Wilkie Collins - Logo - Klicken, um Navigationsmenü einzublenden
 

Die Frau in Weiß

Fortsetzung der Aussage Walter Hartrights

III.

Dies war die Geschichte der Vergangenheit – soweit sie uns bekannt war.

Zwei einleuchtende Schlüsse boten sich meinem Geiste, nachdem ich sie angehört hatte. Ich erkannte erstens dunkel die Natur des Complotts: wie man Zufälligkeiten beobachtet und Umstände benutzt hatte, um ein verwegenes und schwieriges Verbrechen gegen Strafe zu sichern. Während alle Einzelheiten mir noch ein Geheimniß blieben, war mir doch die schändliche Art und Weise, in der man sich die zufällige Aehnlichkeit der Frau in Weiß mit Lady Glyde zu Nutze gemacht, vollkommen klar. Es lag auf der Hand, daß Anna Catherick als Lady Glyde in Graf Fosco’s Hause eingeführt worden, und daß Lady Glyde die Stelle der Verstorbenen in der Anstalt eingenommen – wobei man die Substituirung so ausgeführt, daß unschuldige Leute (wenigstens der Arzt und die beiden Mägde, ganz gewiß und wahrscheinlich auch der Besitzer der Irrenanstalt) Mitschuldige an dem Verbrechen wurden.

Der zweite Schluß war die nothwendige Folge des ersten. Wir Drei durften vom Grafen und von Sir Percival Glyde keine Barmherzigkeit erwarten. Der Erfolg des Verbrechens hatte jenen beiden Männern einen klaren Gewinn von dreißigtausend Pfund gebracht – dem einen zwanzig- und dem andern durch seine Frau zehntausend. Sie hatten dieses Interesse sowohl, als noch andere, um sich nach Kräften gegen Blosstellung zu wahren, und würden daher kein Opfer scheuen, keinen Betrug unversucht lassen, um das Versteck ihres Opfers zu entdecken und dasselbe wieder von den einzigen Freunden zu reißen, das es in der Welt besaß: von Marianne Halcombe und von mir.

Das Bewußtsein dieser drohenden Gefahr – einer Gefahr, welche jeden Tag, jede Stunde uns näher brachte – bestimmte mich in der Wahl eines Zufluchtsortes für uns. Ich nahm deshalb eine Wohnung im entlegenen Ostviertel der Stadt, wo es am wenigsten müßige Leute gab, die sich in den Straßen umhertrieben. Ich wählte diesen ärmlichen und bevölkerten Stadttheil, weil, je schwerer die Männer und Frauen unserer Nachbarschaft um einen Lebensunterhalt zu kämpfen hatten, ihnen destoweniger Zeit und Gelegenheit blieb, um sich um die Fremden zu bekümmern, welche der Zufall unter sie führte. Dies waren die großen Vortheile, weiche ich hauptsächlich im Auge hatte; aber unsere obscure Wohnung war auch noch in einer anderen und vielleicht nicht minder wichtigen Beziehung ein Gewinn für uns. Wir konnten hier durch die tägliche Arbeit meiner Hände um ein Billiges leben und jeden Heller aufsparen, um unsern Zweck zu fördern – den rechtschaffenen Zweck, ein beispielloses Unrecht wieder gut zu machen, den ich jetzt fest und unausgesetzt im Auge behielt.

In einer Woche waren Marianne Halcombe und ich übereingekommen, wie wir unsere neue Lebensweise einrichten wollten.

Es wohnte außer uns Niemand im Hause, und wir konnten in demselben aus- und eingehen, ohne unsern Weg durch den Laden zu nehmen. Ich bestimmte, daß, wenigstens für’s Erste, weder Marianne noch Laura ohne mich das Haus verließen, und daß sie in meiner Abwesenheit Niemanden unter irgend welchem Vorwande in ihre Zimmer einließen. Sobald wir diese Regel festgesetzt, ging ich zu einem Bekannten früherer Zeiten – einem Holzschneider mit einer ausgebreiteten Kundschaft – um mir bei ihm Beschäftigung zu suchen, wobei ich ihm zugleich sagte, daß ich Gründe habe zu wünschen, unbekannt zu bleiben.

Er schloß hieraus sogleich, daß ich Schulden habe, drückte auf die übliche Weise sein Bedauern darüber aus und versprach, zu thun, was er könne, um mir zu helfen. Ich störte ihn nicht in seinem Wahne und nahm die Arbeit an, welche er mir zu geben hatte. Er wußte, daß er sich auf meine Erfahrung und meinen Fleiß verlassen konnte. Ich besaß, was er suchte: Ausdauer und Fertigkeit, und obgleich mein Verdienst nur klein, so reichte er doch aus für unsere Bedürfnisse. Sobald wir hierüber beruhigt waren, legten Marianne Halcombe und ich zusammen, was wir besaßen. Es blieben ihr noch zwei bis dreihundert Pfund von ihrem kleinen Vermögen und mir noch fast dasselbe von dem Ertrage des Verkaufs meiner Kundschaft, ehe ich England verlassen hatte; zusammen besaßen wir mehr als vierhundert Pfund. Ich legte dieses kleine Vermögen in einer Bank nieder, um mit ihm jene geheimen Nachforschungen und Erkundigungen zu bestreiten, welche ich anzustellen und allein durchzuführen entschlossen war, falls ich Niemanden fand, um mir zu helfen. Wir berechneten unsere wöchentlichen Ausgaben bis auf den Heller und griffen niemals unser kleines Capital an, ausgenommen für Laura und in Laura’s Angelegenheiten

Der Hausarbeit, welche, falls wir gewagt hätten, eine fremde Person zu uns zu nehmen, einer Magd anheim gefallen wäre, nahm sich Marianne Halcombe gleich vom ersten Tage an, als ob sie ihr von Rechtswegen zukomme. »Was Frauenhände können,« sagte sie, »das sollen die meinigen thun, vom Morgen bis zum Abend«; und sie zitterten, als sie sie hinhielt. Die abgemagerten Arme erzählten ihre traurige Geschichte der jüngst vergangenen Zeit, als sie die Aermel des bescheidenen Kleides aufstreifte, welches sie der Sicherheit wegen trug; aber ihr unverwüstlicher Geist loderte selbst jetzt noch hell in ihr. Ich sah große Thränen in ihre Augen kommen und langsam über ihre Wangen rollen, als sie mich anblickte. Sie wischte sie fort mit einem Anfluge ihrer alten Energie und lächelte mir mit einem matten Widerscheine ihrer alten frohen Laune zu. »Zweifle nicht an meinem Muthe, Walter,« sagte sie, »es ist meine Schwäche, welche weint, nicht ich. Die Hausarbeit soll sie überwinden, falls ich es nicht im Stande bin.«

Und sie hielt Wort: der Sieg war gewonnen, als wir Abends wieder zusammenkamen und uns setzten, um auszuruhen. Ihre großen, sicheren,– schwarzen Augen schauten mich mit dem Leuchten ihrer ehemaligen klaren Festigkeit an.

»Noch bin ich nicht ganz erschlafft,« sagte sie, »man darf mir noch meinen Theil der Arbeit anvertrauen.«

Ehe ich ihr noch antworten konnte, setzte sie flüsternd hinzu:

»Und meinen Theil an Wagniß und Gefahr ebenfalls. Denke daran, wenn die Zeit kommen sollte!«

Ich dachte daran, als die Zeit kam.

Schon vor Ablauf des Monats war unsere Lebensweise ruhig in ihren neuen Gang eingetreten, und wir Drei waren so vollkommen in unserem Verstecke isolirt, als ob das Haus, in dem wir wohnten, eine wüste Insel und das große Straßennetz um uns her mit seiner wogenden Menschenmasse die Wasser einer unermeßlichen See gewesen wären.

Ich durfte jetzt auf einige Muße rechnen, um meine Pläne in Bezug auf mein künftiges Verfahren in Ueberlegung zu ziehen und zu erwägen, wie ich mich gleich zu Anfang am Sichersten für den bevorstehenden Kampf mit Sir Percival und dem Grafen waffnen könnte.

Ich gab alle Hoffnung auf, mich auf mein Erkennen Laura’s oder auf Mariannen’s Erkennen ihrer zum Beweise ihrer Identität zu berufen. Hätten wir sie weniger innig geliebt, wäre der Instinkt, den diese Liebe uns eingepflanzt, nicht viel sicherer gewesen, denn alle Beweisgründe der Vernunft, viel schärfer, denn die schärfsten Beobachtungen, so wären selbst wir vielleicht unsicher gewesen, als wir sie zuerst wieder erblickten.

Die äußeren Veränderungen, welche die Leiden und Schrecken der jüngsten Vergangenheit auf furchtbare, ja fast hoffnungslose Weise in ihr hervorgebracht, hatten ihre unheilbringende Aehnlichkeit mit Anna Catherick noch vergrößert. In meinen Mittheilungen über die Ereignisse während meines Aufenthaltes in Limmeridge House habe ich nach meinen eigenen Beobachtungen der Beiden erwähnt, wie die Aehnlichkeit, so auffallend dieselbe auch im Allgemeinen, sobald man sie einem genaueren Vergleiche unterwarf, in manchen Punkten nicht stichhaltig war. Früher, falls man Beide nebeneinander gesehen, hätte Niemand sie verwechseln können, wie dies so oft bei Zwillingen der Fall ist. Doch Dies konnte ich jetzt nicht mehr behaupten. Jener Kummer und jenes Leiden, welche selbst nur durch einen flüchtigen Gedanken mit Laura Fairlie in Verbindung zu bringen ich mir Vorwürfe gemacht, hatten jetzt in der That ihre entweihenden Stempel auf die Jugend und Anmuth ihres Gesichtes gedrückt; und die unglückselige Aehnlichkeit, welche ich einst gesehen und über deren bloßen Gedanken ich einst geschaudert, war jetzt zu einer wirklichen, lebenden Aehnlichkeit geworden, die sich vor meinen eigenen Augen behauptete. Fremde, Bekannte und Angehörige, die sie nicht gerade mit unseren Augen ansehen konnten, hätten, falls man sie ihnen in den ersten Tagen nach ihrer Befreiung aus der Irrenanstalt gezeigt, zweifeln können, ob sie die Laura Fairlie ihrer früheren Bekanntschaft sei, und zwar ohne Tadel dafür zu verdienen.

Die eine noch übrige Aussicht, auf die ich anfangs noch gehofft – die Aussicht, ihre Erinnerungen an Personen und Ereignisse anzurufen, mit denen keine Betrügerin vertraut sein konnte, erwies sich nach unseren letzten Versuchen als hoffnungslos. Jede kleine Vorsicht, welche Marianne und ich gegen sie anwandten, jedes kleine Mittel, das wir versuchten, um langsam die geschwächten und erschütterten Fähigkeiten zu kräftigen und sicher zu machen, waren an sich schon wieder neue Hindernisse gegen das Wagniß, ihre Erinnerungen auf die unruhige und schreckenvolle Vergangenheit zurückzuführen.

Die einzigen Begebenheiten früherer Zeiten, an die wir sie zu erinnern wagten, waren unbedeutende kleine häusliche Ereignisse jener glücklichen ersten Tage in Limmeridge, wo ich sie zeichnen lehrte. Der Tag, an welchem ich jene Erinnerungen erweckte, indem ich ihr die Zeichnung von dem Schweizerhäuschen zeigte, die sie mir beim Abschiede geschenkt und die mich seitdem nie verlassen hatte, war der Tag, an dem sich unsere Hoffnung neu belebte. Schwach und allmälich war die Erinnerung an die alten Spaziergänge und Spazierfahrten, und die armen traurigen Augen blickten Marianne und mich mit neuem Interesse, mit einer zagenden Nachdenklichkeit an, die wir von dem Augenblicke an nährten und lebendig erhielten. Ich kaufte einen kleinen Farbenkasten für sie und ein Zeichenbuch, wie jenes, das ich an dem Morgen, wo ich sie zuerst erblickt, in ihren Händen gesehen. Wieder – o mein Gott, wieder einmal! saß ich in den Stunden, welche ich mir von meinen Arbeitsstunden erübrigte, aber in trübem Lichte und einem ärmlichen Stübchen Londons an ihrer Seite, um die schwache, unsichere Hand zu führen. Tag für Tag erhob ich das neue Interesse, bis es seinen Platz in der Leere ihres Lebens bestimmt wieder ausfüllte – bis sie wieder an ihre Zeichnung denken, davon sprechen und sich geduldig allein darin üben konnte, mit einem matten Abglanze unschuldiger Freude über meine Ermuthigungen, der wachsenden Freude über ihre eigenen Fortschritte, welche dem entschwundenen Leben und dem entschwundenen Glücke vergangener Tage angehörte.

Auf diese einfache Weise unterstützten wir langsam die Genesung ihres Geistes; an schönen Tagen führten wir sie hinaus, um in einem ruhigen alten Gartenplatze der City spazieren zu gehen, der uns ganz nahe gelegen und wo Nichts sie erschrecken oder verwirren konnte; wir erübrigten ein paar Pfund von unsrem Capitale, um ihr Wein und kräftigende Nahrungsmittel zu verschaffen, deren sie bedurfte, und unterhielten sie Abends durch Kinder-Kartenspiele und Bilderbücher, die ich von dem Stecher borgte, welcher mir Beschäftigung gab; – durch diese und ähnliche kleine Aufmerksamkeiten beruhigten und befestigten wir ihr Gemüth und hofften mit frohem Muthe Alles von der Zeit, der Sorgfalt und der Liebe, welche nie sie vernachlässigte und nie verzweifelte. Doch sie aus ihrer Zurückgezogenheit und Ruhe zu reißen, sie mit Fremden zusammenzubringen oder Bekannten, die nicht viel besser als Fremde für sie waren; die schmerzlichen Erinnerungen an das Vergangene wieder zu wecken, die wir mit solcher Mühe zur Ruhe gebracht hatten – dies wagten wir in ihrem eigenen Interesse nicht zu thun. Welche Opfer es auch erheischen, welche langen, ermüdenden, herzbrechenden Verzögerungen es auch bedingen mochte: das Unrecht, das ihr zugefügt worden, mußte, falls menschliche Kräfte es bekämpfen konnten, ohne ihr Mitwissen und ihre Hülfe wieder gut gemacht werden.

Sobald ich hierüber mit mir einig, war es zunächst nothwendig, daß ich mich entschied, welches Verfahren mein erstes sein müsse.

Nachdem ich mich mit Marianne berathen, beschloß ich, den Anfang damit zu machen, daß ich möglichst viele Facta sammelte und dann Mr. Kyrle (von dem wir überzeugt waren, daß wir uns auf ihn verlassen konnten) zu Rathe zog und mich von ihm unterrichten ließ, ob wir begründete Aussicht auf gerichtlichen Beistand hätten. Ich war es Laura schuldig, die Bestimmung ihrer ganzen Zukunft nicht meinen Bemühungen allein zu überlassen, solange uns noch die geringste Aussicht blieb, unsre Lage durch irgend welchen zuverlässigen Beistand zu verstärken.

Die erste Quelle der Nachforschungen, an die ich mich wandte, war das von Marianne Halcombe in Blackwater Park geführte Tagebuch. Doch befand sich in demselben Manches über mich selbst aufgezeichnet, wovon sie nicht gerathen hielt, daß ich es sähe. Demzufolge las sie mir aus den Aufzeichnungen vor, während ich mir die nothwendigen Anmerkungen machte. Wir konnten hierzu nur die Zeit erübrigen, indem wir Abends spät aufsaßen, doch genügten drei Nächte, mich von alle Dem zu unterrichten, was Marianne mir sagen konnte.

Mein nächstes Verfahren war, mir so viel fernere Auskunft von anderen Leuten zu verschaffen, wie mir dies möglich war, ohne Verdacht zu erregen. Ich ging selbst zu Mrs. Vesey, um mich zu überzeugen, ob Laura’s Angabe, daß sie dort geschlafen habe, richtig sei oder nicht. Ich bewahrte in diesem Falle aus Rücksicht für Mrs. Vesey’s Alter und Schwäche und in allen folgenden aus Vorsicht das Geheimniß unserer wirklichen Lage und trug stets Sorge, von Laura als der »verstorbenen Lady Glyde« zu sprechen.

Mrs. Vesey’s Auskünfte auf meine Fragen bestätigten leider nur meine Vermuthungen. Laura hatte allerdings geschrieben, sie werde die Nacht unter dem Dache ihrer alten Freundin zubringen, habe sich jedoch nicht sehen lassen. Es ließ ihr Geist ihr in diesem Falle und, wie ich fürchtete, in noch anderen Das, was sie zu thun beabsichtigt, in einem Lichte erscheinen, als ob sie es in Wirklichkeit ausgeführt hatte. Die unbewußten Widersprüche in ihr selbst waren auf diese Weise leicht zu erklären – aber sie konnten leicht zu ernstlichen Mißgriffen führen. Es war dies ein Anstoß bereits an der Schwelle unseres Ausganges – ein Mangel in unseren Beweisstücken, welcher entmuthigend auf uns wirkte.

Als ich dann bat, den Brief sehen zu dürfen, welchen Laura von Blackwater Park an Mrs. Vesey geschrieben, gab man ihn mir ohne das Couvert, das längst fortgeworfen und vernichtet war. Der Brief selbst enthielt gar kein Datum, selbst nicht einmal den Tag der Woche, sondern blos folgende Zeilen

»Liebste Mrs. Vesey!

Ich bin in großer Noth und großem Kummer und werde morgen Abend zu Ihnen kommen und Sie für die Nacht um ein Bett bitten. Ich kann Ihnen in diesem Briefe nichts Näheres sagen – ich schreibe in solcher Angst, dabei überrascht zu werden, daß ich nicht im Stande bin, meine Gedanken festzuhalten. Bitte, bleiben Sie zu Hause, um mich zu empfangen. Ich will Ihnen tausend Küsse geben und Ihnen Alles sagen.

Herzlichst

Ihre Laura.«

Welche Hülfe war in diesen Zeilen für uns? Nicht die geringste.

Als ich von Mrs. Vesey zurückkehrte, bat ich Marianne, an Mrs. Michelson zu schreiben, jedoch indem sie dieselbe Vorsicht dabei gebrauchte, welche ich selbst übte. Sie durfte, falls sie Dies für rathsam hielt, einen allgemeinen Verdacht gegen Graf Fosco’s Verhalten aussprechen und sollte die Haushälterin bitten, uns im Interesse der Wahrheit eine deutliche, unumwundene Angabe der Thatsachen zu machen. Während wir die Antwort auf diesen Brief erwarteten, welche in einer Woche anlangte, ging ich zu dem Arzte in St. John’s Wood, dem ich mich als von Miß Halcombe abgesandt vorstellte, um wo möglich noch fernere Einzelheiten in Bezug auf die letzte Krankheit ihrer Schwester für sie zu sammeln, als Mr. Kyrle Zeit gefunden hatte, sich zu verschaffen. Mit Mr. Goodricke’s Hülfe erlangte ich eine Abschrift des Todtenscheines und eine Unterredung mit der Frau (Jane Gould), welche den Leichnam für das Grab hergerichtet hatte. Durch Letztere erfuhr ich auch, auf welche Weise ich mir das Zeugniß der Hester Pinhorn würde verschaffen können. Dieselbe hatte kürzlich in Folge einer Veruneinigung mit ihrer Herrin ihre Stelle verlassen und wohnte bei Leuten in der Nachbarschaft der Mrs. Gould, mit welchen diese bekannt war. Auf diese Weise verschaffte ich mir die Aussagen des Arztes, der Haushälterin, der Jane Gould und Hester Pinhorn, genau wie dieselben in diesen Blättern angeführt sind.

Mit den in diesen Documenten enthaltenen Zeugnissen versehen, hielt ich mich für hinlänglich vorbereitet, um eine Besprechung mit Mr. Kyrle zu halten, und Marianne schrieb ihm demzufolge, um ihn mit meinem Namen bekannt zu machen und ihm Tag und Stunde anzugeben, wo ich ihn allein und in Privatangelegenheiten zu sprechen wünsche.

Am Morgen dieses Tages blieb mir noch Zeit genug, um Laura wie gewöhnlich spazieren zu führen und sie dann ruhig bei ihren Zeichnungen anzustellen. Als ich aufstand, um das Zimmer zu verlassen, blickte sie mich mit einer neuen Besorgniß im Gesichte an, und ihre Finger begannen auf ihre alte Weise zweifelhaft mit den Pinseln und Bleistiften auf dem Tische zu spielen.

»Du bist doch meiner noch nicht müde?« sagte sie. »Du gehst doch nicht fort, weil Du meiner überdrüssig bist? Ich will versuchen, es besser zu machen – ich will suchen wieder gesund zu werden. Hast Du mich noch so lieb, wie sonst, Walter, jetzt, da ich so blaß und abgefallen bin und so langsam im Lernen?«

Sie sprach, wie ein Kind hätte sprechen mögen und zeigte mir ihre Gedanken, wie ein Kind es gethan hätte. Ich blieb ein paar Minuten länger – blieb, um ihr zu sagen, daß sie mir theurer jetzt, denn je zuvor. »Suche wieder wohl zu werden,« sagte ich, sie in der neuen Hoffnung auf die Zukunft ermuthigend, welche ich in ihrem Geiste glimmen sah; »um Mariannen’s und um meinetwillen suche wieder gesund zu werden.«

»Ja,« sagte sie zu sich selbst, indem sie sich wieder zu ihrer Zeichnung wandte, »ich muß es versuchen, weil sie mich Beide so lieb haben.« Dann blickte sie plötzlich wieder auf. »Bleibe nicht lange fort, Walter, ich kann nicht mit meiner Zeichnung fertig werden, wenn Du nicht da bist, um mir zu helfen.«

»Ich werde bald wieder da sein, mein Herzensliebling, um zu sehen, was Du gezeichnet hast.«

Die Stimme versagte mir wider Willen, und ich zwang mich, das Zimmer zu verlassen. Es war nicht an der Zeit, die Fassung zu verlieren, deren ich vielleicht noch nothwendig bedurfte, ehe der Tag vorüber war.

Als ich die Thür öffnete, winkte ich Mariannen, mir zur Treppe zu folgen. Es war nothwendig, sie auf ein Resultat vorzubereiten, das, wie ich fühlte, früher oder später die Folge meines öffentlichen Umhergehens in den Straßen sein konnte.

»Ich werde aller Wahrscheinlichkeit nach in wenigen Stunden wieder zurück sein,« sagte ich, »und Du wirst natürlich in meiner Abwesenheit wie immer Sorge tragen, daß kein Mensch ins Haus kommt. Sollte sich aber Etwas ereignen –«

»Was kann sich ereignen?« unterbrach sie mich schnell. »Sage mir unumwunden, Walter, ob Gefahr vorhanden, und dann werde ich ihr zu begegnen wissen«

»Die einzige Gefahr, die wir zu befürchten haben, ist die,« sagte ich, »daß Sir Percival Glyde durch die Nachricht von Laura’s Flucht aus der Anstalt nach London zurückgerufen worden. Du erinnerst Dich, daß er mich beobachten ließ, bevor ich England verließ, und wahrscheinlich kennt er mich dem Ansehen nach, ohne daß ich ihn je gesehen habe.«

Sie legte ihre Hand auf meine Schulter und schaute mich in ängstlichem Schweigen an. Ich sah, daß sie die ernstliche Gefahr begriff, welche uns bedrohte.

»Es ist nicht wahrscheinlich,« sagte ich, »daß ich sobald schon in London von Sir Percival oder seinen Leuten gesehen werde. Aber es ist eben möglich, daß sich ein Unfall der Art zuträgt. In diesem Falle mußt Du nicht ängstlich werden, falls ich heute Abend nicht heimkehren sollte, und Laura’s Fragen mit den besten Entschuldigungen beantworten, die Du für mich machen kannst. Sobald ich die geringste Ursache zu argwöhnen habe, daß ich wieder belauert werde, so will ich Sorge tragen, daß kein Spion mir nach diesem Hause folgt. Zweifle nicht an meiner Rückkehr, Marianne, wie sehr sich dieselbe auch verzögern mag – und fürchte Nichts«

»Nichts!« entgegnete sie fest. »Du sollst es nicht zu bereuen haben, Walter, daß Du nur ein Weib zur Hülfe hast.« Sie schwieg und hielt mich noch einen Augenblick länger zurück. »Nimm Dich in Acht!« sagte sie, indem sie mir besorgt die Hand drückte, – »nimm Dich in Acht!«

Ich verließ sie und ging, um den Weg zu Nachforschungen zu bahnen – den dunklen, unsicheren Weg, der an der Thüre des Advocaten seinen Anfang nahm.


Vorheriges Kapitel
Nächstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte