Die Neue Magdalena - Buch 2
Kapitel 1
Die Gesellschafterin der Lady Janet
Es ist ein herrlicher Wintertag, der Himmel klar, der Boden hartgefroren, die Eisdecke trägt schon die Last der Schlittschuhläufer.
Mablethorpe-House, ein altertümliches, stattliches Haus, in der Londoner Vorstadt Kensington gelegen, besitzt ein Speisezimmer, Künstlern und anderen Leuten von Geschmack wohlbekannt wegen des Holzgetäfels - einem italienischen Original - mit dem seine Wände an drei Seiten bekleidet sind. An der vierten Seite hat der moderne Fortschritt das Gebiet des alten Geschmackes eingeschränkt; denn um in die Szene Abwechslung und Glanz zu bringen, öffnet sich von da ein weites Gewächshaus, welches als Wintergarten voll der seltensten Blumen und Pflanzen den Zugang in das Zimmer bildet. Rechts, wenn man vor dem Wintergarten steht, wird die Einförmigkeit der getäfelten Wand durch eine in altmodischem Muster mit Holz eingelegte Tür gemildert, welche in das Bibliothekszimmer führt, von wo aus man durch eine große Vorhalle in die übrigen Empfangszimmer des Hauses gelangt. Die gegenüber liegende Tür links gewährt den Einlass in das Billardzimmer, das daranstoßende Raucherzimmer und von da in eine kleinere Vorhalle, durch welche ein Nebeneingang in das Gebäude führt. Auf der linken Seite befindet sich auch der breite Kamin, überragt von einem Marmorsims, dessen Skulptur dem an Zierraten verschwenderisch reichen, aber unreinen Stil des vorigen Jahrhunderts angehört. Dem hiefür gebildeten Auge erscheint das Speisezimmer mit seinen modernen Möbeln und dem Wintergarten, mit seinen altertümlichen Wänden und Türen, dann mit seinem hohen Kaminsims, der weder alt noch neu, als ein störendes, ja unverträgliches Gemisch der Verzierungsarbeiten gänzlich verschiedener Schulen. Auf den Laien macht es nur den einen Eindruck, dass Luxus und Bequemlichkeit hier in angenehmster Weise vereinigt und bis zur höchsten Stufe entwickelt sind.
Die Uhr hat eben Zwei geschlagen. Der Tisch ist zum Frühstück gedeckt.
Die Personen, welche am Tische sitzen, sind Lady Janet Roy, eine junge Dame, ihre Gesellschafterin und Vorleserin, und ein Gast des Hauses, welcher unter dem Namen Horace Holmcroft in diesem Buche bereits aufgetreten ist - derselbe, welcher als Korrespondent einer englischen Zeitung die deutsche Armee begleitet hatte.
Lady Janet Roy bedarf keiner langen Einführung. Jedermann, der im Geringsten den Anspruch erhebt, mit den gesellschaftlichen Verhältnissen Londons bekannt zu sein, kennt Lady Janet Roy.
Wer hat nicht schon von ihren alten Spitzen, von ihren einzigen Rubinen gehört? Wer hat nicht schon ihre imponierende Gestalt, ihr schön gekämmtes, weißes Haar, ihre herrlichen, schwarzen Augen bewundert, welche noch ihren jugendlichen Glanz besitzen, nachdem sie doch schon vor siebzig Jahren zum erstenmale in die Welt geblickt? Wer hätte nicht schon den Zauber ihrer ungezwungenen, leicht fließenden Rede, ihrer unerschöpflich guten Laune, ihrer heiteren, wohlwollenden Leichtigkeit empfunden? Wo ist der moderne Einsiedler, welcher nicht wenigstens vom Hörensagen genau mit der phantastischen Originalität und Laune ihrer Ansichten bekannt wäre; der nicht wüsste, dass sie allezeit edel und aneifernd das Verdienst jeder Art und jeden Ranges, hoch oder niedrig, hervorzuheben suchte; dass ihr wohltätiger Sinn keinen Unterschied kennt zwischen Heimat und Fremde; dass ihre unbegrenzte Nachsicht sich durch keine Undankbarkeit entmutigen, durch keine Heuchelei in falsche Bahnen bringen lässt? Jedermann hat von der populären alten Dame gehört - der kinderlosen Witwe eines längst vergessenen Lords. Jedermann kennt Lady Janet Roy.
Aber wer kennt die schöne, junge Dame ihr zur Rechten, die aussieht, als spielte sie mit ihrem Frühstück, anstatt es zu verzehren! Eigentlich kennt sie niemand.
Sie ist hübsch in grauen Poplin gekleidet, mit grauem Samt besetzt und mit einer dunkelroten Bandschleife am Halse. Sie ist fast ebenso groß als Lady Janet selbst, und ihre Gestalt besitzt dabei so viel Grazie und Schönheit, wie dies nur selten bei den Frauen der Fall ist, die über die mittlere Größe hinausragen. Die angeborene Hoheit in der Haltung ihres Kopfes und in dem Ausdruck ihrer großen, schwermütigen Augen könnte Menschen, welche auf Herkunft und seine Sitten einen besonderen Wert legen, leicht zu dem festen Glauben führen, sie sei ebenfalls eine vornehme Dame. Aber ach! Sie ist nur Lady Janets Gesellschafterin. Ihr Kopf mit dem prachtvollen, lichtbraunen Haar, wie mit einer Krone bedeckt, neigt sich in sanfter Ehrerbietung bei jedem Worte, das Lady Janet spricht. Ihre feine, feste Hand ist gern und unablässig wachsam, Lady Janet den kleinsten Dienst zu leisten. Die alte Dame - von herzlicher Vertraulichkeit in ihrem Verkehr mit ihr - behandelt sie ungefähr wie ein angenommenes Kind. Allein die Dankbarkeit der schönen Gesellschafterin für so viel Güte äußert sich immer in derselben zurückhaltenden Weise; in ihrem Lächeln, mit dem sie Lady Janets frohe Heiterkeit beantwortet, liegt stets dieselbe verhaltene Trauer. Schlummert hier vielleicht unter der Oberfläche irgendein begangenes Unrecht? Leidet sie geistig oder körperlich? Was ists mit ihr?
Sie hat geheime Gewissensbisse. Das ists mit ihr. Dies zarte, schöne Geschöpf verzehrt sich unter der stillen Qual beständiger Selbstvorwürfe.
Der Herrin des Hauses und allen denen, die dasselbe bewohnen und betreten, ist sie bekannt als Grace Roseberry, die verwaiste Verwandte von Lady Janet Roy. Sie allein weiß, dass Sie in Wahrheit das verworfene Geschöpf der Londoner Straßen ist; die Bewohnerin des Besserungshauses; dass sie die Verlorene ist, welche so lange umsonst zu erkämpfen gesucht, was sie nunmehr sich erstohlen hat - die Rückkehr zu Heimat und Unbescholtenheit. Da sitzt sie im düsteren Schatten ihres eigenen, furchtbaren Geheimnisses, verkleidet in die Person einer anderen und im Besitze der Stelle einer anderen. Mercy Merrick durfte es ja nur wagen, wenn sie Grace Roseberry werden wollte. Sie hat es gewagt, und seit beinahe vier Monaten ist sie nun Grace Roseberry.
In diesem Augenblicke, während Lady Janet mit Horace Holmcroft spricht, weilen ihre Gedanken bei einem Gespräch, welches zwischen ihnen geführt worden war, und dies ruft in ihr die Erinnerung jenes Tages wach, an welchem sie den ersten, verhängnisvollen Schritt zu dem Betruge getan.
Wie leicht war ihr die Verstellung geworden. Beim ersten Anblick gleich war Lady Janet von dem edlen, interessanten Antlitz völlig bezaubert. Es war gar nicht einmal nötig, ihr den gestohlenen Brief zu übergeben und die vorbereitete Geschichte zu erzählen. Die alte Dame hatte den Brief uneröffnet weggelegt und die Erzählung bei den ersten Worten unterbrochen. „Ihr Gesicht führt Sie bei mir ein, liebes Kind; Ihr Vater kann Sie mir nicht besser empfehlen als Sie sich selbst.” Dieser Empfang bestätigte sie bei ihrem Eintritt in ihrer gefälschten Identität. Ihre eigenen Erfahrungen und das „Tagebuch” über die Ereignisse in Rom setzten sie in Stand, jede Frage in Betreff des Lebens in Kanada und in Betreff der Krankheit des Obersten Roseberry pünktlich zu beantworten, so dass, wenn selbst ein Verdacht bestanden hätte, derselbe auf der Stelle entwaffnet worden wäre. Während die wahre Grace in einem deutschen Lazarett nur langsam in das Leben zurückkehrte, ward die falsche Grace bei allen Bekannten Lady Janets als eine angeheiratete Verwandte der Herrin von Mablethorpe-House eingeführt. Seit jener Zeit war nichts geschehen, was in ihr auch nur den schwächsten Verdacht hatte erregen können, dass Grace nicht längst tot und begraben sei. So viel sie jetzt wusste - so viel überhaupt jemand jetzt wusste - war mit Sicherheit anzunehmen, dass nichts sie hindern würde, wenn nicht ihr Gewissen es tat, ihr ganzes Leben hindurch geachtet, ausgezeichnet und geliebt, die Stellung einzunehmen, welche sie sich angemaßt hatte.
Jetzt stand sie plötzlich vom Tische auf. Das ganze Streben ihres Lebens war, sich von Erinnerungen loszumachen, die sie unablässig verfolgten, wie sie sie auch jetzt verfolgten. Ihr Gedächtnis war ihr schlimmster Feind; die einzige Rettung davor war Veränderung in der Beschäftigung, Veränderung des Ortes.
„Kann ich in den Wintergarten gehen, Lady Janet?” fragte sie.
„Gewiss, liebes Kind.”
Sie neigte den Kopf gegen ihre Beschützerin, warf einen Blick voll fester, mitleidsvoller Aufmerksamkeit auf Horace Holmcroft - und ging dann langsam durch das Zimmer in den Wintergarten. Horaces Augen folgten ihr, so lange sichtbar war, mit einem neugierigen, widersprechenden Ausdruck von Bewunderung und Missbilligung. Sobald sie ihm aus dem Gesichte war, verlor sich der Ausdruck der Bewunderung und es blieb nur der der Missbilligung. Der junge Mann zog seine Stirne in finstere Falten; er saß schweigend da, die Gabel in der Hand, und spielte zerstreut mit den Überresten des Frühstückes auf seinem Teller.
„Nehmen Sie noch von der französischen Pastete, Horace”, sagte Lady Janet.
„Nein, ich danke Ihnen.”
„Nun dann vielleicht ein Stück Huhn?”
„Ich danke auch hiefür.”
„Reizt Sie denn gar nichts?”
„Wenn Sie erlauben, werde ich noch etwas Wein nehmen.”
Er füllte sein Glas, zum fünften- oder sechsten Mal, mit Rotwein und leerte es, finster, auf einen Zug. Die klaren Augen Lady Janets beobachteten ihn mit gespannter Aufmerksamkeit; ihre flinke Zunge sprach frei, wie sie es gewöhnt war, das aus, was ihr Kopf gleichzeitig dachte.
„Die Luft in Kensington scheint Ihnen nicht gut zu bekommen, mein junger Freund”, sagte sie. „Je länger Sie mein Gast sind, desto öfter füllen Sie Ihr Glas und leeren Ihre Zigarrentasche. Das sind bei einem jungen Mann keine guten Zeichen. Als Sie hier ankamen, waren Sie durch die Verwundung geschwächt. An Ihrer Stelle hätte ich mich nie der Gefahr ausgesetzt, einen Schuss zu bekommen, bloß deshalb, um in der Zeitung eine Schlacht schildern zu können. Übrigens, der Geschmack ist ja verschieden. Sind Sie krank oder quält Sie Ihre Wunde?”
„Nicht im Geringsten.”
„Sind Sie verstimmt?”
Horace Holmcroft ließ seine Gabel fallen, stützte die Ellbogen auf den Tisch und antwortete: „Entsetzlich.”
Selbst Lady Janets weitreichende Toleranz hatte ihre Grenzen. Sie umfasste jede Art menschlichen Vergehens, aber nie die Verletzung des feinen Anstandes. Sie ergriff die nächstbeste, zur Züchtigung geeignete Waffe - einen Esslöffel - und klopfte damit ihren jungen Freund tüchtig auf den Arm.
„An meinem Tisch benimmt man sich etwas anders als im Club”, sagte die alte Dame. „Halten Sie den Kopf in die Höhe. Sehen Sie nicht auf Ihre Gabel - sehen Sie mich an. Niemand darf in meinem Hause übler Laune sein. Ich betrachte dies als eine Unhöflichkeit gegen mich selbst. Wenn Ihnen das ruhige Leben hier nicht behagt, sagen Sie es offen, und suchen Sie sich eine Beschäftigung. Arbeit gibt es überall genug, ich meine - für solche, denen es darum zu tun ist. Sie brauchen nicht zu lächeln. Ich habe gar kein Verlangen danach, Ihre Zähne zu sehen - ich will eine Antwort hören.”
Horace gab mit gehörigem Ernste zu, dass es wohl Beschäftigung geben mochte. Der Krieg zwischen Frankreich und Deutschland, bemerkte er, dauere noch fort; die Zeitung habe ihm neuerdings die Korrespondentenstelle angetragen.
„Sprechen Sie nicht von den Zeitungen und dem Krieg!” rief Lady Janet in einem plötzlichen Ausbruch von Ärger, der ihr diesmal von Herzen ging. „Ich hasse die Zeitungen! In dieses Haus dürfen keine herein. Ich lege die ganze Schuld an dem Blutvergießen zwischen Frankreich und Deutschland ihnen zu Last.”
Horace sah sie erstaunt mit weitgeöffneten Augen an. Die alte Dame sprach offenbar in vollem Ernste. „Was meinen Sie eigentlich damit?” fragte er. „Sollen die Zeitungen für den Krieg verantwortlich sein?”
„Natürlich, einzig und allein”, antwortete Lady Janet. „Je nun, Sie verstehen das Zeitalter nicht, in dem Sie leben! Tut denn heutzutage jemand irgendetwas, Kriegführen mit inbegriffen, ohne gleichzeitig zu wünschen, es in den Zeitungen zu lesen? Ich beteilige mich bei einer Wohltätigkeitsanstalt; du erhältst ein wertvolles Zeugnis; er hält eine Predigt; wir erleiden irgendwo eine Kränkung; ihr macht eine Entdeckung; sie werden in der Kirche getraut. Und ich, du, er wir, ihr, sie, alle wollen ein und dasselbe - sie wollen sich in der Zeitung lesen. Sind Könige, Soldaten und Diplomaten vielleicht Ausnahmen von dieser Regel der Menschheit? Nein! Ich sage im vollen Ernst, hätten sich alle Zeitungen in Europa entschlossen, ein- für allemale nicht die kleinste Notiz über den Krieg zwischen Frankreich und Deutschland im Druck erscheinen zu lassen, so wäre, es ist dies meine feste Überzeugung, der Krieg schon längst aus Mangel an Aufmunterung beendet. Lassen Sie die Feder aufhören, vom Säbel zu sprechen, und ich für meinen Teil bin des Resultates gewiss: Kein Bericht - kein Kampf!”
„Ihre Ansichten haben jedenfalls das Verdienst, vollkommen neu zu sein, Lady Janet”, sagte Horace. „Würden Sie etwas dagegen haben, wenn man sie in die Zeitung setzte?”
Lady Janet schlug ihren jugendlichen Freund mit seinen eigenen Waffen.
„Lebe ich denn nicht in den letzten Dezennien des neunzehnten Jahrhunderts?” fragte sie. „In die Zeitung, sagten Sie? Mit großen Buchstaben noch dazu, Horace, wenn Sie mich lieb haben.”
Horace begann ein anderes Gespräch.
„Sie tadeln mich wegen meiner Verstimmung”, sagte er, „und scheinen deren Grund nur darin zu suchen, dass ich meines angenehmen Lebens in Mablethorpe-House bereits überdrüssig geworden bin. Das ist durchaus nicht der Fall, Lady Janet.” Er sah nach dem Wintergarten hin und runzelte abermals seine Stirne. „Die Wahrheit ist”, begann er von neuem, „dass ich mit Grace Roseberry unzufrieden bin.”
„Was hat sie denn getan?”
„Sie beharrt darauf, unseren Brautstand zu verlängern. Nichts kann sie bewegen, unseren Hochzeitstag zu bestimmen.”
Und so war es auch! Mercy war so töricht gewesen, ihm Gehör zu schenken und ihn zu lieben. Aber sie war nicht zu schlecht, ihn unter einem falschen Namen, als eine falsche Person zu heiraten. Vor drei bis vier Monaten war Horace verwundet vom Kriegsschauplatz in seine Heimat geschickt worden und hatte daselbst bei seiner Ankunft die schöne Engländerin, deren Beschützer er in Frankreich gewesen, in Mablethorpe-House als Gesellschafterin installiert gefunden. Von Lady Janet eingeladen, ihr Gast zu sein - als Knabe hatte er stets seine Schulferien unter ihrem Dache verlebt - brachte er nun die müßige Zeit seiner Rekonvaleszenz frei nach Gefallen vom Morgen bis Abend in Mercys Gesellschaft zu - und so kam es, dass der erste Eindruck, welchen sie in dem französischen Häuschen auf ihn gemacht, bald zu mächtiger Liebe emporwuchs. Ehe ein Monat um war, hatte Horace sich erklärt und williges Gehör gefunden. Von jenem Augenblicke an handelte es sich für ihn nur darum, mit der gehörigen Ausdauer und Entschlossenheit sein Ziel zu verfolgen. Die Verlobung war erklärt worden - obwohl ganz gegen den Willen der Braut, und damit war für Horace Holmcroft jeder weitere Fortschritt in seiner Bewerbung abgeschnitten. Er versuchte auf jede mögliche Weise, Grace dazu zu bestimmen, den Tag für die Hochzeit festzusetzen, allein immer umsonst. Es lag nichts im Wege, was ein Hindernis gewesen wäre. Sie besaß keine nahen Angehörigen, auf die sie Rücksicht zu nehmen hatte. Als eine angeheiratete Verwandte Lady Janets war sie der freundlichsten und ehrenvollsten Aufnahme von Seite der Mutter und Schwestern ihres Verlobten sicher. Auch die pekuniäre Frage war in diesem Falle durchaus kein Grund, die Heirat auf einen günstigen Zeitpunkt zu verschieben. Horace war einziger Sohn und seinem Vater im Besitze des Landgutes gefolgt; nebstbei besaß er ein gutes Einkommen, reichlich genug, um dasselbe in Stand zu erhalten. Somit war auf beiden Seiten nichts, gar nichts vorhanden, was die jungen Leute hindern konnte, sobald als die nötigen Vorbereitungen getroffen waren, ihre Vermählung ins Werk zu setzen. Und doch war hier allem Anscheine nach ein langer Brautstand vorauszusehen, und kein anderer Erklärungsgrund für den Aufschub, als der unbgreifliche Eigensinn des Mädchens.
„Können Sie für Graces Benehmen einen Grund angeben?” fragte Lady Janet. Ihr Wesen war verändert, als sie dies sprach. Sie sah betroffen und beunruhigt aus.
„Ich mag es kaum eingestehen”, antwortete Horace, „allein ich fürchte, sie hat einen Grund, unsere Heirat zu verzögern, den sie weder Ihnen noch mir vertrauen kann.”
Lady Janet fuhr auf.
„Was veranlasst Sie, dies zu glauben?” fragte sie.
„Ich habe sie ein- oder zweimal in Tränen gefunden. Sehr häufig - wenn sie eben noch ganz heiter sprach - wechselt sie plötzlich die Farbe und verfällt dann in Schweigen und tiefe Trauer. Eben jetzt, als sie den Tisch verließ - haben Sie es nicht bemerkt? - sah sie mich so eigentümlich an, beinahe, als wenn sie mich bedauerte. Was soll das alles heißen?”
Horaces Erwiderung schien die Ängstlichkeit in Lady Janet eher zu mildern als zu erhöhen. Er hatte demnach nichts bemerkt, was sie nicht auch gesehen hätte.
„Sie sind ein närrischer Junge!” sagte sie, „der Grund ihres Benehmens doch ist deutlich genug zu erkennen. Grace ist längere Zeit hindurch kränklich gewesen. Der Arzt empfiehlt eine Luftveränderung, ich werde mit ihr fortgehen.”
„Da entspräche es doch wohl mehr dem Zwecke”, versetzte Horace, „wenn sie mit mir fortginge. Vielleicht entschließt sie sich dazu, wenn Sie ihr zureden. Verlange ich zu viel, wenn ich Sie bitte, Ihren Einfluss dahin geltend zu machen? Meine Mutter und Schwestern haben ihr bereits geschrieben, allein ohne jeden Erfolg. Erweisen Sie mir die größte aller Wohltaten - sprechen Sie noch heute mit ihr!” Er schwieg einen Augenblick; dann ergriff er Lady Janets Hand und drückte sie inständig. „Sie sind immer so gütig gegen mich gewesen”, sagte er weich.
Die alte Dame sah ihn an. Es war unbestreitbar, dass in Horace Holmcrofts Gesicht etwas Eigenes, Anziehendes lag, das eines Blickes wohl wert war. Manche Frau hätte ihn um seinen klaren Teint, seine schönen blauen Augen und den weichen, lichtgelben Ton seines Haares beneidet. Männer - namentlich solche, die im Beobachten von Physiognomien eine gewisse Übung besitzen - mochten in der Formation seiner Stirne und in der Linie seiner Oberlippe die untrüglichen Zeichen für eine Natur von mangelhafter moralischer Stärke finden - für einen Geist, der starren Vorurteilen leicht zugänglich war, und an ihnen selbst besseren Überzeugungen gegenüber hartnäckig festhielt. Für die Beobachtungsgabe einer Frau lagen diese abstrakten Mängel zu tief unter der Oberfläche, um von ihr erkannt zu werden. Im Allgemeinen bezauberte er das weibliche Geschlecht durch seine seltenen persönlichen Vorzüge und durch sein feines, rücksichtsvolles Benehmen. Lady Janet hatte ihn nicht nur um seiner eigenen Verdienste, sondern auch um der Erinnerungen willen liebgewonnen, die sich für sie an seine Person knüpften. Sein Vater war einst einer ihrer vielen Bewunderer gewesen. Die Umstände hatten sie jedoch getrennt. Ihre Ehe mit Lord Roy war kinderlos geblieben. In früheren Zeiten, wenn Horace als Knabe von der Schule zu ihr auf Ferien kam, war es ihr geheimer Lieblingsgedanke - zu unsinnig, um ihn irgend jemandem mitzuteilen - dass er eigentlich ihr Sohn hätte werden sollen, und es auch geworden wäre, wenn sie seinen Vater geheiratet hätte! Nachgiebig - wie eine Mutter - sah sie mit einem Lächeln, das ihr, so alt sie war, reizend stand, auf den jungen Mann, als er ihre Hand fasste und sie flehentlich bat, sich für ihn zu verwenden. „Muss ich wirklich mit Grace sprechen?” fragte sie mit einer Milde in Ton und Wesen, wie sie bei gewöhnlichen Anlässen der Herrin von Mablethorpe-House nicht eigen war. Horace sah, dass er seinen Zweck erreicht hatte. Er sprang auf; seine Augen wendeten sich eifrig nach der Richtung des Wintergartens; sein schönes Gesicht war strahlend vor Hoffnung. Lady Janet, in Gedanken nur mit der Erinnerung an seinen Vater beschäftigt, warf einen letzten verstohlenen Blick auf ihn - seufzte, als sie der entschwundenen Tage gedachte - und fasste sich.
„Gehen Sie in das Raucherzimmer”, sagte sie und schob ihn bei diesen Worten gegen die Tür. „Fort mit Ihnen und pflegen Sie das Lieblingslaster des neunzehnten Jahrhunderts.” Horace machte einen Versuch, seine Dankbarkeit auszudrücken. „Gehen Sie rauchen!” war alles, was sie sagte und schob ihn hinaus. Als Lady Janet allein war, ging sie im Zimmer auf und ab und überlegte die Sache ein wenig. Horaces Unmut war nicht ungerechtfertigt. Es gab wirklich keine Entschuldigung für die Verzögerung, über welche er sich beklagte. Ob nun das junge Mädchen einen besonderen Grund hatte, sich zu sträuben, oder ob sie sich in Ungewissheit verzehrte, weil sie sich über ihr Gefühl nicht klar war, gleichviel, in jedem Falle war es nötig, früher oder später über die ernste Angelegenheit der Heirat sich deutlich auszusprechen. Die Schwierigkeit lag nur darin, wie man den Gegenstand zuerst berühren sollte, ohne sie zu verletzen. „Ich verstehe die jungen Mädchen von heutzutage wahrhaftig nicht”, dachte Lady Janet. „Zu meiner Zeit war das anders. Hatte man da einen Menschen lieb, so war man auch jeden Augenblick bereit, ihn zu heiraten. Und es ist doch jetzt das Zeitalter des Fortschrittes! Da sollten sie noch schneller dazu bereit sein.”
Nachdem sie in ihrem Gedankengang zu diesem unvermeidlichen Schluss gelangt war, entschied sie, zu versuchen, was ihr Einfluss vermöchte und sich in der Wahl der hierzu geeigneten Mittel auf die Eingebung des Augenblickes zu verlassen. „Grace!” rief sie hinaus und näherte sich dabei der Tür, die in den Wintergarten führte. Die große, leichtbewegliche Gestalt in ihrem grauen Kleide wurde sichtbar und hob sich scharf von dem grünen Hintergrunde des Wintergartens ab.
„Haben Sie mich gerufen, Lady Janet?”
„Ja, ich möchte mit Ihnen sprechen; kommen Sie und setzen Sie sich da zu mir.”
Mit diesen Worten schritt Lady Janet zu dem Sofa und zog ihre Gesellschafterin neben sich auf dasselbe nieder.
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