäre im Mund, Halse und Magen geltend und fühlbar. Dagegen dufteten die Wohlgerüche des Schellfisches und Liqueurs recht einladend in seine Nase, als er in die frische Luft trat, und bewirkten eine Inklination zum Austernladen, der er auch sehr gern Folge leistete.

Hier dachte er aber auch recht ernstlich an die Zukunft, denn er hatte ja die Aussicht in der Tasche, Schüler des »British Museums« und der »Little Bilge Street Drawing Academy« des Mr. Strather zu werden. Daher setzte er auch seine alten Bekannten unter dem Dienstpersonal des Austernladens in Erstaunen über seine große Mäßigkeit hinsichtlich der feinen Delikatessen. Als er seinen Appetit gestillt und sich auf dem Wege nach dem Tabakladen befand, unterwarf er sich mit vollständiger Resignation dem »Council der Royal Academy« als Student der schönen Künste.

Es überraschte ihn, dass er seinen Freund nicht schnarchen hörte, als er vor der Wohnstube anlangte; aber noch mehr ward er durch die Beschäftigung überrascht, welche er an Mr. Marksman bei seinem Eintritt in das Vorderzimmer gewahrte. Mat saß an der Tafel und reinigte den Lauf seiner Büchse mit Sandpapier. An seiner Seite stand ein ungeputztes Licht, eine leere Flasche und ein Glas mit nur einer geringen Quantität Branntwein. Als er aufblickte, sah man an seinem Gesicht, dass er stark getrunken hatte. Seine Augen hatten etwas Wildes und Starres und um seine Lippen schwebte ein beständiges unnatürliches Lächeln, wie es Zack noch nicht gesehen hatte.

»Ei, Mat, alter Knabe!« sagte er schmeichelnd, »Ihr seid ja so, ganz außer Fassung. Was ist Euch Unrechtes passiert?«

Mat scheuerte ununterbrochen seine Rifle fort und gab gar keine Antwort.

»Was Wunder kann Euch bewegen, Eure Büchse in der Nacht zu putzen?« ergänzte der junge Thorpe. »Ihr habt sie ja niemals berührt, seitdem Ihr sie ins Haus brachtet. Was wollt Ihr jetzt damit beginnen? —— Wir schießen hier in England keine Vögel mit Büchsenkugeln, Hört Ihr’s!? ——«

»Eine Riflekugel ist für mein Wild bestimmt, sobald ich’s auffinde«, sagte Mat, indem er Zack plötzlich sehr verwegen anblickte.

»Was für ein Wild mag er meinen?« dachte Zack. »Es scheint, als ob er sich beinah betrunken hat. Kann ihm irgendetwas passiert sein, seitdem wir uns vor dem Theater trennten? —— Ich gedenke es aufzufinden, aber er ist solch ein alter dummer Wilder, wenn der Branntwein ihm in den Kopf gestiegen ist, dass ich es gar nicht wagen kann, ihn zu ——«

Hier wurden Zacks Reflexionen durch die Stimme seines exzentrischen Freundes unterbrochen.

»Bist Du jemals mit einem gewissen Carr zusammengetroffen?« fragte Mat und blickte dabei fortwährend auf die Rifle, die er noch stärker rieb, als er diese Frage stellte.

»Nein«, sagte Zack. »Ich kann mich dessen nicht erinnern.«

Jetzt hielt er beim Reinigen seines Gewehrs inne und begann etwas ungeschickt in einer seiner Taschen zu suchen. Nach einigen Momenten brachte er einen unordentlichen langen Brief hervor, mit einer kleinen schwer leserlichen Handschrift, welche anstatt einer Adresse zwei lange Zeilen als Aufschrift enthielt. Dieses befremdliche Schreiben öffnete Mat und las auf der ersten Seite, während er mit dem Finger auf den Zeilen hinzeigte, um hierdurch den Blick sicher zu führen. Er stockte zuweilen, las dann unruhig weiter, aber nicht ohne Schwierigkeit —— dann steckte er den Brief in die Tasche, blickte wieder starr auf sein Gewehr und rief dann mit großer Emphase den Namen:

»Arthur Carr? ——«

»Nein«, erwiderte Zack. »Ich traf niemals mit einem Manne dieses Namens zusammen. Ist es einer Eurer Freunde?«

Mat begann abermals die Flinte zu putzen. —— Auch der junge Thorpe schwieg, als Mat nicht antwortete. Er war am Abende ein klein wenig erstaunt gewesen, als sein Freund den Fächer und Tabaksbeutel hervorholte —— was früher niemals geschehen war —— und zu Mr. Blyth sagte, dass beide ehemals für ein Frauenzimmer bestimmt gewesen, welches nun tot sei. Für welches weibliche Wesen, hatte Mat niemals gesagt, selbst nicht an jenem familiären Bacchusabende in der Wohnung zu Kirk Street. Zack hatte jene Äußerung damals unbeachtet gelassen; aber jetzt, —— die befremdende plötzliche Bezugnahme auf den Namen Carr, —— das mysteriöse Rifleputzen und desperate Branntweintrinken in der nächtlichen Einsamkeit —— dieses im höchsten Grade sonderbare Benehmen Mats machte doch auch den leichtsinnigen Zack perplex.

»Ist diese Bezugnahme auf Arthur Carr ein Geheimnis des alten Knaben?« So fragte sich Zack selbst in ängstlicher Bestürzung. »Wenn er sich jetzt etwas mehr auslässt als gewöhnlich, so wundert’s mich nicht, er hat auch einmal mehr getrunken!«

Während Zack so für sich nachgrübelte, putzte Mr. Marksman fortwährend eifrig an seiner Rifle. Nach einigen Minuten Stillschweigens warf er plötzlich sein Stück Sandpapier weg und begann wieder zu sprechen.

»Zack«, sagte er vertraulich, während er beständig aufs Gewehr blickte und mit dem Ladestock leise drauf schlug, »ich und du sollten einmal übers Meer in jenes wilde Land gehen. Ich bin bereit zu segeln, wenn ——« Bei diesen Worten blickte er mit seinen blutrot unterlaufenen Augen zu Zack empor, schlug sie aber sogleich wieder nieder und starrte auf die Rifle.

»Wenn was? ——« fragte Zack.

»Ich muss erst Arthur Carr auffinden«, antwortete Mat mit ungewöhnlicher Niedergeschlagenheit des Tones. »Nur das lass mich tun, und nach Verlauf einer Stunde werde ich abreisen. Er soll sterben und begraben werden ——«

»Aus welchen Gründen soll er gesucht werden?« unterbrach Zack.

»Ich habe mir in den Kopf gesetzt, dass er noch lebt und dass ich ihn finden werde«, erwiderte Mat.

»Wohlan!« sagte der junge Thorpe ärgerlich.

Es trat wieder Stillschweigen ein. Mats Kopf neigte sich abwärts und sein Oberkörper folgte soweit, dass der Ellenbogen auf das Gewehr zu liegen kam. In dieser seltsam gebückten Stellung, begann er sich damit zu amüsieren, dass er das Schloss der Rifle auf und zuschnappen ließ. Zack, welcher glaubte, dass er vom Branntwein etwas stupide geworden sei, begann mit seiner leichtsinnigen Manier ihn zu reizen.

»Was der Teufel soll all das Mysteriöse an Euch?« rief er keck. »Ich lasse mich hängen, wenn ich Eure nächtlichen Ausflüge begreifen kann! Seit Ihr den Federfächer und Tabaksbeutel holtet ——«

»Wohl! was ist’s damit?« unterbrach Mat und starrte ihn mit einem wilden misstrauischen Blick ins Gesicht.

»Nichts Besonderes«, erwiderte Zack unerschrocken, »außerdem, dass es nicht artig von Euch ist, mir dieselben nicht vorher gezeigt zu haben; auch über das, was Ihr zu Mr. Blyth sagtet, habt Ihr noch kein Wort zu mir gesprochen, dass Ihr den Fächer und Beutel für ein Frauenzimmer bestimmt hättet, welches ——«

»Was ist mit ihr?« unterbrach Mat, erhob sich und ging hastig mit glühenden Wangen und drohenden Blicken im Zimmer umher, sein Gewehr zur Erde stoßend.

»Nichts, als ein Freund sagen muss«, erwiderte Zack, welcher fühlte, dass er bei Mats gegenwärtigem Zustande doch zu weit gegangen war und zu viel gesagt hatte. »Es tut mir leid um Euch, dass sie Eure Rückkehr nicht erlebt hat. Ich kann Euch nicht beleidigen und sage auch nicht zu viel, wenn ich frage, ob ihr Tod schon lange ——«

»Er erfolgte, bevor du geboren warst.« Diese Antwort, über welche Zack mehr erstaunte, als über alles andere, gab er mit gedämpfter Stimme, als wenn er zu sich selbst spräche. Jetzt stellte er die Büchse zur Seite, setzte sich an die Tafel und legte den Kopf in die Hand. Der junge Thorpe stellte einen Stuhl in seine Nähe, enthielt sich aber in diesem Moment jeder Frage. Dieses Stillschweigen schien einen Wechsel in Mats Gemüt zu begünstigen. Er blickte auf und betrachtete Zack mit scharfer ängstlicher Besorgnis. »Ich liebe Dich, Zack«, sagte er, legte die Hand auf dessen Arme und streifte mechanisch den Ärmel empor. »Lass uns stets brüderlich und vergnügt zusammen leben, so gut wir können.« Jetzt schwieg er wieder, während seine Hand Zacks Arm fest umschloss. Sein wilder, herber, tränenloser Blick wurde allmählich sanft, als er hinzufügte: »Ich freue mich über dich, Zack, auch du bist besorgt über sie. Ach! Sie starb schon längst vor vielen Jahren, als du noch nicht geboren warst.« Seine Hand ließ nach, und als er die letzten Worte noch einmal wiederholt hatte, wandte er sich seitwärts und versank in trauriges Sinnen über längst vergangener Tage Leid und Schmerz.

Zacks große Verwunderung trieb ihn zu einer andern Frage.

»War’s eine Geliebte von Euch?« fragte er, unbewusst seine Stimme zu einem Geflüster herabsinken lassend »oder eine Verwandte, oder ——«

»Verwandt mit mir. Verwandt«, sagte Mat schnell und ergriff wieder Zacks Arm, aber ohne aufzublicken.

»War’s Eure Mutter?«

»Nein.«

»Schwester?«

»Ja.«

Zack war einige Minuten stumm. Als er wieder zu sprechen begann, ergriff Mat seinen Arm —— aber etwas heftig und hielt ihn.

»Schweig nun«, sagte Mr. Marksman befehlend. »Lass uns nicht mehr darüber reden, mein Kopf ——«

»Leidet Ihr am Kopfe?« fragte Zack

Jetzt erhob sich Mat wieder und es trat ein abermaliger Wechsel seiner Gesichtsfarbe ein. Das Rot seiner Wangen wurde immer stärker und erstreckte sich übers ganze Gesicht bis auf seine Hirnschädelkappe. Es bemächtigte sich seiner eine Konfusion, die Augen wurden trübe und düster, die Stimme dumpf und schwerfällig.

»Ich habe zu viel Branntwein getrunken«, sagte er, »mein Kopf wird mir zu heiß an jener alten Wunde, wo sie mich skalpiert haben. Gib mir meinen Hut und leuchte mir, Zack; ich kann nicht länger im Zimmer bleiben. Halt’ mich nicht! Lass mich aus dem Hause.«

Der junge Thorpe nahm ein Licht und führte ihn zur Treppe hinunter bis auf die Straße, ohne ihn durch ein Wort zu irritieren, wartete aber auf der Hausschwelle noch einige Zeit, um ihn forteilen zu hören. Er war bald außer Sicht, und Zack vernahm nur noch das Geräusch seines Stocks auf dem Pflaster, aber nach kaum einer Minute schon kehrte er wieder zurück.

»Zack«, wisperte er, »Du fragst unter Deinen Freunden, ob irgendeiner den Mann kennt, dessen Namen ich nannte.«

»Meint Ihr den Arthur Carr?« fragte Zack.

»Ja, Arthur Carr«, sagte Mat sehr ernst. Und bevor Zack nur noch ein Wort zu sagen vermochte, hatte Mat sich schon wieder gedreht und war im Dunkel der Nacht verschwunden.



Kapiteltrenner

Fünftes Kapitel - Mr. Marksmans zweiter ländlicher Ausflug

Am nächsten Morgen nach Mats und Zacks Visite war Mr. Blyth sehr früh munter. Männlich entschlossen, sein inneres Widerstreben gegen die Reise zu überwinden, packte er seine Farben und Pinsel zusammen, nahm zärtlichen Abschied von seiner Frau und Madonna und trat seine Reise mit dem ersten Frühzug an.

Sie führte ihn in den Westen von England, in eine Landschaft, welche durch ihre malerische Schönheit berühmt ist und deren Bewohner durch ihre Gastfreundschaft ehrenvoll bekannt sind. Obgleich er nun die Hoffnung hatte, seine Zeit angenehm zu verleben und auch ein profitables Geschäft durch Porträt malen zu machen, so verfolgte ihn dennoch jene ängstliche unerklärliche Betrübnis über seine kurze Trennung von der Heimat in den Eisenbahnwagen hinein. Trotz der schnellen Bewegung und des Wechsels der Szenen presste ihn die Beklommenheit ebenso hartnäckig wie in der vorigen Nacht. Seine Gemütsunruhe würde aber noch viel größer geworden sein, wenn er zwei bemerkenswerte häusliche Begebenheiten gekannt hätte, welche ihm seine Familie am Tage der Abreise aus Politik verheimlichte.

Als Mr. Blyths Köchin ihr erstes Morgengeschäft verrichten und den Studiensaal durch Öffnen der Gartentür lüften wollte, war sie nicht wenig erstaunt und erschrocken, dieselbe weder verschlossen noch verriegelt zu finden. Sie teilte dies Ereignis vorwurfsvoll der Hausmagd mit; diese antwortete entrüstet mehrere Mal mit der Behauptung, dass sie dieselbe gestern Abend gegen sechs Uhr verschlossen und verriegelt habe. Polly appellierte an das sichtbar widersprechende Faktum und erwiderte, dass das Ding unmöglich sei. Patty hielt an ihrem persönlichen positiven Wissen fest und behauptete, dass das Ding doch getan sei. Dieser Wortwechsel steigerte sich zum heftigen Zank, dann folgte ein mürrisches Stillschweigen —— hierauf eine zärtliche Versöhnung —— dann der feste Entschluss, niemandem ein Wort davon zu sagen, am allerwenigsten den Autoritäten des Hauses. In Folge dessen erfuhr weder Mr. Blyth noch seine Frau etwas davon.

Obgleich jedoch Mrs. Blyth über diesen Punkt unwissend war, so wurde sie doch von einem ähnlichen, wenn nicht größeren Ereignis berührt. Während ihr Gatte sein Frühstück unten zu sich nahm, kam Madonna in ihr Zimmer und schilderte nach den gewöhnlichen herzlichen Morgenbegrüßungen alle Einzelheiten der schrecklichen Begebenheit, welche sie in vergangener Nacht beim Suchen ihrer Nadelbüchse erlitten hatte. Wie ihr Licht habe plötzlich ausgehen können, vermochte sie nicht zu sagen. Sie glaubte ganz sicher, dass niemand im Zimmer gewesen sei, als sie eintrat, und ebenso sicher, dass kein Luftzug hineingeströmt sei —— kurz, sie wusste nur zu sagen, dass ihr Licht plötzlich ausgegangen, dass sie einen Augenblick halb tot vor Schreck stehen geblieben sei, und dass sie dann in der Finsternis ihren Weg nach ihrem Schlafzimmer durch Betasten habe aufsuchen müssen.

Mrs. Blyth verfolgte den Verlauf dieser wunderbaren Geschichte an Madonnas Fingern bis zu Ende. In der Meinung, dass das Licht etwa durch fehlerhafte Beschaffenheit oder durch einen Luftzug, welchen Madonna beim Suchen nicht bemerkt habe, ausgeweht worden sei, —— in dieser Meinung glaubte sie, ihrem Ehegatten nichts sagen zu dürfen, als sie ihm beim Einpacken behilflich war. »Der arme Mann ist nervös und bereits untröstlich, dass er seine Familie verlassen muss«, dachte Mrs. Blyth, »und wenn er noch das Ereignis mit dem ausgegangenen Lichte erführe, so würde er noch viel trostloser werden.« Dies erklärte sie Madonna und versicherte sich dadurch ihrer Diskretion. Sie hielt demzufolge ihr Abenteuer im Studiensaale vor Mr. Blyth so geheim, dass er gar keine Ahnung davon haben konnte; ebenso wenig hatte er eine hinsichtlich des Haarbracelets, denn er war ja zu fest überzeugt, das Bureau scharf und sicher verschlossen zu haben.

Dies waren die Umstände, unter denen Mr. Blyth sein Haus verließ. Er war nicht der einzige Reisende von des Lesers Bekanntschaft, welcher um dieselbe frühe Morgenstunde abfuhr. Durch merkwürdiges Zusammentreffen fügte es sich, dass um dieselbe Morgenstunde, wo Mr. Blyth westwärts reiste, um Porträts zu malen, Mr. Matthias Marksman —— jetzt als Mr. Matthias Grice bekannt —— nordwärts fuhr, um eine zweite Visite in Dibbledean zu machen.

Nicht eine Visite des Vergnügens, sondern eine Geschäftsvisite —— ein gefährliches persönliches Geschäft, welches Schreibern und Reisedienern nicht anvertraut werden konnte, ein »unter der Hand Geschäft«, das nicht in die Kontobücher geschrieben werden kann und welches Mat sehr geheim vor Zack halten wollte. Etwas davon hatte er freilich schon in schwachen Augenblicken gegen Zack verlauten lassen, nämlich bei jener Konversation der vergangenen Nacht in Kirk Street.

Als er aber am nächsten Morgen mit dem jungen Thorpe zusammentraf, war er sehr auf der Hut, nichts weiter davon verlauten zu lassen, was er in vergangener Nacht in einer schwachen Stunde ausgeplaudert, nachdem er eine zu starke Dosis Branntwein zu sich genommen hatte. Er verlangte in seiner plumpen Manier, Zack solle ihm alles wieder erzählen, was er ihm auf Anregung des in seinem Kopfe gewesenen Spiritus gesagt habe. Nachdem diesem Verlangen willfahrt war, fügte er nichts Neues hinzu. Er sagte einfach, das, was ihm über die Zunge geschlüpft, sei nichts mehr als die Wahrheit; aber er könne vorläufig keine nähere Erklärung darüber geben, bis er entdeckt habe, ob Arthur Carr noch am Leben sei. Auf Zacks Befragen, wie, wo und wann er diese Entdeckung zu machen gedenke, erwiderte er, dass er noch diesen Morgen aufs Land reisen werde, um den Versuch zu machen; und dass, wenn er Erfolg habe, nach seiner Rückkehr ihm alles Nähere mitgeteilt werden solle. Begünstigt mit diesem vertragsmäßigen Versprechen blieb Zack allein in Kirk Street und lebte der Hoffnung, dass er noch viel mehr über seines Freundes Geheimnis erfahren werde, wenn er von seinem ländlichen Ausflug zurückgekehrt sei.

Um noch nähern Aufschluss über dies Geheimnis zu erlangen, wird es nötig sein, sich einige Momente in das Logis zu Kirk Street zurück zu versetzen und besonders in jene nächtliche Stunde, wo Mr. Marksman allein im Vorderzimmer saß und das Haarbracelet betrachtete.

Sein erster Blick auf die eingegrabenen Buchstaben überzeugten ihn nicht nur, wem ehemals das Bracelet gehört habe, sondern benahm ihm auch jeden Zweifel über die Identität des jungen Mädchens, dessen Antlitz ihn in das größte Erstaunen versetzt hatte. Er war nicht logisch genug in seinen Schlussfolgerungen, denn, obgleich er seiner Schwester Bracelet in Valentins Bureau gefunden hatte, so war dies noch kein hinreichender Beweis, dass er auch seiner Schwester Kind entdeckt habe. Solche Zweifel entstanden gar nicht in seinem Geiste. Er war jetzt zuversichtlich überzeugt, dass Madonna, wie er gleich zuerst vermutete, —— Marias Kind sei.

Aber die nächste Frage, die er sich stellte, betraf des Kindes Vater, und hierauf war die Antwort nicht so leicht zu finden: Wer war Arthur Carr? Wo ist er? Lebt er noch?

Diese wichtigen Fragen hatten sogleich sein ganzes Sinnen und Denken erfasst, als er von Johanna Grice in Dibbledean seiner Schwester Tod vernahm und die auf Carr bezüglichen Zeilen in der Erzählung gelesen hatte. Dennoch ward er durch das Begegnen mit Madonna und durch die nachfolgenden Begebenheiten wieder von seiner Richtung abgelenkt. Jetzt aber kehrte die Betrachtung dieser Fragen mit um so doppelter Heftigkeit wieder zurück. Er hatte keine andern Gedanken als: »Wer war Arthur Carr? Wo ist er? Lebt er noch?«

Sein erster voreiliger Verdacht, Valentin möchte früher den Namen Arthur Carr geführt und des Kindes Vater sein, ward durch einen Blick auf das Haarbracelet widerlegt. Denn er wusste, dass das hellere Haar am Bracelet von Carr war, weil es genau der überflüssigen Locke glich, welche der Juwelier zurückgeschickt hatte und in Johanna Holdsworths Briefe eingeschlossen lag. Er machte den Vergleich und entdeckte die Ähnlichkeit auf den ersten Blick. Diese erlangte Überzeugung belehrte ihn hinreichend, dass Arthur Carrs Haar das direkte Gegenteil von Mr. Blyths Haar war.

Der Maler war also nicht der Vater, mochte er aber nicht wissen, wer der Vater sei? Wie konnte er anders in den Besitz des Kindes Haarbracelets von Marie Grice gelangen?

Diese zwei Fragen erzeugten eine dritte in seinem Geiste. Im Fall er ihn bei Mr. Blyth entdeckte, sollte er ihn durch gute oder schlechte Mittel zwingen, alle Zweifel zu lösen und alles zu enthüllen, was er wusste?

Nein! Nicht auf einmal so plötzlich. Das würde gleich anfangs einen desperaten und gefährlichen Zug ins Spiel bringen, welcher nötigenfalls für das Ende vorbehalten werden konnte. Außerdem war es nutzlos, gerade jetzt Mr. Blyth examinieren zu wollen, da er doch frühzeitig abgereist war. Aber es war jetzt nach den gemachten Entdeckungen unmöglich zu rasten, ohne nicht in irgendeiner Richtung einen Versuch zur Auffindung Arthur Carrs zu machen. Mats Absicht, dies zu tun, entsprang aus der stärksten Entschlossenheit —— aus dem Gefühl der Rache. Dieser gefährliche Charakterzug des Mannes hatte sich während der vieljährigen Wanderungen unter den wilden Völkern und noch wildern Tieren sehr stark ausgebildet und war jetzt zur vollen Herrschaft gelangt, seitdem er das Misstrauen der Elternschaft Madonnas hinsichtlich der Mutter enthüllt hatte. Ihn beseelte nur ein tödlicher Gedanke hinsichtlich des Schurken, welcher die Ursache von Marias Unglück gewesen war.

Er grübelte nur ein klein wenig über den nun zu versuchenden Cours, bevor er auf die Idee kam, nach Dibbledean zurückzukehren und Johanna Grice zu zwingen, mehr auszusagen, als es bei der ersten Zusammenkunft der Fall gewesen. Er misstraute der Stelle in ihrer Erzählung, wo sie sagte, dass sie seit ihrer Nichte Flucht und Tod niemals wieder etwas von Arthur Carr gehört, noch gesehen habe. Er hatte seine Ansicht und vorgefasste Meinung, welche er auch zu Zack geäußert, dass der Mann noch irgendwo lebe, und er fühlte zuversichtlich, dass er es in seiner Macht habe, als letzte Quelle das alte Weib durch Furcht zu zwingen, alles zu bekennen, was sie noch wusste. Daher entschloss er sich in erster Instanz nach Dibbledean zu gehen. Sollte er dort nicht irgendeinen Richtungspunkt seiner Nachforschungen finden können, so beschloss er nach Rubbleford zu reisen und sich direkt an Mrs. Peckover zu wenden. Er erinnerte sich, dass, als Zack ihr sonderbares Benehmen bezüglich des Haarbracelets in Mr. Blyths Halle schilderte, er vermutete, dass sie wahrscheinlich, wie der Maler selbst, um Madonnas Geschichte wisse und dies Wissen ebenso geheim und verschlossen halte. Diese Frau besaß unstreitig nähere Kenntnis, vielleicht war sie selbst mit darin verknüpft. Sie aufzufinden, wenn sie noch lebte, würde nicht schwer sein. Denn an jenem Abend wo sie Zack mit ihrer Mimik darstellte, hatte er ja gesagt, dass sie eine Meierei und einen Kuchenladen in Rubbleford besitze. Sollte er also seine Absicht in Dibbledean nicht erreichen, so beschloss er, in der Abendstunde dorthin zu reisen.

Und wenn er unglücklicherweise weder von Johanna Grice noch von Mrs. Peckover etwas mehr erfahren sollte, welchen Cours sollte er dann zunächst nehmen? Es würde dann nichts anders zu tun sein, als nach London zurückzureisen, das große Hasardspiel zu versuchen —— und sich Mr. Blyth mit dem Bracelet als Zeugen in der Hand zu entdecken, komme was da wolle.

Dies waren seine Gedanken, als er allein in Kirk Street saß. In der Nacht hatten sie in dem fatalen Trost der Branntweinflasche geendet —— in dem einsamen Exzess, welcher ihn um seine Selbstkontrolle brachte und noch als ein angewöhntes Überbleibsel aus dem früheren Wanderleben geblieben war. Er hatte den tödlichen Hass über seiner Schwester Schicksal zur lodernden Flamme angefacht und sich zum Putzen seiner Rifle angefeuert, wodurch er bei seinem halbtrunkenen Zustande sich selbst verraten und Zack ins größte Erstaunen versetzt hatte. Aber am nächsten Morgen war sein Kopf wieder klar und hielt seine gefährliche Leidenschaft unter schlauer Kontrolle. Er erklärte sich näher gegen Zack und trat dann seine Reise aufs Land mit dem ersten Morgenzuge an.

Als er auf der Station Dibbledean ausstieg, verweilte er einige Augenblicke und schaute umher, ganz so wie bei seiner ersten Visite. Dann schlug er denselben Weg ein wie damals, erreichte die bekannte Kirche und blieb ebenfalls wie bei seiner ersten Visite an der Kirchhoftür stehen.

Diesmal schien er aber nicht die Absicht zu haben, hineinzugehen —— oder die Absicht irgendetwas anderes zu tun, als müßig vor dem Tore zu stehen und die Hände mechanisch rückwärts und vorwärts zu bewegen. Als er genauer auf den Totenhof blickte, gewahrte er in geringer Entfernung einige Personen, welche unter den Gräbern herumwanderten; doch schienen sie seine Aufmerksamkeit nicht näher zu fesseln, denn er nahm nicht die geringste Notiz von ihnen. Er war augenscheinlich über einen Gegenstand, von dem er gar bald mit sich selbst zu reden begann, in Gedanken versunken, —— gleich allen Menschen, welche lange Zeit einsam gelebt und die Gewohnheit haben, laut zu denken.

»Ich wundere mich, wie viel Jahre es schon sind, seitdem ich mich mit ihr hier an den Eisenstacketen schaukelte«, dabei berührte er dieselben wie vorher, mit den Händen rückwärts und vorwärts.

»Die Angeln knarrten früher, jetzt gehen sie sehr sanft. Geölt —— vermute ich.« Als er dies gesagt hatte, zog er die Hand vom Riegel und wanderte vorwärts zur Stadt, stockte aber bald wieder, kehrte zum Tor zurück, betrachtete es aufmerksamer und sagte dann: »Ah, nicht geölt. Neu.«

»Neu«, wiederholte er und ging langsam der hohen Straße entlang »—— neu seit meiner Rückkehr, gleich allem, was ich hier sehe. Ach! ich wünsche, ich wäre nicht zurückgekommen. —— Bei Gott! ich wünsche, ich wäre nie und nimmer zurückgekehrt.«

Als er in die Stadt kam, hielt er wieder vor dem Strumpfwarenladen inne, der ehemals Josua Grice gehörte. Obwohl die allgemeine Form seines Vaterhauses noch dieselbe geblieben, so war doch die Front etwas geändert, und der neue Anputz gab ihm auch einen ganz andern Anschein, so dass es nicht leicht wiederzuerkennen war. Er blickte auf und nieder, von Fenster zu Fenster und schüttelte missvergnügt das Haupt. »Auch hier wieder neu«, sagte er für sich. »Ich weiß nicht mehr gewiss, welcher Winter die Trennung zwischen mir und Marie herbeiführte, als ich aus der Schule kam —— ein Jahr vorher, als ich zur See ging. —— Ob es Marie war —— welche der Winter brach, und ob ich den Tadel trug, ——« dann ergänzte er, langsam seinen Weg verfolgend »—— oder ob sie es war, welche den Tadel trug, —— und ich vom Winter gebrochen ward: — ich kann mich nicht mehr recht daran erinnern. Kein Wunder —— ich kann mich ja nicht einmal mehr erinnern, ob sie das Haarbracelet schon trug, als ich noch zu Hause war.« So mit sich verkehrend, erreichte er die Straße, welche zu Johanna Grices Haus führte.

Seine Gedanken schweiften in nebelgrauer Ferne längst verschwundener Zeiten, jedoch wurden sie ganz plötzlich durch eine merkwürdige Erscheinung wieder in die Gegenwart zurückgerufen, als seine Augen in der Straße etwas ganz Unerwartetes erblickten.

Er erinnerte sich, wie einsam und still dieser Ort bei seiner ersten Visite war, und jetzt musste er erstaunen über das Geräusch und die vielen klatschenden Zungen. Alle Straßenbewohner befanden sich in ihren vorderen Gärten. Alle behäbigen Städter, welche sich gewöhnlich nur in den vornehmsten Straßen bewegten, hatten sich hier unerklärlicherweise in der engen Gasse versammelt. Was wollte diese Versammlung hier verrichten? Was mochte die Ursache sein, dass sich hier Männer, Frauen und Kinder aufstellten?

Ohne still zu stehen, um etwas darüber zu hören, ohne jemand zu fragen und ohne sein Erstaunen zu zeigen, wanderte er eilig seinen Weg entlang nach dem Gartenhaus der Johanna Grice. »Zeit genug«, dachte er, »um zu erfahren, was sich hier ereignete, wenn ich erst im Hause bin.«

Als er sich dem Häuschen näherte, erblickte er zwei Wagen vor dem Tore haltend —— einer sehr befremdend an Form, beide aber sehr bemerkenswert hinsichtlich ihrer Farbe. Rund um diese Wagen standen feierlich blickende Gentleman. Und um diese feierlich blickenden Gentleman bewegte sich neugierig die vagabundierende Knaben- und Mädchengeneration von Dibbledean.

Erstaunt und verdutzt über das, was er sah, obgleich er nicht wusste warum, wanderte Mat eilig dem Hause zu. Und just als er den Garten erreichte, öffnete sich die Tür desselben, es treten vier schwarz gekleidete Männer heraus und tragen einen —— Sarg, gehüllt in ein schwarzes Leichentuch.

Mat erstarrte, als er den Sarg erblickte. Ein schwerer Seufzer entrang sich seiner Brust: »Tot!« —— schluchzte er.

Ein in seiner Nähe stehender Freund der verstorbenen Miss Grice richtete mit höflicher Stimme eine Frage an ihn. Aber er hörte sie nicht, denn seine ganze Aufmerksamkeit war nur auf den schwarzen Sarg gerichtet.

Hinter demselben wandelten zwei Gentleman mit schwarzen Hüten und in Trauermäntel gehüllt. In ihren Händen trugen sie weiße Taschentücher, um ihre Tränen zu trocknen, aber nicht aus ihren Augen, —— sondern von ihren Lippen, von denen noch der balsamische Duft des soeben genossenen Weins herab triefte.

»Dix und Nawby —— der Arzt der Verstorbenen und der Anwalt, welcher ihr einziger Testamentsvollstrecker ist«, sagte die Stimme neben Mat, aber nicht mehr inquisitorisch, sondern in höflich erklärender Form. »Das ist Millbury, der Leichenbestatter und der andere ist Gutteridge, Gastwirt zum weißen Hirsch, sein Schwager, welcher die Erfrischungen besorgt und dabei ein lohnendes Geschäft macht«, ergänzte die Stimme. »Beinah wie ein Leichenzug! Nicht einen halben Penny weniger als vierzig Pfund, wenn alles bezahlt ist. Wundervoll! Ist es nicht? ——« schloss die Stimme wieder mehr inquisitorisch.

Doch Mat fixierte seine Augen fortwährend auf die Leichenprozession und ließ den hartnäckigen Schwätzer unbeachtet.

Der mit schwarzem Sammet behangene Sarg ward in den Leichenwagen gehoben. Doktor Dix und Mr. Nawby setzten sich in die für sie bestimmte Trauerkutsche. Diese nobel gekleideten Geier in Menschengestalt, welche vom Tode der Reichen leben, hatten mit dem Leichenbestatter ein recht feierliches Begräbnis angeordnet. Auf jeder Seite des Leichenwagens wurden schwarze Stäbe getragen. Der plumpe Pomp des schwarzen Samts und der Federn, die schwarz behangenen, langsam schreitenden Rosse und bezahlten stummen Leidträger entheiligten nur auf groteske Art das schauerlich ernste Faktum »Tod«. Die ganze Prozession flatterte in schwarzen Trauergewändern, um dem kalten Grabe einen abgemagerten toten Menschenkörper darzubringen.

Als die ausgestoßene und flüchtige Marie Grice starb, weinten die Bauernfrauen und irländischen Mädchen um die fremde Unbekannte, indem sie ihrem Sarg folgten, welcher auf dem Armenplatze des Kirchhofs eingesenkt ward. Aber beim Tode der Johanna Grice, welche in ihrem Geburtsorte und unter ihren Bekannten starb, wurde auch nicht eine einzige Träne geweint. Aller Augen, welche der Leichenprozession mit beiwohnten oder zuschauten, waren tränenlos. Die auf den Pferden sitzenden Männer schwatzten vergnügt über Tagesneuigkeiten —— und das einzige noch lebende Familienmitglied, das der Zufall vor die Tür des Todes gebracht hatte, stand fern von den bezahlten Leidträgern und bewegte sich nicht einen Schritt, um sie zum Grabe zu geleiten. Nein, nicht einen Schritt.

Der Leichenwagen rollte langsam vorwärts, die Zuschauer in der Straße folgten; aber Matthias Grice stand am Gartenzaun, wo er bei seiner ersten Visite gestanden hatte. Was war hier tot für ihn? Nichts weiter als vielleicht der Verlust einer Spur von Arthur Carr. ——

Mitleids- und tränenlos hatte sie ihres Bruders leibliche Tochter in der Fremde sterben und beerdigen lassen, mitleids- und tränenlos stand nun ihr Brudersohn am Garten und überließ die Beerdigung den bezahlten Leichenbestattern.

»Wollen Sie den Leichenzug nicht mit bis auf den Totenhof begleiten?« fragte dieselbe inquirierende Stimme, welche schon zweimal versucht hatte, Mats Aufmerksamkeit zu erregen.

Diesmal wandte er sich um, blickte den Sprecher an und fand einen weißen, flachshaarigen Mann mit scharfer Physiognomie vor sich stehen, welcher in eine leichte Reitjacke gekleidet, ein kurzes Röckchen trug und einen schwarzbraunen Dachshund zur Begleitung hatte.

»Entschuldigen Sie meine Frage«, sagte der flachshaarige Mann, »ich bemerkte, wie Sie hier ankamen, und beobachtete Ihre große Bestürzung, als der Sarg herausgetragen ward. Ein Verwandter der Verstorbenen, dachte ich ——«

»Wohl«, unterbrach Mat rau, »gesetzt, ich bin es, was dann?«

»Werden Sie so gefällig sein und dies in Ihre Tasche stecken?« fragte der weiße Mann und übergab Mat eine Karte. »Mein Name ist Tatt, ich habe mich vor kurzem hier als Rechtsanwalt niedergelassen. Ich will keine unschicklichen Fragen an Sie richten, aber als Verwandter der Verstorbenen haben Sie wahrscheinlich Rechtsansprüche an deren hinterlassenes Besitztum; in diesem Falle würde ich stolz sein, Ihr Interesse wahren zu können. Es ist nicht ganz passlich, sich auf diese Art einem Klienten zu empfehlen; aber ich bin es zu meiner Selbstverteidigung genötigt zu tun. Dix, Nawby, Millbury und Gutteridge spielen alle unter einer Decke und arbeiten sich gegenseitig in die Hände; sie haben die medizinische und gerichtliche Praxis unter sich, ebenso den Viktualienhandel und die Leichenbestattung von ganz Dibbledean. Ich habe mich entschlossen, das Monopol von Nawby zu brechen, und suche so viel amtliche Geschäfte als möglich zu erlangen. Das ist’s, weshalb ich Ihnen meine Karte überreicht habe.«

Mat blickte gedankenvoll auf Johanna Grices Gartenhaus. Mag sie wohl nicht einige wichtige Briefe hinterlassen haben? Höchst wahrscheinlich. Und wenn dies —— könnte er wohl mit Hilfe des flachshaarigen Mannes in deren Besitz gelangen?

»Ein Mysterium schwebt über der verstorbenen Miss Grice«, sprach Mr. Tatt weiter, während er mit seinem Dachshunde spielte. »Niemand anders als Dix und Nawby können genau sagen, wann sie starb und wie viel Geld sie hinterlassen hat. Seltsame Familie. (Ratten-Pincher!) Es existiert ein Sohn vom alten Grice, von welchem man seit langer Zeit gar keine Nachricht bat. (Eilt! Knaben, dort läuft eine Katze und dort ein Pincher.) Wenn dieser eben jetzt zurückkehrte, der würde eine verdammte Stockung in Nawbys Geschäft bringen ——«

»Ich habe in diesen Tagen einige Fragen an Sie zu richten«, unterbrach Mat und ging vom Gartenzaun weg. Während der Rede seines neuen Bekannten war er auf den Gedanken gekommen, dass er wohl am besten seine Absicht erreiche, wenn er sogleich zu Mrs. Peckover reise, um von ihr Aufschluss über Arthur Carrs Spur zu erlangen. Sollte sich diese Hilfsquelle als erfolglos erweisen, dann sei es noch immer Zeit nach Dibbledean zurückzukehren, sich Mr. Tatt zu entdecken und zu versuchen, ob das Gesetz nicht dem Brudersohne der Johanna Grice gestatte, deren Briefschaften zu lesen.

»Kommen Sie mit in mein Geschäftszimmer«, rief Mr. Tatt enthusiastisch. »Ich kann Ihnen ein Glas des besten Bieres präsentieren, das Sie jemals in Ihrem Leben getrunken haben.«

Mat lehnte diese gastfreundliche Einladung entschieden ab und setzte seinen Weg zur Eisenbahnstation fort.

Alle Bemühungen Mr. Tatts, ihn zur Festsetzung eines Tages zu bewegen, blieben erfolglos. Er erwiderte nur mürrisch, dass er vielleicht in zukünftiger Zeit einige Fragen in einer Rechtssache an ihn zu richten habe und werde sich dann nur von ihm Rat und Hilfe erbitten.

Nach diesen Worten wünschten sie sich gegenseitig »guten Morgen« und schieden voneinander. Mr. Tatt wanderte mit seinem Dachshunde langsam der hohen Straße entlang und Mat sehr schnell in der entgegengesetzten Richtung nach der Eisenbahnstation.

Als er wieder an den Gottesacker kam, war auch der Leichenzug soeben angekommen und die Träger trugen den Sarg zur Kirchtür. Er verweilte einige Augenblicke, um dies mit anzusehen. »Sie war mit niemandem gut während ihrer ganzen Lebenszeit«, dachte er bitterlich, als er das schwarze Sammetleichentuch im Dunkel der Kirche verschwinden sah, »aber wenn sie nur noch einen Tag länger gelebt hätte, so wäre sie vielleicht für mich gut geworden. Mehr als ich zu wissen brauche —— viel, sehr viel ist mit ihr in den Sarg vernagelt, und niemand anders kann mirs sagen. Es ist eine lange Jagd auf dunkler Spur, und ihr Tod hat sie noch mehr verdunkelt.« Mit diesen Gedanken verließ er den Totenhof.

Auf seinem Wege nach der Eisenbahn nahm er den Brief von Johanna Holdsworth aus der Tasche und betrachtete die einliegende Haarlocke. Es war wohl das vierte oder fünfte Mal, dass er dies getan hatte, seitdem er Mariens Bracelet besaß. Seit jener Zeit war in ihm die vage Vermutung entstanden, dass der Besitz dieser Haarlocke ihn zur Entdeckung Arthur Carrs führen werde. Er wusste recht gut, dass es nur ein geringer Anhaltspunkt war, aber dennoch schien ihn etwas aufs Neue zu ermutigen und zu weiteren Nachforschungen anzutreiben, trotz des unerwarteten Fehlschlagens in Dibbledean. »Und wenn ich ihn auf keinem Wege aufspüren kann, murmelte er, als er die Locke in seine Tasche steckte, so habe ich die feste Überzeugung, dass ich hierdurch auf irgendeine Art seine Spur entdecken werde.«

Mat fand es nicht so ganz leicht, Rubbleford zu erreichen. Er musste auf der Dibbledeanlinie eine Strecke zurückreisen —— dann auf eine Nebenlinie abweichen —— sodann wieder ziemlich lange auf einer Hauptbahn fahren, bevor er sein Ziel erreichte. Als er in Rubbleford eintraf, war es Nacht. Dessenungeachtet fand er durch Befragen den Milch- und Kuchenladen auf und bemerkte zu seiner größten Freude, dass er noch nicht verschlossen war. Er sah zum Fenster hinein und erblickte vor dem Ladentische ein pausbäckiges, munteres Mädchen, auf eine Schiefertafel schreibend. Nach einigem Zögern trat er ein und fragte, ob er nicht Mrs. Peckover sprechen könne.

»Mutter ist vor drei Tagen zum Onkel Bob nach Bangbury verreist, um ihn zu pflegen«, antwortete das Mädchen.

Also ein zweiter Hemmstoß —— ein zweites Hindernis, Arthur Carrs Spur aufzufinden. Es war eine Fatalität.

»Wann erwarten Sie dieselbe zurück?« fragte Mat. »Nicht vor einer Woche oder zehn Tagen, Sir«, erwiderte sie. »Mutter sagte, sie würde nicht gegangen sein, aber Onkel Bob sei ihr einziger Bruder und habe weder Frau noch Kind in Bangbury.«

Bangbury! —— Wo hatte er den Namen schon gehört?

»Vater ist auf der Pfarre, Sir«, ergänzte das Mädchen, als sie bemerkte, dass der Fremde enttäuscht und verlegen dastand. »Wenn Sie wegen Milchgeschäften kommen, so kann ich dieselben besorgen; sind es aber Abrechnungen, so muss ich sie der Mutter schicken.«

»Mag sein, ich habe nur einen Brief an Ihre Mutter zu senden«, sagte Mat nach einigem Nachdenken. »Können Sie mir die Adresse auf ein Stückchen Papier schreiben?«

»Oh ja! Sir.« Und das Mädchen schrieb sehr bereitwillig und deutlich folgendes: »Martha Peckover bei Bob Randle 2 Dawson’s Buildings, Bangbury.«

Mat nahm sogleich das Papier, steckte es in die Tasche, dankte ihr recht sehr und verließ den Laden. Während seines Aufenthaltes darin hatte er sich vergeblich zu erinnern gesucht, wo er den Namen Bangbury gehört hatte; sobald er aber auf die Straße getreten war, kam auch die verlorene Erinnerung wieder zurück. Bangbury war ja der Ort, wo Marie nach Johanna Grices Aussage beerdigt war.

Nach einigen Schritten kam er an einen großen Leinwandladen, dessen Fenster sehr glänzend erleuchtet waren. Hier blieb er stehen, holte das Schreiben der Johanna Grice, die Rechtfertigung ihres Benehmens, aus der Tasche, um sich über seine Erinnerung zu vergewissern, denn er vermutete, dass der Teil ihrer Erzählung, welcher Mariens Tod berichte, seine Zweifel lösen könne. Richtig! auf einer Seite stand geschrieben:

»Ich sandte durch eine Person, auf die ich mich verlassen konnte, Geld genug zu einer anständigen Beerdigung nach Bangbury.«

»Ich will noch diese Nacht hinreisen«, sagte Mat zu sich selbst, steckte das Schreiben in die Tasche und ging wieder zur Eisenbahnstation.



Kapiteltrenner

Sechstes Kapitel - Mariens Grab

Matthias Grice war ein energischer und entschlossener Reisender; aber weder Energie noch Entschlossenheit sind mächtig genug, die unerbittlichen Gesetze der Zeit umzuändern und den speziellen Absichten der Individuen dienstbar zu machen. Obgleich Mat Rubbleford in weniger als einer Stunde nach seiner Ankunft verließ, so erreichte er dennoch nur den halben Weg bis Bangbury in der Nacht und musste dann auf einer Zwischenstation warten, um mit dem ersten Morgenzuge weiterfahren zu können. Er erreichte sein Ziel noch am Vormittage und ging sogleich zu Dawson’s Buildings.

»Mrs. Peckover ist just ausgegangen, um einen Mund voll frische Luft zu atmen, denn Mr. Randle ist diesen Morgen ein klein wenig besser. Sie wird in einer halben Stunde wieder hier sein«, sagte die Magd, welche Randles Tür öffnete.

Mat kam jetzt auf den Glauben, es sei mehr als bloßer Zufall, dass er die Mrs. Peckover nicht gleich angetroffen habe. »Ich werde in einer halben Stunde wiederkommen«, sagte er —— dann fragte er, eben als die Magd die Tür zumachtet: »Welches ist der Weg zur Kirche?«

Bangburys Kirche war dicht zur Hand und der Weisung, die er empfing, war leicht zu folgen. Als er auf den Totenhof kam, sich ängstlich umblickte, um seiner Schwester Grab zu suchen, —— ach! da ward es ihm so wehe ums Herz, da verdüsterte sich sein Geist zu kummervoller Schwermut.

Bangbury ist eine große Stadt, daher füllten auch zahlreiche Reihen Leichensteine den Gottesacker. In geringer Entfernung von ihm war ein Mann mit dem Ausgraben eines älteren Grabes beschäftigt; an ihm wandte sich Mat wegen Auskunft des Grabes seiner Schwester, indem er sagte, dass sie als Fremde hier vor mehr als zwanzig Jahren beerdigt worden sei. Aber der Mann war stupid und mürrisch, wollte oder konnte keinen Aufschluss geben, außer, dass es vergeblich sei, hier zu suchen, denn hier ruhten nur lauter respektable Personen aus der Stadt.

Mat ging auf die andere Seite der Kirche. Hier lagen die Gräber viel näher zusammen als auf jedem andern Platze. Es war dies die Stelle, wo die Armen beerdigt lagen, der sogenannte Armenplatz. Er ging durch dieselben, seine Augen suchten und blickten nach den Bäumen, welche den Kirchhof begrenzten. Dann suchte er nach einem Platze, wo die Gräber weniger dicht lagen, um dort mit seiner Nachforschung zu beginnen, ohne konfus zu werden. Solch einen Platz fand er in einer dumpfen, feuchten Ecke unter den Bäumen. An dieser Stelle lag das dünne Gras schmachtend auf der Erde und der Kot destillierte in Wasserpfützen; Brombeersträucher und Baumblätter verfaulten im Sumpf. Kann sie vielleicht hier begraben liegen? War dies Mariens letzter Zufluchtsort nach ihrer Flucht aus der Heimat?

Einige dieser Grabhügel waren mit modernden Grabsteinen besetzt; er fand aber nur fremde Namen auf denselben. Sich zu andern Hügeln wendend, fand er halb verwitterte Holzkreuze. Er hob ein abgefallenes Stück empor, um die unleserlich gewordene Aufschrift zu entziffern. Während dem ward er durch das Geräusch annähernder Schritte gestört. Er blickte auf und gewahrte eine alte Frau, welche sich dem Platze näherte, auf dem er stand.

Es war Mrs. Peckover selbst. Sie hatte ein Rezept für ihren kranken Bruder in die Apotheke getragen, ihm einige Kleinigkeiten eingekauft und sich nun ein paar Minuten gestohlen, um das Grab von Madonnas Mutter zu besuchen, bevor sie wieder an das Krankenbett zurückkehren wollte. Denn es waren viele, viele Jahre vergangen, seitdem Mrs. Peckover ihren Besuch auf Bangburys Totenhofe abgestattet hatte.

Sie stockte und zauderte, als sie zuerst Mats Gesicht erblickte, aber nach einigen Momenten ging sie wieder vorwärts und hielt nicht eher inne, als bis sie an demselben Grabe Mat gegenüber stand.

Er begann zuerst zu sprechen. »Wissen Sie, wessen Grab dies ist?«

»Ja, Sir«, antwortete Mrs. Peckover, ärgerlich auf das zerbrochene Kreuz blickend. »Ja, Sir, ich kenne es, und was mehr, ich weiß, dass es eine Schande für die Pfarre ist. Doppeltes Geld ist bezahlt worden, um es in einem anständigen Zustande zu erhalten, und sehen Sie nur, wie verwildert hier alles ist!«

»Ich fragte Sie, wessen Grab es ist?« wiederholte Mat ungeduldig.

»Das Grab einer armen, unglücklichen, verlassenen Kreatur, welche nach großen Erdenschmerzen zur himmlischen Ruhe gegangen ist, wenn irgendeine tief betrübte, reuige Seele dorthin gelangen kann«, erwiderte Mrs. Peckover mit schmerzlicher Wehmut.

»Verlassen? Unglücklich? Ein Frauenzimmer?« stammelte Mat zerstreut.

»Jawohl, verlassen und unglücklich«, rief Mrs. Peckover, ihn nur halb anhörend. »Sagen Sie ihr nichts Böses nach, wer Sie auch sein mögen. In meiner Gegenwart soll niemals schlecht von ihr gesprochen werden; arme Seele!«

Mat blickte plötzlich auf. »Wie ist Ihr Name?« fragte er.

»Mein Name ist Peckover, und ich schäme mich dessen nicht«, war die prompte Antwort. »Und so darf ich wohl so frei sein, nach dem Ihrigen zu fragen?«

Mat nahm das Haarbracelet aus seiner Tasche, hielt es mit der Inschrift vor ihre Augen, fixierte sie scharf und fragte: »Kennen Sie dies?«

Mrs. Peckover neigte sich vorwärts und prüfte einige Augenblicke; das Bracelet. »Gott behüte uns!« rief sie aus und starrte ihn mit bleichen Wangen vor Schreck und Erstaunen an. »Der Herr behüte uns! Wie sind Sie dazu gekommen? Und um der Barmherzigkeit willen, wer sind Sie?«

»Mein Name ist Matthias Grice«, antwortete er schnell und ernst. »Dies Bracelet gehörte meiner Schwester Marie Grice. Sie flüchtete aus der Heimat, starb und ward auf Bangburys Kirchhofe beerdigt. Wenn Sie ihr Grab kennen, so zeigen Sie’s mir — ist es dies?«

Atemlos und bestürzt stammelte Mrs. Peckover eine schwache bejahende Antwort mit der Hinzufügung, dass die Initialen »M. G.« wahrscheinlich noch auf dem abgebrochenen Stückchen Kreuze sichtbar sein müssten, das zu seinen Füßen liege. Sie versuchte dann noch einige Fragen zu stammeln, aber die Worte erstarben ihr in schwachen Ausrufungen des Erstaunens auf den Lippen. »Zu denken, mit Ihnen zusammenzutreffen! ——« war alles, was sie sagen konnte, »—— ihr leiblicher Bruder noch dazu! —— Oh, das zu denken! —— nur das zu denken!«

Mat blickte auf das welke Gras, auf die Brombeersträucher und auf den kleinen Hügel, unter dem ein unglückliches Menschenherz ruhte. Der gefährliche Glanz sprühte wieder aus seinen Augen, kalte erdfahle Blässe überzog seine Wangen und die Narben der alten Pfeilwunden begannen immer roter und röter zu brennen, als er für sich selbst flüsterte: »—— Ich werde auch den Mann noch finden, Marie, der Dich hierher führte!«

»Weiß Mr. Blyth, wer Sie sind, Sir?« fragte Mrs. Peckover, zitternd und zaudernd. »Gab er Ihnen das Bracelet? —— Haben Sie und er ——«

Sie stockte. Mat hörte nicht auf sie. Seine Augen starrten auf das Grab; dabei redete er in flüsternder Stimme mit sich selbst.

»Ihr Bracelet ward vor mir in eines andern Mannes Bureau verborgen —— ich habe es aufgefunden; ihr Kind ward vor mir in eines andern Mannes Hause verborgen —— aber ich habe auch ihr Kind gefunden. Ihr Grab ward auf einem fremden Kirchhofe verborgen —— ich habe es aber aufgefunden. Der Mann, welcher sie hierher gebracht hat, ist zwar jetzt noch vor mir verborgen —— aber ich werde auch ihn auffinden.«

»Beliebt’s, mich einen Augenblick anzuhören?« fragte Mrs. Peckover aufgeregter als vorher. »Kennt Sie Mr. Blyth? Und die kleine Marie —— oh, Sir, was Sie auch tun mögen, bitte, bitte nehmen Sie sie nicht weg, wo sie jetzt ist! Sie können das wohl nicht tun, Sir, obgleich Sie ihr leiblicher Mutterbruder sind? Sie können nicht, sicherlich? ——«

Er blickte plötzlich auf zu ihr, und aus seinen grauen Augen sprühten Wut und Zorn, dabei hatten sie eine Art Schlangenglanz, dass Mrs. Peckover einige Schritte scheu zurückwich; dennoch wartete sie mit desperater Beharrlichkeit auf eine Antwort.

»Sagen Sie mir nur, Sir, dass Sie nicht beabsichtigen, Marie dort wegzunehmen, und ich will Sie dann nicht um das Geringste weiter fragen! Mr. Blyth war jedes Mal betrübt, sobald er ihren Verlust befürchtete; und ich sagte ihm stets, es würde nicht geschehen. Und jetzt —— o Gott! o Gott! —— jetzt könnte es sich ereignen! —— Ach! Sie werden sie gewiss bei Mr. und Mrs. Blyth lassen, wollen Sie, Sir? Um Ihrer Schwester willen, lassen Sie das Kind bei der armen bettlägerigen Lady, welche so viele Jahre gleich einer Mutter für dasselbe gelebt und gesorgt hat! ——Um Ihrer teurer verlorenen Schwester willen —— bei der ich war, als sie starb —«

»Erzählen Sie mir etwas über sie!« sagte er mit höflicher Güte, was Mrs. Peckover gar nicht von diesem rauen Manne erwartet hatte.

»Ja, ja, alles, was Sie zu wissen wünschen. Aber ich kann nicht länger hier weilen. Mein Bruder —— ach, ich habe einen Schwindel bekommen über das Unerwartete, doch er wird bald aus meinem Kopfe verschwinden —— ich muss zu meinem Bruder zurück, um zu sehen, ob er noch schläft. Wenn es Ihnen beliebt, so kommen Sie mit mir; Sie warten unten im Zimmer, während ich hinaufgehe; und dann ——« hier stockte sie in großer Konfusion; es schien ihr doch gewagt, einen solch finster blickenden Verwandten der Marie Grice mit in ihres Bruders Wohnung zu nehmen. »Und doch«, dachte Mr. Peckover, »kann ich sein Herz nur besänftigen, wenn ich ihm alles über seine arme unglückliche Schwester erzähle, es wird ihn geneigter machen, die kleine Marie zu lassen ——«

Bei diesem Punkte wurde ihre Perplexität durch Mr. Marksman selbst abgeschnitten, welcher kurz bemerkte, dass er schon in Dawson’s Buildings gewesen sei, um sie zu sprechen. Als sie dies hörte, zauderte sie nicht länger.

»Kommen Sie mit und lassen Sie uns hier nicht länger warten. Ärgern Sie sich nicht über den schändlichen Zustand, in dem man ihr Grab hat kommen lassen«, fügte sie, um ihn zu versöhnen, hinzu, als sie sah, dass seine Augen immer noch auf die Brombeersträucher, das zerbrochene Kreuz und auf das welke Gras blickten. »Ich weiß, wohin zu gehen und zu sprechen ——«

»Gehen Sie nirgends hin und sprechen Sie zu niemandem«, unterbrach er sie zu ihrem größten Erstaunen sehr streng, »alles, was hier zu tun ist, gedenke ich selbst zu tun.«

»Sie!«

»Ja, ich. Es war wenig, was ich für sie getan habe, als sie noch lebte; und es ist sehr wenig, was ich noch jetzt für sie zu tun vermag; —— nur ihr Grab zu schmücken! —— Das vermag ich selbst, und keine andre Hand soll mir helfen.«

So rauh dies auch gesprochen ward, so fühlte sich Mrs. Peckover dennoch hinsichtlich Madonnas Zukunft erleichtert. Der finster blickende Mann schien ihr doch nicht so hartherzig zu sein, als sie zuerst dachte. Demzufolge wagte sie auch wieder, ihn über Verschiedenes zu befragen, als sie zusammen nach Dawson’s Buildings gingen.

Er variierte sehr in der Art und Weise, wie er ihre Fragen anhörte —— bei einigen antwortete er prompt und bei andern verweigerte er mürrisch jede Auskunft. Er gestand z. B. ganz willig ein, dass er ihre gegenwärtige Adresse in Bangbury von ihrer Tochter zu Rubbleford erfahren habe, verweigerte sich aber, denjenigen zu nennen, der ihm ihren Aufenthalt in Rubbleford mitgeteilt habe. Dann bekannte er wieder offen, dass weder Madonna noch Mr. Blyth wüssten, wer er eigentlich sei; sagte aber nicht, warum er sich ihnen nicht entdeckt und nicht gesagt habe, dass er der Bruder von Marie Grice sei. Ihre Frage, auf welche Art er in den Besitz des Haarbracelets gekommen, beantwortete er nur mit einem einzigen Blick, aber dieser Blick belehrte sie hinreichend, dass alles weitere Fragen danach fruchtlos sei.

Auf einer Seite der Tür in Dawson’s Buildings war Mr. Randles Laden und auf der andern ein kleines Wohnzimmer. In dieses Zimmer ward Mat geführt, während Mrs. Peckover hinauf zu ihrem kranken Bruder ging. Sie fand, dass er noch ruhig schlief, arrangierte daher nur die Betttücher zu seiner Bequemlichkeit, stellte eine Handschelle neben ihn, damit er beim Erwachen klingeln konnte, und ging dann wieder zu ihrem Gast hinunter.

Sie fand Mat auf einem Stuhle sitzend, einen Ellenbogen auf dem Tische liegend und mit der Hand das Haupt stützend. Auf der Tafel lag neben dem Bracelet auch die Haarlocke aus Johanna Holdsworths Briefe, welche er aus der Tasche geholt und wieder näher betrachtet hatte. »Ei —— Gnade mir«, rief Mrs. Peckover beim Anblick derselben, »sicherlich dasselbe Haar, das in das Bracelet gearbeitet ist! Wo haben Sie das her?«

»Niemals erfahren Sie das. Wissen Sie, wessen Haar es ist? Nein! —— Sie wissen’s nicht? Blicken Sie es ein wenig näher an. Der Mann, dem dies Haar gehörte, gewann ihr Vertrauen —— und führte sie nach großen Herzensqualen auf den Totenhof.«

»Oh! Wer war er? Wer war er?« fragte Mrs. Peckover ärgerlich.

»Wer er war?« wiederholte Mathias streng. »Was meinen Sie mit dieser Frage?«

»Ich meine nur, dass ich niemals ein Wort über den Schurken hörte —— ich kenne nicht einmal seinen Namen.«

»Sie wissen nicht?« fuhr er auf und fixierte sie sehr stark und misstrauisch mit den Augen.

»Nein, so wahr ich hier stehe, ich kenne ihn nicht. Ach! ich wusste ja nicht einmal, dass Ihre arme Schwester Grice hieß, bis Sie es mir jetzt gesagt haben.«

Als er dies hörte, nahm sein misstrauischer Blick den Ausdruck des Erstaunens an. Er nahm das Bracelet und die Locke und steckte beides in die Tasche. »Lassen Sie mich hören, wie Sie mit ihr zuerst zusammentrafen«, sagte er. »Hernach habe ich mit Ihnen einige Worte über einen andern Gegenstand zu sprechen.«

Mrs. Peckover setzte sich neben ihn und begann nun die trauervolle Geschichte zu erzählen, welche sie schon vor vielen Jahren Mr. Blyth, dem Doktor und Mrs. Joyce berichtet hatte.

Aber bei dieser Gelegenheit konnte sie die tränenreiche Geschichte nicht ununterbrochen zu Ende führen, wie damals. Denn als sie in schlichten Worten erzählte, wie sie sich am Wege niedergesetzt hatte, um das halbverhungerte Kind der verlassenen und sterbenden Marie Grice zu säugen —— da ergriff Mat krampfhaft zitternd ihre Hand und drückte sie so gewaltig, dass sie laut aufschrie. Obgleich ganz beherzt, rief sie doch: »Ah! Sie verwunden mich —— es schmerzt!«

Mat ließ ihre Hand fahren und wandte sich weg von ihr. Sein Atem rang sich schwer und angstvoll aus der Brust, seine Finger erfassten krampfhaft den Stuhl, als ob ein unaussprechlich tiefer Schmerz ihm an das Leben griffe. Sie erhob sich ängstlich und fragte, was ihm wehe täte; aber in dem Augenblick, als diese Worte über ihre Lippen waren, bemeisterte er sich selbst mit jener eisernen Entschlossenheit, welche kein noch so harter Schicksalsschlag zu biegen und zu brechen vermocht hatte. Er bat sie, sich wieder niederzulassen und sagte: »Seien sie nicht besorgt um mich; ich bin alt und rauherzig, habe viel gelitten in der Welt und kann mich nicht so ausweinen wie Sie. —— Unbesorgt —— ’s ist alles vorüber. Reden Sie weiter.«

Sie willfahrte ihm, sprach aber anfangs ein wenig zaghaft; er unterbrach sie jedoch nicht wieder, sondern hörte ihr aufmerksam zu und blickte sie fortwährend starr an.

Nur zuweilen stampfte er ein- oder zweimal auf, wie ein Mann aufstampft, wenn ihn ein unerwarteter Schmerz erfasst. Besonders schmerzlich berührten ihn die Worte, welche die sterbende Marie auf dem Totenbett gesprochen hatte; sie musste sie ihm wiederholen. An diesem Punkte der Erzählung angelangt, fügte sie nur noch wenig hinzu und zum Schluss bemerkte sie: »Ich trug große Sorge um das Kind der armen Seele, wie ich es versprochen hatte. Ich tat mein Bestes und alles, was ich vermochte, gleich einer Mutter, bis sie zehn Jahr alt wurde, dann übergab ich sie Mr. Blyth —— weil dies zu ihrem Glücke war.«

Wenn es irgend noch einer Bestätigung seiner Vermutung bedurfte, dass Madonna das Kind seiner Schwester sei, so hatte er sie jetzt vollständig. Aber seine Überzeugung über diesen Punkt stand schon früher fest.

»Ich darf wohl annehmen, Sie wissen alles, was Mr. Blyth für sie getan hat?« ergänzte die gute Frau »—— und brauche auch wohl den Fall nicht zu erwähnen, durch welchen sie ihr Gehör verlor? —— Ich brauche Ihnen gewiss nicht zu erzählen, wie sich das Unglück ereignete, nicht wahr?«

Er schien diese Frage nicht zu beachten. Das Bild des verlassenen Mädchens, allein am Wege sitzend, während ihres Kindes natürliche Nahrung, ihre Milch, vertrocknet ist und nicht mehr fließt —— abgerissen, freundlos und der Verzweiflung hingegeben —— oh! Dieser unendlich qualvolle Seelenschmerz hatte seinen Geist ganz umflort. Als er wieder zu sprechen vermochte, stammelte er nur Worte der Dankbarkeit für die Hilfe, welche Mrs. Peckover der armen Marie in ihrem größten und schmerzlichsten Elend geleistet habe.

»Existiert irgendeine lebende Seele, für die Sie zu sorgen haben und der mit einer Kleinigkeit Geld gedient wäre?« fragte er mit solcher Rauheit, dass sie wirklich stutzig darüber wurde.

»Gott behüte mich!« rief sie aus, »was meinen Sie damit? Was hat das mit Ihrer armen Schwester zu tun? Oder mit Mr. Blyth oder sonst jemand?«

»Es muss getan werden!« brach Mat aus und starrte auf den Erdboden. Die in ihm aufsteigenden Gefühle großer Dankbarkeit hatten Körper und Geist in Unruhe versetzt. »Sie haben meiner unglücklichen Schwester geholfen und standen ihr bei, als keine lebende Seele ihr Hilfe und Trost gewährte. Sie war stets meines Vaters Lieblingskind —— aber der Vater konnte ihr nicht helfen, als sie ein Raub der Verzweiflung ward. Und ich —— war weit weg —— jenseits der See und konnte ihr nichts Gutes erweisen. Aber jetzt —— bin ich hier —— und meine Hilfe kommt zu spät. Wenn aber irgendeiner Ihrer Freunde, ob in Ost, Süd, Nord oder West, etwas Geld bedarf, hier mein alles! Nehmen sie es und geben Sie’s ihm.« (Er warf sein Biberfell mit den Banknoten in Mrs. Peckovers Schoß.)

»Hier sind meine zwei Hände, welche die Ihrigen zu zerquetschen vermöchten, (er ging im Zimmer herum und streifte seine Ärmel auf) —— mit diesen beiden Händen kann ich arbeiten, wie selten ein Mann. Geben Sie mir etwas für sich zu arbeiten, das ist alles, was ich wünsche. Geben Sie mir zu tun, was Sie wollen, es ist mir alles gleich, so lange Sie ——«

»Still! Still!« unterbrach Mrs. Peckover, »machen Sie nicht solch ein schreckliches Geräusch, oder Sie werden meinen Bruder aufwecken. Und außerdem, was hat es für Nutzen, dass Sie alles umrühren, was ich für Ihre Schwester getan habe? Jedermann, welcher die arme Seele in solchem Elend gefunden hätte, würde ebenso gehandelt haben wie ich! Hier ——« sie rollte ihm sein Biberfell zurück »—— hier ist Ihr Geld und ich danke Ihnen für Ihr gütiges Anerbieten. Stecken Sie alles wohlverwahrt wieder in Ihre Tasche. Wir arbeiten, um unsre Köpfe über dem Wasser zu halten, Gott sei Dank! und wünschen uns nichts Besseres, als eben nur zu arbeiten. Stecken Sie es wieder in Ihre Tasche und dann werde ich so frei sein und Sie noch um Etwas fragen.«

»Um was?« inquirierte Mat und, blickte ihr ärgerlich ins Gesicht.

»Nur um dies: dass Sie versprechen, die kleine Marie nicht von Mr. Blyth zu nehmen. Bitte, versprechen Sie mir das! Wollen Sie nicht?«

»Ich habe noch nicht daran gedacht, sie wegzunehmen«, antwortete er. »Wo sollte ich sie hinbringen? Was kann ein alter einsamer Vagabund, wie ich bin, für sie tun? Wenn sie glücklich ist, wo sie jetzt weilt, —— mag sie bleiben.«

»Gott segne Sie für diesen Ausspruch!« rief Mrs. Peckover eifrig, lächelte mit unaussprechlicher Erleichterung ihres Herzens und plättete ihr Kleid auf den Knien. »Ich bin befreit von meiner großen Furcht und atme wieder frei, was ich nicht mehr zu tun vermochte, seitdem mein Blick zum ersten Mal auf Sie fiel. Ah! Sie blicken rau und finster; aber Sie haben eben solche Gefühle wie andere Menschen. Fragen Sie mich jetzt über alles, was Ihnen beliebt und ——«

»Für was?« unterbrach er düster. »Sie wissen doch nicht, was ich zu wissen bedarf. Ich kam hierher, nur den Mann zu finden, dem einstmals diese Locke gehörte —— (er holte sie wieder aus der Tasche) —— und Sie können mir hierbei doch nicht helfen. Ich glaubte es anfangs nicht, als Sie es sagten, jetzt aber glaube ich’s.«

»Wohl! ich danke Ihnen für dies Bekenntnis, obgleich Sie es höflicher sagen konnten ——«

«Sein Name war Arthur Carr. Haben Sie niemals über jemand mit diesem Namen reden hören?«

»Nein, niemals — niemals bis auf diesen Augenblick.«

»Der Maler wird’s wissen«, sagte Mat mehr zu sich selbst als zu Mrs. Peckover. »Ich muss zurück und es vor allem mit dem Maler versuchen.«

»Maler?« erwiderte Mrs. Peckover. »Maler? Sicherlich meinen Sie doch nicht Mr. Blyth?«

»Ja, den meine ich.«

»Warum! Was in aller Welt denken Sie von ihm? Wie soll Mr. Blyth mehr wissen als ich? Er hat die kleine Marie vor ihrem zehnten Jahre niemals gesehen, und weiß nicht das Geringste mehr über das trauervolle Schicksal ihrer armen Mutter, als was ich ihm erzählt habe.«

Diese Worte schienen ihn ganz zu betäuben, sie kamen ihm höchst unerwartet. Er hatte niemals daran gezweifelt, dass Valentin alle Geheimnisse kenne, über welche er Aufschluss haben wollte.

Er hatte schon überlegt, auf welche Art der Maler wohl animiert und nötigenfalls gezwungen werden könnte, ihm das Wichtigste zu sagen, auf das er sich dann zu verlassen vermöchte. Und jetzt ergab sich diese eingebildete Sicherheit als die größte Täuschung, die je einen Mann treffen konnte. Welche Hilfsquelle blieb ihm nun? Zurück nach Dibbledean, um durch gesetzliche Hilfe des Mr. Tatt in Besitz der von Johanna Grice hinterlassenen Schriften zu kommen? Dies schien ihm, als ob er sich an ein gebrochenes Rohr anlehne; und doch blieb nichts weiter zu tun übrig.

»Ich werde ihn finden, wo er sich auch vor mir verborgen haben mag! Ich finde ihn dennoch«, dachte Mat, indem er noch mit mürrischer und desperater Hartnäckigkeit an seiner ersten vorgefassten Meinung festhielt, trotz der neusten widersprechenden Tatsachen.

»Aber warum quälen Sie sich noch über die Auffindung Arthur Carrs?« fuhr Mrs. Peckover fort, als sie sein perplexes niedergeschlagenes Gesicht betrachtete. »Der Unglückliche ist tot, höchstwahrscheinlich, in dieser Zeit ——«

»Ich bin nicht tot!« erwiderte Mat ungestüm; »Sie sind nicht tot, und Sie und ich sind so alt als er. Sagen Sie mir nicht wieder, dass er tot sei! Ich sage er lebt! und bei Gott! ich werde mit ihm quitt werden!«

»Oh, reden Sie nicht so, tun Sie es nicht! Es ist anstößig, das von Ihnen zu hören«, sagte Mrs. Peckover, als sie vor seinem Blick so zurück bebte, wie damals an Marias Grabe. »Gesetzt, er lebt noch, warum wollen Sie mit eigenen Hände Rache nehmen, nach so vielen Jahren?«

»Die Schmerzenstränen Ihrer armen unglücklichen Schwester sind in himmlischer Seligkeit getrocknet, und das Glück ihres Kindes ist durch die besten Menschen auf der Welt begründet. Warum wollen Sie noch mit ihm quitt machen? Wenn er nicht in dieser Welt seine Strafe schon erhalten hat, so wird sie ihn sicherlich nach seinem Tode im Jenseits treffen. Reden und denken Sie nicht mehr darüber; das ist ein guter Mann, der verzeiht und vergisst. Lassen Sie uns freundschaftlich und vergnügt zusammen sein, um Mariens willen. Sagen Sie mir, wo Sie so viele Jahre gelebt haben, und warum Sie früher nicht einmal hierher gekommen sind? Das ist’s, was ich ganz besonders zu wissen wünsche. Kommen Sie und erzählen Sie mir’s. ——«

Sie sagte das in einem solch liebevollen Tone, womit sie ein widerspenstiges Kind beruhigt und besänftigt haben würde. Ihr weiblicher Instinkt führte sie sicher, indem sie es wagte, kleine Beziehungen zu Marie einzuflechten. Dies beruhigte ihn und brachte seinen Gedankenlauf in andere, bessere und friedlichere Richtungen. »Redete sie niemals zu Ihnen über einen Bruder, der zu Schiffe auf der See sei? ——« fragte er ängstlich.

»Nein, sie sprach kein Wort über ihre Verwandten und keine Silbe über Sie. Aber warum blieben Sie so lange weg? —— Das ist’s, was ich zu wissen wünsche«, wiederholte Mrs. Peckover eigensinnig ihre Frage, teils aus Neugierde, teils in der Absicht, um ihn von dem gefährlichen Gedanken über Arthur Carr abzuhalten.

»Ich war stets ein verdammter Junge, ein schlechter Bursche«, sagte Mat gedankenvoll. »Ich war nicht in Ordnung zu halten, auf keine Weise. Ich lief aus der Schule —— entsprang aus der Heimat —— und desertierte vom Schiffe ——«

»Warum? Weshalb?«

»Teils, weil ich ein verdammter Junge war, und teils in Folge eines Briefes, den ich nach einer langen Fahrt in einem Hafen Brasiliens empfing. Hier ist der Brief —— aber ist nicht gut leserlich für Sie, das Papier ist beschmutzt und zerrissen, dass Sie kein Wort erkennen werden.«

»Wer schrieb ihn? Marie?«

»Mein Vater —— er erzählte, was sich mit Marie ereignet hatte und sagte mir, dass ich nicht eher wieder zurückkommen sollte, bis die Verhältnisse wieder in Ordnung gebracht wären. Hier —— hier unter dem großen Fettflecke steht es, was er mir sagte: Wenn Du dauernde Beschäftigung irgendwo jenseits der See finden kannst, so nimm sie an, anstatt zurückzukehren. Dann schrieb er noch —— (hier auf der andern Seite, die Stelle ist zerrissen) —— besser für Dich in Deinem Alter, solchen Gram und Kummer gar nicht mit anzusehen, wie wir ihn jetzt leiden und dulden müssen? —— Sehen Sie? —— hier steht! ——«

»Ja, ja, ja, ich sehe es. Ach! der arme Mann! Er konnte Ihnen keinen bessern und weiseren Rat geben; und Sie ——«

»Ich desertierte von meinem Schiffe. Der Teufel war in mir und trieb mich fort und meines Vaters Brief tat das Letzte. Ich wurde wild und fiel in Verzweiflung über den Gedanken, dass Marie jetzt unglücklich sei und sich bei meiner Rückkehr vor mir schämen würde. Als unser Schiff nach England segeln wollte, schlüpfte ich in der Nacht zuvor in ein Landboot und entkam.«

»Sie meinen doch nicht, dass Sie seit jener Zeit bis jetzt in fremden Landen gewandert haben?«

»O ja, ich tat es! Ich hatte die Überzeugung, dass ich als Deserteur erschossen werden würde, sobald ich in mein Vaterland zurückkam. Das bewog mich zum Wandern und hielt mich so lange in der Ferne. Dann kam das Trampfieber in meinen Kopf, dann hatte es ein Ende.«

»Trampfieber! Barmherzigkeit über mich! was meinen Sie damit?«

»Ich meine das: Wenn ein Mann auf seine eigne Rechnung zigeunerisch herum wandert, wie ich es tat, und trampt im Winter und Sommer trotz Hitze und Kälte durch alle Länder, —— ein solches Wunderleben endet damit, dass man’s in den Kopf bekommt wie den Branntwein, nur dass dieser wieder herausgeht, jenes aber darin bleibt. Auch ich hab’s in meinen Kopf bekommen. Es ist noch drin. Das Trampfieber trieb mich durch die wildesten Länder; es wird mich wieder für lange —— lange Zeit dorthin treiben. Das Trampfieber wird mich eines Tages in eine jener öden, einsamen Gegenden niederlegen —— die Hand an der Büchse —— und das Antlitz zum Himmel gewandt! —— dann werde ich niemals wieder auferstehen —— als bis die Krähen und Geier die Reste meines Leibes zu ihren Jungen empor tragen.«

»Gott behüte uns! Wie können Sie so über sich selbst in dieser Weise reden?« rief Mrs. Peckover, schaudernd über das grausige Bild, das Mats letzte Worte ausmalten. »Sie versuchen sich schlechter zu machen, als Sie sind. Sicherlich haben Sie auch einige mal Ihres Vaters und Ihrer Schwester gedacht —— taten Sie’s nicht?«

»An sie gedacht? Versteht sich, hab ich es! Aber es kam eine Zeit, wo sie in meinem Kopfe ganz ausgelöscht waren —— ausgelöscht wie man ein Rechenexempel auf der Schiefertafel auswischt.«

»O schämen Sie sich deshalb! Was Sie auch sonst immer vergessen mochten, —— Sie durften nicht ——«

»Warten Sie ein wenig. Meines Vaters Brief erzählte mir —— ich zeigte Ihnen die Stelle, aber Sie können sie nicht lesen —— dass er ausgehen, Marie suchen und ihr vergeben wollte. Er hatte das zweimal um mich getan, als ich weglief; ich zweifelte daher nicht, dass er’s auch um sie tun würde. Sie wird sich mit Vaters Hilfe aus ihrer Klemme reißen, just wie ich es tat —— das war mein Gedanke. Und sie würde es getan haben —— wenn nicht ihre eigene Verwandte gegen sie gewirkt hätte; wenn Vaters eigene Schwester nicht ——«

»Hier stockte er; die Stirn runzelte sich und schreckliche Flüche entströmten seinen Lippen, als er an das schändliche Betragen der Johanna Grice dachte, wodurch Marias Unglück mit herbeigeführt und ihre Rückkehr ins Vaterhaus unmöglich gemacht wurde.«

»Jenseits! Jenseits!« unterbrach ihn Mrs. Peckover sanft. »Sprechen Sie über etwas anderes, über Vergnügteres. Lassen Sie mich hören, wie Sie wieder nach England kamen.«

»Ich kann den Zeitpunkt nicht mehr feststellen, wann Marie mir aus dem Gedächtnis schwand«, fuhr Mat fort. »Als ich dann über mein Rennen in den wilden Ländern stutzig wurde, dachte ich auch oft wieder an Marie. Es war die Zeit, merken Sie, wo ich wieder einen klaren Begriff über meine Rückkehr in die Heimat hatte. Ich hatte für sie einen Scharlachbeutel und einen Federfächer mitgebracht, da ich wusste, dass sie solchem seltsamen Spielzeug zugetan war, und glaubte sie sicher wiederzufinden. Freilich vergingen Jahre, bevor ich wieder auf den Gedanken kam, in die Heimat zu reisen. Da ich aber nach so langer Abwesenheit keinen Heller in der Tasche hatte, den ich meinem Vater hätte zeigen können, und außerdem auch noch das vollständige Aussehen eines Wilden hatte, so würde sich Marie mehr erschrocken als gefreut haben, mich wieder zu sehen. Ich will noch ein bisschen warten, sagte ich zu mir, und sehen, oh ich nicht durch anständige Arbeit etwas Geld verdienen kann, bevor ich nach Hause gehe. Ich war beinah über zehn Tagesreisen von irgendeinem Seehafen entfernt, wo, ich hoffte Beschäftigung für mich finden konnte. Ich entschloss mich, es zu versuchen, —— versuchte es und bekam auf einem Schiffsbauhofe Arbeit. —— Keine Ruhe. Das Trampfieber war in meinem Kopfe und in zwei Tagen war ich wieder auf und davon. Mit der Büchse auf der Schulter durchstreifte ich die wildesten Gegenden wie ein verdammter Vagabund.«

Mrs. Peckover hielt voll stummen Erstaunens ihre Hände empor. Matthias nahm hiervon keine Notiz und erzählte weiter, teils zu ihr, teils zu sich selbst sprechend.

»Es muss um jene Zeit gewesen sein, als Marie und mein Vater aus meinem Gedächtnis schwanden. Aber dennoch behielt ich stets die zwei Geschenke für sie —- lange bevor ich an die Heimreise dachte; ich behielt sie —— von damals bis jetzt —— und kann kaum sagen, warum. Es war Gewohnheit geworden, sie mit mir herumzutragen, und ich hatte nicht das Herz, sie fallen zu lassen. Aber je älter ich ward, desto schlechter wurde mein Gedächtnis in Hinsicht Mariens und der alten Heimat. Es schien sich eine Art Nebel zwischen uns aufzutürmen. Ich konnte mich nicht mehr ihres Angesichts klar erinnern. Sie erschien mir einige mal in Träumen, als ich nach rauen Tagemärschen einsam an meinem Feuer schlief. Sie erschien mir so klar vor Dingen, dass ich vor Schreck in kaltem Schweiß erwachte und so verwirrt war, dass ich für den Augenblick nicht wusste, ob die glänzenden Sterne dort oben in meines Vaters Garten zu Dibbledean erschienen, oder über jenem einsamen Platze, viele hundert Meilen von einer menschlichen Seele entfernt. Aber das waren nur Träume. Wachend vermochte ich mir weder Vater noch Schwester deutlich vorzustellen. Je länger ich in den einsamen Wildnissen herumirrte, desto dichter wurde der Nebel in meinem Geiste, der sich zwischen mir und den Meinigen erhob. Und zuletzt ward es so dunkel —— so dunkel, dass es keine Erinnerung zu lichten vermochte. Ich kreuzte endlich die See und ging in meine Heimat.«

»Aber wie gedachten Sie wieder zurückzukommen, nach so vielen Jahren?« fragte Mrs. Peckover.

»Wohl, ich bekam einen guten Haufen Geld durch Goldgraben in Kalifornien«, antwortete er. »Und mein Gefährte sagte eines Tages zu mir: ‚ich sehe nicht, auf welche Art wir unser Geld gut verwenden können, wenn wir noch länger hier bleiben. Was haben wir hier, außer schlechtem Branntwein und Kartenspiel? Lass uns wieder ins alte Land gehen, wo wir alles, was wir wünschen, fürs Geld haben können; und wenn’s alle ist, gehen wir wieder zurück und suchen mehr.‘ Mit solchen Gründen wirkte er auf mich, bis ich mit ihm zurückging. Auf dem Schiffe zankten wir uns, und als wir in den Hafen kamen, ging er seinen Weg und ich den meinen. Als ich mein Vaterland betrat, meine Muttersprache hörte und das Gesicht meiner Landsleute wiedersah, lüftete sich der düstere Nebel in meinem Gedächtnisse allmählich. Dann überkam mich eine Art Furcht vor der Heimat, ich überwand sie und kam in ein paar Tagen an. Als ich zuerst meine Hände an die Kirchhoftür legte, wo ich mich mit Marie in unserer Jugendzeit gar oft zu schaukeln pflegte, —— und als ich das alte Vaterhaus wieder erblickte —— verschwand all die Zeit, welche ich in den wilden Ländern zugebracht und das zwanzigjährige Wanderleben versank in mir wie ein Tag. Meines Vaters Namen las ich zuerst auf dem Totenhofe. Und als sie mir dann erzählten, Marie sei niemals wieder zurückgebracht worden, sondern vor vielen Jahren in der Ferne unter Fremden gestorben —— ach! Das schnitt mir tief ins Leben.«

»Ah! kein Wunder, kein Wunder!«

»Es war mir dennoch ein Wunder. Ich würde den ausgelacht haben, der mir erzählt hätte, was ich hernach in Wirklichkeit als Wahrheit zu hören bekam. Ich konnte es nicht wieder aus mir herausbringen und vermag es jetzt noch nicht. Ich war nicht mehr Herr meiner selbst, als ich zuerst meinen Geburtsort wieder betrat. Und dann zu hören, dass sie tot sei —— das schnitt mir tief ins Herz hinein. Und noch tiefer krallte es mir ins Leben, als ich ihre hinterlassenen Sachen in ihrem Koffer durchstöberte. Zwanzig vergangene Jahre kamen näher und immer näher und verwandelten sich bei jedem Dinge, das ich in die Hand nahm, in ein Gestern. Wir hatten eine Laube in unseres Vaters Garten, darin liebte sie abends zu sitzen und zu arbeiten. Ich vergaß diesen Platz schon vor vielen Jahren. Als ich aber ein Stückchen Zeug aus ihrem Koffer nebst Nadel und Zwirn in die Hand bekam —— oh! ——— da erinnerte ich mich wieder deutlich und klar jener Laube und sah sie in schönen Sommerabenden sitzend singen und arbeiten.«

»Ach! teure Erinnerungen!« seufzte Mrs. Peckover, »ich wünschte, ich hätte sie sitzen sehen können. Sie war so glücklich, ich darf es sagen, wie der Vogel auf dem Baum. —— Aber da ist noch ein Ding, was ich nicht begreifen kann, fügte sie hinzu. —— Wie sind Sie dazu gekommen, alles über Mariens Kind zu wissen?«

»Alles? Nicht alles wusste ich, als ich das Kind selbst sah. Ausgenommen, dass das arme Wesen lebensfähig geboren sei, wusste ich weiter gar nichts. Vom Kind hatte ich gar keine Vorstellung, als ich nach London kam. Mich quälte nur der einzige Gedanke, wie des Mannes Spur zu entdecken sei, der Mariens Tod herbeigeführt ——«

»Ja, ja«, sagte Mrs. Peckover dazwischen redend, um ihn von dem gefährlichen Gegenstande wieder abzubringen, als sie die Änderung seiner Stimme bemerkte und den wilden Glanz seiner Augen wieder aufflackert sah. »Ja, ja —— aber wie kamen Sie dazu, das Kind zu sehen? Sagen Sie mir das!«

»Zack führte mich in des Malers Gemäldesaal ——«

»Zack! Ei, gnädiger Himmel! Meinen Sie Master Zacharias Thorpe?«

»Ich sah ein junges Frauenzimmer unter einer Masse Leute stehen, welche es aber verwundert anstaunten, fuhr Mat weiter fort, ohne die Unterbrechung zu beachten. Dicht in ihrer Nähe sah ich sie so klar, als ich Sie jetzt sehe. Ich schaute ihr —— Angesicht gegen Angesicht —— ins Auge, -— Staunen erfasst mich! —— Mariens Kind lebt, ist empor geblüht und hier steht es vor mir! —— sagte ich zu mir selbst.«

»Aber, bitte, sagen Sie mir, wie Sie Master Zack kennen lernten?«

»Ich sagte zu mir, das ist Mariens Kind!« wiederholte Mat mit seiner vollen Bassstimme, während seine Aufmerksamkeit weit, weit abschweifte. »Zwanzig verschwundene Jahre waren mir dem gestrigen Tage gleich, als ich wieder auf den alten Platz kam. Und Dinge, welche mir schon längst aus dem Gedächtnis entschwunden waren, erinnerte ich mich wieder, als ich das Kirchhoftor und das geliebte Vaterhaus erblickte. Hier hatte Marie gespielt und gearbeitet, dort gesungen und gesprungen —— all das längst Vergessene stand wieder klar vor meiner Seele; und als ich das Antlitz jenes jungen Frauenzimmers erblickte, da verschwand aus meinem Geiste auch der letzte Rest des Nebels.«

»Und wollen Sie ihr wirklich nicht wissen lassen, wer Sie sind? —— Sagen Sie mir das gewiss, —— obgleich Sie nicht ein Wort über Zack sprechen.«

»Wenn ich wieder in das wilde Land zurückreise, werde ich ihr einfach sagen: ich bin Deiner Mutter Bruder und Du bist mein einziges Fleisch und Blut, das ich allein in der Welt zurücklasse. Gib mir die Hand und einen Kuss um Deiner Mutter willen und dann werde ich Dich nicht wieder belästigen. Das werde ich zu ihr sagen, bevor ich zurückgehe und sie für immer aus dem Gesicht verliere.«

»Oh, Sie werden nicht wieder zurückgehen. Sagen Sie nur Mr. Blyth, dass Sie dieselbe nicht von ihm nehmen wollen, —— und dann können Sie sagen, ich bin Mr. Grice und ——«

»Halt! Machen Sie nicht ein Gerede über Mr. Grice.«

»Warum nicht? ist es nicht Ihr wahrer Name, nicht Ihr gesetzlicher Name?«

»Gesetzlich genug, ich darf es sagen. Aber ich liebe nicht den Klang desselben, obgleich es mein wirklicher Name ist. Vater schrieb mir, dass er sich dessen schäme; und ich fürchtete mich, ihn zu führen, nachdem ich vom Schiffe desertiert war. Ein widriges Geschick hat diesen Namen von Anfang bis zu Ende verfolgt. Ich habe ihn schon vor vielen Jahren abgelegt und werde ihn auch niemals wieder führen. Nennen Sie mich Mat. Nehmen Sie es so leicht mit mir, als wenn ich Ihr Verwandter wäre.«

»Wohlan denn —— Mat«, sagte Mrs. Peckover lächelnd. »Ich habe noch so viele Dinge zu fragen ——«

»Ich wünsche, dass Sie sich bis morgen gedulden können«, erwiderte Mut. »Ich habe schon zu viel gesprochen, mehr als ich gewohnt bin. Ich bedarf der Ruhe für meine Zunge, aber der Arbeit für meine Hände. Haben Sie etwa ein Fußmaß in Ihrem Hause?«

Als er von Mrs. Peckover gefragt wurde, weshalb er einen Zollstab begehre, erwiderte er, dass er ängstlich besorgt sei, das Kreuz auf seiner Schwester Grabe zu erneuern. Er bedürfe des Zollstabes, um die Dimension des alten Kreuzes zu messen, und dann wünschte er, zu einem Holzhändler gewiesen zu werden, wo er ein Stück neues Holz kaufen könnte, und im Besitz desselben würde er dann Mrs. Peckover nicht wieder belästigen. So außerordentlich ihr auch diese Caprice erschien, so willfahrte die gute Frau ihm dennoch, weil sie sah, dass er ganz von ihr beherrscht ward. Sie besorgte ihm den Zollstab, wies ihn zu einem Holzhändler und dann schieden sie, nachdem Mat versprochen hatte, gegen Abend wiederzukommen.

Nachdem er das alte Kreuz auf dem Totenacker gemessen hatte und dann beim Holzhändler erschien, konnte er durchaus nicht leicht befriedigt werden. Niemals war wohl die feinste Lady diffiziler in der Wahl ihrer Kleiderstoffe hinsichtlich der Muster, Gewebe und Farbe, als es Mat beim Aussuchen des Holzes für Marias Kreuz war. Zuletzt wählte er ein Stück Walnussholz, und nachdem er den verlangten Preis ohne zu handeln bezahlt hatte, erkundigte er sich nach einem Zimmermann, wo er sich Werkzeug mieten könnte. Ein Mann, welchem Geld zur Verfügung steht, kann über alles kommandieren. Noch vor Abend hatte Mat das gewünschte Werkzeug, einen trockenen Schuppen zum arbeiten und in der Nähe ein komfortables Wohnzimmer für sich allein zur Verfügung.

Hinreichend geschickt in allen gewöhnlichen Zimmermannsarbeiten, wie er war, hätte er diese Arbeit in einem Tage vollenden können. Aber ein absonderlicher Eigensinn, eine ganz unbeschreibliche Ängstlichkeit über die kleinste Kleinigkeit, verzögerte die Arbeit um mehrere Tage. Mrs. Peckover, welche jeden Morgen erschien, um zu sehen, wie weit das Werk gediehen war, erstaunte über die gar zu große Langsamkeit Mats. Zuerst war er wirklich krankhaft skrupulös hinsichtlich der Glätte und Reinheit. Nachdem er es hinreichend geschabt und dem andern aufrecht stehenden Teile angepasst, und nachdem er, auf Anraten der Mrs. Peckover dieselben Buchstaben des alten Kreuzes »M. G.« mit dem Todesjahr »1828« eingeschnitten hatte —— war er wieder mit einer unvernünftigen hartnäckigen Einbildung über die Ausschmückung des Brettes behaftet. Trotz allen Einwendungen der Mrs. Peckover schnitt er auf die eine Seite einen Anker und auf die andere eine indianische Streitaxt —— es waren dies seine Lieblingsgegenstände. Und nach Vollendung dieser ganz außerordentlichen Ornamente konnte er es aber immer noch nicht über sich gewinnen, das Brett an seiner eigentlichen Stelle zu befestigen. Zärtlich wie zaudernde Künstler und Schriftsteller ihre Werke immer und immer wieder prüfen und betrachten, so zauderte und prüfte auch Mat viele Tage das Brett zum Monument seiner armen Schwester. Er glättete es sorgfältig mit Sandpapier, rieb es fleißig mit Leder und polierte es dann ängstlich mit Öl, so dass zuletzt Mrs. Peckover alle Geduld verlor. Sich auf den Einfluss stützend, den sie über ihn gewonnen hatte, drang sie auf Beendigung seines Werks. Während er ihr nun gehorchte, blieb er dennoch seinem ersten Entschluss treu. Er hatte gesagt, dass keine Hand ihm bei der Arbeit helfen solle; und sein Wort hielt er, denn er trug das Brett selbst auf den Kirchhof.

In dieser ganzen Zeit blickte er nicht einmal auf die Haarlocke, welche er vor einigen Tagen so oft betrachtet hatte. Es existierte keine Gemeinschaft mit dem Gedanken an Marias Monument und dem Verfolgen der Spur Arthur Carrs, während er an seinem Wackelbrett arbeitete. Als er aber das Brett an den Stamm genagelt und dadurch das Kreuz wieder hergestellt, als er den Schmutz und die Brombeersträucher weggeräumt und einen hübschen kleinen Fußpfad um den Hügel gemacht hatte, —— da beschaute er sein Werk von allen Seiten und überzeugte sich mit großer Genugtuung, dass nichts mehr daran zu verbessern sei. Aber kaum war dies geschehen, als auch schon wieder die mächtige, rastlose, nie und nimmer ruhende Leidenschaft in seiner Brust empor loderte. Seine Hände begannen in der Tasche nach der Haarlocke zu suchen, und als er Mrs. Peckover begegnete, war das erste Wort, die Anzeige seiner Abreise nach Dibbledean.

Sie hatte ihren Einfluss über ihn noch dadurch befestigt, dass sie beim Pfarrer von Bangbury die Erlaubnis für ihn erbeten hatte, das Grab seiner Schwester ohne Hindernis verschönern zu dürfen. Auch hatte sie ihn zum Geständnis mancherlei ihn betreffender Verhältnisse beredet, über die er beim ersten Zusammentreffen jede Auskunft verweigerte. Aber wenn sie versuchte, seine Absicht zu durchdringen, weshalb er Arthur Carr so eifrig nachspüre, so verfehlte sie ihr Bemühen ganz und gar und erlangte auch nicht ein Wort der Erklärung, ja, sie erhielt nicht einmal eine Silbe zur Antwort. Als er ihr sein Lebewohl sagte, schärfte er ihr noch ganz besonders ein, nichts zu Mr. Blyth über ihr Begegnen zu sagen, bis sie von ihm weiter hören oder ihn wiedersehen würde. Dann dankte er ihr noch vielmals für die seiner Schwester erwiesene Güte und Barmherzigkeit und ging.

Schon war er vierzehn Tage von London abwesend, als er abermals nach Dibbledean reiste, um den versteckten Mann aufzusuchen, über welchen er in Johanna Grices hinterlassenen Papieren Aufschluss zu erlangen hoffte.

Das Erstaunen und die Freude Mr. Tatts waren groß, als Matthias in dem Charakter eines Klienten vor der selten besuchten Geschäftstür erschien und sich als den einzigen überlebenden Sohn des alten Josua Grice zu erkennen gab. Die Freude des Advokaten flutete plötzlich in einen wahren Strom von Gratulationsworten über, so dass Mat zuerst wirklich davon überschwemmt und niedergedrückt wurde. Doch erholte er sich bald. Während nun Mr. Tatt bemüht war, durch eifriges Fragen die Identität seines Klienten und sein Recht auf die Erbschaft festzustellen, gebot ihm Mat Stillschweigen und erklärte so plump als gewöhnlich, dass er nicht nach Dibbledean gekommen sei, um Geld zu holen, sondern um in den Besitz der hinterlassenen Papiere der Johanna Grice zu gelangen. Diese höchst sonderbare Erklärung veranlasste einen langen Discours, bei welchem aber Mat die Geduld verlor und einfach sagte, er werde alle gerichtlichen Hindernisse bei Seite setzen, selbst zu Mr. Nawby gehen und ihn um Erlaubnis zur Einsicht in die verschiedenen Dokumente bitten, welche die alte Johanna Grice hinterlassen habe.

Nicht aus schlechter Absicht stellte Mr. Tatt dies Verfahren als unpassend, unverständig, gegen die Etiquette verstoßend und in jeder Hinsicht als verderblich dar. Während er noch sprach, war Matthias schon vor der Tür und Mr. Tatt, welcher diesen schrecklich unlenksamen Klienten nicht aufgeben wollte, war genötigt, ihm nachzurennen.

Mr. Nawby war ein außerordentlich hochmütiger, steifer Gentleman, hasste und verachtete Mr. Tatt so bitter, als es die Menschlichkeit nur irgend zulässt. Es ist kein Zweifel, er würde der höchst irregulären Visite mit der größten Kälte und Verachtung entgegen getreten sein, wenn ihm nur Zeit gelassen wäre, seine steife Würde zu bewahren. Aber bevor er nur ein einzig Wort sprechen konnte, trat Mat in seiner schroffen Art hervor —— was auch Mr. Tatt dagegen tun mochte —— und sagte, dass er nicht käme, um jemand wegen Geldsachen zu belästigen, sondern er wünsche nur die hinterlassenen Briefe und Schriften der verstorbenen Johanna Grice in einer Absicht durchzusehen, welche für niemand anders das geringste Interesse hätte, als nur für ihn selbst.

Unter gewöhnlichen Umständen würde Mr. Nawby einfach erklärt haben, keine Verbindung mit Mat anzuknüpfen, bevor nicht seine Identität gesetzlich festgestellt sei, aber der große, glänzende Rechtsanwalt von Dibbledean hegte einen gar zu großen Hass gegen den kecken Abenteurer, welcher sich gegen ihn in Praxis gesetzt hatte. Daher entschloss er sich, bei dieser Gelegenheit von der strengen juristischen Form nur in der expressen Absicht abzuweichen, um Mr. Tatt die Aussicht auf so und so viel Taler für Rat und Bemühung gänzlich zu benehmen. Als Mat gesprochen hatte, bewegte er seine Hand feierlich und sagte: »Warten Sie einen Moment, Sir«, dann klingelte er und beorderte seinen ersten Schreiber herein.

»Seht, Mr. Scutt«, sagte Mr. Nawby stolz zu seinem Schreiber, »haben Sie die Güte, hier Zeuge zu sein, erstens: dass ich gegen die Visite Mr. Tatts protestiere und sie als unanständig, unprofessionell, plump und geschäftsstörend erkläre. Zweitens: dass ich die Identität dieser Person nicht anerkenne und nie zulassen werde, (auf Mat zeigend) und dass ich protestiere und pro forma verneine, dass der die Person sei, für die er sich ausgibt. Sie haben mich verstanden, Mr. Scutt?«

Mr. Scutt verbeugte sich höflich und Mr. Nawby ging pomphaft auf und ab.

»Wenn Ihre Geschäftsverbindung, Sir, mit jener Person«, sagte er zu Mat und zeigte auf Mr. Tatt, »nur aus der Absicht angeknüpft ward, welche Sie mir soeben mitteilten, so bitte ich Sie, sich zu informieren, (Sie werden verstehen, dass ich Ihr Recht zu einer solchen Information und Frage verneine), dass die verstorbene Mis Grice weder Briefe noch andere Schriften hinterlassen hat. Ich zerstörte sie alle während ihrer Krankheit und in ihrer Gegenwart, und hauptsächlich auf ihren eigenen Wunsch, welchen sie mir schriftlich übergab. Mein Hauptschreiber hier, welcher zugegen war und mir assistierte, wird meine Aussage bekräftigen, wenn Sie’s wünschen. Verfolgen Sie nun mit Ihrem Anwalt diese Sache, wenn es Ihnen beliebt.«

Mat horchte aufmerksam auf jene Worte, aber auf weiter nichts. Es entstand ein heftiger Streit zwischen den beiden Anwälten —— aber er berührte kaum sein Gehör. Mr. Tatt nahm ihn beim Arm und führte ihn, fortwährend redend, heraus, jedoch hatte er nicht die geringste Aufmerksamkeit auf Mr. Tatts fließende Redewendungen. Alle seine Geistesfähigkeiten und sein ganzes Seelenleben schienen nur auf die eine Betrachtung konzentriert zu sein: »Habe ich jetzt wirklich die letzte Spur von Arthur Carr verloren?«

Als sie auf die Straße kamen, ward sein Geist wieder etwas frei und er begann nun die Notwendigkeit zur Entscheidung über seine zukünftige Aktion zu fühlen. Nicht nur, dass seine letzte Hilfsquelle fehlgeschlagen war, was sollte er überhaupt zunächst tun? Es war nutzlos, nach Bangbury, zurückzugehen, und nutzlos, in Dibbledean zu bleiben. Doch fand er es besser, irgendwohin zu gehen, als unentschlossen und untätig auf dem Schauplatz seiner Niederlage zu verharren.

Er stockte plötzlich und sagte: »Es ist nicht gut Warten Sie hier jetzt, ich will nach London zurückreisen«, und im Augenblick befreite er sich von Mr. Tatts Arm. Er fand es keineswegs so leicht, sich von Mr. Tatts juristischen Diensten zu befreien.

»Verlassen Sie sich auf meinen Diensteifer!« rief dieser energische Rechtsanwalt und verfolgte ihn hartnäckig bis zur Eisenbahnstation. »Wenn Gerechtigkeit in England herrscht, so muss Ihre Identität geprüft und Ihre Rechte müssen respektiert werden. Ich werfe mich ganz auf die Sache, mit Leib und Seele. Geld, Gerechtigkeit, Moralität und —— einen Augenblick, mein teurer Sir! Wenn Sie wirklich nach London reisen müssen, so lassen Sie mir wenigstens Ihre Adresse hier und bestätigen Sie, ob Sie in der Kirche zu Dibbledean getauft worden sind. Mehr bedarf ich nicht, um zu beginnen —— auf mein Ehrenwort, mehr bedarf ich nicht.«

Um seinen freiwilligen Rechtsanwalt bald los zu werden, willigte er in alles und übergab seine Adresse nebst Angabe seiner Wohnung in Kirk Street.

Ungeduldig sagte er ja zu der Frage, ob er in der Kirche zu Dibbledean getauft sei, dann eilte er fort und ließ Mr. Tatt auf der Straße stehen. Dieser schrieb das eben Gehörte in sein Notizbuch.

Sobald Mat allein war, überfiel ihn wieder mit erneuter Heftigkeit die quälende Frage: »Habe ich die letzte Spur von Arthur Carr verloren?« Obgleich grausame Erfahrungen seine früher begangenen Widersprüche offen darlegten, so hielt er dennoch an seinem eigensinnigen verzweifelten Aberglauben jetzt mehr denn je fest. Noch einmal holte er auf dem Wege die Haarlocke aus der Tasche und betrachtete sie hartnäckig. »Ich werde ihn finden«, dachte Mat, welcher allein in einem Eisenbahnwagen saß. »Wo er sich auch verborgen haben mag —— ich werde ihn dennoch finden!«



Kapiteltrenner

Siebentes Kapitel - Die Spur von Arthur Carr

Während Matthias Grice rückwärts und vorwärts zwischen den verschiedenen Städten herumreiste, war das Leben seines jungen Freundes und Gesellschafters in der Metropolis keineswegs ohne Zufall und Wechsel geblieben. Zack hatte seine Abenteuer so gut erlebt wie Mat. Eins davon war ganz besonderer Natur und führte zu einem solchen Resultat, dass dadurch eine wesentliche Veränderung in der Häuslichkeit des Logis zu Kirk Street eintrat.

Treu seinem gegebenen Versprechen, präsentierte sich Zack am Morgen der Abreise seines Freundes gegen elf Uhr in Mr. Strathers Hause, überreichte sein Empfehlungsschreiben und ward von diesem Gentleman noch am Vormittage als Student des Classisch-Schönen-Ideals in die Statuenhalle des Britischen Museums eingeführt. Er arbeitete resolut genug, bis die Zimmer geschlossen wurden; dann kehrte er nach Kirk Street zurück, keineswegs sehr erfreut über die neue Beschäftigung; doch wollte er fest darin ausharren, weil er beschlossen hatte, sein Wort zu halten.

Jedoch gewann sein Kunstleben ein ermutigendes Ansehen, als Mr. Strather ihn am Abende in die Little-Bilge-Street-Academie einführte. Hier dienen lebende Menschen als Modelle zum Studium. Hier war er frei im Gebrauch der Palette und konnte alle möglichen Farben mischen. Hier fand er hochstrebende Studenten der schönen Kunst, leicht in Sitten und malerisch in der Tracht, mit denen er sehr bald intim wurde. Und hier —— die Krone des Vergnügens —- hier fand er einen herkulischen Boxer als Modell sitzend, mit dem er freudevoll eine ewige Boxerfreundschaft schloss, und zwar sogleich bei seiner ersten Anwesenheit in Mr. Strathers Akademie.

Durch die übrigen folgenden Tage seiner Probezeit arbeitete er mit außerordentlicher Entschlossenheit, aber mit unendlich kleinen Fortschritten. Er schmierte mit großer Betriebsamkeit unter Mr. Strathers Oberaufsicht die ganzen Abende hindurch, bis die Sitzung geschlossen ward. Es wäre aber dann besser für ihn gewesen, wenn er sogleich nach Niederlegung seines Pinsels nach Hause gegangen wäre, aber in einer unglücklichen Stunde lungerte er noch in Little-Bilge-Street herum, als seine Abendstudien schon vorüber waren. Er schwatzte mit dem Boxermodell und willigte in einem unbewachten Augenblicke ein, bei einer Fechtübung in einer benachbarten Taverne als Patron zu fungieren.

Bei keiner andern Gelegenheit zeigen diese Gentlemen mehr Freiheit und Unabhängigkeit (besser gesagt: Unbändigkeit) des Geistes als bei solchen Gelegenheiten der scherzhaften Preiskämpfe unter einem selbstgewählten Patron. Sie lärmen und schreien unaufhörlich, suchen eines Patrons Taschen und Hut zu bekommen, um sich zu maskieren, unterwerfen aber schließlich ihren selbstgewählten Schutzherrn jeder Art von körperlicher Misshandlung. Zack natürlich sollte ebenfalls die hohe Ehre, als Patron einer gemischten Klopffechtergesellschaft fungiert zu haben, teuer genug bezahlen. Nachdem der Faustkampf eine Zeit lang ordnungsmäßig geführt war, wurde er plötzlich durch einen der Patrone (ebenfalls ein Schüler der Bilge-Street-Academie) mit der Erklärung unterbrochen, dass seine Tasche entwendet sei und er darauf bestehe, dass die Tür geschlossen und die Polizei ihre Tätigkeit beginnen solle. Große Aufregung und Störung entstand, wobei aber Zack die Bitte seines Kameraden zu warm unterstützte. In geringer Entfernung saß ihm ein Gentleman gegenüber, welcher ein Pflaster über dem Auge und eine an drei Stellen geschundene Nase hatte. Dieser schwor, dass der junge Thorpe ihn persönlich beleidigt, weil er ihn als Dieb bezeichnet habe, und indizierte seine Ehrlichkeit und seinen moralischen Wert dadurch, dass er einen Käseteller an Zacks Kopf warf. Der Teller traf an der Seite des Kopfes, zerbrach daran und verursachte eine sehr große gefährliche Wunde.

Der Chirurg, welcher zuerst Zacks Wunde verband, hielt sie für nicht gefährlich. Als er aber in Kirk Street angekommen und ein nahe wohnender Arzt zu ihm gerufen war, erklärte dieser den Zustand für höchst bedenklich. Die Wunde befand sich zwar nicht an einer sehr gefährlichen Kopfstelle, aber sie war Zack in einem Augenblick hergebracht, wo dessen große Vollblutkonstitution durch geistige Getränke bedenklich aufgeregt gewesen war. Böse Fiebersymptome traten ein und in der Nähe der Wunde kamen Anzeichen zum Vorschein, über welche der Arzt ominös den Kopf schüttelte. —— Kurz gesagt, Zack ward bettlägerig, bekam eine so gefährliche Krankheit, wie er sie noch nie in seinem Leben gehabt, und hatte außer —— seiner Hauswirtin keine einzige Person zur Pflege.

Ein Glück für ihn war es, dass sein geschickter und erfahrener Arzt des Patienten Jugend und Kraft mit als Beistand seiner ärztlichen Behandlung gebrauche. In Zeit von zehn Tagen war der junge Thorpe außer Fiebergefahr.

Unglücklich, schwach und herabgekommen, wollte er seine Mutter durch seine Krankheit nicht beunruhigen. Ohne Valentins Trost und ohne Mats Amüsement sanken seine Lebensgeister immer tiefer und tiefer; seine Niedergeschlagenheit ward so groß, wie noch nie im Leben. In diesem Zustande der Schwäche, Einsamkeit und Gedrücktheit hatte er Momente, wo er an seiner Genesung ganz und gar verzweifelte, trotz der besten Versicherungen des Arztes. Aber noch mehr quälte ihn in dieser Gemütsstimmung der letzte traurige Bericht über die Krankheit seines Vaters. Er verdammte sich bitter, dass er seit seiner Flucht nicht eine einzige Zeile an ihn geschrieben und seine Verzeihung erbeten habe. Gegenwärtig war er zu schwach, die Feder zu führen, aber des Tabakhändlers Frau —— eine gutherzige Person —— war stets bereit alles zu tun, womit sie ihm dienen konnte. Er bat sie, sein Herz dadurch etwas zu erleichtern, dass sie einen reuevollen Brief für ihn an seinen Vater schrieb und denselben sogleich an seine Adresse in Baregrove-Square absenden möge. Sie war schon lange die Vertraute seiner häuslichen Trübsal geworden, (er erzählte dieselbe natürlich jedermann, mit dem er in Berührung kam) und zeigte demzufolge durchaus kein Erstaunen —— ja sie war im Gegenteil über das Bekenntnis seiner Reue sehr erfreut. Unter Tränen und mit stotternder Stimme diktierte er ihr nun folgenden Brief: ——

»Mein teurer Vater!

Ich bin sehr betrübt, dass ich niemals an Dich geschrieben und mir Deine Verzeihung erbeten habe. Ich bitte Dich jetzt von ganzem Herzen um dieselbe denn ich bin in der Tat jetzt sehr reuevoll und über mich selbst beschämt. Willst Du mich einer andern, aber nicht zu harten Prüfung unterwerfen, so werde ich mein Bestes tun und Dir niemals wieder Veranlassung zur Betrübnis geben. Daher bitte ich Dich, schreib mir nach 14 Kirk Street, Wendover Market, wo ich mit einem Freunde zusammenwohne, welcher sehr gütig gegen mich gewesen ist. Bitte gib an meine Mutter die Versicherung meiner innigen Liebe und glaube mir, dass ich bin Dein wahrer reuevoller Sohn

Z. Thorpe junior.

Nachdem er durch diesen Brief sein Herz ein wenig erleichtert hatte und fand, dass seine Hauswirtin sehr bereitwillig war, noch einen zu schreiben, so entschloss er sich auch ein paar Zeilen an Mr. Blyth zu senden, welcher nach seiner Berechnung jetzt vom Lande zurückgekommen sein mochte. An jenem Abend, wo er schwer verwundet nach Hause gebracht ward, hatte er gebeten, dass sein Zustand vor Mrs. Blyth, die seine Adresse wusste, geheim gehalten werden sollte, im Fall sie nach ihm schickte. Dies vorläufige Wort der Vorsicht war nicht nutzlos gesprochen. Ungefähr drei Tage später kam ein Briefchen von Mrs. Blyth, worin sie ihm Vorwürfe machte, dass er seit Valentins Abwesenheit noch nicht wieder im Hause gewesen sei, und ihn zugleich zum Tee für den Abend einlud. Der Bote, welcher auf Antwort wartete, wurde mit der schlauesten mündlichen Entschuldigung, welche die Hauswirtin für diesen Fall ausgedacht hatte, zurückgeschickt, und seitdem kamen keine Einladungen wieder. Mrs. Blyth war zweifellos nicht wohl befriedigt über die kühle Manier, mit der ihre Einladung abgelehnt worden war.

In der gegenwärtigen Beschaffenheit seines Geistes machte ihm aber sein Gewissen Vorwürfe, dass er Valentin betrügen und sein Malheur geheim halten wollte. Außerdem, dass Mats lange Abwesenheit ihn auf den Gedanken brachte, als sei er von Kirk Street für immer desertiert, —— belebte den herzenskranken Zack nur noch die Hoffnung, des Malers geniales Angesicht an seiner Bettseite zu sehen. Daher beschloss er diesem ältesten, wohlwollendsten und mitleidigsten Freunde das zu bekennen, was er seinem Vater nicht einmal anzudeuten wagte.

Das Briefchen, welches er nun seiner Hauswirtin diktierte, war ebenso kindisch, als das an seinen Vater. Er lautete:

Mein teurer Blyth!

Ich fange beinahe an, zu wünschen, dass ich niemals geboren wäre; denn ich bin wieder in eine andere Klemme gekommen, in der ich von einem Boxer mit einem Käseteller an den Kopf geworfen wurde. Es war unrecht von mir, dass ich dahin ging, ich weiß es. Ich ging zu Mr. Strather, just wie Sie mir sagten, und zeichnete — in der Tat! Bitte! kommen Sie, sobald Sie zurückgekehrt sind. —— Ich sende Ihnen diesen Brief und bin sicher, Sie einmal hier zu sehen. Ich bin so krank, so einsam und noch zu schwach, um das Bett verlassen zu können.

Meine Hauswirtin ist sehr gütig und wohlwollend gegen mich; aber hauchen Sie mich nicht an, denn ich bin so schwach, dass ich mich kaum des Weinens enthalten kann, wenn ich an den Vorfall denke.

Ewig Ihr

Z. Thorpe junior.

P. S. Wenn Sie etwas Geld für mich empfangen haben, so würde ich mich sehr erfreuen, wenn Sie es mitbrachten. Ich habe nicht einen Viertelpenny und doch mancherlei zu bezahlen.

Nachdem beide Briefe gehörig versiegelt und adressiert waren, wurden sie durch einen expressen Boten abgeschickt. Sie waren an demselben Tage geschrieben worden, wo Matthias Grice die Advokaten Mr. Tatt und Mr. Nawby in Dibbledean besuchte. Während nun Zacks Briefe auf dem Wege nach ihrer Bestimmung waren, war auch sein alter Freund Mat auf dem Retourwege nach London und Kirk Street.

Baregrove-Square lag dem Boten näher als Valentins Haus; demzufolge hatte er das hochwichtige Schreiben um den väterlichen Pardon zuerst abzuliefern. Von dessen günstiger Aufnahme hing Zacks letzte Chance der häuslichen Versöhnung ab.

Mr. Thorpe saß allein in seinem Speisezimmer —— in demselben Zimmer, worin er so viele beschwerliche Jahre gesessen und mit dem alten Mr. Goodworth über seines Sohnes Erziehung disputiert hatte. Mrs. Thorpe war wegen einer starken Erkältung auf ihr Zimmer beschränkt und konnte ihm deshalb nicht Gesellschaft leisten. Der Arzt hatte ihn soeben verlassen; Freunde waren auf ärztlichen Rat im allgemeinen verbeten, um ihn nicht zu reizen. Er war einsam und hatte die Aussicht —— auch den übrigen Rest seiner Tage einsam verleben zu müssen. Vor ihm auf der Tafel lag ein Band Autographen. Er hatte sie eben durchgesehen, ob irgendetwas zu reinigen oder zu reparieren sei. Daneben lag seine Kamelhaarbürste, ein Mikroskop und nicht weit davon stand ein Fläschchen mit Gummiwasser. Die große Zerrüttung des Nervensystems, woran er nach des Doktors Aussage litt, zeigte sich oft sehr peinvoll, teils in seinen Handlungen, teils in seinen Blicken. Beim geringsten unerwarteten Geräusch in seinem Hause erschrak er, seine fahlen, gelblich-weißen Hände zitterten, wenn er sie von der Tafel emporhob, seine Wangen waren bleich und seine Augen wanderten fortwährend unsicher hin und her.

Seine Aufmerksamkeit war nicht mehr auf die Autographen gerichtet, sondern auf einen vor ihm liegenden offenen Brief. Ein Brief —— welcher ihm Trost und Mut einsprach, jedoch seinem Herzen vermochte keine irdische Hoffnung mehr Glückseligkeit zu gewähren —— und kein irdischer Trost brachte ihm die Ruhe der Seele.

Einige Tage vorher hatten die Bitten seiner Gemahlin und des Doktors Rat ihn doch endlich bewogen, auf seine Gesundheit zu achten und mehr Mittel zu seiner Genesung zu verwenden. Er resignierte daher auf seine Sekretärsstelle bei einer Religionssozietät, deren tätiges Mitglied er bisher gewesen war. Das vor ihm liegende Schreiben, in das er blickte, enthielt die offizielle Meldung der Sozietät, dass sie seine Resignation mit dem tiefsten Bedauern annehme, aber zugleich die inbrünstigen Hoffnungen seiner baldigen Genesung hege. Auch ward er für den Empfang einer Deputation zu morgen vorbereitet, welche ihm eine Dankadresse überreichen solle; dieselbe sei einstimmig von der Sozietät votiert und spreche dankend und bewundernd die Anerkennung seines hohen Charakters und seiner großen Verdienste um die Gesellschaft aus. Er konnte der Versuchung, diesen Brief dem Arzt zu zeigen, nicht widerstehen und sich auch nicht enthalten, ihn noch einige mal zu lesen, bevor er ihn ins Bureau schloss. Dies war in seinen Augen die größte Belohnung und höchste Auszeichnung seines Lebens.

Er sann noch gedankenvoll über die letzte Sentenz desselben nach, als ihm Zacks Brief überreicht ward. Es war nur ein Augenblick gewesen, dass er die Süßigkeit eines wohlgewonnenen Triumphs empfinden konnte —— denn in demselben Augenblick ward auch schon wieder das bittere Gift der früheren Verhältnisse hinein gemischt, welche ihm die schmerzlichste Pein verursachten.

Mit einem schweren Seufzer legte er den ihn hoch ehrenden Brief der Freunde weg und bereitete sich zur Antwort seines flüchtig gewordenen Sohnes vor.

Tiefer Schmerz lag auf seinem Angesicht, als er ihn zum zweiten Mal las, aber kein Ärger und Groll. Er saß eine Weile nachdenkend — dann zog er Tintenfass und Papier zu sich —— zauderte —— schrieb einige Zeilen und pausierte wieder, legte dann die Feder nieder und bedeckte seine Augen mit seiner dünnen zitternden Hand. So saß er einige Minuten, er schien nicht fähig zu sein, seine Gedanken sogleich sammeln und sein Gemüt beruhigen zu können. Endlich nahm er Zacks Brief und seine angefangenen Antwortzeilen und schloss sie in sein Schreibpult. Aber dennoch lag etwas Beruhigung und für Zacks Zukunft Hoffnung verheißendes in den wenigen geschriebenen Zeilen; denn der Brief schien nach der Aufschrift Vergebung zu atmen, er begann: »Mein teurer Zacharias ——«

Bei Ablieferung des zweiten Briefes in Valentins Hause ward dem Boten gesagt, dass Mr. Blyth morgen, spätestens übermorgen zurückerwartet werde. Da Mrs. Blyth ganz über ihres Mannes Korrespondenz während seiner Abwesenheit verfügen konnte, so öffnete sie auch sogleich Zacks Brief, sobald er ihr übergeben ward. Madonna hatte Hut und Shawl zur Hand und wollte eben in Pattys Begleitung ihren täglichen Spaziergang machen, als der Brief ankam.

»Ah, der arme, unglückliche Zack!« rief Mrs. Blyth gleich beim Anblick der ersten Zeilen und sah sehr bestürzt aus. »Er muss in der Tat sehr krank sein«, fügte sie bei näherer Betrachtung der Handschrift hinzu, denn er hat sicherlich dies nicht einmal geschrieben.

Madonna konnte die Worte nicht hören, aber sie bemerkte den betrübten Gesichtsausdruck ihrer Pflegemutter und gab daher ängstlich durch ein Zeichen zu verstehen, dass sie zu wissen wünsche, was sich ereignet habe. Mrs. Blyth überblickte sogleich das ganze Schreiben und vergewisserte sich, dass nichts darin sei, was Madonna nicht wissen dürfte, sie gestattete daher den Einblick des Mädchens, wodurch es sich am leichtesten über den Gegenstand belehren konnte.

»Wie betrübt Valentin sein wird, wenn er dies hört!« dachte Mrs. Blyth und beorderte Patty vermittelst eines Klingelzuges herauf, während Madonna angstvoll den Brief las. Die Hausmagd erschien sogleich und ward von ihrer Gebieterin beauftragt, nach Kirk Street zu geben, sich bei der Hauswirtin über Zacks Zustand zu erkundigen und eine geschriebene Liste der Erquickungsgegenstände, welche ihm mangelten, mitzubringen. »Und dann vergiss nicht zu sagen«, fügte Mrs. Blyth hinzu, »er solle sich über Geldangelegenheit keine Sorgen machen, der Herr werde in ein oder zwei Tagen wieder vom Lande zurück sein.«

Hier ward ihre Aufmerksamkeit plötzlich durch Madonna in Beschlag genommen, welche erregt und ungeduldig durch Zeichen fragte: »Was sagen Sie zu Patty? Oh! lassen Sie mich wissen, was Sie zu Patty sagen. ——«

Mrs. Blyth wiederholte durch Zeichen des Taubstummen-Alphabets die Instruktion, welche sie soeben der Dienerin gegeben und fügte, Madonnas Blässe und Aufregung beobachtend, hinzu »—— ängstigen wir uns nicht unnötig über Zack, meine teure, er befindet sich vielleicht viel besser, als wir nach diesem Briefe denken mögen.«

»Darf ich auch mit Patty gehen?« fragte Madonna, während die Angst aus ihren Augen sprach und ihre Finger zitterten. »Lassen Sie mich meinen Spaziergang mit Patty machen, just als wenn nichts geschehen wäre; lassen Sie mich gehen! Bitte, lassen Sie mich mitgeben!«

»Das arme Kind kann dort nichts nützen«, dachte Mrs. Blyth, »aber wenn ich sie hier behalte, wird sie sich nur ängstigen und die heftigsten Kopfschmerzen bekommen. Außerdem mag sie jetzt ihren Spaziergang mitmachen, denn ich kann Patty im Verlauf des Tages nicht länger entbehren.« Durch diese Gründe bewogen, gab Mrs. Blyths ihrer Adoptivtochter vermittelst Kopfnicken zu verstehen, dass sie Patty nach Kirk Street begleiten könne. Als ihr die Erlaubnis erteilt ward, verließ sie das Zimmer; auf der Treppe jedoch hielt sie an, gab Patty zu verstehen, dass sie noch einmal zurück müsse und eilte dann in ihr Schlafzimmer. Dort angekommen, schloss sie ein kleines, von Valentin empfangenes Kistchen auf, nahm aus einem Schubfach vier Sovereigns und etwas Silbergeld —— das ganze Ersparnis von ihrem Taschengeld —— wickelte es in ein Papier und eilte wieder zur Treppe hinab. Zack war krank, einsam und elend, sehnte sich nach einem Freunde, welcher ihn auf seinem Krankenlager hätte trösten können —— und sie konnte dieser Freund nicht sein! Aber Zack war arm, das hatte sie in seinem Briefe gelesen; er hatte mancherlei zu bezahlen und bedurfte Geld —— und in dieser Not konnte sie ihm heimlich eine Freundin sein, denn sie vermochte ihm ihr eigenes Geld zu geben. »Meine vier goldenen Sovereigns sollen das erste Geld sein, das er bekommt«, dachte Madonna und nahm vor der Haustür den ihr von der Magd angebotenen Arm. »Ich will es an einen Ort legen, wo er es sicher findet und doch nicht weiß, von wem es kommt. Und Zack soll wieder reich sein —— reich mit all dem Golde, das ich ihm geben kann.« Sovereigns repräsentierten schon einen großen Reichtum in Madonnas Augen; sie hatte daran von ihrem Taschengelde lange —— lange Zeit gespart.

Als sie an des Tabakhändlers Privattür klopften, ward sie sogleich von der Hauswirtin geöffnet; nachdem diese den Zweck der Botschaft vernommen und einige vorläufige Fragen über Zack beantwortet hatte, lud sie beide höflich in ihr Hinterzimmer ein. Aber Madonna blieb noch im Gange stehen und schrieb erst einige Zeilen auf ihre Schiefertafel. Nachdem dies geschehen, zeigte sie dieselben Patty, welche zu ihrem größten Erstaunen las: »Frage, wo sein Krankenzimmer ist, und ob ich hineingehen kann; ich wünsche, mit meiner eigenen Hand etwas dort für ihn zu hinterlassen.«

Patty blickte ihre junge Mistress mit größter Verwunderung an und richtete dann die Frage an die Hauswirtin, indem sie dieselbe mit einer befürwortenden Erklärung einleitete. Die gute Frau Tabakhändlerin goss hierüber ihre Sympathie und Bewunderung in einem großen Wortstrome aus, und als sie endlich endigte, erteilte sie bereitwillig die erbetene Erlaubnis, welche Patty ihrer Lady langsam auf die Schiefertafel schrieb: »Zacks und des andern Gentleman Gastzimmer befände sich in der ersten Etage. Es wäre niemand darin anwesend. Wünscht die Lady sogleich hinaufzugehen ——«

Hier verhinderte Madonna die Magd am Weiterschreiben —— nickte, um anzudeuten, dass sie alles verstanden habe —— und eilte dann leicht und flüchtig zur Treppe hinauf; sie war schon oben an der Tür, als die andern beiden erst langsam nachfolgten.

Das Vorderzimmer war wirklich leer, als sie eintrat; die darin befindliche Flügeltür, welche ins Hinterzimmer führte, stand aber halb offen; sie blickte hindurch und sah Zack in tiefem, ruhigen, fast atemlosen Schlafe liegen. Sie stutzte heftig —— zitterte —— und stand dann bewegungslos, ihn beständig anblickend. Tränen perlten ihr aus den Augen, die Farbe der Wangen veränderte sich und der schmerzliche Puls des Kummers und Mitleids schlug stärker und stärker in ihrem Herzen. Ach! wie blass und bleich, wie mitleidswürdig er da liegt, mit der schrecklichen weißen Bandage um den Kopf; und die hilflose schwache Hand hängt matt von der Bettseite herab! Wie bald verschwand von diesem kräftigen jungen Manne Gesundheit, Schönheit, Kraft und lebhafte Tätigkeit! —— Sie hatte ihn in unschuldiger Reinheit und wahrhaft abgöttisch schon lange im Geheimen verehrt. Ach wie fürchterlich möchte wohl dies Bild im Tode sein, da seine jetzige Erscheinung in stillem ruhigen Schlafe schon schauerlich ist! Sie schauderte bei diesem Gedanken, trocknete ihre Tränen und blickte dann im Zimmer umher. Ihr schnelles weibliches Auge entdeckte sogleich auf einen Blick die schmutzige Unordnung, den beklagenswerten Mangel an Komforts und alle widerlichen Unannehmlichkeiten für den Kranken. Ein wenig Geld würde Zacks Lage bedeutend verbessern und seine baldige Genesung befördern. Sicherlich könnte ihr Geld ihm etwas Komfort verschaffen und seine Wiederherstellung beschleunigen.

Voll von dieser Idee, avancierte sie einige Schritte vorwärts und suchte auf der Tafel einen geeigneten Platz, wo sie ihr Geld niederlegen könnte. Während ihres Suchens fand sie eine alte Zeitung mit einem Bündelchen Haare. Sie waren vom Arzte in der Nähe von Zacks Wunde der besseren Heilung wegen abgeschnitten worden. Madonna hatte sie kaum erblickt, als sie dieselben auch an ihrer hellbraunen Farbe mit schwachem Goldglanz für Zacks Haare erkannte. Eine kleine gekrauste Locke lag etwas seitwärts, diese war ihr ganz besonders begehrenswert —— sie wollte sich dieselbe aneignen, denn Zack könnte doch nicht wissen, dass sie im Besitz derselben sei! Sie zauderte aber noch einen Moment —— indes wurde ihre Sehnsucht nach deren Besitz noch heftiger. Nach einem Blick im Zimmer herum, ob niemand zugegen sei, ergriff sie die Haarlocke und steckte sie schnell in ihren Busen. —— Ihre Augen hatten sich vergewissert, dass niemand im Zimmer anwesend war; wäre sie aber ihres Gehörs nicht beraubt gewesen, so würde sie am Klang der Stimmen vernommen haben, dass sich Personen —— unter ihnen eine männliche Stimme — dem Zimmer näherten. Unwissend darüber, ging sie —— nach Verbergung der Locke —— zur Kaminverzierung, um ihr Geld darauf zu legen, weil sie diese Stelle für den geeignetsten Platz hielt. Kaum hatte sie es niedergelegt, als sie eine Erschütterung empfand, die durch das Öffnen und Schließen der hinter ihr befindlichen Tür verursacht war. Beim Umdrehen erblickte sie Patty, die Hauswirtin und den fremden Freund Zacks mit dem dunkelbraunen Antlitz, welcher ihr den Scharlach-Tabaksbeutel zum Geschenk gemacht hatte.

Schrecken und Verwirrung erfasste sie, als sie denselben nach der Kaminverzierung gehen und das von ihr eben hingelegte Geldpaket nehmen sah. Er hatte nämlich in demselben Augenblick die Tür geöffnet, wo sie das Geld niederlegte und entfaltete nun sorgfältig das Papier, um dessen Inhalt zu prüfen. Während er sich so beschäftigte, ging die ganz konfus gewordene Patty dicht zu ihr, ergriff ihre Schiefertafel und schrieb in größter Eile einige sehr inkorrekte Zeilen darauf. Madonna las aus der schiefen Kritzelei heraus, dass Patty durch den plötzlichen Eintritt des rauen Mietsmannes sehr erschrocken sei, welcher gerade zu derselben Zeit von der Straße eingetreten, wo sie ihrer jungen Mistress ins Zimmer hätte folgen wollen; er habe sich ihr dann auf der Treppe entgegengestellt, um erst von der Hauswirtin über Zacks Krankheit belehrt zu werden. So konfus auch Pattys Schrift war, vermochte Madonna deren Inhalt zu interpretieren und war eben damit beschäftigt, als sie eine schwere Hand auf ihrem Arme fühlte; beim Anblicken sah sie Zacks Freund Zeichen zu ihr machen, indem er ihr das aus den Kamin gelegte Geld wieder in die Hand drückte.

Sie ward darüber etwas verwirrt, aber nicht furchtsam, denn seine Augen drückten weder Verdacht noch Ärger aus. Beide schauten sich einen Augenblick sanft und traurig an. Madonnas Gesichtsfarbe veränderte sich und es ward ihr schwer, das Geld als ihr Eigentum anzuerkennen, aber sie tat es. Mat zeigte auf sich, und als sie das Haupt schüttelte, zeigte er durch die Tür nach Zack. —— Ihre Wangen begannen zu brennen und sie fürchtete sich, hinzublicken; aber es war kein härterer Versuch, die Wahrheit zu bekennen, als sie schamlos zu verneinen und ein falsches Zeichen zu machen. Sie blickte endlich hin und nickte tapfer mit dem Haupt.

Seine Augen schienen klarer und sanfter zu werden, als sie liebreich auf ihr ruhten; aber er bat sie, ihr Geld zurückzunehmen und hielt während dem mit kurioser tölpischer Gutmütigkeit ihre Hand fest. Sodann machte er noch einmal ein Zeichen nach Zacks Zimmer, griff in die Seitentasche seines Rocks und brachte nebst einem lose zusammengebundenen Paket schmutziger Briefe ein zusammengerolltes Fell heraus, wickelte es auf und zeigte ihr eine große Masse Banknoten. Jetzt verstand sie ihn vollkommen —— er hatte hinreichend Geld für sich und für Zack und bedurfte des ihrigen nicht.

Nachdem er das Stück Fell wieder zusammengerollt und in seine Tasche gesteckt hatte, nahm er auch die Briefe von der Tafel, um sie einzustecken. In diesem Augenblick fiel eine Haarlocke aus denselben heraus und zu ihren Füßen nieder. Sie hob sie auf und erstaunte aufs höchste, als sie die genaue Ähnlichkeit in der Farbe mit Zacks Haar erblickte, von dem sie eine Locke in ihrem Busen verborgen hatte.

Sie war hierüber verwundert, und noch mehr verwundert, als er die Locke sehr ärgerlich und schnell empor riss, just als sie dieselbe berührte. Glaubte er, sie würde die Locke wegnehmen? Wenn er dies glaubte, so war es leicht, ihm zu zeigen, dass eine Zacksche Haarlocke eben jetzt keine Seltenheit sei, worüber sich Personen zu zanken brauchten. Sie ging zur Tafel, nahm von der Zeitung ein Büschel Haare und hielt sie ihm just in dem Augenblick lächelnd vor die Augen, als er seine Locke in die Tasche stecken wollte.

Im ersten Augenblick konnte er ihre Handlung nicht sogleich verstehen; dann aber schien ihn die Ähnlichkeit zwischen dem Haar in seiner Hand und dem in der ihrigen plötzlich sehr tief zu erschüttern. Der ganze Ausdruck seiner Physiognomie wechselte und ward so furchtbar finster, dass sie erschrocken zurückprallte und das Haar wieder auf die Tafel warf. Er krallte und drückte die Locke in der Hand zusammen und wandte sich dann mit seinen ungestüm fragenden Augen und seinem grimmigen Antlitz zur Hauswirtin. Während diese seine Fragen beantworten, ging er zu Zacks Bett; und als er hingeblickt, überzog wieder ein anderer Wechsel seine ganze Physiognomie; die dunkle Röte erbleichte, aber die alten Narben auf den Wangen wurden rot und immer röter. Er ging wieder zurück in die andere Ecke des Zimmers; seine unsteten Augen fixierten sich jetzt zu gedankenloser Starrheit, eine seiner Hände packte die alte Zeitung mit Zacks Haaren zusammen und mit der andern winkte er plump und ungeduldig den Frauen, ihn zu verlassen.

Madonna hatte schon einige mal Pattys Hand an ihrem Arm zucken gefühlt. Sie war jetzt ebenso ängstlich und besorgt, wie ihre Begleiterin, und wünschte so schnell als möglich das Haus zu verlassen. Sie verließen eilig das Zimmer, ohne nach Mat zu blicken; die Hauswirtin folgte ihnen. Sie hatte aber an der Haustür noch eine lange Unterredung mit Patty über den rauen Mietsmann, wie man nach ihren Physiognomien schließen konnte. Madonna fühlte kein Verlangen, den Inhalt dieser Unterredung kennen zu lernen. So sehr auch Mats befremdendes raues Benehmen sie in Erstaunen versetzt hatte, so war dies doch nicht der einzige Gegenstand ihrer Verlegenheit. Es war die Entdeckung ihres Geheimnisses, das Misslingen ihres kleinen Planes, Zack mit ihrem eigenen Gelde zu helfen, was sie zerstreut und betrübt machte. Sie hatte keine fünf Minuten im Vorderzimmer zu Kirk Street verweilt —— und dennoch waren ihr in dieser kurzen Zeit sehr widerwärtige Begebenheiten begegnet.

Lange Zeit nachdem die Frauen das Zimmer verlassen, stand Mat regungslos in der vordersten Ecke der Wohnstube und starrte gedankenlos nach Zacks Schlafzimmer. Seine erste Verwunderung über das befremdende Gerede im Gange, als er von der Straße ins Haus trat, sein erstes Erstaunen über Zacks Wunde, sein mächtiger Impuls, sich Marias Kind zu entdecken, als er Madonna in seinem Zimmer fand, und dann wieder seine Bewunderung über ihre Opferwilligkeit gegen Zack —— alle diese tiefen und mächtigen Gefühlsregungen verschwanden aus seinem Gedächtnis und aus seinem Herzen, sie wurden ganz und gar absorbiert von der außerordentlich großen Bestürzung, welche ihm die Entdeckung der großen Ähnlichkeit zwischen Zacks Haaren und der von Johanna Holdsworth zurückgesandten Locke verursachte, welche ehemals im Besitz seiner Schwester gewesen war und von ihrem geliebten Arthur Carr stammte. Ein gewöhnlicher Schicksalsschlag vermochte Mats Geist noch nicht außer Fassung zu bringen —— dieser unerwartete Schlag bewirkte es aber in einem Augenblick.

Als er seine Selbstbeherrschung allmählich wiedererlangte, steigerte sich in ihm der lebhafte Wunsch, sich von der Ähnlichkeit beider Haararten hinreichend zu vergewissern. Er schlich sich leise ins Nebenzimmer, wo Zack immer noch schlief.

Nach einer minutenlangen Pause schüttelte er sorgenvoll das Haupt über des armen Jungen Blässe und Jammergestalt, dann hielt er die Haarlocke Arthur Carrs dicht an Zacks Haar. Es war zwar schon spät nachmittags, aber noch nicht dämmerig, die Fenster waren nicht durch Vorhänge geschlossen und das volle Tageslicht strömte noch ins Zimmer herein. Die Ähnlichkeit zwischen den Haaren des Schläfers und denen von Arthur Carr war vollkommen! Beide Arten hatten dieselbe hellbraune Farbe, beide schimmerten ins Goldgelbe über, das bei Licht glänzend sichtbar, aber im Schatten kaum zu bemerken war.

Warum hatte ihn diese außerordentliche Ähnlichkeit nicht früher so erschüttert? Wahrscheinlich, weil er Arthur Carrs Haare früher niemals so aufmerksam betrachtet hatte, als nachdem er im Besitz von Mariens Bracelet gelangt war. Vielleicht auch, weil er Zacks Haare früher niemals so genau angesehen hatte, als eben jetzt. Und zu was für einer Schlussfolge führte diese Ähnlichkeit? Ganz bestimmt zu keiner Verbindung mit Zacks Jugendgenossen. »Aber was für ältere Verwandte hat er? Und welche von ihnen haben die meiste Ähnlichkeit mit seinen Haaren? Gleicht er ——?«

Mat blickte bei diesen Worten den Schläfer scharf an; ein gewisses Etwas in des Burschen Angesicht beunruhigte ihn und hielt ihn ab, den Gedanken weiter zu verfolgen. Er nahm die Haarlocke vom Kissen und ging in das Vorderzimmer. Es lag Angst, ja beinah Schrecken in seiner Physiognomie, wenn er an die fatale entscheidende Frage bezüglich seiner jetzt gemachten Entdeckung dachte, welche er an Zack richten wollte, sobald er erwachte. Er hatte früher noch niemals so recht gefühlt, wie sehr er seinem Hausgenossen zugetan war, als eben jetzt —— jetzt, wo er wissentlich sich durch eine Frage an seinen Freund eine düstere, traurige Gemütsstimmung hervorrufen musste, obgleich er seit dem ersten Tage des Begegnens wie ein Bruder mit ihm gelebt hatte.

Erst gegen Abend erwachte Zack. Es war eine Erleichterung für Mat, dass er Zacks Antlitz nicht genau mehr sehen konnte, als er in das dunkel gewordene Schlafzimmer trat. Die Bürde der schrecklichen Frage lastete schwer auf seinem Herzen, als er seines kranken Freundes schwache Hand erfasste. Dieser beantwortete bedachtsam und kurz alle an ihn gerichteten Fragen, und Mat hörte dann geduldig des Kranken Leidensgeschichte an, wie und wodurch er so verwundet worden war. Schließlich führte ihn dann Zack selbst unbewusst zu jener fatalen Frage, welche Mat schon längst stellen wollte, aber aus Angst und Furcht nicht wagte.

»Ja, ja, alter Knabe«, sprach er und drehte sich so, dass er Mat ins Antlitz blicken konnte, »wie ich Euch sagte, ich war so entmutigt, dass ich nicht wusste, was ich beginnen sollte. Schrecken und Schauder hatte mich total erfasst, und diesen Morgen ganz besonders. Ich war so einsam und elend, wusste nicht, ob und wann ihr wiederkommen würdet, daher fragte ich die Hauswirtin, ob sie an meinen Vater schreiben und mir Pardon erbitten wolle. Ich habe mich nicht so betragen, wie ich musste, und wenn ein junger Mensch krank ist, bekommt er das Heimweh, und —— und ——«

Seine Stimme wurde schwächer —— er ließ den Gedanken unbeendet.

»Zack«, sagte Mat, sein Angesicht wegwendend, während er sprach, obgleich es nun ganz dunkel war, »— Zack, was ist Dein Vater für ein Mann? ——«

»Was für ein Mann! Wie meint Ihr das?«

»Sein Aussehen. Gleichst Du ihm von Angesicht? Bist Du ihm ähnlich?«

»Gott helf’ Euch, Mat! So wenig ähnlich wie möglich. Meines Vaters Angesicht ist runzlig und markiert.«

»Ja, ja, gleich andern alten Männern. Seine Haare grau, vermute ich?«

»Ganz weiß. Beiläufig gesagt —— es gibt einen Punkt — ich bin ihm ähnlich —— wenigstens wie er in der Jugend war —— ich gleiche ihm so, als er ein junger Mann in meinem Alter war.«

»In was?«

»Wovon wir gesprochen haben —— hinsichtlich der Haare. Ich habe oft meine Mutter sagen hören, als sie meinen Vater geheiratet habe —— ach, hebt mein Kissen ein wenig höher! Wollt Ihr, Mat?«

»Jawohl! Und was hörtest Du von Deiner Mutter sagen?«

»Oh, nichts Besonderes. Nur das —— als mein Vater noch ein junger Mann gewesen sei, habe sein Haar mit dem meinigen die größte Ähnlichkeit gehabt.«

Als er diese Worte sprach, klopfte die Hauswirtin an die Tür und rief, dass sie ein Licht und eine gute Tasse Tee für den Kranken bringe. Mat ließ sie in das Schlafzimmer —— dann ging er in die Wohnstube und machte die halbgeöffnete Tür hinter sich zu. Jetzt war er nun erst recht besorgt, sein Angesicht vor Zack nicht sehen zu lassen.

Er ging zum Kamin, legte seinen Arm und Kopf auf dessen Verzierung —— dachte eine Weile nach —— dann stellte er sich aufrecht —— suchte in seiner Tasche und zog noch einmal die verhängnisvolle Haarlocke hervor, welche er nun so unzählige mal schon ängstlich beschaut hatte.

»Deine Bestimmung ist vollbracht«, sagte er, betrachtete die Locke zum letzten Mal und warf sie ins lodernde Kaminfeuer.

»Deine Arbeit ist getan, und die meinige wird auch sehr bald vollendet sein.« Er legte noch einmal sein Haupt aus das Kamingesims und fügte hinzu: ——

»Ich bin Zacks Bruder —— das ist ein hartes Los! —— Ich bin sein Bruder. ——«



Kapiteltrenner

Achtes Kapitel - Ist er der Mann?

Am nächsten Morgen ward die dunkle einsame Straße von Baregrove-Square durch eine Prozession von drei schmucken Kutschen etwas belebt, welche dann vor Mr. Thorpes Tür anhielten. Aus jeder Kutsche stiegen Gentleman von hohem respektabeln Aussehen; alle waren in glänzend schwarze Gewänder gehüllt und trugen weiße Krawatten. Einer dieser Gentleman trug ein schönes silbernes Schreibzeug; ein anderer, welcher ihm folgte, hatte eine Rolle Glanzpapier in der Hand, die mit einem breiten Seidenbande von mäßiger Purpurfarbe umbunden war. Die Rolle enthielt eine Adresse an Mr. Thorpe, welche in sehr lobenden und bewundernden Worten seinen hohen Charakter pries —— das Schreibzeug sollte ein Andenken sein —— und die Gentleman waren sämtlich hochansehnliche Mitglieder der Religions-Societät, welcher Mr. Thorpe als Sekretär gedient hatte.

In der Straße hatte sich eine kleine bescheidene Menge müßiger Zuschauer versammelt, welche die Gentleman aussteigen sehen, die Adresse und das Schreibzeug bewundern wollten und welche gewahrten, dass Mr. Thorpes Diener seine beste Livree und die Hausmagd eine neue Mütze und ihren Sonntagsputz trug. Als die Personen und Gegenstände der Bewunderung in Mr. Thorpes Haus verschwunden und die Haustür geschlossen ward, zog noch eine andere Erscheinung die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Einer der Fußgänger hatte Erkundigungen über Bedeutung und Zweck der Deputation eingezogen, und während er das Gehörte einem andern Fußgänger umständlich erzählte, stand die neugierige Menge rund herum, um jedes Wort zuhören.

Einer dieser aufmerksamsten Horcher war ein dunkelbrauner starker Mann mit borstigem Bart und narbigen Wangen, welcher vom ersten Moment der Versammlung an bis jetzt auf dem Pflaster gestanden hatte. Er war von den Leuten fast ebenso sehr angestaunt worden, als die Deputation selbst. Man hielt ihn allgemein für einen ganz Fremden, aber in Wahrheit —— er war englisch vom Kopf bis zum Fuß und es war kein anderer als Matthias Grice.

Mats Ansehen, als er so horchend und beobachtend unter der Menge stand, war jetzt ruhig und selbstbewusst. Aber es hatte ihm auf seinem einsamen Morgenspaziergange viel Mühe verursacht, diese ruhige Selbstbeherrschung zu erlangen, oder nach seiner Lieblingsphrase sein eigener Herr wieder zu werden.

Die staunende Ähnlichkeit zwischen Zacks und Arthur Carrs Haaren, und die letzten bemerkenswerten Worte, welche der Bursche am vorigen Abende gesprochen hatte, schienen Mats Geiste absolute Schlussbeweise zu sein, obgleich jeder andere hieraus noch keine sichere Schlussfolge gezogen hätte. Von dem Moment an, wo er die Haarlocke ins Feuer geworfen hatte, zweifelte er keinen Augenblick mehr, dass der Mann, welcher den Ruin seiner Schwester herbeigeführt hatte, und Zacks Vater eine und dieselbe Person sei. Obgleich er nun anscheinend sorglos und träge unter dem schwatzenden Straßenpublikum stand —— so ging er dennoch innerlich mit dem Entschluss um, die erste beste Gelegenheit noch am heutigen Tage zu benutzen und in Mr. Thorpes Haus einzutreten. Er war fest entschlossen, das Geheimnis, welches er durch Vergleich mit Zacks Haaren entdeckt hatte, ganz zu durchdringen und zu enthüllen.

Das Auseinandergehen und Zerstreuen der müßigen Zuschauer ward durch einen starken Regen sehr beschleunigt. Nach der Winterkälte war ein mildes Frühlingswetter eingetreten, so dass es schien, als wäre der April einen Monat früher gekommen. Trotz des starken Regens wanderte Mat in den angrenzenden Straßen von Baregrove-Square auf und ab und zeigte sich dann und wann in der Ferne, um zu sehen, ob die Equipagen noch vor Mr. Thorpes Hause standen. Die Zeremonie des Überreichens der Adresse dauerte ziemlich lange, denn der Hochgeehrte ließ die Überbringer derselben nicht sobald wieder scheiden. Der Regen hatte endlich aufgehört —— die belebende Sonne erschien in strahlender Herrlichkeit —— aber bald zogen wieder andere Wolken heran und drohten mit einem zweiten Schauer, bevor die Deputation der großen Religion-Societät ihre Mission bei Mr. Thorpe erfüllt und Baregrove-Square wieder verlassen hatte.

Als diese fremden Männer sich endlich entfernt hatten, trat Mat in die Straße und näherte sich Mr. Thorpes Hause. Während er an die Tür klopfte, verhüllten düstere schwarze Wolken die Sonne und die ersten Tropfen eines neuen Schauers begannen zu fallen.

Der Bediente zauderte, ihn vorzulassen. Mat hatte aber schon vorausgesehen, dass ihm dies Hindernis begegnen würde, und sich darauf vorbereitet. »Sagt Eurem Herrn, dass sein Sohn krank sei, und ich deshalb käme, um mit ihm darüber zu sprechen.«

Diese Botschaft ward überbracht und hatte den gewünschten Erfolg. Mat wurde sogleich in das Gastzimmer geführt.

Die Stühle, auf welchen die Mitglieder der Deputation gesessen hatten, waren noch nicht bei Seite gestellt, —— das schöne silberne Schreibzeug stand auf der Tafel und nebenan lag die auf das feinste weiße Papier wundervoll schön geschriebene Adresse. Mr. Thorpe stand am Kamin, bog sich nach der Tafel und beschaute mechanisch die Unterschriften der Adresse, während der fremde Besucher zur Treppe herauf geleitet wurde.

Mats Ankunft war gerade in demselben Augenblicke geschehen, wo Mr. Thorpe in Begriff stand, sich zu seiner Gemahlin zu begeben, um ihr die Zeremonie der Überreichung zu schildern, weil sie durch ihre Erkältung verhindert worden war, derselben beizuwohnen. Er hielt an, und das schwache Lächeln seines Antlitzes verschwand plötzlich, als die Neuigkeit von seines Sohnes Krankheit sein Ohr erreichte. Die hektische Röte seiner Wangen wurde aber noch glänzender, als Matthias Grice eintrat.

»Sie sind gekommen, Sir«, begann Mr. Thorpe, »um mir zu sagen ——« er zauderte, stammelte noch einige Worte und stockte dann, ohne eine Silbe zu sprechen. Etwas in dem Ausdruck des finsteren Antlitzes, das unter der schwarzen Gehirnschädelkappe traurig hervorblickte, bewirkte, dass ihm jedes weitere Wort auf der Lippe erstarb.

In seinem gegenwärtigen nervösen schwächlichen Zustande musste jede plötzliche Gemütsbewegung ihn der Selbstkontrolle berauben, was sich natürlich auch durch Sprache und Manier sehr peinlich offenbarte.

Mat sagte nicht ein Wort, um das Schweigen zu brechen.

Stand er in diesem Augenblick wirklich Arthur Carr von Angesicht zu Angesicht gegenüber? Konnte diese schwächliche, magere Gestalt mit der gedrückten Brust und den blassroten runzeligen Wangen jener Mann sein, welcher Marias Elend verursachte und sie unter die wilden Brombeersträucher und faulen Sümpfe auf Bangburys Kirchhof brachte?

»Sie sind gekommen, Sir«, fuhr Mr. Thorpe fort, indem er sich wieder ermannte, »mir Neues über meinen Sohn zu sagen, über den ich nicht ganz unvorbereitet bin. Ich hörte gestern von ihm, und obgleich es mir zuerst nicht auffiel, so bemerkte ich doch später, dass der mir überbrachte Brief nicht von seiner Hand geschrieben war. Meine Nerven sind nicht sehr stark und wurden schon diesen Morgen freudig —— sehr freudig erregt durch so viel Güte, Bewunderung und Sympathie, wie selten einem Menschen zuteil wird. Daher bitte ich Sie, wenn Ihre Neuigkeit etwas betrübender Natur sein sollte, —— was Gott verhüten möge —— dieselbe ——«

»Meine Neuigkeit ist folgende«, unterbrach ihn Mat. »Ihr Sohn ist am Kopfe verletzt, befindet sich aber jetzt außer Gefahr. Er lebt mit mir, ich liebe ihn und werde so lange für ihn sorgen, bis er wieder auf die Beine kommt. Das ist meine Neuigkeit über Ihren Sohn. Es ist aber noch nicht alles, was ich zu sagen habe. Ich bringe Ihnen Neuigkeiten von jemand anders.«

»Wollen Sie nicht gefälligst Platz nehmen und sich näher erklären?«

Sie setzten sich vis à vis an die Tafel, so dass die Adresse und das Schreibzeug zwischen ihnen lagen. Der Regenschauer begann draußen gewaltig zu toben; die Schritte der eilenden Fußgänger schallten während des Schweigens in das Zimmer herauf. Mr. Thorpe eröffnete dann wieder das Gespräch.

»Darf ich Sie um Ihren werten Namen bitten?« fragte er mit niedergeschlagener schwacher Stimme.

Mat tat, als ob er die Frage nicht hörte, nahm die Adresse von der Tafel, las die Unterschriften und wandte sich dann zu Mr. Thorpe.

»Ich habe hiervon gehört«, sagte er. »Sind alle diese Unterzeichner Freunde von Ihnen?«

Mr. Thorpe blickte ein klein wenig erstaunt, antwortete aber dann nach einigem Zaudern: ——

»Sicherlich; die wertgeschätzten Freunde, die ich in der Welt habe.«

»Freunde«, fuhr Mat weiter fort und las für sich die einleitende Sentenz der Adresse: »welche das größte Vertrauen in Sie gesetzt haben.«

Mr. Thorpe ward noch erstaunter und schien sich etwas beleidigt zu fühlen. »Werden Sie gütigst entschuldigen«, sagte er kühl, »wenn ich Sie bitte, zu dem Geschäft überzugehen, das Sie hierher geführt.«

Mat breitete die Adresse auf der Tafel vor ihm aus und nahm einen Bleistift zur Hand.

»Freunde, welche das größte Vertrauen in Sie gesetzt haben«, wiederholte er. »Der Name eines andern Freundes steht nicht hier. Und doch sollte es so sein; ich meine, ihn darauf zu setzen.«

Als der Bleistift das Papier berührte, sprang Mr. Thorpe vom Stuhle auf. »Was soll ich von einem solchen Betragen halten, Sir!« sprach er und griff nach der Adresse. Mat blickte ihn mit dem Schlangenglanz seiner Augen an, während die alten Narben seiner Wangen zu glühen begannen. »Setzen Sie sich nieder«, sagte er. »Ich bin nicht Willens zu schreiben. Setzen Sie sich nieder und warten Sie, bis ich in Begriff bin, es zu tun.«

Mr. Thorpes Antlitz zeigte etwas Gemütsaufregung. Er ging einen Schritt zum Kamin und wollte klingeln. »Setzen Sie sich nieder und warten Sie«, wiederholte Mat jetzt schnell und gebietend, erhob sich vom Sessel und zeigte sehr peremptorisch auf Mr. Thorpes leeren Stuhl.

Ein plötzlicher Zweifel durchkreiste des letzteren Geist, er zauderte und pausierte, bevor er die Klingel zog. Konnte dieser Mann bei gesunder Vernunft sein? Seine Handlungen waren ganz unerklärlich —— seine Worte und die Art der Äußerung höchst befremdend —— sein narbiges, mürrisches Gesicht blickte gar nicht menschlich in diesem Augenblick. Würde es wohl angemessen sein, Hilfe zu rufen? —— Nein, schlechter als nutzlos. Außer dem Diener, welcher fast noch ein Knabe war, befanden sich nur weibliche Dienerinnen im Hause. Als er dies bedachte, setzte er sich nieder, und während dem begann Mat langsam und plump, auf den leeren Raum unter die letzten Unterschriften zu schreiben. ——

Der Himmel verfinsterte sich beinahe zur Nacht, der Regen peitschte in Strömen herunter. Als Mat den letzten Buchstaben geschrieben hatte, überreichte er die Adresse an Mr. Thorpe.

Dieser blickte hin —— und las —— Marie Grice. Sein Angesicht ward totenfarbig —— er sank auf den Stuhl nieder —— ein schwacher Schrei entrang sich seinen Lippen —— dann war es still.

Sein unterdrückter, dumpfer Schrei hatte ihn verraten —— er war der Mann. Er hatte sich selbst verraten, bevor er schaudernd in den Stuhl sank; niedergekauert lag er da und presste die Hände konvulsivisch über sein Antlitz.

Mat erhob sich, betrachtete ihn mitleidslos von Kopf bis zum Fuß und sprach dann: »Nicht ein einziger Freund von den hier unterzeichneten (er zeigte auf die Namensunterschriften der Adresse) setzte so viel zärtliches Vertrauen in Sie, als Marie es getan hat. Als ich zuerst ihr Grab auf dem fremden Kirchhofe sah, sagte ich zu mir selbst, ich werde quitt machen mit dem Manne, der sie hierher geführt. Heute bin ich hier, um mit Ihnen quitt zu machen! Carr oder Thorpe, wie Sie sich nennen mögen, ich weiß, wie Sie sie von Anfang bis zum Ende behandelt haben. Ihr Vater war mein Vater, ihr Name ist mein Name! Sie waren vor dreiundzwanzig Jahren ihr schlechtester Feind! und heute sind Sie mir der verworfenste Feind. Ich bin ihr Bruder Matthias Grice.«

Als er dies sagte, blickte er nach Thorpe; die Hände dieser noch schaudernden Figur waren vom Antlitz gesunken, entsetzlich, schauerlich hatten sich die Muskeln verzogen, in den Augen lag eine Todesstarrheit; diese fürchterlich zitternde Gesichtsverzerrung hätte beinah Mats Festigkeit erschüttert. Er wandte sich nach seinem Stuhl, ließ sich mürrisch nieder und sprach kein Wort.

Ein dumpfes Gemurmel und Seufzen, einige vereinzelte Worte machten sich schwach hörbar und bewogen Mat sich umzublicken. Das entsetzliche Totenantlitz hatte sich etwas gemildert. Die vereinzelten Worte wurden in derselben klagenden und jammernden Weise wiederholt. Dann und wann wurde auch eine nur halb vollendete Phrase hörbar; er hielt die Hände wieder vor sein Gesicht und stammelte: »Mitleid für mein Weib —— akzeptieren Sie die Gewissensbisse und Reue vieler Jahre —— ersparen Sie mir die Schande ——«

Nach den letzten Worten hörte Mat auf nichts mehr. Die mitleidslose Rache war wieder mächtiger in ihm erwacht.

»Ihnen die Schande ersparen?« wiederholte er und starrte ihn an. »Haben Sie ihr die Schande erspart? ——«

Jetzt fielen Thorpes Hände wieder vom Gesicht und es zeigte sich abermals in schauerlicher furchtbar schrecklicher Todesstarrheit. Diesmal prallte aber Mat nicht zurück. Es war keine Gnade und Barmherzigkeit weder in seinen Blicken noch in seiner Stimme, als er sprach:

»Was! Es würde Euch schänden, würde es? Dann soll es Euch schänden! Sie haben es als ein Geheimnis bewahrt, haben Sie? Sie sollen das Geheimnis noch jeder Seele bekennen, die in Ihr Haus kommt. Sie sollen Mariens Schande tragen, Mariens Tod bekennen und ihr Kind vor allen denen anerkennen, deren Name hier auf dem Papiere stehen! —— Dies alles sollen Sie —— und womöglich morgen! Ich werde das Mädchen mit hierher bringen, und wenn ich Ihnen dann mit ihr gegenüber stehe ——«

Er stockte. Die trauernde Figur versuchte, sich vom Stuhle empor zu heben, streckte Mat eine blassgelbe Hand langsam entgegen, starrte ihn mit den furchtsam blickenden Augen an, die blassen Lippen murmelten unverständlich —— dann stammelten sie einige mal schnell, aber schwach:

»Marias Kind?«

»Ja!« sagte er kalt und mitleidslos »Ja, Mariens Kind. Ihr Kind. Haben Sie es noch nicht gesehen? Ist es das, worüber Sie zittern und beben? Gehen Sie und sehen Sie es, —— es lebt in Schussweite von hier. Fragen Sie Zacks Freund, den Maler; er wird Ihnen das taubstumme Kind zeigen, das er von den Kunstreitern aufgenommen hat. Blicken Sie her —— blicken Sie auf dieses Bracelet! Erinnern Sie sich Ihres eigenen Haares hieran? Die Hände, welche Marias Kind aufbrachten, nahmen das Bracelet aus ihrer Tasche. Sehen Sie es an! Blicken Sie es noch einmal genau ——«

Er stockte abermals. Die gebrechliche Figur, welche langsam vom Stuhle aufzuwanken strebte, sank plötzlich wieder nieder, als er ihr das Haarbracelet vorhielt; die Augenlider schlossen sich halb —— eine große Todesruhe verbreitete sich über das Antlitz —— Mat hörte nur leise Atemzüge, aber keinen Schrei —— kein Wimmern und kein Seufzen —— nichts war hörbar als nur der strömende Regen auf dem Straßenpflaster.

»Tot?«

Ein Gedanke an Zack erwachte und beunruhigte sein Herz.

Er zauderte einen Augenblick, bog sich dann über den Stuhl herüber und legte seine Hand auf die Brust der tot scheinenden Figur. Nur ein schwaches Zittern war fühlbar und der Puls schlug ohnmächtig schwach. Es war nicht der Tod, den er schaute —— aber seine nächste Nachbarin —— die Ohnmacht.

Er stand noch einige Minuten und blickte das stille, gelblich weiße Totengesicht an, —— murmelte dann: »Wenn ich und Zack nicht wie Brüder zusammengelebt hätten. ——« Er beendigte den Gedanken nicht, sondern nahm eilig seinen Hut und verließ das Zimmer.

Unten im Hause traf er eine weibliche Dienerin, welche ihm die Haustür öffnete.

»Dein Herr bedarf Deiner«, sagte er zu ihr mit einer Art Anstrengung und verließ das Haus.



Kapiteltrenner

Neuntes Kapitel - Die Rache

Weder rechts noch links blickend, weder wissend wo er war, noch sorgend wo er hinkam, rann Matthias Grice eilig fort. Es fügte sich, dass er in die Straße kam, welche in die entlegene Vorstadt führte, wo Mr. Blyth wohnte. Mat folgte mechanisch dieser Straße, warf weder einen Blick auf des Malers Wohnung, als er vorbeiging, noch auf die Droschke mit Gepäck, welche vor dessen Gartentür anhielt. Hätte er nur im geringsten hingeschaut, so würde er Valentin darin haben sitzen und das Fahrgeld zählen sehen.

Aber er wanderte fort gerade aus und beachtete gar nichts. Der Regenschauer war beinah vorüber und durch Nebel und Wolken drangen die Strahlen des wiederkehrenden Sonnenlichts belebend und erwärmend in sein Angesicht

Obgleich er sich selbst beherrschte und nichts äußerlich wahrnehmen ließ, so tobte dennoch eine heftige Gemütsaufregung in seinem Innern. Der Name Zack war öfters auf seinen Lippen, dabei variierte er beständig in seinem Gange, jetzt eilend, dann langsam und schlaff. Es war bereits Abend, als er erst die Richtung nach seiner Wohnung nahm, und bereits Nacht, bevor er an Zacks Bette saß.

»Mir ist jetzt ein Teil besser, Mat«, sagte Zack in Beantwortung der ersten Frage. »Blyth ist zurückgekommen und hat ein paar Stunden neben mir gesessen. Wo seid Ihr die ganze Zeit her gewesen, alter rastloser Eisenmann?« fragte Zack in seiner leichtherzigen Manier.

»Es ist ein Brief für Euch angekommen, die Hauswirtin sagte, sie wolle ihn auf die Tafel im Vorderzimmer legen.«

Matthias fand und öffnete den Brief, welcher zwei Schreiben enthielt. Das eine war an Mr. Blyth adressiert und das andere hatte keine Adresse. Die Handschrift war ihm fremd, er blickte ans Ende und las den Namen Thorpe. »Warte ein wenig«, sagte er, als Zack zu sprechen begann, »ich will erst meinen Brief lesen, dann wollen wir reden.«

Der Inhalt, den er für sich las, war folgender: ——

»Einige Stunden sind verflossen, seit Sie mein Haus verließen. Ich habe etwas Zeit gehabt, wieder ein klein wenig Kraft und Fassung zu gewinnen, und habe solchen Rat und Beistand erhalten, welcher mich befähigte, Nutzen daraus zu ziehen. Jetzt, wo ich weiß, dass ich ruhig schreiben kann, sende ich Ihnen diesen Brief. Ich will Sie nicht fragen, wodurch Sie Kenntnis von dem schuldvollen Geheimnis erhielten, das ich vor jedermann, —— ganz besonders vor meiner Frau —— verborgen hielt, —— sondern Ihnen eine Erklärung und ein solches Bekenntnis geben, wie Sie das Recht haben, von mir zu verlangen. Ich bestreite dies Recht nicht, —— ich gestehe es Ihnen zu, ohne einen weiteren Beweis zu verlangen, als Ihre Handlungen, Ihre grausamen Worte und das Haarbracelet mir schon gegeben haben.

Es ist schicklich, Ihnen zuvor zu sagen, dass der angenommene Name, unter dem ich in Dibbledean bekannt war, seinen Ursprung in einem törichten Scherze hatte, —— in einer Wette, dass mich einige Bekannte —— welche meine Neigung zum Botanisieren lächerlich machten und mich stets verfolgten, um mich in meiner Beschäftigung zu stören —— nicht auffinden und meine Spur in meiner ländlichen Zurückgezogenheit nicht zu entdecken vermöchten. Ich ging nach Dibbledean, weil dessen Nachbarschaft durch seltene Spezies Farnkräuter berühmt war, welche ich zu besitzen wünschte. Daher nahm ich den Namen an, um ganz sicher zu sein, nicht von meinen Freunden aufgefunden und gestört zu werden. Nur mein Vater war in das Geheimnis eingeweiht und besuchte mich einige mal in meiner Zurückgezogenheit. Ich habe keine Entschuldigung dafür, dass ich meinen falschen Namen noch zu einer Zeit fortführte, wo ich genötigt und verpflichtet war, redlich und offen über mich und meine Lebensstellung zu sein. Mein Betragen war unverzeihlich und strafbar in dieser Hinsicht, wie in noch andern Verhältnissen.

Was sich in Dibbledean ereignete, darüber kann ich nicht sprechen —— Scham und Reue gestattet mir nicht, darüber zu schreiben.

Mein Aufenthalt in dem Landhaus währte viel länger als mein Vater erlaubt haben würde, wenn ich ihn nicht getäuscht hätte und wenn er nicht zu sehr durch unvorhergesehene Geschäftsschwierigkeiten mit einem fremden Kaufmanne in Anspruch genommen worden wäre.

Diese Schwierigkeiten häuften sich zuletzt so sehr, dass seine Gesundheit darunter brach. Seine Gegenwart, oder die Gegenwart einer dazu besonders qualifizierten Person, welche ihn in Deutschland —— wo eines seiner Geschäftshäuser durch einen Agenten geführt ward —— zu vertreten vermochte, war durchaus notwendig. Ich war sein einziger Sohn; er hatte mich als Teilnehmer in seinem Londoner Hause aufgenommen und mir dennoch erlaubt, viele Monate lang abwesend zu sein, um meine Lieblingsbeschäftigung treiben zu können. Als er mir aber schrieb, dass ein großer Teil unseres Eigentums verloren ginge, wenn ich nicht eine Reise nach Deutschland unternähme, woran er durch sein Unwohlsein verhindert sei —— so hatte ich keine andere Wahl, als mich ihm sogleich zur Verfügung zu stellen.

Ich reiste mit dem Gedanken ab, dass meine Abwesenheit nicht länger als drei bis vier Monate höchstens dauern würde. Ich schrieb Ihrer Schwester beständig; denn obgleich ich indelikat und leichtsinnig mit ihr umgegangen war, so kam doch niemals ein Gedanke in mein Herz, sie zu verlassen: meine teuersten Hoffnungen jener Zeit waren darauf gesetzt, ihr Gatte zu werden. Nicht einer meiner Briefe ward beantwortet. Ich ward in Deutschland so lange zurückgehalten, als ich ursprünglich zugestanden hatte. In meiner Angst wagte ich, zweimal an Ihren Vater zu schreiben. Aber beide Briefe blieben ebenfalls unbeantwortet. Als ich dann wieder zurück nach England kam, sandte ich sogleich eine zuverlässige Person nach Dibbledean, um Nachforschungen anzustellen, welche ich aus Angst und Furcht nicht zu machen wagte. Mein Bote ward mit der schrecklichen Nachricht —— von Ihrer Schwester Flucht und Tod —— vor der Haustür abgefertigt.

Es entstand in mir sogleich der Verdacht, dass meine Briefe unterschlagen worden seien. Die Heftigkeit meines Grams und meiner Verzweiflung, welche mir das Ereignis hinsichtlich Ihrer Schwester verursachte, war zu groß, und ich betrachtete dies als die Folge meiner Sünden. Es mag Ihnen befremdend erscheinen, dass dieser Gedanke nicht früher in mir entstand. Es würde Ihnen aber vielleicht nicht länger mehr so erscheinen, wenn ich Ihnen das eigentümliche System der heimischen Erziehung speziell schildern könnte. Mein Vater war sehr streng und gewissenhaft bestrebt, mich —— mehr als alle andern jungen Menschen —— nicht mit der moralisch gesunkenen Welt in Berührung kommen zu lassen. Doch es wäre nutzlos, hierbei noch länger zu verweilen. Keine Erklärungen vermögen die vergangenen Begebenheiten zu ändern und die Schuld zu mindern.

Ängstlich besorgt— obgleich geheim und unter Zittern und Zagen —— veranstaltete ich Nachforschungen, um Gewissheit zu erlangen, ob das Kind noch lebe oder nicht. Sie wurden lange fortgesetzt, aber erfolglos; —— erfolglos vielleicht, wie ich jetzt in bitterer Betrübnis denke, weil ich das Nachforschen andern anvertraute und nicht den Mut hatte, es öffentlich zu tun.

Zwei Jahre später verheiratete ich mich unter Umständen nicht gewöhnlicher Art, —— unter was für Umständen —— haben Sie wohl nicht Anspruch zu fragen. Jene Lebensperiode ist mein und meiner Frau Geheimnis, und gehört nur uns allein an.

Ich habe nun lange genug dabei verweilt, Sie über den Anteil meiner schweren Schuld in den vergangenen Ereignissen aufzuklären. Jetzt habe ich noch einige Worte über die Gegenwart und Zukunft mit Ihnen zu reden.

Sie haben erklärt, dass ich meine Schuld büßen soll, indem Sie mein schmachvolles Geheimnis allen meinen Freunden mitteilen wollen, wie sehr ich Ihre Schwester geschändet und ihr qualvolle Leiden verursacht habe.

Mein ganzes Leben war bisher eine lange Büßung für das begangene Unrecht. Meine zerrüttete Gesundheit, meine geheimen Sorgen, mein schmerzlich tiefer Kummer, ohne Trost und Teilnahme einer vertrauten Seele —— haben mich seit Jahren härter bestraft und vor der Zeit mehr gealtert, als Sie wohl denken mögen. Wünschen Sie mich noch viel schmerzlicher, noch grauenhafter leiden zu sehen? Wenn das ist, so mögen Sie den siegreichen Triumph genießen, dass sie es bereits verhängt und schon bewirkt haben. Ihre Drohungen, von denen ich glaube, dass Sie der Mann dazu sind, sie auszuführen —— werden mich in wenig Stunden aus der sozialen Sphäre treiben, in welcher ich bisher gelebt habe und wo ich noch heute von meinen teuersten Freunden so hoch geehrt wurde. Sie werden mich gerade in dem Moment aus meiner Heimat treiben, wo mein Sohn mich zärtlich gebeten hat, ihn in mein Haus zurück zu nehmen.

Diese Prüfungen, so schwer sie auch sind, bin ich bereit, zu ertragen, sie in Demut zu empfangen und als Sühneopfer meiner Sünden zu betrachten. Aber mehr, ich habe nicht die Kraft zu einem nochmaligen Begegnen. Ich kann nicht einer solchen Bloßstellung gegenüber stehen, womit Sie mich niederschmettern. Die Sorge, ja ich kann wohl sagen, die Schwäche meines Lebens ist gewesen, die Achtung von andern zu gewinnen und zu erhalten. Sie sind in Begriff, durch Enthüllung des Verbrechens, das meine Tugend entehrt, meinen guten Ruf zu vernichten. Ich kann es über mich ergehen lassen als einen wohlverdienten Teil meiner Strafe, aber ich habe nicht den Mut zu warten und Ihre Vollziehung mit anzusehen. Mein Inneres sagt mir, dass ich nicht mehr lange zu leben habe, aber meine Überzeugung versichert mir, dass ich mich nicht schicklich zum Tode vorbereiten kann, bevor ich nicht weit, weit von weltlichen Interessen, weltlichem Leid und Schmerz entfernt bin. Das Entsetzen und der Schrecken der öffentlichen Schande ist mehr als ich ertragen kann, ist das Ende meines qualvollen Leben. Wir haben uns zum letzten mal gesehen in dieser Welt. Die Minuten meines Daseins sind gezählt! Noch in dieser Nacht werde ich jenseits Ihrer Rache sein; noch in der Nacht werde ich zu einer Zufluchtsstätte reisen, wo der Rest meines qualvollen Lebens vor Ihnen und vor allen Menschen verborgen sein wird.

Jetzt bleibt mir nur noch eine Erwähnung der zwei eingeschlossenen Briefe.

Der erste ist an Mr. Blyth adressiert. Mögen Sie denselben in seine Hände bringen, denn ich wage aus Scham nicht direkt mit ihm zu korrespondieren. Wenn das, was Sie über mein Kind sagten, die Wahrheit ist und ich kann es nicht bezweifeln —— dann habe ich in meiner Unwissenheit von ihrer Identität, durch meine Entfremdung von Mr. Blyths Hause, seitdem sie dort eingetreten ist, unwissentlich eine große Beleidigung gegen Mr. Blyth begangen, welche keine Reue angemessen auszusöhnen vermag. Jetzt in der Tat fühle ich, wie dünkelhaft unbarmherzig mich die Schändlichkeit meiner eigenen Sünde verleitet hat, andere damit zu beschuldigen. Jetzt also weiß ich, dass, wenn Sie die Wahrheit gesprochen, ich mich sehr gegen Mr. Blyth vergangen habe, als er das letzte mal in meinem Hause war —— Ich häufte die Schande meines eigenen verlassenen Kindes auf den braven Mann, welcher so edel und zärtlich gegen sie war und ihr ein Asyl in seinem eigenen Hause gab. Der unaussprechliche Schrecken und die Angst darüber wären allein fähig, mir den Tod zu geben. Ich wundere mich jetzt, dass ich mich sobald wieder von dem Schauder erholt habe.

Es steht Ihnen frei, in Mr. Blyths Brief zu blicken, wenn es Ihnen beliebt; ich habe Ihnen denselben anvertraut. Außer dem Bekenntnis meiner Scham, meines Kummers und meiner aufrichtigen Reue, enthält derselbe einige Fragen an Mr. Blyth, welche er in seiner christlichen Mildherzigkeit gewiss bereitwillig beantworten wird. Die Fragen beziehen sich auf des Kindes Idealität, und die darin verzeichnete Adresse ist die meines Rechtsanwaltes und Agenten in London. Er wird mir die Dokumente besorgen und mit Mr. Blyth ein Arrangement treffen, auf welche Art seinem Adoptivkind ein Teil meines Vermögens zugesichert werden kann. Er hat ihre Liebe verdient, daher überlasse ich ihm dankerfüllten Herzens das Kind. Ich selbst bin nicht wert, ihr nur in das Angesicht zu sehen.

Der zweite Brief ist an meinen Sohn und ihm dann zu übergeben, wenn Sie ihm seines Vaters Vergehen mitgeteilt haben. Sollte noch eine Regung von Barmherzigkeit und Verzeihung gegen mich in Ihrem Herzen wohnen und Sie das Geheimnis meinem Sohne nicht offenbaren wollen, so zerreißen Sie den Brief und sagen Sie ihm, dass er in dem Hause meines Agenten eine Kommunikation mit mir finden werde. Er bat mich um Verzeihung —— sie ist ihm vollständig gewährt. Ich lebe der Hoffnung, dass er auch mir die gegen ihn ausgeübte Strenge verzeihen wird; sie war nur aus der ehrbaren Absicht entstanden, um ihn vor einem ähnlichen Falle, wie der seines Vaters war, zu bewahren; aber ich glaube jetzt, sie war zu hart und langandauernd. Ich habe für diesen Irrtum und für noch andere schwer gebüßt; schwerer noch würde ich leiden, wenn er seine Heimat ganz und gar verließe; dann wünschte ich, ihn niemals gekannt zu haben. Seien Sie gütig mit ihm und besonders jetzt, da er krank ist, seien Sie es seiner Mutter wegen.

Meine Hand wird immer schwächer, ich kann nicht mehr schreiben. In Reue, Kummer und Scham bitte ich Sie jetzt um Verzeihung, —— wenn es Ihnen möglich ist, mir dieselbe zu gewähren.«

Damit endete das Schreiben.

Matthias hielt es noch eine Weile in der Hand. Er blickte einige mal auf das Schreiben Mr. Thorpes an seinen Sohn, welches auf der Tafel lag —- aber ohne es zu zerreißen, noch zu berühren.

Während Mat noch las, begann Zack im Schlafzimmer zu sprechen.

»Ich denke, Ihr müsst nun Euren Brief zu Ende gelesen haben, Mat. Soeben dachte ich an unser Gespräch über unsere Reise nach Amerika, —— alter Junge, —— um dort Büffeljagden zu halten und in der Wildnis herumzustreifen. Wenn mein Vater mich wieder in Gnaden annimmt und Ja dazu sagt, so gehe ich sehr gern mit Euch, Mat; aber nicht zu lange, wisst Ihr! —— wegen meiner Mutter und meiner hiesigen Freunde. Aber eine Seereise und ein wenig in den einsamen Gegenden herumstreifen —— wie Ihr’s nennt —— würde mir sehr gut tun. Ich fühle, dass ich mich hier nicht eher festsetzen kann, bevor ich nicht einen Ausflug gemacht habe. Ich bin besorgt, dass ich es nicht eher vermag, als bis ich den Teufel aus mir getrieben habe, gleich wie man ihn durch einen sehr starken Ritt aus einem Pferde treibt. Ich bin gespannt, ob mich mein Vater gehen lassen wird!«

»Ich weiß, er wird es, Zack.«

»Ihr! Wie?«

»Das will ich Dir ein andermal sagen. Du sollst Deinen Ritt haben, Zack —— Dein Herz soll mit mir zufrieden sein.« Als er dies sagte, blickte er auf den Brief Mr. Thorpes an seinen Sohn und nahm ihn in die Hand.

»Oh! ich wünsche, ich wäre sogleich stark genug zum Gehen! Kommt herein, Mat, und lasst uns darüber diskutieren.«

»Warte ein bisschen, ich komme gleich.« Bei diesen Worten erhob er sich vom Stuhle und warf den Brief ins Feuer.

»Was macht Ihr nur so lange darin?« fragte der junge Thorpe.

»Erinnerst Du Dich«, sagte Mat, indem er ins Schlafzimmer ging und sich an Zacks Kopfkissen niederließ, »—— erinnerst Du Dich, dass ich, als wir zuerst zusammen kamen, zu Dir sagte, wir wollen Brüder sein? Wohlan, Zack, ich habe versucht, mein Wort zu erfüllen.«

»Versucht? Wie meint Ihr das? Ich verstehe Euch nicht, alter Knabe!«

»Einst wirst Du es besser verstehen, ohne Zweifel. Lass uns jetzt über unsere Seereise und die uns bevorstehende Büffeljagd sprechen.«

Sie disputierten über das Reiseprojekt so lange, bis Zack einschlief. Als er im Schlummer lag, ging Mat in das Vorderzimmer, nahm Mr. Thorpes Brief an Mr. Blyth, verließ Kirk Street und begab sich nach des Malers Wohnung.

Es hatte sich seit Valentins Rückkehr vom Lande einige Mal ereignet, dass er über sein Bureau musste, dabei aber niemals die kleine Schublade geöffnet, worin er das Haarbracelet seit vielen Jahren verborgen hatte. Demzufolge war er auch noch vollständig unwissend über das Verschwinden desselben, als Matthias Grice in das Zimmer trat und es ihm ruhig aushändigte.

Bestürzung und Erstaunen durchschauerte ihn so überwältigend, dass er ruhig litt, wie der Besucher die Türen verschloss, ja er ließ sich sogar ruhig ohne Frage und ohne Wortwechsel zu einem Stuhle führen. Durch die ganze Erzählung hindurch, welche Mat nun begann, saß er sprachlos, bis Mr. Thorpes Brief in seine Hand gegeben und er dadurch belehrt ward, dass Madonna auch fernerhin ganz allein seiner väterlichen Fürsorge anvertraut bleiben solle. Dann bekamen seine Wangen die natürliche Farbe wieder und er rief feierlich aus: »Gott sei Dank! Ich werde sie nicht verlieren. Nur wünschte ich, dass Sie mir gleich beim ersten Eintritt in mein Haus die Verhältnisse erzählt hätten!«

Dies sagend, las er Mr. Thorpes Brief. Als er geendet hatte, standen ihm die Tränen in den Augen. Der gutherzige Mann blickte Mat an und sagte: »Es ist überraschend, dass er in solch demütigen Worten an mich schreibt und noch zweifelt, ob ich ihm vergeben könne, während er ein Recht auf meine Dankbarkeit hat, dass er mein Herz nicht durch Wegnehmen unseres teuren Kindes bricht —— denn als das Unsrige muss ich es jetzt doch bezeichnen. Sie sind sich niemals begegnet —— er hat noch niemals ihr Antlitz gesehen«, ergänzte Valentin mit schwacher Stimme. »Sie trug auf meinen Wunsch stets ihren Schleier, wenn wir ausgingen, und unsere Promenaden wurden stets auf ländlichen Wegen gemacht, um die Stadt nicht zu berühren. Ich erinnere mich, dass ich ihn einmal auf uns zukommen sah, aber wir kreuzten die Straße. Es ist schrecklich —— Vater und Tochter leben so nahe zusammen —— und sind sich doch so weit —— so weit entfernt. Schrecklich! sich so etwas zu denken! Aber was noch viel schrecklicher ist, es zu denken —— wie sie Ihnen die Haare vorhielt —— und durch ihr etwas unschickliches Betragen zur Entdeckung ihres wahren Vaters führte!«

»Beabsichtigen Sie, ihr alles über diese Verhältnisse wissen zu lassen, was wir wissen?« fragte Matthias.

Der Blick des Schreckens und der Furcht begann sich wieder in Valentins Angesicht zu zeigen. »Haben Sie Zack alles erzählt?« fragte er nervös ärgerlich.

»Nein«, sagte Mat, »und tun Sie es auch nicht! Wenn Zack wieder auf den Beinen ist, gehen wir auf Reisen und machen eine Jagdpartie in jenem wilden Lande jenseits des Ozeans. Ich bin dem Jungen so zugetan, als wenn er ein Stück von meinem Fleisch und Blut wäre. Ich gewann ihn lieb, als er in der Sängerhalle so eifrig losschlug für mich —— seitdem sind wir Brüder geworden. Ich habe Zacks Vater nur wegen Zack geschont und denke an keine Rache weiter, als dass ich den Jungen auf eine Saison mit zur Jagd nehmen will. Wenn wir erst hier Lebewohl gesagt haben, dann werde ich Zack das Ereignis erzählen; aber jetzt möchte ich nicht gern einen trüben Blick in sein Antlitz bringen über das, was zwischen seinem Vater und mir passiert ist.«

Obgleich die letzten Worte weder Interesse noch Erstaunen in Valentins Geiste erregten, so verminderten sie auch nicht die durch Mats vorhergehende Frage entstandene Ängstlichkeit. Er begann jetzt die Notwendigkeit zu fühlen, sich seiner großen Ratgeberin in allen Schwierigkeiten und Trösterin in allen Leiden —— der Mrs. Blyth —— anzuvertrauen. »Belieben Sie ein klein wenig hier in warten, während ich meiner Frau die befremdende Neuigkeit überbringe!« sagte er. »Ich wünsche in dieser ernsten Schwierigkeit beziehentlich des armen Kindes ganz von ihrem Rate geleitet zu werden. Wollen Sie gefälligst kurze Zeit hier verweilen?«

»Jawohl! —— Matthias Grice wird sehr gern warten.« Nach diesen Worten verließ Mr. Blyth sogleich das Zimmer.

Er verweilte lange Zeit oben, und als er wieder zurückkam, schien seine Physiognomie sich durchaus nicht geändert zu haben.

»Meine Frau hat mir eine Entdeckung gemacht«, sagte er, »welche sie durch ihre innige Sympathie mit unserer Tochter zu machen befähigt war. Ich bin sowohl erstaunt als betrübt über das Gehörte. Aber ich fühle mich genötigt, dass wir Madonna —— oder Marie —— nicht eher die Verhältnisse erklären können, bis Zack England verlassen hat. Als ich das Projekt Ihrer Reise vernahm, hatte ich allerlei Einwendungen dagegen zu machen, nach dem aber, was mir meine Frau soeben gesagt hat, sind sie alle verschwunden. Ich stimme jetzt herzlich mit Ihnen überein, dass Zack nichts Besseres tun kann, als den beabsichtigten Ausflug. Sie sind willig und bereit, für ihn zu sorgen; und ich glaube zuversichtlich, dass wir Ihnen sicher vertrauen können.«

Nachdem nun die ernste und große Schwierigkeit beseitigt war, nahm Valentin Gelegenheit, sich den kleineren Begebenheiten zuzuwenden. Unter verschiedenen andern Fragen erkundigte er sich auch, auf welche Art und Weise Mat in den Besitz des Haarbracelets gelangt sei. Dieser antwortete mit dem freiesten Bekenntnis, welches die Geduld und Nachsicht des gutherzigen Malers aufs Höchste auf die Probe stellte, als er es mit anhörte und welches ihm auch einige Worte des strengsten Tadels und Vorwurfs entlockte, wie sie wohl noch nie seinen Lippen entströmt waren. Mat hörte ihn ruhig an, bis er geendet, dann nahm er seinen Hut und murmelte einige Worte der Verteidigung, welche Valentins Gutherzigkeit sogleich akzeptierte, wie sie gesprochen waren. »Wir müssen, was vergangen ist, vergangen sein lassen«, sagte der Maler. »Sie sind redlich gegen mich gewesen in jeder Weise, und in Anerkennung dieser Redlichkeit sage ich Ihnen als Freund gute Nacht.«

Als Mat wieder in Kirk Street ankam, trat ihm die Hauswirtin aus ihrer Stube entgegen und sagte, dass während seiner Abwesenheit ein Besuch oben gewesen wäre. Eine ältliche, blasse und kränkliche Lady hätte nach dem jungen Thorpe gefragt und bemerkt, dass sie seine Mutter sei. Zack hätte noch geschlafen; die Lady wäre sodann zur Treppe hinauf in das Zimmer gegangen, hätte sich über ihn gebeugt und ihn viele mal geküsst und wäre dann eilig und in Tränen fortgegangen. Mats Angesicht wurde sehr ernst, und als die Hauswirtin geendigt, befahl er ihr, nichts davon zusagen, wenn Zack erwacht sei. Es schien, als ob Mrs. Thorpe das Geheimnis ihres Gatten erfahren und sich ihm nun in treuer Liebe als Trösterin gewidmet habe.

Als der Arzt am folgenden Morgen seine regelmäßige Visite abstattete, ward er sogleich befragt, wann Zack soweit genesen sein werde, um eine Reise unternehmen zu können. Nach sorgfältiger Betrachtung der verwundeten Kopfseite, erwiderte er, dass der junge Mann nach etwa einem Monat die Reise sicher antreten könne, und dass die beabsichtigte Seereise seine Gesundheit und Kraft viel vollkommener herstellen würde, als alle nervenstärkenden Medikamente, welche sämtliche Ärzte in England verschreiben könnten. —— Matthias mochte die monatliche Untätigkeit, in welcher er wegen Zacks Krankheit verweilen musste, langweilig finden; aber ein Geschäftsbesuch aus Dibbledean veränderte die Situation. Obgleich Mat den wackeren Rechtsanwalt undankbarerweise ganz und gar vergessen hatte, so hatte aber Mr. Tatt seinen Klienten keineswegs auch vergessen, sondern mit unverdrossenem Fleiß und fester Entschlossenheit dessen Interessen verfolgt. Er hatte auskundschaftet, dass Mats Vater ihm eine Summe von zweitausend Pfund ausgesetzt habe, wenn seine Identität sicher festgestellt werden könnte. Dieses nun zu bewirken, war jetzt das große Vorhaben von Mr. Tatts Ehrgeiz. Er hatte hierbei nicht nur die Aussicht, selbst Geld zu gewinnen, sondern auch —— bei glücklichen Erfolg —— ein berühmter Rechtsanwalt in Dibbledean zu werden. Und vermittelst seiner eifrigen Beharrlichkeit musste er endlich einen glücklichen Erfolg haben. Er trug Mat auf allen Straßen und Plätzen aus, ließ ihn in allen Zeitungen signalisieren, brachte allerlei Papiere und Erklärungen bei, häufte überhaupt innerhalb eines Monats eine solche Masse von evidenten Beweisen auf, dass endlich Mr. Nawby, der Testamentsvollstrecker des verstorbenen Josua Grice —— sich selbst für überführt erklärte und die beanspruchte Identität der Person anerkannte. Als Mat dies vernommen, beorderte er Mr. Tatt, nach Abzug der Anwaltskosten vom Legat, eine solche gesetzliche Form festzustellen, wodurch die Summe einer andern Person zugeschrieben werde. Und als Mr. Tatt um den Namen der Person fragte, bat er zu schreiben »Martha Peckover« —— »Marias Kind ist Ihrer Fürsorge anvertraut und hat von ihrem Vater Geld genug zum Unterhalt empfangen«, sagte Mat, als er das Dokument in Valentins Hände gab. »Wenn Martha Peckover alt geworden und nicht mehr arbeiten kann, wird sie ein paar Banknoten wohl bedürfen. Geben Sie ihr dies —— wenn ich abgereist bin —— und sagen Sie ihr: sie hätte es von Marias Bruder an dem Tage geerntet, wo sie Marias halbverhungertes Kind am Wege gesäugt habe.«

Der Tag der Abreise kam näher. Zack erholte sich sehr schnell, so dass er bald befähigt ward, das von seinem Vater angekommene Schreiben bei dessen Agenten abzuholen. Es versicherte ihm kurz, aber sehr gütig die erbetene Verzeihung, wies ihm bei einem Geschäftsmann die ihm zugestandene Geldsumme an, die er für seine Studien in der Kunst oder zu anderweitigen Beschäftigungen verwenden könne, und animierte ihn, Mr. Blyth stets als seinen besten Freund und Ratgeber zu betrachten; schließlich ward er noch gebeten, öfters über sich und seine Beschäftigungen an seine Mutter zu schreiben und die Briefe durch den erwähnten Agenten zu übersenden.

Als Zack von diesem Gentleman hörte, dass sein Vater das Haus in Baregrove-Square verlassen habe, wünschte er zu wissen, welche Ursache ihn zu seinem Wohnungswechsel veranlasst habe. Darauf ward er informiert, dass der Gesundheitszustand Mr. Thorpes ihn dazu genötigt habe, sich einen stillen, zurückgezogenen Aufenthalt der Ruhe zu wählen. Und aus diesen Gründen werde auch der betreffende Ort keiner Person genannt werden.

Der Tag der Abreise war angekommen. Am Morgen schrieb Zack auf Valentins Rat an seine Mutter, dass er in Begriff sei, mit einem guten Freunde, den Mr. Blyth selbst als zuverlässig bezeichnet habe, eine Vergnügungsreise zu machen. Während er damit beschäftigt war, hatte der Maler eine geheime Zusammenkunft mit Matthias Grice, wobei ihn dieser recht ernstlich bat, sich ja stets der großen Verantwortlichkeit hinsichtlich seines jungen Gesellschafters zu erinnern. Mat erwiderte kurz und charakteristisch: »Ich sagte Ihnen, dass ich ihm so zugetan sei, als wenn er ein Stück meines eigenen Fleisches und Blutes sei. Wenn Sie nun nach dem Gesagten noch nicht glauben, dass ich ihn hinreichend im Auge behalten und für ihn sorgen werde, so kann ich überhaupt nichts mehr zu Ihnen sagen.«

Beide Reisende waren in Mrs. Blyths Zimmer erschienen, um Lebewohl zu sagen. Es war ein trauriger Abschied. Zacks Gemüt war seit seiner Visite bei dem Agenten nicht mehr so heiter und leicht wie früher, —— und die andern versammelten Personen waren mehr oder weniger über die bevorstehende Trennung betrübt. Madonna —- vor einigen Tagen noch wohl —— sah sehr krank und angegriffen aus. Und jetzt, als sie die traurigen scheidenden Gesichter sah, ward das arme Mädchen so vom Schmerz übermannt, dass sie ihre Selbstbeherrschung verlor und die peinlichsten Anfälle bekam, so dass Zack die Abschiedsszene sehr schnell beendigte und zuerst das Zimmer verließ. Ihm folgte Matthias auf den Hausflur, dann blieb er stehen —— plötzlich wandte er sich um und betrat wieder das Zimmer. Er ergriff noch einmal die Hand seiner Schwestertochter, bog sich über das blasse und in Tränen schwimmende Mädchen und küsste sie recht herzlich auf die Wangen.

»Sagen sie ihr eines Tages, dass ich und ihre Mutter Spielgefährtinnen zusammen waren«, sprach er zu Mrs. Blyth, verließ das Zimmer und wanderte mit Zack zur Treppe hinunter.

Valentin begleitete sie bis zum Schiffe. Als sie sich die Hände schüttelten, sagte er zu Matthias: »Zack hat versprochen, binnen einem Jahre wieder zurückzukommen. Werden wir Sie auch dann wiedersehen?«

Mat nahm den Maler zur Seite, ohne die Frage direkt zu beantworten. »Wenn Sie einmal nach Bangbury kommen«, wisperte er, »so blicken Sie auf den Kirchhof in die dunkle Ecke unter den Bäumen. Da ist ein neues Stück Walnussholz an dem Kreuze angebracht, wo sie beerdigt liegt. Es würde ein Trost für mich sein, wenn ich die Gewissheit mit mir nähme, dass es schön blank und sauber gehalten wird. Wenn Sie es also ein klein wenig reinigten, im Fall dass es schmutzig ist, so würden Sie mich dadurch sehr erfreuen, —— denn ich selbst werde den Platz nie wiedersehen in meinem Leben. ——«

Traurig und gedankenvoll wanderte Valentin allein nach seiner Wohnung zurück und begab sich in das Zimmer seiner Gemahlin.

Als er die Tür öffnete, blieb er erstaunt auf der Schwelle stehen, denn er sah Madonna an der Seite ihrer Adoptivmutter sitzen, das Haupt an deren Busen verborgen und die Arme um ihren Nacken geschlungen.

»Hast Du ihr alles zu sagen gewagt, Lavinia?« fragte er.

Mrs. Blyth war nicht fähig, ein Wort zu sprechen, —— sie blickte ihn tränenvoll an und senkte ihr Haupt.

Valentin weilte noch einen Augenblick in der Tür —— dann schloss er sie sanft und ließ die Damen allein.



Kapiteltrenner

Schluss-Kapitel - Anderthalb Jahre später

Es war ein schöner Augusttag —— die letzten Sonnenstrahlen verschwanden allmählich im Westen —— gleichwie das Menschenleben des Gerechten allmählich zur ewigen Ruhe entschlummert. Mr. Blyth saß in Lavinias Gesellschaftszimmer, um die sanft kühlende Abendluft durch die Fenster zu genießen.

An der Seite seiner Gattin und Madonnas saßen noch zwei andere Damen als Gast. Die eine war Mrs. Thorpe, die andere Mrs. Peckover; beide waren gekommen, um der freudevollen Zeremonie —— der Bewillkommnung Zacks mit beizuwohnen, welcher endlich von den Wilden Amerikas nach England zurückkehrte. Er war ein halbes Jahr länger ausgeblieben, als verabredet worden war; sein Erscheinen war daher die wichtigste Begebenheit des Tages, —— er ward stündlich erwartet.

In Mrs. Thorpes Toilette war ein bedeutender Wechsel eingetreten —— sie trug Witwenkleidung. Ihr Gatte war vor sieben Monaten in die ewige Heimat gegangen; er hatte sich in die ländliche Einsamkeit eines italienischen Dorfs zurückgezogen und war dann sanft und schmerzlos entschlafen. Er hatte viele Jahre hindurch für seine begangenen Jugendsünden schwer gebüßt und war nun endlich von seinen Schmerzen erlöst worden. Nachdem er seiner Gattin das letzte Lebewohl gesagt —— lispelten seine sterbenden Lippen noch den Namen seines abwesenden Sohnes. ——

Mrs. Thorpe saß dicht neben Mrs. Blyth und unterhielt sich mit ihr freundschaftlich. Die hübschen schwarzen Augen der Mrs. Blyth strahlten jetzt glänzender, wie es seit vielen Jahren nicht geschehen. Der Ton ihrer Stimme war klarer und ihr ganzes Wesen freudig belebt. Seit den ersten Tagen der Frühlingssaison hatte sie sich bedeutend erholt und an Kraft gewonnen, dass also endlich die günstige Wendung eingetreten war, von der die Ärzte schon seit Jahren gesprochen hatten. Sie hatte sich seit vierzehn Tagen schon mehrere Mal aus dem Bette gewagt und auf einem komfortablen Stuhle einige Stunden am Fenster gesessen, und vor zwei Tagen ward sie sogar bei schönem Wetter auf einem Krankenstuhle in die erquickende Gartenluft getragen.

Die Aussicht dieser glücklichen Begebenheit und das vergnügte Erwarten Zacks stimmte Valentin viel heiterer und redseliger und steigerte seine hurtige Rastlosigkeit noch mehr. Er hüpfte oft im Zimmer herum, sprach über Kunst und von allerlei andern Begebenheiten. Gekleidet war er in seinen alten Frack mit kurzer Taille und in die engen Hosen, welche seine Körperform deutlich zum Vorschein kommen ließen, und welche der Schneider Timbry nur dann zu verfertigen vermochte, wenn er ein Räuschchen hatte. Er sah jetzt viel jünger, kräftiger, rosiger und gewandter aus, als damals, wo er dem Leser zum ersten Mal vorgeführt ward. Es ist wunderbar, wie sehr die Heiterkeit und Jugendlichkeit des Herzens auch den ganzen Menschen verjüngt und ihm den Gürtel der Venus verleiht.

Mrs. Peckover, festlich gekleidet mit glänzender Bänder-Haube, saß dicht am Fenster, um soviel frische Luft einzuatmen wie möglich, wehte sich außerdem auch noch welche mit ihrem baumwollenen Taschentuch zu; dieses baumwollene Taschentuch war ihr steter Lebensbegleiter. —— Ihr körperlicher Umfang hatte sich nicht um einen halben Zoll vermindert, eher vermehrt, daher litt sie sehr von der Hitze. Während sie mit Mr. Blyth sprach, wehte sie sich mit ihrem Taschentuchfächer fortwährend Kühlung zu.

Madonna saß ihr am Fenster gegenüber —— und repräsentierte einen hübschen Kontrast —— gekleidet in ein weißes Musselinkleid, trug sie auch eine rosafarbene Haube. Nach Mrs. Peckover blickend, lächelte sie dann und wann über das komisch-klagende Antlitz der vortrefflichen Frau, wodurch sie ihre Beschwerden über die große Hitze ausdrückte. An der Länge der Fensterbrüstung hing eine Aeolsharfe —— eines der vielen Präsente, welches Valentin vom Gelde der Porträtmalerei seiner Frau gekauft hatte. Madonnas Hand ruhte leicht auf dem Kasten der Harfe; durch diese Berührung empfand sie die sanften Harmonien, welche durch das Wehen linder Lüfte erzeugt wurden. Dies war der einzige Genuss, den sie von der Musik haben konnte, in schönen Sommer- und Herbstabenden erfreute sie sich dieser wonnevollen Harmonien regelmäßig in Mrs. Blyths Zimmer.

Mrs. Thorpe erinnerte sich im Verlauf der Konversation eines noch unvollendeten Briefs an eine ihrer Schwestern und ging auf ihr Zimmer, um denselben zu beendigen. Valentin rann sogleich mit jugendlicher Galanterie zur Tür, um dieselbe zu öffnen; dann wandte er sich zu Mrs. Peckover: »Heiß, wie immer, nicht wahr? Soll ich einen von Lavinias Fächern holen?« sagte Mr. Blyth.

»Nein, ich danke, Sir, ich bin noch nicht ganz geschmolzen«, sagte Mrs. Peckover. »Aber ich sage Ihnen, was Sie für mich tun könnten. Ich wünschte nämlich, Master Zacks letzten Brief gern zu hören. Sie versprachen ihn vorzulesen Sir.«

»Und ich würde es auch schon vorhin getan haben, wenn Mrs. Thorpe nicht im Zimmer gewesen wäre. Es sind Stellen darin, welche ihr peinvolle Erinnerungen zurückrufen würden. Jetzt, wo sie mich nicht hören kann, habe ich nicht das geringste Bedenken, ihn vorzulesen, wenn Sie ihn mit anhören wollen.«

Valentin nahm den Brief aus der Tasche. Madonna erkannte ihn wieder und bat durch Zeichen, ihn über die Schulter zum zweiten Mal lesen zu dürfen. Die Bitte ward sogleich gewährt. Mr. Blyth ließ sie auf seinen Knien Platz nehmen, schlang einen Arm um ihre Taille und begann Folgendes zu lesen:

»Mein teurer Valentin!

Obgleich ich Ihnen meine Rückkehr hierdurch anzeige, so kann ich doch nicht sagen, dass ich in guter Laune die Feder ergreife. Es ist nicht lange her, dass ich meine letzten Briefe aus England empfing, welche mir den Tod meines Vaters meldeten. Außerdem habe ich noch schwere Prüfungen zu ertragen gehabt, als ich das schaudervolle Geheimnis vernahm und hernach noch die Trennung von Matthias Grice erleiden musste. Was ich fühlte, als ich das Geheimnis erfuhr und hörte, warum Mat und Sie es vor mir geheim gehalten hatten, vermag ich wohl, Ihnen zu sagen —— nicht aber wage ich es zu schreiben. Es mag für Sie von Interesse sein, wenn Sie erfahren, wie meine Trennung von Mat vor sich ging; ich will es Ihnen berichten, so gut ich kann. Sie wissen aus meinen andern Briefen, welche glänzenden Jagden und Spazierritte wir gehabt haben, wie viel tausend Meilen wir gereist und was für wundervolle Länder wir gesehen haben. Bahia, von wo aus ich jetzt schreibe, ist das Ende unserer Reisen. Ich erzählte hier Mat meines Vaters Tod; er stimmte gleich mit mir überein, dass es jetzt meine Hauptpflicht sei, mit dem ersten Schiffe nach England zu reisen, um meine einsame innig geliebte Mutter zu trösten. Nachdem wir dies festgesetzt hatten, sagte er, dass er mir noch etwas sehr Ernsthaftes und Wichtiges mitzuteilen habe, und bat mich, mit ihm eine halbe Tagereise nordwärts der Seeküste entlang zu reisen. Ich sah, dass er seine Rifle auf der Schulter und sein Gepäck auf dem Rücken trug und dachte, das ist ja drollig —— aber er schnitt mir jede Frage ab und erzählte mir das ganze Geheimnis hinsichtlich meines Vaters, was Sie und er schon vor meiner Abreise nach England wussten. Ich war zuerst so erstaunt und erschrocken über das Gehörte und hatte so viele Fragen an ihn zu richten, dass es mir später erschien, als hätte unser halbtäglicher Marsch nur eine Stunde gedauert.

An dem bestimmten Platze angekommen, hielten wir inne; er streckte seine Hand nach mir aus und sagte: »Ich habe meine Pflicht gegen Dich erfüllt, Zack, wie ein Bruder gegen den Bruder. Die Trennungsstunde naht sich für uns zum Lebewohl. Du gehst zu Deinen Freunden über die See zurück; und ich geh ins Innere des Landes auf meine Trampreise.« Ich hörte ihn früher schon von unserer Trennung reden, aber niemals glaubte ich, dass sie stattfinden werde. Daher versuchte ich alles Mögliche, seinen Entschluss zu ändern und ihn mit mir nach England zu bringen; aber es war alles nutzlos. »Nein, nein, Zack«, sagte er, »ich passe nicht für Eure Lebensart dort drüben. Ich habe es versucht, aber bittere Schmerzen waren die Folge davon. Außer Mariens Kind habe ich keine Verwandten und keine lebende Seele, die ich mein nennen könnte, und mein Vaterland ist mir fremd geworden. Ich habe ein rastloses Wanderleben begonnen und werde auch damit enden. —— Lebe wohl, Zack, ich werde oftmals an Dich denken, wenn ich in einsam stiller Nacht mein kärglich Mahl bereite, —— wenn ich in öden Wüsten mich unter den Sternen des Himmels ohne Dich zur Ruhe lege. Komm, lass uns so kurz sein, als wir können. Gott segne Dich und Deine Freunde jenseits der See! ——«

Dies waren seine letzten Worte, —— ich werde sie nie vergessen in den Tagen meines Lebens. Nachdem er mehrere Schritte fort gewandert, —— wandte er sich um und winkte mit der Hand, —— dann eilte er rastlos weiter. Ich sank zur Erde nieder und ein nie enden wollender Tränenstrom entrann meinen Augen; —- ich schluchzte und weinte wie ein Kind. Die Erzählung des schreckenvollen Geheimnisses und hernach der unerwartete tief schmerzliche Abschied hatten mich ganz überwältigt und niedergeschmettert. Einsam saß ich auf einem Sandhügel und konnte die unzähligen Schmerzenstränen nicht stillen; —— viele Meilen hinter mir den tobenden und donnernden Ozean — und vor mir die unermesslich große Wüste, auf der Mat einsam nach weit entfernten Bergen wanderte. Als ich mich endlich wieder ermannte, die Tränen trocknete und wieder klar aus den Augen sehen konnte, war er bereits weit —— weit von mit entfernt. Ich lief auf die höchste Spitze des höchsten Hügels und beobachtete ihn auf der großen Ebene, —— eine Wüste ohne Bäume und Strauch —— ein viele Meilen breites flaches Sandfeld, das sich bis zu den hohen Bergen erstreckte. Ich beobachtete ihn, als er immer kleiner und kleiner wurde —— bis er endlich nur noch ein kleiner schwarzer Punkt war —— dann zweifelte ich, ob ich den Punkt noch sah —— endlich war er ganz und gar verschwunden und vor mir lag nur die öde, einsame, unermesslich große Wüste. ——

Mein Herz war schwer und kummervoll, als ich wieder zurück nach der Stadt ging. Und noch immer bin ich tief schmerzlich betrübt! Obgleich ich oft an meine Mutter und an die arme Schwester denke, der Sie ein liebevoller Vater sind und deren Zärtlichkeit mich bei meiner Rückkehr erfreuen wird, —— so bleibt mir doch der gute, alte, teure Mat ewig unvergesslich. Seiner gedenke ich täglich, stündlich —— und ein unaussprechlich tiefer Seelenschmerz nagt stets an meinem Herzen, dass ich mit meinem teuersten Freunde nicht wieder nach England zurückreisen konnte. ——

Ich hoffe, Sie werden mir glauben, dass ich mich auf meiner langen Reise gebessert habe —— sowohl hinsichtlich des Benehmens, als auch hinsichtlich der Gesundheit. Ich habe sehr viel gesehen —— gelernt —— und gedacht, —— ich glaube, dass ich während meiner Abwesenheit wirklich profitiert und mich zu meinem Vorteil verändert habe. Ach es ist ein süßer Gedanke —— in die geliebte Heimat zu reisen ——«

Hier stockte Mr. Blyth plötzlich und schloss den Brief, denn Mrs. Thorpe trat in das Zimmer. »Der Rest bezieht sich nur auf den Zeitpunkt seiner Ankunft«, wisperte Valentin zu Mrs. Peckover. »Nach meiner Berechnung«, fuhr er mit gehobener Stimme fort und wandte sich zu Mrs.Thorpe, »nach meiner Berechnung, ich prahle nicht, als sei sie ein mathematisches Kalkül und infallibel, muss Zack, wenn er zur angegebenen Zeit abgereist ist, bald —— vielleicht sehr bald hier sein —— vielleicht in ——«

»Still! Still! Still!« schrie Mrs. Peckover, hüpfte mit außerordentlicher Beweglichkeit an das Fenster und klatschte heftig in die Hände. »Still! still, still! Ich rede nicht darüber, wann er hier sein wird —— er ist hier —— ist in einer Droschke gekommen —— er tritt in den Garten —— er sieht mich! Willkommen Master Zack! Willkommen! Hurrah! Hurrah!!«

Hier vergaß Mrs. Peckover ihre Umgebung ganz und gar, winkte mit ihrem roten, baumwollenen Taschentuche zum Fenster hinaus und befand sich fortwährend in der größten freudigen Extase.

Schon von weitem hörte man Zacks herzliches Gelächter —— dann seine eiligen Schritte auf der Treppe —— die Tür wird geöffnet und herein springt er mit sonnenverbranntem Antlitz, kräftiger und herzlicher denn je. Freudig umarmte er seine Mutter, dann Madonna und nachdem er die andern ebenso herzlich gegrüßt hatte, setzte er sich zwischen Mutter und Schwester nieder und nahm deren Hände sehr zärtlich in die seinigen, worüber Mr. Blyth sich außerordentlich erfreute.

»Das ist recht, Zack!« sagte Valentin und blickte ihn mit freudestrahlenden Augen an; »das ist der rechte Weg, mit herzlichem Ernst ein neues, gutes Leben zu beginnen. Wir haben im Verlauf unseres Lebens viele vergnügte Stunden gehabt, Lavinia«, ergänzte Mr. Blyth und nahm seinen Lieblingsplatz an der Seite seiner Gattin ein, »aber ich glaube wirklich, dies ist die glücklichste Stunde von allen.«

»Willkommen noch einmal, mein teurer Zack! —- tausendmal willkommen unter Freunden und in der Heimat! ——«



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