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Zwei Schicksalswege

Ein Gespräch mit meiner MutterCONVERSATION WITH MY MOTHER
Ich langte zu Hause noch zeitig genug an um mir zwei oder drei Stunden Ruhe zu gönnen, bevor ich meiner Mutter den gewohnten Morgenbesuch in ihrem Zimmer abstattete. Die eigentümliche Weise in der sie mich bei dieser Gelegenheit empfing und die mir an ihr ganz fremd war, konnte mir unmöglich entgehen.I REACHED my own house in time to snatch two or three hours of repose, before I paid my customary morning visit to my mother in her own room. I observed, in her reception of me on this occasion, certain peculiarities of look and manner which were far from being familiar in my experience of her.
Als unsere Blicke sich zuerst begegneten, sah sie mich so unruhig und fragend an, als quälte sie irgend ein Zweifel, den sie nicht auszusprechen wagte, und als ich mich wie gewöhnlich nach ihrem Befinden erkundigte, gab sie mir zu meinem Erstaunen eine so ungeduldige Antwort, als zürne sie mir, dass ich den Gegenstand berührte. Zuerst schrieb ich ihr verändertes Benehmen dem Umstande zu, dass sie meine Abwesenheit während der Nacht vielleicht gewahr geworden war, und den wahren Grund davon vermutete.When our eyes first met, she regarded me with a wistful, questioning look, as if she were troubled by some doubt which she shrunk from expressing in words. And when I inquired after her health, as usual, she surprised me by answering as impatiently as if she resented my having mentioned the subject. For a moment, I was inclined to think these changes signified that she had discovered my absence from home during the night, and that she had some suspicion of the true cause of it.
Sie spielte aber nicht in entferntester Art auf Frau van Brandt an und keines ihrer Worte deutete auch nur annähernd an, dass ich sie betrübt oder verletzt hätte. So blieb mir nur die Erklärung denkbar, dass sie in Bezug auf sich selbst oder auf mich etwas Wichtiges zu sagen hatte, und aus mir unbekannten Gründen mit der Mitteilung zurück hielt, weil ihr der Augenblick nicht geeignet erschien.But she never alluded, even in the most distant manner, to Mrs. Van Brandt; and not a word dropped from her lips which implied, directly or indirectly, that I had pained or disappointed her. I could only conclude that she had something important to say in relation to herself or to me--and that for reasons of her own she unwillingly abstained from giving expression to it at that time.
Zu unserem gewöhnlichen Gesprächsgegenständen zurückkehrend, kamen wir auf meinen Besuch in Schottland, der meiner Mutter immer ein willkommenes Thema war. Natürlich berührten wir dabei auch Miss Dunroß und da harrte meiner wiederum, wo ich es am wenigsten erwartete, eine Überraschung.Reverting to our ordinary topics of conversation, we touched on the subject (always interesting to my mother) of my visit to Shetland. Speaking of this, we naturally spoke also of Miss Dunross. Here, again, when I least expected it, there was another surprise in store for me.
»Du sprachst neulich von der grünen Flagge,« sagte meine Mutter, »die des armen Dermody Tochter für Dich arbeitete, als ihr noch beide Kinder wart. Hast Du sie wirklich bis jetzt aufgehoben?«"You were talking the other day," said my mother, "of the green flag which poor Dermody's daughter worked for you, when you were both children. Have you really kept it all this time?"
»Ja.«"Yes."
»Wo hast Du sie gelassen? In Schottland?«"Where have you left it? In Scotland?"
»Ich habe sie mit nach London gebracht.«"I have brought it with me to London."
»Warum?«"Why?"
»Ich versprach Miss Dunroß die grüne Flagge mit zu nehmen wohin ich ginge.«"I promised Miss Dunross to take the green flag with me, wherever I might go."
Meine Mutter lächelte.My mother smiled.
»George, ist es möglich, dass Du darüber ebenso denkst wie die junge Dame auf Schottland? Glaubst Du nach Verlauf so vieler Jahre an die grüne Flagge immer noch als an das Mittel, das Dich mit Mary Dermody wieder vereinen soll?«"Is it possible, George, that you think about this as the young lady in Shetland thinks? After all the years that have passed, you believe in the green flag being the means of bringing Mary Dermody and yourself together again?"
»Sicher nicht! Ich willfahre damit nur einem der Wünsche der armen Miss Dunroß. Durfte ich ihr nach Allem, was ich ihrer Güte dankte, die kleine Bitte abschlagen?«"Certainly not! I am only humoring one of the fancies of poor Miss Dunross. Could I refuse to grant her trifling request, after all I owed to her kindness?"
Meiner Mutter Gesicht wurde wieder ernst und sie sah mich aufmerksam an.The smile left my mother's face. She looked at me attentively.
»Es scheint als hätte Miss Dunroß Dir einen sehr günstigen Eindruck gemacht,« sagte sie."Miss Dunross seems to have produced a very favorable impression on you," she said.
»Ja, das gestehe ich. Ich fühle ein tiefes Interesse für sie.«"I own it. I feel deeply interested in her."
»Wäre sie nicht unheilbar krank, George, so hätte sie auch mein näheres Interesse erregt - ich hätte dann vielleicht an Miss Dunroß gern als an meine Schwiegertochter gedacht.«"If she had not been an incurable invalid, George, I too might have become interested in Miss Dunross--perhaps in the character of my daughter-in-law?"
»Was nutzt es, Mutter, wenn man über Unmögliches grübelt. Die traurige Wirklichkeit genügt.«"It is useless, mother, to speculate on what might have happened. The sad reality is enough."
Meine Mutter zögerte einen Augenblick ehe sie mir die nächste Frage vorlegte.My mother paused a little before she put her next question to me.
»Blieb Miss Dunroß in Deiner Gegenwart immer verschleiert, wenn es hell im Zimmer war?«"Did Miss Dunross always keep her veil drawn in your presence, when there happened to be light in the room?"
»Immer.«"Always."
»Sie gestattete Dir nie einen Blick in ihr Gesicht zu tun?«"She never even let you catch a momentary glance at her face?"
»Niemals.«"Never."
»Und, dass das Licht ihr Schmerzen verursacht, wenn es ihre Haut berührt, war der einzige Grund, den sie dafür angab?«"And the only reason she gave you was that the light caused her a painful sensation if it fell on her uncovered skin?"
»Deine Worte klingen, Mutter, als ob Du die Wahrheit dessen, was mir Miss Dunroß sagte, anzweifeltest.«"You say that, mother, as if you doubt whether Miss Dunross told me the truth."
»Nein, George ich, zweifele nur ob sie Dir die volle Wahrheit sagte.«"No, George. I only doubt whether she told you all the truth."
»In wie fern meinst Du das?«"What do you mean?"
»Verzeih mir mein lieber Sohn, aber ich glaube, dass Miss Dunroß einen viel tieferen Grund hatte, ihr Gesicht zu verbergen, als der, den sie nannte.«"Don't be offended, my dear. I believe Miss Dunross has some more serious reason for keeping her face hidden than the reason that she gave you."
Ich schwieg. Noch nie war mir der Verdacht aufgestiegen, den diese Worte in mir erweckten. Es hatte mir genügt, dass ich in medizinischen Büchern von Fällen krankhafter Nervosität gelesen hatte, die dem Zustande den Miss Dunroß beschrieb ganz ähnlich waren. Nun die Vermutung meiner Mutter aber den Weg zu mir gefunden hatte, machte sie mir einen im höchsten Grad peinlichen Eindruck. Mein Gehirn schuf sich die entsetzlichsten Zerrbilder und entweihte mir die reinsten, teuersten Erinnerungen an Miss Dunroß. Vergeblich wechselten wir den Gegenstand des Gesprächs - der schmerzliche Einfluss, der sich meiner bemächtigt hatte, war zu stark um durch eine Unterhaltung verwischt zu werden. Mit der bestmöglichsten Entschuldigung die ich erfinden konnte, verließ ich das Zimmer und eilte zu Frau van Brandt, in deren Gegenwart allein ich hoffen durfte mir selbst zu entfliehen.I was silent. The suspicion which those words implied had never occurred to my mind. I had read in medical books of cases of morbid nervous sensitiveness exactly similar to the case of Miss Dunross, as described by herself--and that had been enough for me. Now that my mother's idea had found its way from her mind to mine, the impression produced on me was painful in the last degree. Horrible imaginings of deformity possessed my brain, and profaned all that was purest and dearest in my recollections of Miss Dunross. It was useless to change the subject--the evil influence that was on me was too potent to be charmed away by talk. Making the best excuse that I could think of for leaving my mother's room, I hurried away to seek a refuge from myself, where alone I could hope to find it, in the presence of Mrs. Van Brandt.


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