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Gesetz und Frau



Zwölftes Kapitel.

Miserrimus Dexter! Erste Begegnung.

Wir stiegen bis zum ersten Ruheplatz empor, die zweite Treppenflucht, welche sich der entgegen gesetzten Richtung zuwandte war ebenfalls durch eine Oellampe matt erleuchtet. Oben angekommen schritten wir über einen kurzen Corridor, und Mrs. Macallan, sein altes Stück Tapete emporhebend, führte mich jenseits desselben.

»Hören Sie!« flüsterte sie mir zu.

Ich befand mich jetzt in einer halbdunkeln Passage, an deren Ende ich eine geschlossene Thür bemerkte. Ich lauschte und hörte hinter jener Thüre eine laut sprechende Stimme welche von einem Hin- und Herrollen begleitet war, das meines Erachtens nach über einen großen Raum ging. So sehr ich mich auch bemühte, konnte ich doch nicht die einzelnen Worte unterscheiden. Außerdem vermochte ich mir nicht zu erklären, wodurch das seltsame Rollen hervor gebracht wurde.

»Was geht denn dort vor?« fragte ich meine Schwiegermutter.

»Kommen und sehen Sie,« entgegnete sie mit leiser Stimme.

Dann öffnete sie geräuschlos die Thür.

In dem Schatten der Passage bleibend, sahen wir jetzt, ohne gesehen zu werden.

Ich erblickte ein langes dunkles Zimmer mit niedriger Decke. Der ersterbende Glanz eines schlecht erhaltenen Feuers bildete die einzige Erleuchtung, die mich Gegenstände und Entfernungen beurtheilen ließ. Die Mitte des Zimmers, unserer Stellung gegenüber, schwamm in unbestimmt röthlichem Licht, während die Umgebungen in totaler Finsterniß gehüllt waren. Kaum hatte ich diese Bemerkung gemacht, als ich das seltsame Rollen näher kommen hörte. Ein hoher Rollstuhl fuhr durch den röthlichen Schein, und ein Mann saß darin mit lang wallendem Haar, wild mit den Armen gesticulirend und die Maschine zur äußersten Schnelligkeit antreibend.

»Ich bin Napoleon beim Sonnenaufgang von Austerlitz!« rief der Mann in dem Stuhl, als er durch den Feuerschein rollte. »Ich spreche ein Wort, und Throne sinken, und Könige fallen, und Nationen zittern und Tausende fechten und sinken blutend dahin!«

Der Stuhl rollte vorbei, und der Mann in demselben wurde ein anderer Held.

»Ich bin Nelson,« rief die gellende Stimme weiter. »Ich führe die Flotte nach Trafalgar. Ich weiß bestimmt, dass ich siegen und sterben werde. Ich sehe meine eigene Apotheose, mein öffentliches Begräbniß, die Thränen meiner Nation. Die Zeit wird meinen Namen forttragen auf ihren Schwingen, und Dichter werden mir lobsingen in unsterblichen Versen!«

Der Stuhl verschwand und kam wieder; der moderne Centaur, halb Mensch, halb Maschine flog wieder durch das ersterbende Licht.

»Ich bin Shakespeare!« rief das phantastische Geschöpf. »Ich schreibe den König Lear, die Tragödie der Tragödien. Ich bin der Dichter aller Dichter! Die Zeilen fließen wie Lava aus dem Krater meiner vulkanischen Seele!«

Als er sich dem Kamin näherte flammte ein unversehrtes Stück Kohle plötzlich auf, und zeigte ihm unsere Gestalten in der offenen Thür. Mit gewaltigem Ruck hielt er seinen Rollstuhl an, gab ihm eine andere Richtung und flog wie ein wildes Thier auf uns zu. Wir traten bei Seite und der Stuhl rannte in die herunterhängende Tapete. Das seltsame Wesen gebot seinen Rädern Stillstand und blickte uns an, daß das Blut in meinen Adern erstarrte.

»Habe ich sie zu Staub zermalmt?« sagte er zu sich selbst. Dann uns abermals erblickend fuhr er fort: »Goneril und Regan! meine beiden unnatürlichen Töchter, welche gekommen sind, mich in die düstere Nacht hinaus zu treiben!«

»Durchaus nicht,« sagte meine Schwiegermutter so ruhig, als wenn sie ein vernünftiges Wesen anredete. »Ich bin Ihre alte Freundin, Mrs. Macallan, und ich habe Eustace Macallan’s zweite Frau mitgebracht, die Ihre Bekanntschaft zu machen wünscht.«

Bei den Worten »Eustace Macallan’s zweite Frau« stieß der Mann in dem Rollstuhl einen entsetzlichen Schrei aus und sprang in die Luft, als wenn er von einem Schuß getroffen worden sei. Einen Augenblick sah man ein menschliches Wesen in der Luft schweben, der gänzlich beider Beine beraubt war. In der nächsten Secunde sank das entsetzliche Geschöpf, mit der Geschicklichkeit eines Affen, auf seine beiden Hände herab und hüpfte so, mit bewunderungswürdiger Schnelle durch das Zimmer bis an den Kamin. Dann kroch er über die verglimmenden Kohlen, schüttelte sich als wenn ihn fröre und rief wohl ein dutzendmal hintereinander: »O! O! Habt Mitleid mit mir! Habt Mitleid mit mir!«

Das war der Mann, dessen Rath ich hatte erbitten, dessen Beistand ich hatte in Anspruch nehmen wollen in der Stunde der Noth.


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