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John Jagos Geist



Elftes Kapitel - Der Kieselstein und das Fenster

Miß Meadowcroft und ich waren die einzigen, welche die Familie von der Farm bei dem Prozesse repräsentierten, aber jedes von uns begab sich auf eigene Hand nach Narrabee. Außer dem gewöhnlichen Morgen. und Abendgruß hatte Miß Meadowcroft kein Wort zu mir gesprochen, seit ich ihr damals gesagt, daß ich nicht glaubte, John Jago sei noch unter den Lebenden.

Ich habe absichtlich meine Erzählung von juristischen Details frei zu halten gesucht und will auch jetzt nur in aller Kürze die Art der Verteidigung angeben.

Wir bestanden darauf, daß beide Gefangene für »Nichtschuldig« planierten. Darauf griffen wir die Gesetzmäßigkeit des eingeleiteten Verfahrens an und appellierten an das alte Englische Gesetz, dem zufolge der Mord nicht eher angenommen werden kann, als bis der Leichnam des Ermordeten gefunden oder der unzweifelhafte Beweis seiner Vernichtung beigebracht worden ist. Wir leugneten, daß in diesem Fall ein solcher Beweis vorhanden wäre.

Die Richter hielten eine Beratung und entschieden, daß der Prozess vor sich gehen sollte.

Zunächst opponierten wir wieder, als die Geständnisse als Beweisstücke beigebracht wurden.Wir behaupteten, daß sie mittels Erregung von Furcht oder anderer unstatthafter Beeinflussung erpresst worden seien und zeigten, daß die beiden Aussagen in kleineren Nebenumständen der Übereinstimmung ermangelten. Im Übrigen war unsere Verteidigung, was die Hauptsache betraf, dieselbe wie bei dem Verhör vor dem Untersuchungsrichter. Noch einmal traten die Richter zu einer Beratung zusammen und wieder wurde unser Einwand verworfen. Die Geständnisse wurden als Beweismaterial zugelassen.

Die Anklage produzierte ihrerseits einen neuen Zeugen zur Unterstützung ihrer Sache.Es ist unnötig, die Aussage desselben zu wiederholen Er widersprach sich gröblich beidem Kreuzverhör und wir zeigten deutlich, daß auf seinen Eid nichts zu geben sei.

Der Präsident summierte.

Er räumte ein, daß auf ein durch Furcht oder Hoffnung abgerungenes Bekenntnis kein Gewicht gelegt werden könnte und stellte es den Geschworenen anheim zu entscheiden, ob in diesem Falle die Bekenntnisse unter einem solchen Druck erfolgt seien. Im Laufe der Verhandlung war von der Verteidigung bewiesen worden, daß der Sheriff und der Gefängnisdirektor Ambrosius mit Wissen und Zustimmung von dessen Vater mitgeteilt hätten, daß die Sache sehr schlimm für ihn stände, — daß die einzige Chance, seiner Familie die Schmach seines Todes durch Henkershand zu ersparen, das Ablegen eines Geständnisses sei und daß, wenn er gestanden, sie ihr Möglichstes tun wollten, sein Todesurteil in lebenslängliche Deportation zu verwandeln. Was Silas betraf, so war es bewiesen, daß er seiner Sinne vor Schreck nicht mächtig gewesen, als er die Infamie begangen hatte, den Mord auf seinen Bruder zu wälzen. Wir hatten umsonst gehofft, daß diese beiden Punkte den Gerichtshof bewegen würden, die Bekenntnisse zu verwerfen und wir sollten noch weiter enttäuscht werden in der Erwartung, daß diese selben Punkte das Verdikt der Geschworenen im Sinne der Gnade beeinflussen würden. Nachdem sie eine Stunde lang beraten, kehrten sie in den Gerichtssaal zurück und sprachen das »Schuldig« gegen beide Angeklagte aus. .

Als diese der üblichen Form nach gefragt wurden, ob sie gegen diesen Ausspruch etwas einzuwenden hätten, erklärten Ambrosius und Silas feierlich ihre Unschuld und behaupteten öffentlich, daß ihre beiderseitigen Geständnisse durch die Hoffnung ihnen abgerungen worden, dadurch der Hand des Henkers zu entgehen. Der Gerichtshof nahm von dieser Erklärung keine weitere Notiz und die Angeklagten wurden beide zum Tode verurteilt.

Als ich nach der Farm zurückkehrte, konnte ich nirgends Naomi entdecken. Miß Meadowcroft teilte ihr den Ausgang des Prozesses mit.

Eine halbe Stunde darauf brachte mir eine der Mägde ein Couvert, auf welchem mein Name in der Handschrift Naomis stand. In dem Couvert stack ein Brief nebst einem Papierschnitzel, auf welchen Naomi die Worte geschrieben hatte: »Lesen Sie um Gottes Willen den beifolgenden Brief und tun Sie sofort die nötigen Schritte.«

Ich riss den Brief auf. Er sollte von einem Gentleman in New-York geschrieben sein.

Erst am vorhergehenden Tage, hieß es darin, hätte der Schreiber ganz zufällig bei einem Freunde das Avertissement, John Jago betreffend, aus einem Zeitungsblatt ausgeschnitten in ein Kuriositätenbuch eingeklebt gesehen. In Folge dessen schrieb er nach Morwick Farm, um die Mitteilung zu machen, daß er einen Mann gesehen hätte, welcher vollkommen der gegebenen Beschreibung entspräche, aber einen andern Namen trüge und als Commis in eitlem Comptoir in Jersey City arbeitete. Da er vor Abgang der Post noch Zeit gehabt hätte, wäre er nach dem Comptoir zurückgegangen, um sich den Mann nochmals anzusehen, ehe er seinen Brief abschickte. Zu seinem Erstaunen hätte er erfahren, daß der Commis heute nicht an seinem Pulte erschienen wäre. Sein Prinzipal hätte nach seiner Wohnung geschickt und von hier die Nachricht erhalten, daß er plötzlich nach dem Frühstück, bei welchem er die Zeitung gelesen, seine Reisetasche gepackt, seine Miete bezahlt und auf und davon gegangen wäre, Niemand wüßte wohin.

Es war spät Abends, als ich diese Zeilen las. Ich hatte daher Zeit darüber nachzudenken, bevor irgend etwas geschehen konnte. «

Angenommen, daß der Brief keine Mystifikation und Naomis Erklärung des Motivs, aus welchem John Jago die Farm heimlich verlassen, die richtige sei, so war es, wie ich mir sagen mußte, zweckmäßig, die Nachforschungen nach ihm auf Narrabee und die Umgegend zu beschränken.

Die Zeitung, die er beim Frühstück gelesen, hatte ihn ohne Zweifel zuerst von der Anklage, und dem Prozess, welcher folgen sollte, in Kenntnis gesetzt. Nach den Erfahrungen, welche ich über die menschliche Natur gesammelt, durfte ich annehmen, daß er unter diesen Umständen und von seiner Leidenschaft für Naomi getrieben, sich nach Narrabee zurück wagen würde. Noch mehr. Es entsprach wiederum meinen Erfahrungen, wie ich leider bekennen muß, daß er den Versuch machen würde, Ambrosius kritische Lage zu benützen, um Naomi zu einer günstigeren Aufnahme seiner Liebeswerbung zu zwingen. Seine heimliche Entfernung von der Farm hatte bereits zur Genüge dargethan, daß er gegen das etwaige Unheil, welches daraus entstehen konnte, vollständig gleichgültig gewesen. Es war ihm daher sehr wohl zu.zutrauen, daß er in seiner Gefühlsrohheit soweit gehen würde, sich Naomi heimlich wieder zu nähern und ihr die Annahme seiner Handels den Preis zu bestimmen, um welchen er das Leben ihres Vetters zu retten bereit wäre.

Zu diesem Schlusse gelangte ich nach langem Nachdenken. Um Naomis willen war ich entschlossen, die Sache aufzuklären, wenn.gleich meine Zweifel darüber, daß John Jago .noch am Leben sei, auch durch den Brief keinen Augenblick erschüttert worden waren. Ich hielt ihn für nichts mehr und nichts weniger als eine alberne herzlose Posse.

Das Schlagen der großen Uhr in der Halle weckte mich aus meinem Nachdenken Ich zählte die Schläge. Mitternacht.

Ich stand auf, um mich nach meinem Zimmer zu begeben. Alle Übrigen auf der Farm hatten sich wie gewöhnlich schon vor länger als einer Stunde zu Bett verfügt. Im Hause herrschte eine atemlose Stille. trat unwillkürlich leise auf, als ich durch die Stube ging, um in die Nacht hinaus zusehen. Ein klarer Mondschein begegnete meinem Blick — ein Mondschein wie an dem verhängnisvollen Abend, als Naomi und John Jago im Garten ein Rendezvous gehabt hatten.

Mein Licht stand auf einem Seitentisch und ich hatte es eben angezündet und war im Begriff das Zimmer zu verlassen, als sich die Tür öffnete und Naomi in eigener Person vor mir stand.

Als ich mich von der ersten Überraschung über ihre plötzliche Erscheinung erholt hatte, sah ich sofort an ihrem erregten Blick und der Totenblässe ihrer Wangen, daß sich etwas Ernstes zugetragen hatte. Sie war in einen weiten Mantel gehüllt, um den Kopf hatte sie ein weißes Tuch geknüpft. Ihr Haar war in Unordnung, sie war offenbar eben in Schreck und Hast aus dem Bette auf.gesprungen.

»Was ist geschehen?« fragte ich, indem ich ihr entgegen schritt.

Sie klammerte sich vor Aufregung zitternd an meinen Arm.

»John Jago!« wisperte sie.

«Ich glaubte natürlich, daß sie geträumt hätte.

»Wo?« fragte ich.

»Im Hinterhof unter meinem Fenster,« erwiderte sie.

Es handelte sich um viel zu ernste Dinge, als daß wir an die Beobachtung kleinlicher Anstandsrücksichten hätten denken sollen.

»Lassen Sie mich ihn sehen,« sagte ich.

»Ich komme ja eben, um Sie zu holen, « antwortete sie in ihrer offenen unbefangenen Art.

»Kommen Sie mit mir hinauf.«

Ihr Zimmer befand sich im ersten Stock und war das einzige Zimmer, welches nach hinten hinaus ging. Auf dem Wege dahin erzählte Sie mir, was sich ereignet hatte.

»Ich war schon zu Bett gegangen, schlief aber noch nicht, als ich einen Stein gegen mein Fenster klirren hörte. Ich horchte auf.Abermals wurde ein Stein an das Glas geworfen. Ich war erst überrascht, aber noch keineswegs erschreckt. Ich stand auf und lief ans Fenster, um zu sehen, was es gäbe. Da sah ich John Jago im Mondschein stehen und zu mir herauf starren.

»Sah er Sie?«

»Ja. Er sagte, ich möchte herunterkommen, er hätte mir etwas Wichtiges mitzuteilen.«

»Antworteten Sie ihm ?«

»Sobald ich zu Atem kommen konnte, sagte ich, er sollte einen Augenblick warten und dann stürzte ich zu Ihnen hinunter. Was soll ich tun?«

»Ich will ihn erst sehen, dann werde ich es Ihnen sagen.«

Wir traten in ihr Zimmer. Hinter den Gardinen vorsichtig versteckt blickte ich hinaus.

Da stand er wirklich. Backen. und Schnurrbart waren abgeschoren, die Haare kurz geschnitten. Aber die wilden braunen Augen und die eigentümlichen Bewegungen seiner dürren hageren Gestalt, die mich sofort wieder frappierten, als er Naomi erwartend, langsam auf- und ab zu gehen begann, hatte er durch nichts verändern können. Im ersten Augenblick wurde ich fast von meiner eigenen Aufregung überwältigt, nachdem ich so fest geglaubt, daß John Jago zu den Toten gehörte.

»Was soll ich tun?« wiederholte Naomi.

»Ist die Tür der Milchkammer offen?« fragte ich.

.Nein. Ader der Holzstall um die Ecke ist unverschlossen.«

»Gut. Zeigen Sie sich am Fenster und sagen Sie: Ich komme gleich.«

Das beherzte Mädchen tat wie ich ihr sagte, ohne sich einen Augenblick zu bedenken.

Wenn über seine Augen und seinen Gang kein Zweifel obgewaltet, so war es auch unzweifelhaft seine Stimme, als er von unten herauf rief:

»Sie werden mir eine Gunst erweisen!«

»Halten Sie ihn im Gespräch auf der Stelle fest, wo er jetzt steht, bis ich Zeit gehabt habe, auf dem anderen Wege nach dem Holzstall zu gelangen. Dann tun Sie, als ob Sie von der Milchkammer her entdeckt zu werden fürchteten und bringen Sie ihn um die Ecke, damit ich ihn hinter der Tür hören kann.«

Wir verließen zusammen das Haus und trennten uns schweigend. Naomi befolgte meine Instruktionen mit der schnellen weiblichen Auffassungsgabe, wo es sich um eine Kriegslist handelt. Ich war kaum eine Minute im Holzstall gewesen, als ich auch schon Naomi an der Außenseite der Tür sprechen hörte.

Die ersten Worte, welche ich deutlich vernahm, bezogen sich auf das Motiv, aus welchem er die Farm heimlich verlassen hatte. Doppelt verletzter Stolz — einmal durch Naomis verächtliche Zurückweisung und dann durch die persönlichen Insulte, die er durch Ambrosius erfahren, — war die Ursache. Er gab zu, daß er den öffentlichen Aufruf gelesen, und daß es ihn nur noch mehr in seinem Entschluss befestigt hätte, sich versteckt zu halten.

»Nachdem ich verlacht, insultirt und zurückgewiesen worden,« sagte der Nichtswürdige, »war es eine Genugtuung für mich zu wissen, daß gewisse Leute hier ernstlichen Grund hätten, mich zurück zu wünschen Es hängt von Ihnen ab, Miß Naomi, mich fest zu halten und mich zur Rettung Ambrosius zu bewegen, indem ich mich öffentlich zeige.«

»Was meinen Sie damit?« hörte ich Naomi in strengem Tone fragen.

Er senkte die Stimme, aber ich konnte ihn trotzdem verstehen.

»Versprechen Sie mir, mich zu heiraten.« sagte er, »und ich gehe morgen auf die Polizei und beweise ihr, daß ich mich am Leben befinde.«

»Und wenn ich mich weigere?«

»In diesem Fall werde ich wieder verschwinden, und Niemand soll mich finden, bis Ambrosius gehenkt ist.«

»Wären Sie wirklich Schurke genug, das zu tun, John Jago?« fragte das Mädchen.ihre Stimme erhebend.

»Wenn Sie versuchen Lärm zu machen, « antwortete er, »so wahr als ein Gott über uns ist, Sie sollen meine Hand an Ihrer Kehle fühlen. Die Reihe ist jetzt an mir, Miß, und ich bin nicht der Mann, der mit sich spaßen läßt. Wollen Sie mich heiraten, — ja oder nein?«

»Nein!« antwortete sie laut und fest

Ich stieß die Türe aus und packte ihn im .Augenblick, als er die Hand gegen sie aufhob. Er hatte nicht an zerrütteten Nerven, wie ich, gelitten und war der Stärkere von uns beiden. Naomi rettete mir das Leben. Sie schlug ihm die Pistole aufwärts, die er mit seiner freien Hand aus der Tasche zog und auf mich anlegte.Die Kugel ging in die Luft. Im selben Augenblick stellte ich ihm ein Bein. Der Schuß hatte das ganze Haus aus dem Schlafe geweckt und bis Hilfe kam, hielten wir beide ihn am Boden nieder.


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