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Armadale



Viertes Kapitel.

Am Abende des zweiten December nahm Mr. Bashwood zum ersten Male seinen Beobachtungsposten auf dem Bahnhofe der Südostbahn ein. Es war sechs Tage früher als der Zeitpunkt, welchen Allan selbst zu seiner Rückkunft bestimmt hatte; allein der Doctor hatte es nach seiner ärztlichen Erfahrung gerade für wahrscheinlich gehalten, daß »Mr. Armadale in seinem beneidenswerthen Alter so eigensinnig sein möchte, eher zu genesen, als sein Arzt vorausgesehen hätte«. Der Vorsicht halber wurde daher Mr. Bashwood angewiesen, sein Warten auf dem Bahnhofe schon tags darauf, nachdem er den Brief seines Herrn empfangen, zu beginnen.

Vom zweiten bis zum siebenten December wartete der Verwalter pünktlich auf dem Bahnhofe, sah die Züge ankommen und überzeugte sich zu seiner Genugthuung Abend für Abend, daß ihm die Reisenden sämtlich fremd waren. Vom zweiten bis zum siebenten December empfing Miß Gwilt —— um auf den Namen zurückzukommen, unter dem sie uns am besten bekannt ist —— seinen täglichen Bericht, den er manchmal persönlich abstattete, manchmal brieflich übersandte. Der Doctor, welchem die Berichte mitgetheilt wurden, nahm sie seinerseits bis zum Morgen des achten mit unerschüttertem Vertrauen in die getroffenen Vorsichtsmaßregeln entgegen. An diesem Tage hatte die Aufregung der beständigen Ungewißheit Miß Gwilt’s wandelbare Stimmung sehr zum Schlimmen verändert, was Jeder in ihrer Umgebung wahrnahm und was merkwürdig genug sich in dem Wesen des Doctors ebenso auffällig widerspiegelte, als er ihr seinen gewöhnlichen Besuch machte. Durch ein so außerordentliches Zusammentreffen, daß seine Feinde es überhaupt für ganz und gar kein Zusammentreffen gehalten haben dürften, kam an dem Morgen, wo Miß Gwilt die Geduld auszugehen begann, dem Doctor zum ersten Male sein Vertrauen abhanden.

»Natürlich keine Nachricht«, sagte er, indem er sich mit einem schweren Seufzer niederließ. »Gut! gut!«

Miß Gwilt sah ihn von ihrer Arbeit her aufgeregt an.

»Sie scheinen mir heute Morgen wunderbar kleinlaut«, sagte sie. »Vor was fürchten Sie sich denn jetzt?«

»Einem Manne«, antwortete der Doctor, »selbst wenn er einem so wesentlich friedlichen Berufe angehört, wie es der meinige ist, macht man nicht so leichthin den Vorwurf der Furcht. Ich fürchte mich nicht, ich bin nur, wie Sie zuerst richtiger bemerkten, kleinlaut. Sie wissen, ich bin von Natur sanguinischen Temperaments und erkenne nur heute, was ich ohne gewohnte Zuversicht schon vor acht Tagen erkannt haben würde und erkannt haben müßte.«

Ungeduldig warf Miß Gwilt ihre Arbeit hin. »Wenn Worte Geld kosteten«, versetzte sie, »so würde dies Ihnen zu einem sehr kostspieligen Luxus werden.«

»Was ich vor acht Tagen erkannt haben würde und erkannt haben müßte«, wiederholte der Doctor, ohne von der Unterbrechung die geringste Notiz zu nehmen. »Um mich deutlicher auszusprechen, ich fühle mich keineswegs mehr so sicher, wie ich’s war, daß Mr. Armadale sich ohne Widerstreben den Bedingungen fügen wird, die ich ihm in meinem Interesse —— in geringerem Grade auch in Ihrem —— auferlegen muß. Merken Sie wohl auf! Ich stelle es nicht in Frage, daß es uns gelingen wird, ihn in das Sanatorium zu locken, ich zweifle blos, daß er ganz so traitable sein wird, als ich ursprünglich annahm, wenn wir ihn drin haben. Denken Sie«, fuhr er fort, zum ersten Male aufblickend und Miß Gwilt forschend fixierend, »denken Sie, er ist verwegen, halsstarrig, wie Sie’s nennen wollen, und hält aus, hält wochenlang, monatelang aus, wie Menschen in einer der seinigen ähnlichen Lage schon ausgehalten haben. Was folgt daraus? Die Gefahr, ihn in gezwungenem Versteck zu halten, ihn, wenn ich so sagen soll, zu unterdrücken, wächst in steigender Potenz und wird enorm! Im Augenblick ist nun mein Haus wirklich zur Aufnahme von Kranken bereit; schon im Laufe einer Woche dürften Patienten sich einstellen, dürften mit Mr. Armadale oder Mr. Armadale dürfte mit ihnen verkehren, ein Billet könnte herausgeschmuggelt und der Commission zur Feststellung des Wahnsinns in die Hände gespielt werden. Selbst in dem Falle eines nicht concessionirten Etablissements wie das meinige ist, haben diese Herren —— nein, diese patentierten Despoten in einem Lande der Freiheit —— nur den Lordkanzler um einen Befehl anzugehen, um ohne weiteres in mein Sanatorium einzudringen und das ganze Haus vom Dache bis zum Keller zu durchsuchen. Um Himmelswillen, in mein Sanatorium eindringen! Ich verzage nicht, ich will Sie nicht erschrecken, ich behaupte nicht, daß die Mittel, die wir zu unserer eigenen Sicherheit ergreifen, nicht die besten sind, welche uns überhaupt zur Verfügung stehen, ich bitte, sich nur die Commission in meiner Anstalt denken und die Folgen davon ins Auge fassen zu wollen. Die Folgen!« wiederholte der Doctor, indem er sich ernst erhob und seinen Hut nahm, als wolle er das Zimmer verlassen.

»Haben Sie mir nichts weiter zu sagen?« fragte Miß Gwilt.

»Haben Sie Ihrerseits einige Bemerkungen zu machen?« erwiderte der Doctor.

Den Hut in der Hand stand er wartend da. Eine volle Minute sahen sich beide schweigend an.

Miß Gwilt nahm zuerst wieder das Wort.

»Ich glaube Sie zu verstehen«, sagte sie, mit einem Male ihre Fassung wiedergewinnend.

»Verzeihen Sie gefälligst«, entgegnete der Doctor, die Hand ans Ohr legend. »Was haben Sie gesagt?«

»Nichts.«

»Nichts?«

»Sollten Sie zufällig heute Morgen wieder eine Fliege fangen«, sagte Miß Gwilt ihren Worten einen bitter-sarkastischen Nachdruck gebend, »so wäre ich vielleicht im Stande, Sie wieder durch einen kleinen Scherz in Schrecken zu jagen.«

Höflich protestierend hielt der Doctor beide Hände empor und sah aus, als wollte sich seine gute Laune wieder einstellen.

»Es ist grausam«, murmelte er sanft, »daß Sie mir selbst jetzt noch nicht meinen unseligen Mißgriff vergeben haben!«

»Was haben Sie mir sonst noch zu sagen?« sprach Miß Gwilt »Ich wartete darauf.« Mit höhnischer Miene drehte sie ihren Stuhl nach dem Fenster um und nahm, während sie sprach, ihre Arbeit wieder auf.

Der Doktor stellte sich hinter sie und legte seine Hand auf die Lehne ihres Stuhls.

»Zuerst möchte ich eine Frage an Sie richten«, sagte er, »und sodann eine nothwendige Vorsichtsmaßregel vorschlagen. Wenn Sie mich mit Ihrer Aufmerksamkeit beehren wollen, stelle ich jetzt zuvörderst meine Frage.«

»Ich bin ganz Ohr.«

»Sie wissen, daß Mr. Armadale noch am Leben ist, und wissen auch, daß er nach England zurückkehrt. Warum tragen Sie nach wie vor Ihre Witwenkleidung?«

Ohne einen Augenblick zu zögern, antwortete sie ihm, emsig fort nähend:

»Weil ich wie Sie sanguinischen Temperaments bin; ich denke mich bis zuletzt auf das Kapitel der Zufälligkeiten zu verlassen. Mr. Armadale kann ja noch auf seinem Heimwege sterben.«

»Gesetzt aber, er kommt lebendig nach Hause, was dann?«

»Dann bleibt immer noch eine andere Chance übrig.«

»Bitte, was für eine?«

»Er kann in Ihrem Sanatorium sterben.«

»Madame!« remonstrirte der Doctor in dem tiefen Baß, den er für seine Ausbrüche tugendhafter Entrüstung aufzusparen pflegte. »Halt! Sie haben vom Kapitel der Zufälligkeiten gesprochen«, ging er weiter, in seinen sanfteren Conversationston zurückfallend. »Ja, ja! Natürlich! Diesmal Verstehe ich Sie. Selbst die Heilkunst ist von Zufälligkeiten abhängig, selbst solch ein Sanatorium wie das meinige kann vom Tode überrascht werden. Ganz richtig, ganz richtig!« sagte der Doctor, in höchster Unparteilichkeit diese Concession machend. »Es gibt ein Kapitel der Zufälligkeiten, ich räume das ein, wenn Sie sich darauf verlassen wollen. Geben Sie Acht! Ich sage ausdrücklich, wenn Sie sich darauf verlassen wollen.«

Abermals trat ein Moment des Schweigens ein, eines so tiefen Schweigens, daß im ganzen Zimmer kein Laut zu vernehmen war, als der Ton, welchen Miß Gwilt’s Nadel hervorbrachte, wenn sie den Faden durch die Leinwand zog.

»Fahren Sie fort«, sprach endlich Miß Gwilt. »Sie sind noch nicht fertig.«

»Allerdings«, sagte der Doktor. »Nachdem ich meine Frage gestellt, muß ich Ihnen jetzt meine Vorsichtsmaßregel vorschlagen. Daß ich meinerseits nicht gesonnen bin, mich auf das Kapitel von den Zufälligkeiten zu verlassen, werden Sie daraus ersehen. Ich habe mir überlegt, daß Sie und ich, räumlich gesprochen, für eine Eventualität nicht so passend situirt sind, als es der Fall sein sollte. Vor der Hand sind in dieser indeß rasch aufblühenden Gegend Droschken noch eine Seltenheit; ich habe zwanzig Minuten zu Ihnen, Sie haben zwanzig Minuten zu mir zu gehen. Wie Sie wissen, kenne ich meinerseits Mr. Armadale’s Charakter nicht; es kann daher die Notwendigkeit, die sehr dringende Nothwendigkeit eintreten, einmal rasch an Ihre genauere Kenntniß desselben zu appellieren. »Wie aber soll ich das bewerkstelligen, wenn wir uns nicht immer, unter einem und demselben Dache, erreichen können? In unserm beiderseitigen Interesse erlaube ich mir deshalb, meine verehrte Dame, die Bitte, daß Sie auf eine gewisse Zeit eine Insassin meines Sanatoriums werden möchten.«

Miß Gwilt’s behende Nadel kam plötzlich zum Stillstand. »Ich verstehe Sie«, sagte sie, wieder so ruhig wie zuvor.

»Entschuldigen Sie«, entgegnete der Doctor, der in einem neuen jähen Anfall von Taubheit abermals die Hand vor das Ohr hielt.

Sie lachte vor sich hin —— ein entsetzliches heimliches Lachen, das selbst den Doctor erschreckte, sodaß er schnell die Hand vom Ohre wegnahm.

»Eine Insassin Ihres Sanatoriums?« wiederholte sie. »Sie nehmen doch sonst in allen Stücken auf den Anstand Rücksicht und suchen den Schein zu wahren —— meinen Sie dies zu thun, wenn Sie mich in Ihr Haus aufnehmen?«

»Ganz gewiß!« versetzte der Doctor enthusiastisch. »Ich bin erstaunt, daß Sie nur so fragen können! Haben Sie je einen bedeutenden Mann meines Berufs gekannt, der dem äußern Schein ins Gesicht schlug? Wenn Sie mir die Ehre erzeigen, meiner Aufforderung Folge zu leisten, so werden Sie mein Sanatorium in dem Charakter beziehen, der von allen am wenigsten bemäkelt werden kann —— als Patientin.«

»Wann wünschen Sie meine Antwort zu erhalten?«

»Können Sie sich heute noch entschließen?«

»Nein!«

»Morgen?«

»Ja. —— Haben Sie mir sonst noch etwas zu sagen?«

»Nichts mehr.«

»So verlassen Sie mich also. Ich kümmere mich nicht um den Schein. Ich will allein sein und sage dies. Guten Morgen!«

»Ach, das Geschlecht, das Geschlecht!« rief der Doctor in wieder vollkommen guter Laune aus. »So entzückend impulsiv, so entzückend ohne Rücksicht auf das, was die Leute sagen und wie sie es sagen! Ja, ja! Guten Morgen!«

Als die Hausthür sich hinter ihm geschlossen hatte, trat sie ans Fenster und sah ihm voll Verachtung nach.

»Zuerst ist’s Armadale selbst gewesen«, sagte sie, »der mich dazu getrieben hat. Dann war’s Manuel. Du feiger Schurke da unten, sollst du mich zum dritten und letzten Male dazu treiben?«

Sie wandte sich vom Fenster ab und betrachtete sich ihre Wittwenkleidung gedankenvoll im Spiegel.

Die Stunden des Tages vergingen, und sie konnte sich zu nichts entschließen. Die Nacht kam heran, und sie schwankte noch immer. Der neue Morgen dämnrerte, und die fürchterliche Frage war noch ungelöst.

Da brachte die Morgenpost ihr einen Brief. Es war Mr. Bashwood’s gewöhnlicher Bericht. Wieder und wieder hatte er vergeblich aus Allan’s Ankunft gewartet.

»Ich will länger Zeit haben«, rief sie leidenschaftlich. »Kein Mensch auf der Welt soll mich mehr drängen, als ich will!«

Beim Frühstück, am Morgen des neunten, wurde der Doctor von einem Besuche Miß Gwilt’s überrascht.

»Ich muß noch einen Tag Frist halten«, sagte sie, sobald der Diener hinter ihr die Thür zugemacht hatte.

Der Doctor sah sie an, bevor er antwortete, und las auf ihrem Gesichte wie gefährlich es war, sie zum Aeußersten zu treiben.

»Die Zeit verstreicht«, remonstrirte er so überredend wie möglich. »Mr. Armadale kann trotz alledem heute Abend hier sein«

»Ich muß noch einen Tag Frist haben!« wiederholte sie laut und leidenschaftlich.

»Zugestanden!« sagte der Doctor und blickte ängstlich nach der Thür »Sprechen Sie nicht zu laut, meine Leute könnten es hören. Merken Sie sich«, setzte er hinzu, »ich verlasse mich auf Ihre Ehre, daß Sie mich morgen nicht um einen ferneren Aufschub drängen!«

»Sie sollten sich lieber aus meine Verzweiflung verlassen!« sprach sie und ging.

Der Doctor blätterte die Schale von seinem Ei ab und lächelte.

»Recht so, meine Beste!« dachte er. »Ich weiß noch, wohin Sie in früheren Zeiten Ihre Verzweiflung geführt hat, und ich glaube sicher zu sein, sie führt Sie denselben Weg auch jetzt.«

Am nämlichen Abende dreiviertel auf acht Uhr nahm Mr. Bashwood wie gewöhnlich seinen Beobachtungsposten auf dem Bahnhofe von London-Bridge ein.

Er war in heiterster Stimmung; er lächelte und schmunzelte vor unwiderstehlicher Lust. Das Bewußtsein, daß er vermöge seiner Kenntniß von Miß Gwilt’s früherer Laufbahn ein Mittel in Reserve hatte, seinen Einfluß bei ihr geltend zu machen, trug keine Schuld an der Veränderung, die jetzt sichtlich mit ihm vorgegangen war. In seinem einsamen Leben in Thorpe-Ambrose hatte es seinen Muth aufrecht erhalten und ihm die größere Sicherheit in seinem Wesen gegeben, welche selbst Miß Gwilt bemerkt hatte; von dem Augenblicke aber, wo er seinen alten Platz in ihrer Gunst wieder gewann, war ihm die Ueberzeugung seiner Macht durch die elektrische Gewalt ihrer Berührung und ihres Blicks ganz entschwunden. Seine Eitelkeit —— eine Eitelkeit, die bei Männern seines Alters nur versteckte Verzweiflung ist —— hatte ihn jetzt von neuem bis in den siebenten Himmel thörichter Glückseligkeit erhoben. Er glaubte wieder an sie, wie er an den flotten neuen Winterpaletot glaubte, den er trug, wie an das zierliche Stöckchen, welches er in seiner Hand schwang Er summte vor sich hin! Das abgelebte alte Geschöpf, das seit seinen Kindertagen nicht mehr gesungen hatte, summte, während es den Perron hinab schritt, die wenigen Brocken vor sich hin, deren es sich von einem abgenutzten alten Liede noch entsinnen konnte.

Der Zug mußte heute schon um acht Uhr eintreffen. Fünf Minuten nach dem Glockenschlage pfiff die Locomotive; noch fünf Minuten, und die Passagiere stiegen aus den Coupés.

Den ihm ertheilten Verhaltungsmaßregeln getreu, schritt Mr. Bashwood, so schnell es ihm die Menschenmenge erlaubte, an der Wagenreihe hin, und da er auf die erste Prüfung hin kein bekanntes Gesicht entdeckte, so gesellte er sich zu weiterer Forschung zu den im Wartesaale des Zollhauses auf ihre Abfertigung harrenden Reisenden.

Er hatte sich rings im Saale umgesehen und abermals überzeugt, daß ihm sämtliche der hier versammelten Personen fremd waren, als er hinter sich eine Stimme vernahm, welche ausrief: »Ist das nicht Mr. Bashwood?«

In gespannter Erwartung drehte er sich um und fand sich dem Manne gegenüber, den er hier zu treffen am allerwenigsten erwartet hatte.

Es war Midwinter.


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