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Namenlos



Drittes Capitel.

Gegen sechs Uhr am nächsten Morgen erwachte Magdalene, als ihr das Licht auf das Gesicht fiel, indem Kämmerlein auf dem Rosmaringäßchen.

Sie fuhr aus ihrem tiefen nicht mit Träumen umkränzten Schlummer der vergangenen Nacht mit jenem unheimlichen befremdlichen Gefühl beim ersten Erwachen auf, welches Jeden befällt, der die erste Nacht in einem fremden Bette geschlafen hat.

—— Nora! rief sie halb im Schlafe, als sie die Augen öffnete.

Den nächsten Augenblick ermunterte sich ihr Geist und ihre Sinne machten sie mit der Wirklichkeit bekannt. Sie sah sich in dem elenden Zimmerchen mit äußerstem Mißbehagen um, je mehr sie davon erkannte. Der Gegensatz der Unsauberkeit, welchen der Ort zu Allem, was sie bisher in ihrem Schlafgemach zu sehen gewöhnt war, bot, die in seiner dürftigen Ausstaffierung zur Schau getragene thatsächliche Vernachlässigung jener anmuthenden Sauberkeit und Reinlichkeit der zum täglichen Gebrauche bestimmten Bequemlichkeiten, mit welchen sie von frühester Kindheit auf sich umgeben gesehen hatte, verletzten das jeder gebildeten Dame zur zweiten Natur gewordenen Gefühl für achtsamste Körperpflege in Magdalenen. So geringfügig an sich der Einfluß solcher Dinge erscheinen mußte, wenn man sie mit dem Ernst ihrer gegenwärtigen Lage in Vergleich setzte, so brachte doch der bloße Anblick des Kruges und des Waschbeckens in einem Winkel der Kammer ihren ersten Entschluß, als sie erwachte, zur Reise. Sie beschloß von dem Augenblicke an, unter allen Umständen das Rosmaringäßchen zu verlassen.

Wie aber sollte sie dasselbe verlassen? Mit Hauptmann Wragge oder ohne ihn?

Sie zog sich an, indem sie sich vor jedem Dinge in dem Zimmer scheute, das sie dabei entweder mit ihren Händen ober ihren Kleidern berührte, und öffnete darauf das Fenster. Die Herbstluft fühlte sich scharf, aber angenehm an, und das kleine Stückchen Himmel, das sie erschauen konnte, war schon von dem jungen Sonnenlichte mit warmem Glanz verklärt. In der Ferne die Stimmen der Bootsleute auf dem Flusse und das Gezwitscher der Vögel auf dem moosigen Grün, das den alten Stadtwall überwucherte, das waren die einzigen Töne, welche die Stille des Morgens unterbrachen. Sie setzte sich ans Fenster und nahm in ihrem Geiste den Faden der Gedanken wieder auf, den sie aus Ermüdung die Nacht vorher verloren hatte.

Der erste Gegenstand, auf den sie zurückkam, war Hauptmann Wragge vagabundischen Andenkens.

Der »moralische Landwirth« hatte vollständig seinen Zweck verfehlt, um ihr persönliches Mißtrauen gegen ihn zu beseitigen, so verschmitzt und abgefeimt er auch durch das offene Bekenntniß der gegen Andere ausgeführten Hintergehungen und Schwindeleien dagegen angekämpft hatte. Er hatte allerdings ihre Meinung von seinen Fähigkeiten erhöht, hatte sie auch wohl durch seine humoristische Lebensanschauung erheitert, hatte sie durch seine Sicherheit selbst in Erstaunen gesetzt: aber daß er ein erbärmlicher Mensch war, diese Ueberzeugung hatte sich bei ihr in derselben Festigkeit erhalten, als zu der Zeit, wo sie ihn zuerst getroffen hatte. Wäre der einzige Plan in ihrer Seele der Plan auf die Bühne zu gehen gewesen, unter allen Verhältnissen hätte sie den mehr als zweideutigen Beistand des Haupmanns Wragge gleich auf der Stelle von der Hand gewiesen.

Allein die gefährliche Reise, auf welche sie sich abenteuerlich begeben, hatte noch ein anderes Ziel im Auge, ein dunkles fernes Ziel, ein Ziel mit Wolfsgruben aus dem Wege dahin, ganz andere als die flachen Wolfsgruben auf dem Wege zur Bühne. In der geheimnißvollen Morgenstille vertiefte sich ihr Geist in dies zweite und weitergehende Vorhaben, und die verächtliche Gestalt des Schwindlers erhob sich vor ihr in einem neuen Lichte.

Sie versuchte, dieselbe aus ihren Gedanken zu entfernen, um wie bisher in ihren Gefühlen weiter über ihr und fern von ihr weg zu stehen.

Nachdem sie sich ein wenig mit ihrer Kleidung zu schaffen gemacht, nahm sie das weißseidene Täschchen aus ihrem Busen, das sie in der Abschiedsnacht auf Combe-Raven mit eigenen Händen gefertigt hatte. Es war oben an der Oeffnung mit zarten seidenen Schnüren zugezogen. Das Erste, das sie, nachdem sie es geöffnet, herausnahm war eine Locke von Franks Haar, welche mit einem Stückchen Silberfaden befestigt war, das Nächste war ein Papierumschlag mit den Auszügen aus ihres Vaters letztem Willen und ihres Vaters Briefe (an Mr. Pendril). Das Letzte war ein ganz klein zusammen gebrochenes Päckchen Banknoten im Werthe von nahezu zweihundert Pfund, der Erlös (wie Miss Garth richtig vermuthet hatte) des Verkaufes ihres Schmuckes und ihrer Kleider, bei welchem das Dienstmädchen in der Erziehungsanstalt heimlich Beistand geleistet hatte. Sie that die Banknoten sofort wieder hinein, ohne noch einmal darauf zu sehen, und sah dann die Haarlocke gedankenvoll an, die auf ihrem Schooße lag.

—— Du bist doch besser, als gar Nichts, sagte sie, indem sie mit der sinnigen Zärtlichkeit, wie sie Mädchen eigen ist, mit ihr sprach. Ich kann doch manchmal sitzen und Dich anschauen, bis ich fast denke, ich sehe Frank. Ach mein Theurer, mein Liebling!

Ihre Stimme zitterte leise, und sie drückte die Haarlocke mit schmachtender Anmuth an die Lippen. Diese fiel aus ihren Fingern in ihren Busen. Ein liebliches Roth blühte auf ihren Wangen auf und verbreitete sich bis an den Hals, als ob es dem fallenden Haar folgte. Sie schloß ihre Augen und ließ ihr schönes Haupt sanft herabsinken. Die Welt verging ihr, und für einen zauberischen Augenblick öffnete der Gott der Liebe die Pforten des Paradieses vor der Tochter Evas. ——

Das alltägliche Geräusch in der benachbarten Straße, welches zunahm, je mehr der Morgen vorrückte, nöthigte sie zur harten Wirklichkeit der dahin rauschenden Zeit zurückzukehren. Sie erhob ihren Kopf mit einem schweren Seufzer und öffnete noch einmal ihre Augen in dem gemeinen und elenden Zimmerchen.

Die Auszüge aus dem Testament und dem Briefe, die letzten Andenken an ihren Vater, welche jetzt so eng verbunden waren mit dem Vorhaben, welches ihren Geist erfüllte, —— lagen vor ihr. Der vorübergehende Farbenschimmer auf ihren Wangen erblich, als sie die kleine Schrift auf ihrem Schooße aufblätterte. Die Auszüge aus dem Testamente standen obenan auf der Seite. Sie beschränkten sich auf die wenigen rührenden Worte, mit welchen der Verstorbene Vater seine Kinder um Vergebung bittet wegen des Fleckens ihrer Geburt und sie anfleht, der unablässigen Liebe und Sorge zu gedenken, durch welche er bemüht gewesen sei, ihnen Entschädigung dafür zu geben. Der Auszug ans dem Briefe an Mr. Pendril kam sodann. Sie las die letzten von trüber Ahnung erfüllten Stellen laut vor sich hin:

Um Gotteswillen kommen Sie an dem Tage, wo Sie Dieses erhalten —— kommen Sie und erlösen Sie mich von dem schrecklichen Gedanken, daß meine beiden geliebten Töchter in diesem Augenblicke unversorgt sind. Wenn mir Etwas zustoßen sollte und wenn mein Wunsch, ihrer Mutter gerecht zu werden, wegen meiner kläglichen Rechtsunkenntniß damit endigte, Nora und Magdalene ohne Erbe zu hinterlassen, so würde ich keine Ruhe im Grabe haben! ——

Unter diesen Zeilen wieder und ganz am Ende der Seite war die schreckliche Erläuterung zu dem Briefe geschrieben, die von Mr. Pendrils Lippen gefallen war:

—— ...Mr. Vanstones Töchter sind Niemandes Kinder, und das Gesetz überläßt sie ohne Hilfe der Gnade ihres Oheims.

Ohne Hilfe, als diese Worte gesprochen wurden, ohne Hilfe nach Allem, was sie beschlossen hatte, nach Allem, was sie geopfert hatte. Die Zusicherung ihrer und ihrer Schwester natürlichen Ansprüche, geheiligt durch den ausdrücklichen Wortlaut der letzten Wünsche ihres Vaters, die Rückberufung Franks aus China, die Rechtfertigung ihres Entweichens vor Nora: Alles hing von ihrem verzweifelten Plane ab, das verlorene Erbtheil auf jede Gefahr hin dem Manne wieder abzujagen, welcher seine Bruderskinder zu Bettlern gemacht und beschimpft hatte. Und doch war dieser Mann für sie noch eine Nebelgestalt! So wenig wußte sie von ihm, daß sie in dem Augenblicke nicht einmal seinen Aufenthaltsort kannte.

Sie erhob sich und maß das Zimmer mit, der geräuschlosen, nachlässigen Anmuth eines wilden Thieres des Waldes in seinem Käfig.

—— Wie kann ich ihn in der Finsterniß erreichen? sprach sie zu sich selbst. Wie kann ich ihn ausfindig machen....?

—— Sie hielt plötzlich inne. Ehe sie in Gedanken ihre Frage zu Ende geführt hatte, war ihr Hauptmann Wragge wieder vor die Seele getreten.

Ein Mann, der nur zu gut im Dunkeln zu handthieren gewohnt war, ein Mann, mit unendlichen Hilfsquellen von List und Kühnheit, ein Mann der bei einem gemeinen Dienste zaudern würde, zu dem man ihn gebrauchen wollte, wenn nur der Dienst ihm die Taschen füllte: war dies das Werkzeug, dessen ihre Hand in ihrer gegenwärtigen Noth bedurfte? Zwei Nothwendigkeiten, die sie erledigen mußte, bevor sie einen Schritt vorwärts thun konnte, standen klar vor ihrer Seele: die Notwendigkeit, mehr von ihres Vaters Bruder zu erfahren, als sie bis jetzt wußte, und die Notwendigkeit, so lange die Nachforschung dauerte, sich selbst persönlich verborgen zu halten und ihn dadurch sicher und unvorsichtig zu machen. Entschlossen und selbständig wie sie war, mußte sie doch die unerläßliche Späherarbeit beim Anfang einem Andern überlassen. In ihrer Lage nun, wo war da ein dazu bereites menschliches Wesen in ihrem Bereiche außer dem Vagabunden ein paar Treppen unter ihr? Nicht ein einziges. Sie dachte eifrig darüber nach, sie dachte lange darüber nach. Nicht ein einziges! Die Wahl stand sofort vor ihr: die Wahl, entweder den Gauner zu nehmen, oder ihr Vorhaben aufzugeben.

Sie blieb mitten im Zimmer stehen.

—— Was ist das Schlimmste, das er thun kann? sprach sie zu sich selbst. Mich betrügen. Gut! Wenn mein Geld ihn mir dienstbar macht, was dann? Er soll mein Geld haben!

Sie kehrte unwillkürlich zu ihrem Platze am Fenster zurück. Ein Augenblick später, und sie war entschlossen. Ein Augenblick später, und sie that den ersten verhängnisvollen Schritt »auf der schiefen Ebene« —— sie war einig mit sich, es darauf ankommen zu lassen und es mit Hauptmann Wragge zu versuchen.

Um neun Uhr pochte die Wirthin an Magdalenens Thür und zeigte ihr mit des Hauptmann Wragges freundlichen Grüßen an, daß das Frühstück bereit sei. Sie fand Mrs. Wragge allein, angethan mit einem umfangreichen braunen holländischen Umschlagtuche, mit einem schlotterigen Kragen und einem Aufputz von schmutzigem blaßrothen Bande. Die frühere Kellnerin von Darchs Speisehaus war versunken in den Anblick einer großen Schüssel, in der sich ein lederartiges etwas ungeheuerliches Etwas von verschieden schattierter gelber Farbe, die stark mit kleinen schwarzen Flecken versetzt war, zu befinden schien.

—— Das ist es! sagte Mrs. Wragge Eierkuchen mit Grünem. Die Wirthin half mir. Und Das ists nun, was wir fertig gebracht haben. Fragen Sie den Hauptmann nach Nichts, wenn er herein kommt, ja nicht, er ist ’ne gute Seele. Das Ding da ist nicht schön gerathen. Wir hatten verschiedenes Unglück damit. Er ist ins Feuer gefallen. Auf der Treppe ist er uns hingefallen Er hat den jüngsten Buben der Wirthin verbrannt, er ging immer dabei herum und saß dabei. Gott stärke Sie, er ist nicht halb so gut inwendig, als er aussieht! Fragen Sie ja nach Nichts. Vielleicht merkt er Nichts, wenn Sie Nichts darüber sagen. Was sagen Sie zu meinem Tuche? Ich hätte gar zu gern ein weißes. Haben Sie einmal ein weißes bekommen? Wie ist es ausgeputzt? Machen Sie, sagen Sie’s mir!

Das gefürchtete Eintreten des Hauptmanns erstickte die nächste Frage in ihrem Munde. Ein Glück für Mrs. Wragge, daß ihr Mann viel zu verlänglich auf den verheißenen Ausspruch von Magdalenens Willensmeinung war, als daß er den Küchenangelegenheiten die gewohnte Beachtung schenken konnte. Als das Frühstück vorüber war, ließ er Mrs. Wragge bei Seite gehen und erwähnte den Eierkuchen nur im Vorbeigehen durch die Bemerkung, es solle ganz bei ihr stehen, ob sie ihn »dem Hunde geben« wolle.

—— Wie sieht mein kleines Anerbieten bei Tageslicht aus? frug er, indem er für Magdalenen und sich die Stühle zurecht rückte. Wie soll es nun heißen, entweder: Hauptmann Wragge nehmen Sie sich meiner an —— oder: Hauptmann Wragge, guten Morgen ——?

—— Sie, sollen es gleich hören, versetzte Magdalene. Ich habe erst noch Etwas vorauszuschicken. Ich sagte Ihnen gestern Abend, daß ich noch etwas Anderes vor hätte außer dem Zwecke, mir auf der Bühne meinen Erwerb zu suchen...

—— Ich bitte um Verzeihung, unterbrach sie Hauptmann Ihren Erwerb zu suchen?

—— Ganz recht. Meine Schwester und ich, wir Beide sind auf unsere eigenen Kräfte, um unser tägliches Brod zu verdienen, angewiesen.

—— Wie!!! schrie der Hauptmann, indem er mit einem offenen Ausdruck von Mißbehagen aufsprang. Die Töchter meines reichen und vielbeweinten verschwägerten Verwandten genöthigt, sich selbst durchzuschlagen? unmöglich —— ungeheuer, ausbündig unmöglich!

Er setzte sich wieder nieder und sah Magdalenen an, als ob sie ihm eine persönliche Beleidigung angethan hätte.

—— Sie sind nicht unterrichtet von dem vollen Umfange unseres Mißgeschicks, sagte sie ruhig. Ich will Ihnen erzählen, was geschehen ist, ehe ich weiter gehe.

Sie sagte es ihm ohne Weiteres in den deutlichsten Worten, die sie finden konnte, und mit so wenig Einzelheiten als möglich.

Hauptmann Wragges vollständige Verwirrung ließ ihm nur über eine Folge, die sich seinem Geiste aus dem Mitgetheilten ergab, Klarheit des Bewußtseins übrig. Das Anerbieten der Fünfzig Pfund Belohnung für die vermißte junge Dame, das Von dem Advocaten herrührte, stieg augenblicklich in seiner Achtung so hoch wie nie vordem.

—— Verstehe ich recht, horchte er, daß Sie ganz und gar ohne augenblickliche Geldmittel sind?

—— Ich habe meine Kleinodien und Kleider verkauft, sagte Magdalene unwillig über seine gemeine Anspielung auf die Geldfrage Wenn mein Mangel an Uebung und Kenntnissen mich auf einem Theater nicht gleich vorwärts kommen läßt, so bin ich in den Stand gesetzt zu warten, bis die Bühne im Stande ist mich zu bezahlen.

Der Hauptmann schätzte in Gedanken die Ringe, Armbänder und Halsketten, die seidenen, atlassenen und Spitzengewänder der Tochter eines reichen Mannes ab, nämlich, wohlgemerkt, zum Drittel ihres wirklichen Werthes. Einen Augenblick später sank die Fünfzigpfundbelohnung plötzlich wieder zu der tiefuntersten Stufe der Achtung dieses schlauköpfigen Mannes herab.

—— Recht so, sagte er in seinem geschäftsmäßigsten Tone. Es ist nicht die geringste Besorgniß da, mein liebes Kind, daß Sie auf der Bühne nicht gleich vorwärts kommen sollten, wenn Sie augenblickliche Geldmittel haben und sich meines Beistandes bedienen.

—— Ich muß noch mehr Beihilfe haben, als Sie mir schon angeboten haben, oder kann gar keine brauchen, sagte Magdalene. Ich habe ernstere Schwierigkeiten vor mir, als die Schwierigkeit, York zu verlassen und die Schwierigkeit, meinen Weg zur Bühne zu finden.

—— Was Sie sagen? Ich bin ganz Ohr, bitte, drücken Sie sich deutlicher aus.

Sie überlegte ihre nächsten Worte sorgfältiger, ehe sie über ihre Lippen kamen.

—— Es sind da einige Nachforschungen anzustellen, sagte sie, welche von Wichtigkeit für mich sind. Wenn ich sie selber vornähme, so würde ich den Argwohn der Person, der die Forschungen gelten, erregen und würde daher wenig oder gar nichts von Dem, was ich wissen will, in Erfahrung bringen. Wenn die Nachforschungen durch einen Dritten ausgeführt werden könnten, ohne daß ich dabei zum Vorschein käme, so würde mir dadurch ein Dienst von unendlich größerer Wichtigkeit geleistet, als der, zu welchem Sie sich gestern Abend erboten.

Hauptmann Wragges Vagabundengesicht wurde ernst und gespannt aufmerksam.

—— Darf ich fragen, meinte er, welcher Art die Nachforschungen wohl sind?

Magdalene zögerte, sie hatte nothwendiger Weise Michael Vanstones Namen trennten müssen, als sie dem Hauptmann von dem Verlust ihres Erbes erzählte. Sie mußte ihm denselben unvermeidlicher Weise noch einmal nennen, wenn sie sich seiner Beihilfe bediente. Er würde ihn ohne Zweifel selbst entdecken aus dem offen zu Tage liegenden Zusammenhang, ehe sie noch viel Worte weiter gesprochen haben würde, mochte sie dieselben so achtsam fassen, als sie nur wollte. War unter diesen Umständen wohl ein denkbarer Grund vorhanden, sich vor der unverblümten Hinweisung auf Michael Vanstone zu scheuen? Kein denkbarer Grund, —— und doch sie scheute sich.

Zum Beispiel, fuhr Hauptmann Wragge fort, sind es Nachforschungen nach einem Manne oder einer Frau; Nachforschungen über einen Feind oder einen Freund....

—— Einen Feind, antwortete sie ruhig.

Ihre Antwort hätte vielleicht der Hauptmann noch immer im Dunkeln gelassen, allein ihre Augen gaben ihm Licht.

—— Michael Vanstone! dachte der schlaue Wragge. Sie schießt gefährliche Blicke, ich habe jetzt mehr Fühlung meines Weges.

—— In Absicht der Person nun, die der Gegenstand Ihrer Nachforschungen ist, begann er wieder, sind Sie sich darüber vollkommen klar im Geiste, was Sie gern wissen möchten?

—— Vollständig klar, erwiderte Magdalene Ich wünsche zunächst zu wissen, wo er sich aufhält?

—— So? Und dann?

—— Ich muß von seinen Gewohnheiten wissen, dann davon, wer die Leute sind, mit denen er umgeht, was er mit seinem Gelde macht....

Sie dachte eine Weile nach.

Uns noch Eins, sagte sie, —— ich muß wissen, ob eine Frau in seinem Hause ist, eine Verwandte oder eine Haushälterin, die Einfluß auf ihn hat.

—— So weit ganz unverfänglich, sagte der Hauptmann. Was weiter?

—— Nichts. Das Uebrige ist mein Geheimniß.

Die Wolken auf Hauptmann Wragges Angesicht begannen sich zu verziehen. Er kam mit seinem gewohnten Scharfsinn auf seine gewohnte Wahl zwischen dem Entweder-Oder zurück.

Diese Nachforschungen von ihrer Seite, dachte er, zielen auf eines von den beiden Dingen ab: ein Unheil oder Geld! Wenn es ein Unglück setzen soll, so will ich ihr schon durch die Finger schlupfen. Wenn es Geld ist, so will ich mich nützlich machen mit Rücksicht auf die Zukunft.

Magdalenens wachsame Augen beobachteten argwöhnisch den Entwickelungsgang seiner Gedanken.

—— Hauptmann Wragge, sagte sie, wenn Sie Zeit zur Ueberlegung brauchen, so sagen Sie es offen heraus.

—— Ich brauche keinen Augenblick, versetzte der Hauptmann. Stellen Sie nur immerzu Ihre Abreise von York, Ihre Bühnenlaufbahn und ihre geheimen Nachforschungen unter meine Fürsorge. Hier bin ich ohne Vorbehalt zu Ihrer Verfügung. Sprechen Sie das Wort aus: nehmen Sie mich?

Ihr Herz schlug heftig, ihre Lippen wurden trocken, aber sie sprach das Wort:

—— Ja.

Es trat eine Pause ein. Magdalene saß schweigend im Kampfe mit der unbestimmten Furcht vor der Zukunft, welche sich nach ihrer Antwort in ihrem Geiste zu regen anfing. Hauptmann Wragge einerseits war ersichtlich von der Erwägung einer neuen Auflage von Entweder-Oder in Anspruch genommen. Seine Hände stiegen in den leeren Schacht seiner Taschen hinunter und untersuchten mit weiser Fürsorge für die Zukunft deren Fassungsvermögen als Schatzkammern für Gold und Silber. Der Glanz der edlen Metalle lag auf seinem Angesichte, die Glätte der edlen Metalle lag in seiner Stimme, als er ich mit einer neuen Ladung Worten ausrüstete und die Unterhaltung wieder aufnahm.

—— Die nächste Frage, sagte er, ist die Zeitfrage. Erfordern diese vertraulichen Nachforschungen von unserer Seite sofortige Aufmerksamkeit oder haben sie Zeit?

—— Für den Augenblick haben sie Zeit, versetzte Magdalene. Ich wünsche, bevor die Nachforschungen angestellt werden, meine Freiheit vor jeder Einmischung von Seiten meiner Freunde sicher zu stellen.

—— Sehr gut. Der erste Schritt zur Ausführung dieses Zweckes ist, daß wir den Rückzug antreten —— gestatten Sie mir als Militär diese technische Umschreibung —— daß wir morgen aus York den Rückzug antreten. Ich sehe meinen Weg soweit klar vorgezeichnet; aber ich bin ganz in Bereitschaft, wie wir bei der Miliz zu sagen pflegten, auf die weiteren Marschbefehle. Die nächste Richtung, die wir einschlagen, sollte mit Rücksicht darauf ausgewählt werden, wie wir Ihre Bühnenabsichten fördern. Ich bin auch ganz bereit dazu, wenn ich erst weiß, welches Ihre Absichten sind. Wie kamen Sie überhaupt darauf, ans Theater zu denken? Ich sehe das heilige Feuer in Ihnen brennen, aber sagen Sie mir, wer hat es angezündet?

Magdalene konnte ihm bloß nach einer Seite hin Aufschluß darüber geben. Sie konnte nur auf die für immer entschwundenen Tage zurückschauen und ihm die Geschichte von ihrem ersten Schritt zur Bühne auf Evergreen-Lodge erzählen. Hauptmann Wragge hörte mit gewohnter Höflichkeit zu, erhielt aber ersichtlich keinen zufriedenstellenden Eindruck von dem Gehörten. Ein Publikum von Freunden, war ein Publicum, dem er insgeheim abgeneigt war Glauben zu schenken, und das vom Bühnenleiter abgegebene Urteil war eben das Urteil eines Mannes, welcher seine Bezahlung in der Tasche und eine künftige Berücksichtigung seiner im Auge hatte, als er selbiges abgab.

——Interessant, äußerst interessant, sagte er, als Magdalene zu Ende war, aber nicht maßgebend, entscheidend für einen nüchternen Mann. Eine Probe Ihrer Fähigkeiten ist unumgänglich nöthig, um mir das rechte Licht zu geben. Ich bin selbst auf dem Theater gewesen, ich kenne das Lustspiel »Die Eifersüchtigen« von Anfang bis zu Ende recht gut. Ein Bruchstück ist Alles, was ich brauche, wenn Sie nicht die Worte vergessen haben, ein Stück von der Rolle der »Lucie« und ein Stück von der der »Julie«.

—— Ich habe die Worte nicht vergessen, sagte Magdalene traurig, und ich habe die kleinen Bücher bei mir, in denen mein Dialog aufgeschrieben war. Ich habe mich nie von ihnen getrennt; sie erinneren mich an eine Zeit....

Ihre Lippe zitterte, und eine Anwandlung tiefen Wehes machte sie schweigen.

—— Nervenleidend also, bemerkte der Hauptmann mit Nachsicht. Durchaus kein so übles Zeichen. Die größten Bühnenkünstlerinnen sind nervenleidend. Befolgen Sie deren Beispiel und überwinden Sie es. Wo sind die Rollen? Ach, hier sind sie schon! Ich will Ihnen die Stichworte geben —— es wird schon Alles vorübergehen wie die Zahnärzte beim »Holen« sagen, ehe man sichs versieht ——. Nehmen Sie das hintere Empfangszimmer für die Bühne und mich betrachten Sie als das Publikum. Klingling geht die Glocke des Regisseurs, der Vorhang rollt auf, Ordnung auf der Galerie, Verstummen im Parterre —— Lucie tritt auf!

Sie kämpfte hart, um sich zu fassen; sie drängte den Gram zurück, den unschuldigen, natürlichen, menschlichen Gram um die Gegenwart und den Verstorbenen ——, um die Thränen zu verhalten, welche er ihr schier entlocken wollte. Mit Willensstärke setzte sie die Hände kalt zusammen klammernd an, um zu beginnen. Als die ersten bekannten Worte über ihre Lippen gingen, kam Frank zu ihr zurück über die weite See her, und das Gesicht ihres todten Vaters schaute sie an mit dem Lächeln aus glücklicher alter Zeit. Die Stimmen ihrer Mutter und ihrer Schwester sprachen mild in der duftigen ländlichen Stille, und die Gartenwege auf Combe-Raven öffneten sich noch einmal vor ihrem Blicke. Mit einem schwachen Klageruf sank sie auf einen Stuhl, ihr Haupt fiel vorwärts auf den Tisch, und sie brach leidenschaftlich in Thränen aus.

Hauptmann Wragge sprang augenblicklich auf. Sie schaudern, als er näher kam und winkte ihm heftig mit der Hand von sich weg.

—— Lassen Sie mich allein, sagte sie, überlassen Sie mich eine Minute mir selber.

Der gefällige Wragge zog sich nach dem Vorderzimmer zurück, sah aus dem Fenster und pfiff leise vor sich hin.

—— Der Familienzug schon wieder! sagte er. Es kommt noch Hysterie ins Spiel.

Nachdem er eine bis zwei Minuten gewartet hatte, kehrte er zurück, um nachzusehen.

—— Ist Etwas, womit ich Ihnen dienen könnte? frug er. Kaltes Wasser? Gebrannte Federn? Flüchtiges Salz? Aerztliche Hilfe? Soll ich Mrs. Wragge rufen? Sollen wir es bis morgen verschieben?

Sie fuhr empor wild und mit brennenden Wangen, den Ausdruck einer verzweifelten Selbstüberwindung im Gesichte, eine gereizte Entschlossenheit in ihrem ganzen Wesen.

—— Nein! sagte sie. Ich muß mich selbst abhärten, und ich wills! Setzen Sie sich wieder nieder und sehen Sie mich spielen.

—— Bravo! rief der Hauptmann. Nehmen Sie einen muthigen Anlauf dagegen, meine Schöne, und sofort wirds vorbei sein!

Sie nahm einen Anlauf, verstört und mit Mißtrauen gegen sich selbst, mit erhobener Stimme und mit fieberähnlicher Glut auf ihren Wangen. Der ganze ungekünstelte mädchenhafte Zauber der Ausführung in glücklicherer Zeit war verschwunden. Die angeborene Anlage für die Bühne, die in ihr lag, trat hart und schroff zu Tage, entkleidet jedes mildernden Reizes, welcher sie vormals geschmückt hatte. Sie würde jeden Mann von feinerem Gefühl abgestoßen und kalt gelassen haben. Hauptmann Wragge aber, ihn riß sie geradezu hin. Er setzte seine Höflichkeit aus den Augen, er vergaß seine langen Redensarten. Der eigentliche Geist von des Mannes ganzem Vagabundenleben sprach sich unwiderstehlich in seinem ersten Gefühlsausbruche aus.

—— Wer zum Teufel hätte Das gedacht? Sie kann spielen wahrhaftig trotz alle Dem!

In dem Augenblicke, als diese Worte seinen Lippen entfuhren, faßte er sich anch schon wieder und schlüpfte zurück in seine gewöhnliche Redecanäle hinein. Magdalene unterbrach ihn in seinem ersten Compliment.

—— Nein, sagte sie, ich habe einmal die Wahrheit aus Ihnen heraus gebracht, ich brauche Nichts mehr.

—— Verzeihen Sie, antwortete der unverbesserliche Wragge Sie brauchen ein wenig Nachhilfe, und ich bin der Mann, sie Ihnen zu geben.

Mit diesen Worten stellte er einen Stuhl vor sie hin und begann sich auszusprechen.

Sie saß in Stillschweigen da. Eine düstere Gleichgültigkeit und Abgestorbenheit begann sich in ihrem Wesen zu zeigen, ihre Wangen wurden wieder bleich, und ihre Augen sahen müde und ausdruckslos nach der Wand vor ihr. Hauptmann Wragge bemerkte diese Zeichen von Verstimmung und Mißvergnügen mit sich selbst nach der Anstrengung, die sie gemacht hatte, und fühlte, wie wichtig es sei, sie wieder aufzurichten, indem es galt, sogleich offen und gerade über den Hauptpunkt mit ihr zu reden. Sie hatte in seinen Krämeraugen einen neuen Werth erhalten. Sie hatte in ihm den Gedanken, mit ihrer Jugend, ihrer Schönheit und ihrer hervorragenden Befähigung für die Bühne eine Spekulation zu verbinden, rege gemacht, wie ihm zuvor, ehe er sie spielen gesehen, nie beigekommen war. Der alte Milizsoldat war rasch auf seinen Vortheil bedacht. Er und seine Pläne waren geborgen, als Magdalene sich setzte, um zu hören, was er ihr zu sagen hatte.

—— Mr. Huxtables Meinung ist auch die meinige, begann er. Sie sind zur Schauspielerin geboren. Aber Sie müssen erst Anleitung erhalten, ehe sie Etwas auf der Bühne ausrichten können. Ich bin unbeschäftigt, ich bin sachverständig, ich habe Andere unterrichtet, —— ich kann auch Sie unterrichten. Vertrauen Sie nicht meinem Worte, so trauen Sie meinem Blicke für mein eigenes Interesse. Ich will es zu meinem Interesse machen, daß ich mir Mühe mit Ihnen gebe und schnell damit zu Stande komme. Sie sollen mich für meinen Unterricht von Ihrem Erwerb auf der Bühne bezahlen. Ihre erste Jahreseinnahme zur Hälfte, ein Drittel Ihrer dritten Jahreseinnahme und die Hälfte Ihres ersten Benefizes auf einem Londoner Theater. Was sagen Sie dazu? Liegt es wohl in meinem Interesse, Sie vorwärts zu bringen, oder nicht?

Soweit der Anschein ging und soweit die Bühne reichte, war es offenbar, daß er seine und Magdalenens Interessen zusammen verkettet hatte. Sie sagte ihm Das und wartete, daß er noch mehr sagte.

—— Vier bis sechs Wochen Studien, fuhr der Hauptmann fort, werden Ihnen eine vernünftige Idee geben von Dem, was Sie leisten können. »Es bildet ein Talent sich in der Stille«, und diese Stille für Sie müssen wir erst suchen. Hier können wir sie nicht finden; denn wir können Sie nicht als eine strenge Gefangene wochenlang im Rosmaringäßchen behalten. Ein ruhiger Ort auf dem Lande, sicher vor jeder Einmischung und Unterbrechung, ist der Platz, den wir einen Monat wenigstens brauchen. Verlassen Sie sich auf meine Oertlichkeitskunde durch ganz Yorkshire, und denken Sie, daß es so gut ist, als wäre der Ort schon gefunden. Ich sehe keine Schwierigkeiten, irgendwo außer der Schwierigkeit, morgen unsern Rückzug anzutreten.

—— Ich nahm an, daß Sie bereits gestern Abend Ihre Anordnungen getroffen hätten? bemerkte Magdalene.

—— Ganz recht, versetzte der Hauptmann. Sie sind auch gestern Abend getroffen, und es sind folgende. Wir können nicht mit der Eisenbahn fort, weil der Advocatenschreiber ohne Zweifel am Yorker Bahnhofe auf der Lauer liegt nach Ihnen. Sehr gut; wir nehmen statt Dessen die Landstraße und gehen in unserm eigenen Wagen fort. Wo aber in aller Welt sollen wir den herbekommen? —— Wir bekommen ihn, vom Bruder der Wirthin, der ein Pferd und eine Kutsche zum Vermiethen hat. Jene Kutsche kommt also morgen früh an das Ende des Rosmaringäßchens. Ich nehme meine Frau und meine Nichte mit hinaus, um ihnen die Schönheiten der Umgegend zu zeigen. Wir haben einen Picnic-Speisekober bei uns, welcher unser Vorhaben Vor aller Augen kund macht. Sie verkleiden sich mit einem Shawl, einem Hut und Schleier von Mrs. Wragge. Wir wenden York den Rücken, und fort gehts zu einem Vergnügungsausflug für den Tag, ich und Sie auf dem Vordersitz, Mrs. Wragge und der Kober auf dem Rücksitz. Wieder gut. Einmal auf der Landstraße, was thun wir dann? Wir fahren an den ersten Haltepunct über York hinaus nach Norden, Süden oder Osten, wie wir es nachmals beschließen. Kein Advocatenschreiber ist da, um Sie zu erwarten. Sie und Mrs. Wragge steigen aus, den Kober bei erster Gelegenheit öffnend. Anstatt junges Huhn und Champagner, enthält er einen Reisesack mit alledem, was Sie für die Nacht brauchen Sie nehmen Ihre Billete nach einem vorher bestimmten Orte, und ich fahre mit der Kutsche zurück nach York. Wieder hier angekommen, hole ich das zurückgelassene Gepäck und schicke nach der Wirthin unten:

—— Die Damen sind über den Ort Soundso (natürlich ein falscher Name) so entzückt, daß sie beschlossen haben, dort zu bleiben. Nehmen Sie gefälligst die Wochenmiethe an anstatt der Aufkündigung für die Woche. Guten Tag.

—— Sieht sich der Schreiber am Yorker Bahnhof nach mir um? Es fällt ihm nicht ein. Ich nehme mein Billet vor seiner Nase. Ich folge Ihnen mit dem Gepäck auf der Eisenbahn nach, und wo ist die Spur von Ihrer Abreise? Nirgends. Die Fee ist verschwunden, und die Vertreter und Handlanger des Gesetzes sind in der Tinte.

—— Warum sprechen Sie von Schwierigkeiten? fragte Magdalene. Die Schwierigkeiten scheinen doch beseitigt zu sein.

—— Alle außer einer, sagte Hauptmann Wragge mit bedeutungsvollem Nachdruck auf dem letzten Worte, die große Schwierigkeit der Menschheit von der Wiege bis zum Grabe: —— Geld.

Er machte langsam sein grünes Auge zu, seufzte aus tiefem Grunde und vergrub seine zahlungsunfähigen Hände in seine schlechterdings kein Erträgniß gehenden Taschen.

—— Wozu wird das Geld gebraucht? fragte Magdalene.

—— Um die Billete zu bezahlen, versetzte der Hauptmann mit rührender Einfachheit. Ich bitte, bemerken Sie wohl! Ich habe mich niemals dazu verstanden, werde mich nie dazu verstehen, einem menschlichen Wesen auf dem bewohnten Erdkreise einen Heller zu bezahlen. Ich spreche in Ihrem, nicht in meinem Interesse.

— Meinem Interesse?

—— Gewiß Sie können morgen nicht sicher aus York hinauskommen ohne die Kutsche. Und ich kann die Kutsche nicht bekommen ohne Geld. Der Bruder der Wirthin wird sie hergeben, wenn er die Rechnung seiner Schwester quittiert sieht und wenn er das Geld für die Tagesfuhre zum Voraus erhält, nicht anders. Gestatten Sie mir die Sache von dem geschäftlichen Standpunkte aus zu beleuchten. Wir sind übereingekommen, daß ich für meinen Lehrgang in der Bühnenkunst von Ihren künftigen Bühneneinnahmen bezahlt werden soll. Sehr gut. Ich stelle lediglich Wechsel auf meine zukünftigen Aussichten aus, und Sie, von welcher diese Aussichten abhängen, sind natürlich mein Banquier. Es ist nur um des Beispiels willen, wenn ich meinen Antheil an Ihrer ersten Jahresgage zu dem gänzlich unverhältnißmäßigen Betrage von hundert Pfund schätze. Diese Summe halb, diese Summe zu einem Viertel....

—— Wie viel brauchen Sie? fragte Magdalene ungeduldig.

Hauptmann Wragge war sehr in Versuchung, die an der Spitze der Handplacate ausgeworfene Belohnung zur Grundlage seiner Berechnung zu nehmen. Doch aber fühlte er, wie wichtig es für die Zukunft war, sich gegenwärtig noch zu mäßigen, und da er in Wirklichkeit ein zwölf bis dreizehn Pfund brauchte, verdoppelte er einfach den Betrag und sagte:

—— Fünfundzwanzig.

Magdalene nahm das kleine Täschchen aus ihrem Busen und gab ihm mit Geringschätzung und Erstaunen über die vielen dabei verlorenen Worte, mit denen er sie überschüttet hatte, um sie auf eine so mäßige Weise zu betrügen, das Geld. In früherer Zeit flossen auf Combe-Raven durch einen Federzug ihres Vaters fünfundzwanzig Pfund in die Hände eines Jeden im Hause, der sie haben wollte.

Hauptmann Wragges Augen verweilten auf dem kleinen Täschchen, wie die Augen der Verliebten auf ihren Geliebten ruhen.

—— Glücklich ein solches Täschchen! murmelte er, als sie es wieder in den Busen that.

Er stand auf, verschwand in einer Ecke des Zimmers, brachte dann sein hübsches Bücherfutteral zum Vorschein und schloß es feierlich auf dem Tische vor Magdalenen und sich auf.

—— Es ist einmal meine Natur so, mein liebes Kind, einmal meine Natur, sagte er, indem er eins von den plumpen in Kalbsleder und Pergament gebundenen Bücherchen öffnete. Ein Vertrag hat zwischen uns stattgefunden. Ich muß es schwarz auf weiß haben.

Er öffnete das Buch auf einer unbeschriebenen Seite und schrieb mit schöner kaufmännischer Hand den Kopftitel ein:

Miss Vanstone die Jüngere in Abrechnung mit Horatio
Wragge, vormals in der Königl. Miliz.

Soll. | Haben. 24. September 1846: ver- | Auf Abschlag bezahlt am anschlagter Werth von | 24. September 1846 die H. Wragges Anteil | Summe von an Miss V's erster | Jahreseinnahme, nämlich | = 200 Pf. St. | 25 Pf. St.

Als er die Summen eingetragen und auch durch Eintragung unter dem Soll kund gegeben hatte, daß Magdalenens schnelles Gewähren seines Verlangens bei ihm nicht weggeworfen sei, drückte er sein Löschpapier auf die nasse Tinte und legte das Buch weg mit der Miene eines Mannes, der ein verdienstliches Werk vollbrachte und der sich damit großthun könnte.

—— Entschuldigen Sie, wenn ich Sie sogleich verlassen muß, sagte er. Zeit ist von Wichtigkeit. Ich muß mich der Kutsche versichern. Wenn Mrs. Wragge hereinkommt, sagen Sie ihr Nichts, sie ist nicht klar genug, um sich auf sie verlassen zu können. Wenn sie sich herausnimmt, Sie auszufragen, so brechen Sie gleich ab. Sie brauchen nur laut mit ihr zu reden. Bitte, nehmen Sie mein ganzes Ansehen bei ihr an und seien Sie so laut mit Mrs. Wragge, als ich es bin!

Er setzte seinen hohen Hut auf, verbeugte sich, lächelte und trippelte aus dem Zimmer.

Indem Magdalene nur Gefühl für das Eine, für die Wohlthat, allein zu sein, und von keinem weiteren Eindruck deutliches Bewußtsein hatte, als von der unbestimmten Ahnung, daß eine ernste Veränderung mit ihr und ihrer Lage vorgegangen war: ließ sie die Vorkommnisse an dem Morgen wie Schatten an ihrer Seele vorüber ziehen und wartete gleichgültig auf Das, was der Tag weiter mit sich bringen werde. Nach Verlauf einiger Zeit öffnete sich leise die Thür. Die Riesengestalt von Mrs. Wragge schritt in das Zimmer und blieb vor Magdalenen in feierlichem Erstaunen stehen.

—— Wo sind Ihre Sachen? fragte Mrs. Wragge mit einem Ausbruch unverhaltbarer Sorge. Ich bin oben gewesen und habe in Ihre Schubkasten gesehen. Wo sind Ihre Nachtgewänder und Nachthauben? und Ihre Unterröcke und Strümpfe? und Ihre Haarnadeln und Bärenfettbüchsen und alles Uebrige?

—— Mein Gepäck ist auf dem Bahnhofe geblieben, sagte Magdalene.

Mrs. Wragges Mondgesicht erheiterte sich ein wenig. Der unverwüstliche weibliche Zug der Neugier versuchte in ihren matten blauen Augen aufzublitzen, flimmerte aber nur kläglich und erstarb.

—— Wie viel Gepäck? frug sie vertraulich. Der Hauptmann ist fortgegangen. Wir wollen gehen und es holen!

—— Mrs. Wragge! schrie eine entsetzliche Stimme an der Thür.

Zum ersten Male seit Magdalene zurückdenken konnte, war Mrs. Wragge taub für den gewöhnlichen Sporn. Sie versuchte wirklich eine schwache Gegenvorstellung in Gegenwart ihres Mannes.

—— Ach, laß sie doch ihre Sachen holen! bat Mrs. Wragge. Ach, die arme Seele, laß sie doch ihre Sachen holen!

Der unerbittliche Zeigefinger wies auf einen Winkel des Zimmers, senkte sich dann langsam, wie seine Frau sich vor demselben zurückzog, und blieb plötzlich in der Gegend ihrer Schuhe halten.

—— Höre ich doch immer ein Klappen auf den Dielen! rief Hauptmann Wragge mit vollkommnen Abscheu aus. Ja, allerdings. Wieder hinten übergetreten! Der linke Schuh dies Mal! Zieh ihn an, Mrs. Wragge! zieh ihn an! —— Die Kutsche wird morgen früh neun Uhr hier sein, fuhr er zu Magdalenen gewendet fort. Wir können möglicherweise Ihren Koffer nicht mehr einfordern. Hier ist Schreibpapier, Setzen Sie ein Verzeichniß des Nothwendigsten, das Sie brauchen, auf. Ich will damit in einen Laden gehen, die Rechnung für Sie bezahlen und das Paquet hierher bringen. Wir müssen den Koffer opfern, wir müssen in der That.

Während Mrs. Wragges Gatte so mit Magdalenen sprach, hatte sie selbst sich wieder aus ihrem Winkel hervorgeschlichen und war noch dem Hauptmann nahe genug gekommen, um die Worte Laden und Paquet zu verstehen. Sie schlug ihre großen Hände in unverhohlener Aufregung zusammen und verlor sofort alle ihre Selbstbeherrschung.

——— Ach, wenn es, im Laden zu kaufen gibt, laß mich Das machen! schrie Mrs. Wragge Sie geht aus, um ihre Sachen zu kaufen! Ach, laß mich mit ihr gehen, bitte, laß mich mit ihr gehen!

—— Setz Dich! schrie sie der Hauptmann an. Gerade! Mehr nach rechts, noch mehr. Bleib, wo Du bist!

Mrs. Wragge faltete ihre Hände in stiller Verzweiflung auf ihrem Schooße und brach sanft in Thränen aus.

—— Ich kaufe so gern im Laden, bat das arme Geschöpf, und ich komme jetzt so wenig dazu!

Magdalene schrieb ihr Verzeichniß fertig, und Hauptmann Wragge verließ sofort das Zimmer mit demselben.

—— Lassen Sie sich nicht Von meiner Frau belästigen, sagte er freundlich, als er fortging. Halten Sie sie kurz, die arme Seele, halten Sie sie kurz!

—— Weinen Sie nicht, sagte Magdalene und suchte Mrs. Wragge zu trösten, indem sie selbige auf die Schultern klopfte. Wenn das Paquet kommt, sollen Sie es zuerst aufmachen.

—— Ich danke Ihnen, meine Liebe, sagte Mrs. Wragge, indem sie sanft ihre Thränen trocknete, ich danke Ihnen herzlich. Geben Sie nicht acht auf mein Taschentuch, ich bitte. Es ist so klein! Ich hatte früher eine hübsche Anzahl davon mit Spitzenrändern. Sie sind alle fort. Es thut Nichts! Es wird mich freuen, Ihr Paquet zu öffnen und Ihre Sachen zu sehen. Sie sind sehr gut gegen mich. Ich habe Sie gern. Ich dächte —— Sie werden aber nicht böse? — Sie gäben mir einen Kuß.

Magdalene beugte sich über sie mit der freien Anmuth und Liebenswürdigkeit früherer Zeiten und berührte ihre verblichenen Wangen.

—— Lasse man mich etwas Unschuldiges thun! dachte sie mit geheimem Schmerz. Ach, lasse man mich etwas Unschluldiges und Freundliches thun um der alten Zeiten willen!

Sie fühlte ihr Auge feucht werden und wandte sich schweigend hinweg.

In der Nacht kam keine Ruhe über sie. In der Nacht kämpften die empörten Mächte des Lichts und der Finsterniß ihren schrecklichen Kampf um ihre Seele und ließen den Streit zwischen sich noch unentschieden, als der Morgen graute. Als die Uhr des Yorker Münsters Neun schlug, folgte sie Mrs. Wragge an den Wagen und nahm ihren Platz neben dem Hauptmann ein. Eine Viertelstunde später, und York lag hinter ihnen, die Landstraße streckte sich offen und hell im Morgenlichte vor ihnen aus.


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