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Zwei Schicksalswege

Siebzehntes Kapitel

Shetlands Gastfreundschaft

»Führer, wo sind wir?«

»Ich kann es nicht genau sagen.«

»Haben Sie den Weg verloren?«

Als Antwort auf meine Frage sieht sich der Führer langsam ringsum, dann sieht er mich an und das genügt mir.

»Wir waren unserer drei die sich verirrt hatten, mein Reisegefährte, ich und der Führer. Wir ritten auf drei Shetland Ponys die so sehr klein waren, dass wir beiden Fremden uns zuerst scheuten sie zu besteigen. Es umgab uns ein feuchter, weißer Nebel, der so dicht war, dass wir einander ein halbes Dutzend Ellen weit, nicht sehen konnten und wir wissen nichts weiter, als dass wir uns auf dem Festlande der Shetlandsinseln befinden. Unter den Füßen unserer Ponys sehn wir nur eine Mischung von Moorland und Sumpf und daneben die kleine, feste Stelle auf der wir stehn, einige Schritt weiter liegt ein Streifen wässerigen Torfmoors, der tief genug ist, um uns in die Gefahr des Versinkens zu bringen, wenn wir hinein geraten. Das war Alles was wir ergründen konnten und die Hauptfrage ist nun: was sollen wir tun?

Der Führer hatte uns ehe wir fortritten vor dem Wetter gewarnt, daran erinnert er uns nun, während er sich die Pfeife anzündet. Mein Reisegefährte sieht mich gelassen, aber mit einem Ausdruck milden Vorwurfs an und den verdiene ich. Die unangenehme Lage in der wir uns augenblicklich befinden, habe ich durch meine Vorschnelligkeit veranlasst.

In den Briefen an meine Mutter habe ich absichtlich immer nur Günstiges über meine Gesundheit und meinen Gemütszustand berichtet, aber ich gestand ihr nicht, dass ich unablässig des Tages gedenke, an dem ich von meiner schönsten Hoffnung schied und auf die einzige Liebe verzichtete, die mir das Leben teuer machen konnte. Durch die Aufregungen, die meine neue Lebensweise mit sich brachte, war eine beständige Ruhelosigkeit über mich gekommen, der natürlich der starre Gemütszustand gewichen war, in dem ich mich zu Hause befand. Ich muss mich jetzt immer beschäftigen, gleichviel womit, wenn ich nur meinen eigenen Gedanken damit entweiche. Untätigkeit ist mir unerträglich, die Einsamkeit entsetzlich. Während die andern Mitglieder der Gesellschaft, die Sir James auf seiner Besichtigungsreise zu den Leuchttürmen begleiten, geduldig im Hafen von Lermick auf eine günstige Änderung des Wetters warten, bestehe ich eigenwillig darauf, den behaglichen Aufenthalt auf dem Schiffe zu verlassen, um irgend wo auf der Insel eine vorzeitliche Ruine zu entdecken, von der ich nie hörte und die gar kein Interesse für mich hat. Bewegung ist Alles, was ich suche. Der Ritt soll die verhasste Zeit des Wartens ausfüllen, so mache ich mich allem verständigen Rate zum Trotz auf den Weg. Aus jugendlichem Übermut lässt das jüngste Mitglied unserer Reisegesellschaft sich von meinem Leichtsinn anstecken und begleitet mich und was haben wir nun erreicht? Wir sind vom Nebel verschleiert, im Morast verirrt ringsum hält uns der verräterische Torfmoor gefangen.

Was sollen wir tun?

»Überlassen Sie sich ganz den Ponys,« sagt der Führer.

»Glauben Sie, dass die Ponys den Weg finden werden?«

»Das glaube ich,« sagt der Führer. »Lassen Sie den Zügel los und vertrauen Sie sich den Tieren an. Sie müssen nun für sich selbst handeln, ich reite auf meinem Pony davon.«

Er legt seinen Zügel auf den Sattelknopf, pfeift und verschwindet im Nebel; die Hände in den Taschen, die Pfeife im Munde, reitet er so behaglich von dannen, als ob er zu Hause an seinem Kamin säße. Uns bleibt nichts übrig, als seinem Beispiel zu folgen oder hier allein in dem Moor zu bleiben. So wie sie von unserer ungeschickten Leitung befreit sind, schreiten die klugen kleinen Tiere, wie Hunde, die Nase nach unten dem Geruche folgend tapfer vorwärts. Wo der zwischenliegende Torfmoor breit ist, umgehen sie ihn, ist er schmal genug, um hinüber zu kommen, so überschreiten sie ihn mit einem Sprunge. Tapp! Tapp! marschieren die tapfern kleinen Geschöpfe vorwärts, ohne anzuhalten, ohne zu zögern. In diesem Falle war unser »überlegener Verstand« ganz nutzlos und verwunderte sich nur, wie der Ritt enden würde. Unser Führer, der vor uns war, beteuerte uns, dass die Ponys uns sicher zu einem der nächsten Dörfer oder Häuser bringen würden. »Lassen Sie nur den Zügel los,« warnt er uns immer wieder, »komme, was da wolle, lassen Sie nur den Zügel los.«

Für den Führer ist es leicht den Zügel los zu lassen, da er seines Ponys Leistungen genau kennt und gewohnt ist, unter schwierigen Umständen in dieser hilflosen Lage auszuhalten.

Uns ist diese Lage aber neu und erscheint uns äußerst gefährlich. Mehr als einmal musste ich mich selbst mit Gewalt davon zurückhalten, dass ich nicht an gefährlichen Stellen des Weges die Leitung des Ponys wieder übernahm. Die Zeit vergeht und kein Zeichen einer menschlichen Wohnung wird durch den Nebel sichtbar. Ich fange an erregt und ungeduldig zu werden, da mir nachgerade die Zuverlässigkeit des Führers zweifelhaft wird. Während ich mich in dieser unbehaglichen Gemütsverfassung befinde, nähert sich mein Pony einer düstern, schwarzen, gewundenen Linie, wo der Torfmoor wenigstens zum hundertsten Male übersprungen werden muss. Wahrscheinlich durch den Nebel getäuscht, erscheint meinem Auge die Breite des Moors so bedeutend, dass kein Pony der Welt darüber wegspringen konnte und hierüber verliere ich die Geistesgegenwart. Im Augenblick des Sprunges ergreife ich eiligst den Zügel des Ponys und halte ihn törichterweise zurück; er stutzt, wirft den Kopf hoch und stürzt nieder, als wäre er erschossen. Als wir zusammen zu Boden fallen, verwickelt sich meine rechte Hand unter mir und ich fühle, dass ich mir das Gelenk verrenkt habe.

Ich hätte mich glücklich schätzen können, wenn ich nur mit dieser geringen Verletzung davon gekommen wäre, aber das war keineswegs der Fall. Ehe es mir gelingt mich unter dem Pony hervor zu arbeiten, tritt dieser mich, bei seinen Anstrengungen aufzustehen und trifft unglücklicherweise mit seinem Hufe grade die Stelle, an der der vergiftete Speer damals während meiner Dienstzeit in Indien, eingedrungen war. Die alte Wunde wird wieder aufgerissen und ich liege blutend auf dem öden Moorland der Shetlandsinseln. Dieses Mal behalte ich die Besinnung, weil meine Kraft nicht wie damals erschöpft worden ist, wo ich mit einer ertrinkenden Frau im Arm der Strömung eines sanftfließenden Flusses entgegen arbeiten musste und so bin ich im Stande alle Anordnungen zu machen, damit meine Wunde, so gut als es eben die Umstände erlauben, verbunden wird. Meinen Pony konnte ich natürlich nicht wieder besteigen, sondern musste liegen bleiben, wo ich war und meinen Reisegefährten zur Pflege bei mir behalten, während der Führer dem Instinkte seines Ponys vertrauend, den nächsten Ort aufsuchte, wo für mich ein Obdach zu finden war.

Auf meinen Wunsch unterrichtet sich unser Führer, bevor er uns verlässt, so genau wie möglich, mit Hilfe meines Taschenkompasses von dem Orte, wo wir uns befinden und verschwindet dann im Nebel, den Zügel lose hängen lassend und der Pony mit der Nase am Boden, wie zuvor. Unter meines jungen Freundes Obhut bleibe ich zurück, auf einen Mantel gebettet und meinen Sattel als Kopfkissen. Was sie irgend in der Nähe an Gras auffinden konnten, verzehrten unsere Ponys inzwischen ganz gemütlich, blieben dabei aber immer möglichst in unserer Gesellschaft, als wären sie ein Paar Hunde. In dieser Lage erwarten wir nun die kommenden Ereignisse, während der tropfende Nebel immer dichter um uns er wird.

In der majestätischen Ruhe des Moores folgen die Minuten einander langsam und träge, das empfinden wir beide ohne uns zu gestehn, dass wir wohl noch viele Stunden warten mussten, ehe der Führer uns wieder auffindet. Das durchdringende Nass erfasst mich immer mehr mit seiner eisigen Gewalt und in meines Gefährten Reiseflasche ist kaum noch ein Teelöffel voll Sherry enthalten. Wir sehen einander an, weil wir bei diesem Wetter keine bessere Aussicht finden konnten und wir versuchen unser Schicksal mit Würde zu ertragen. So schleichen die trägen Minuten immer weiter, bis unsere Uhren uns überzeugen, dass deren vierzig vergangen sind seit der Führer unseren Blicken auf seinem Pony entschwand.

Mein Freund schlug vor, dass wir die Wirkung unserer Stimmen versuchen wollten, um irgend einem lebenden Wesen, das ein wunderbarer Zufall hierher geführt hatte, unsere Lage kund zu tun. Da mir die Kraft zu irgend welchen Leistungen mit meiner Stimme fehlte, überlasse ich ihm den Versuch und er schreit denn auch in der höchstmöglicher Tonlage in die Weite hinaus. Alles bleibt nach dem ersten Rufe still, er ruft wieder und dieses Mal dringt ein schwaches »Glück auf« beantwortend durch den weißen Nebel zu uns. So ist uns denn irgend ein menschliches Wesen, sei er ein Fremder oder der Führer, nah und es wird endlich Hilfe kommen.

Es entsteht eine Pause, dann vernehmen wir die Stimmen von zwei Männern, deren dunkle Erscheinungen wir auch allmälig durch den Nebel entdecken. Bald darauf ist uns der Führer so nah, dass wir ihn erkennen können und ihm folgt, in gemischter Tracht ein starker Bursche, der den zwiefachen Eindruck eines Reitknechts und Gärtners macht. Der Führer äußert einige Worte der Teilnahme, der gemischte Mann hüllt sich in undurchdringliches Schweigen - der Anblick eines verwundeten Fremden, macht weder den Eindruck des Erstaunens noch der Teilnahme auf den Reitknecht-Gärtner.

Die beiden Männer beschließen nach einer geheimen Beratung, zwischen sich auf ihren gekreuzten Händen einen Sitz für mich herzustellen. Ich fasse sie um die Schulter und so tragen sie mich fort. Mein Freund wandert mit Sattel und Mantel hinterher. Im unverkürzten Genuss ihrer Freiheit laufen und springen die Ponys um uns her. Ganz wie es ihre augenblickliche Laune erheischt, sind sie bald vor, bald hinter uns. Ich bin zum Glück für meine Träger, nur eine leichte Bürde. Nach zweimaligem Ausruhen machen sie endlich einen Halt und setzen mich an der trockensten Stelle, die sie finden können, nieder. Ich bin eifrig bemüht irgendwo ein Wohnhaus durch den Nebel zu entdecken, aber ich sehe nichts als eine kleine, herabhängende Birke und ein dunkles Wasser darunter. Wo sind wir?

Der Reitknecht-Gärtner verschwindet und erscheint dann auf dem Wasser wieder, wo er ein Boot heranrudert, auf dessen Boden ich mit meinem Sattelkopfkissen niedergelegt werde und so schwimmen wir davon, die Ponys der einsamen Freiheit des Moorlandes überlassend. Der Führer meint, dass sie genug Futter finden werden und, wenn die Nacht kommt, werden sie schon den Weg zu einer Herberge im nahen Dorfe auffinden. Als ich einen letzten Blick auf die kühnen, kleinen Geschöpfe warf, standen sie saufend nebeneinander am Wasser, spielten miteinander und bissen sich und waren ausgelassener denn je!

Auf dem dunklen Wasser, das nicht ein Fluss war, wie ich glaubte, sondern ein See, treiben wir langsam dahin, bis wir die Ufer einer kleinen Insel erreichen. Es war ein einsames, flaches Stück öden Landes. Ich werde auf einem unebenen, aus flachen Steinen hergestellten Fußsteg vorwärts gebracht, bis wir endlich feste Erde und eine menschliche Wohnung erblicken. Es ist ein langes, einstöckiges Haus, das, so viel ich sehen kann, drei Seiten eines Vierecks einnimmt, die Tür ist gastfrei geöffnet, der Flur darin ist öde, kalt und düster. Die Männer öffnen eine innere Tür, und wir befinden uns in einem langen, durch ein Torffeuer behaglich erwärmten Gange. An einer Wand bemerke ich geschlossene, eichene Zimmertüren, an der andern erblicken meine Augen, Reihe an Reihe, wohlgefüllte Bücherschränke. Am Ende des ersten Ganges angelangt, biegen wir im rechten Winkel in einen zweiten, von wo aus endlich eine Tür geöffnet wird und ich befinde mich in einem großen, vollständig und geschmackvoll möblierten Zimmer mit zwei Betten, vor einem hellen Kaminfeuer. Die Einkehr in dieses warme, freundliche Obdach erfüllte mich, nach der schaurigen, feuchten Einsamkeit des Moores, mit so schwelgerischem Entzücken, dass ich mich in den ersten Augenblicken vollkommen befriedigt fühle, als ich mich im Vollgenusse meiner behaglichen, neuen Lage auf meinem Bett ausstrecken kann. Ich vergesse ganz zu fragen in wessen Haus wir eigentlich eingedrungen sind und wundre mich nicht einmal darüber, dass weder Herr, noch Frau des Hauses, noch irgend ein Familienmitglied sich zeigt, um uns bei unserer Ankunft, unter ihrem gastfreien Dach, willkommen zu heißen.

Nach einer Weile legt sich mein erstes Bedürfnis nach Ruhe, die schlummernde Neugier erwacht und ich schaue um mich.

Der Reitknecht-Gärtner ist verschwunden, mein Reisegefährte befindet sich am andern Ende des Zimmers in Begriff den Führer auszufragen, ich rufe ihn zu mir ans Bett. Was hat er für Entdeckungen gemacht? In wessen Hause befinden wir uns und warum kam niemand aus der Familie, um uns zu begrüßen?

Mein Freund erzählt, was er weiß und der Führer hört seinem eigenen Bericht so aufmerksam zu, als ob er ihn zum ersten Male hörte.

Das Haus, das unser Zufluchtsort geworden ist, gehört einem Gentleman aus altem nordischem Geschlecht, namens Dunross, der seit zwanzig Jahren mit seinem einzigen Kinde, einer Tochter, auf dieser unfruchtbaren Insel in vollkommener Zurückgezogenheit, ohne jede andere Gesellschaft, lebt. Er wird für einen der gelehrtesten Menschen gehalten und ist weit und breit von den Bewohnern der Insel unter einem Namen bekannt, der, wenn man ihren Dialekt übersetzt, »den Meister der Bücher« bedeutet. Nur einmal weiß man, dass Vater und Tochter ihre Inseleinsamkeit verließen und zwar vor langen Zeiten, als eine furchtbare Seuche die benachbarten Dörfer heimsuchte. Vater und Tochter pflegten ihre armen und geprüften Nachbarn Tag und Nacht mit einem Mute, den keine Gefahr erschütterte, mit einer Sorgfalt, die keine Ermüdung erschöpfte. Der Vater war glücklich der Ansteckung entgangen, aber, als die Heftigkeit der Seuche schon nachließ, wurde die Tochter noch davon befallen. Ihr Leben wurde zwar erhalten, aber sie erlangte niemals ihre volle Gesundheit wieder. Sie krankt nun an einem geheimnisvollen Nervenleiden, das niemand begreift und das sie seit langen Jahren, fern von aller menschlichen Beobachtung, hier auf dieser Insel gefangen hält. Vater und Tochter werden unter der armen Bevölkerung dieser Gegend als halbe Götter verehrt, in den Gebeten, die die Eltern ihre Kinder lehren, werden ihre Namen nach denen der Heiligen genannt.

Nach der Erzählung des Führers ist das der Haushalt, in dessen Abgeschlossenheit wir eingedrungen sind. Ohne Zweifel erregt die Geschichte ein gewisses, eigentümliches Interesse, aber sie hat einen Fehler - sie erklärt in keiner Weise uns gegenüber die Abwesenheit von Mr. Dunross. Kann es ihm unbekannt sein, dass wir uns in seinem Hause aufhalten? Wir wenden uns an den Führer und legen ihm neue Fragen vor.

»Hat Mr. Dunross eingewilligt uns hier aufzunehmen?« frage ich. Der Führer starrt mich an. Hätte ich Griechisch oder Hebräisch mit ihm gesprochen, so hätte ich ihn nicht wirksamer in Erstaunen versetzen können. Mein Freund versucht es also in einfacheren Worten.

»Fragten Sie, als Sie dieses Haus hier fanden, um Erlaubnis uns hierher zu führen?«

Der Führer starrt uns noch mehr an, als vorhin und es erscheint uns fast, als fühlte er sich durch unsere Frage tief verletzt.

»Glauben Sie,« fragte er streng, »dass ich töricht genug sein werde, um solcher Kleinigkeit willen, wie dass Sie und Ihr Freund hier Obdach finden, den Herrn bei seinen Büchern zu stören?«

»Haben Sie uns wirklich hierher geführt ohne um Erlaubnis zu fragen?« rufe ich bestürzt aus.

Das Gesicht des Führers erhellt sich: endlich ist es ihm gelungen uns Dummköpfen die Sache klar zu machen! »Ja, gewiss habe ich das getan!« sagt er mit sichtlicher Befriedigung.

Ehe wir uns noch von dieser außerordentlichen Entdeckung erholt haben, öffnet sich die Tür und ein kleiner, magerer, alter Herr in einem langen, schwarzen Schlafrock, tritt ein. Der Führer tritt vor und schließt ehrerbietig die Tür hinter ihm. Offenbar standen wir dem Meister der Bücher gegenüber.


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