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Das Eismeer



Kapitel Vierzehn

Die Nacht war vergangen.

Fern und nah boten die Gärten ihren buntesten und strahlendsten Anblick dar im Licht der Nachmittagssonne. Die fröhlichen Laute , die von Leben und Bewegung künden, waren überall um die Villa herum zu hören. Aus dem Garten des nächsten Hauses erhoben sich Stimmen von Kindern beim Spielen. Auf der Straße an der Rückseite des Hauses ertönte das Rollen von Rädern, wenn dann und wann Fuhrwerke und Kutschen vorbeifuhren. Draußen auf dem blauen Meer kündeten das ferne Platschen der Paddel und das ferne Klopfen der Maschinen von Zeit zu Zeit vom Vorbeifahren der Dampfschiffe, welche in die Meerenge zwischen der Insel und dem Festland einfuhren oder sie verließen. In den Bäumen sangen die Vögel fröhlich zwischen den raschelnden Blättern. Im Haus lachten die weiblichen Bediensteten über einige Witze oder Geschichten, die sie bei ihrer Arbeit aufheiterten. Es war eine aufregende und erfreuliche Zeit – ein heller, angenehmer Tag.

Die beiden Ladies waren zusammen draußen, auf einer Gartenbank ausruhend, nach einem Spaziergang um das Grundstück. Sie wechselten einige triviale Worte ob der Schönheit des Tages, und sagten dann nichts mehr. Da sie dasselbe Wissen besaß um das, was sie in der Trance gesehen hatte, welches Personen normalerweise von dem besitzen, was sie im Traum gesehen haben – da sie an die Vision glaubte als an eine übernatürliche Offenbarung – hatten sich Claras schlimmste Vorahnungen ihrer Meinung nach als Wahrheiten realisiert. Ihre letzte schwache Hoffnung, Frank wiederzusehen, hatte nun ein Ende. Innige Erfahrungen mit ihr teilten Mrs. Crayford mit, was in Claras Gedanken vorging, und warnten sie, daß der Versuch, sie zu überzeugen und Einwände zu erheben nur wenig besser wäre als eine freiwillige Verschwendung von Worten und Zeit. Die Neigung, welche sie selbst empfunden hatte in der vergangenen Nacht – mit den Worten, die Clara in der Trance gesagt hatte, eine abergläubische Wichtigkeit zu verbinden – war mit der Rückkehr des Morgens verschwunden. Ausruhen und Nachdenken hatten ihren Geist besänftigt und den beruhigenden Einfluß ihres nüchternen Verstandes zurückgebracht. Obwohl sie abgesehen davon mit Clara in allem gleichgesinnt war, stimmte sie, wie sie so beisammen saßen im angenehmen Sonnenschein, nicht überein mit Claras schwermütiger Verzweiflung ob der Zukunft. Sie, die noch hoffen konnte, hatte der niedergeschlagenen Gefährtin, die mit der Hoffnung nichts mehr zu tun haben wollte, nichts zu sagen. So folgten die stillen Minuten aufeinander, und die beiden Freundinnen saßen nebeneinander in Schweigen.

Eine Stunde verging, und die Torglocke der Villa läutete.

Beide sprangen sie auf – beide kannten sie das Klingeln. Es war die Stunde, zu welcher der Postbote ihre Zeitungen aus london brachte. Wie viele hunderte und aberhunderte Male hatten sie in den vergangenen Tagen den Umschlag aufgerissen, welcher die Zeitung umgab, und auf dieselbe Rubrik geschaut, mit derselben traurigen Mischung aus Hoffnung und Verzweiflung! Da war heute – wie es gestern gewesen war; wie es morgen sein würde, falls sie lebten – da war der Bedienstete mit Lucys Zeitung und Claras Zeitung in seiner Hand!

Würden sie beide heute wieder tun, was sie beide so oft in den vergangenen Tagen getan hatten?

Nein! Mrs. Crayford entfernte den Umschlag von ihrer Zeitung wie üblich.

Clara legte ihre Zeitung beiseite, ungeöffnet, auf die Gartenbank.

Schweigend schaute Mrs. Crayford, wohin sie immer schaute, auf die Rubrik, die für die neuesten Nachrichten vom Ausland bestimmt war. In jenem Augenblick, in dem ihr Blick auf die Seite fiel, sprang sie auf mit einem lauten Freudenschrei. Die Zeitung fiel aus ihrer zitternden Hand. Sie riß Clara in ihre Arme. „Oh mein Liebes! mein Liebes! Endlich Neuigkeiten von ihnen!“

Ohne zu antworten, ohne die leiseste Veränderung in Blick oder Verhalten, hob Clara die Zeitung vom Boden auf und las die Überschrift in der Rubrik, die in Großbuchstaben gedruckt war:


Die Arktisexpedition


Sie wartete, und schaute hin zu Mrs. Crayford. „Kannst du es ertragen, es zu hören, Lucy“, fragte sie, „wenn ich es laut lese?“ Mrs. Crayford war zu aufgewühlt, um sich in Worten zu äußern. Sie nickte Clara ungeduldig zu, fortzufahren.

Clara las die Neuigkeiten, die der Überschrift in Großbuchstaben folgten. Der Wortlaut war folgender:

Die folgende Nachricht, aus St. Johns, Neufundland, hat uns zur Veröffentlichung erreicht. Es wird berichtet, das Walfangschiff Blythewood sei in Davis Strait zufällig auf die überlebenden Offiziere und Matrosen der Expedition gestoßen. Von vielen wird gesagt, sie seien tot, und von einigen wird vermutet, daß sie vermißt werden. Die Liste der Geretteten, wie sie von den Leuten des Walfängers zusammengefaßt wurde, ist nicht als absolut korrekt belegt, die Umstände standen näheren Untersuchungen widrig entgegen. Das Schiff stand unter Zeitdruck; und die Mitglieder der Expedition, die alle mehr oder weniger unter Erschöpfung litten, waren nicht in der Lage, die notwendige Unterstützung zur Erkundigung zu geben. Weitere Einzelheiten können mit der nächsten Post erwartet werden.

Die Liste der Überlebenden folgte, beginnend mit den Offizieren in der Reihenfolge ihres Ranges. Die beiden lasen die Liste gemeinsam. Der erste Name war Captain Helding; der zweite war Lieutenant Crayford.

An dieser Stelle wurde die Ehefrau von ihrer Freude überwältigt. Nach einer Pause legte sie den Arm um Claras Taille und sprach zu ihr.

„ Oh mein Liebes“, murmelte sie, „bist du so glücklich, wie ich es bin? Steht Franks Name ebenfalls da? Es sind Tränen in meinen Augen. Lies vor – ich kann nicht selbst lesen.“

Die Antwort kam in ruhigem, traurigem Tonfall:

„ Ich habe bis zum Namen deines Ehemannes gelesen. Ich habe keinen Grund, weiterzulesen.“

Mrs. Crayford wischte sich schnell die Tränen aus den Augen – brachte sich zur Ruhe – und schaute auf die Zeitung.

Auf der Liste der Überlebenden war die Suche umsonst. Franks Name war nicht unter ihnen. Auf einer zweiten Liste, mit der Überschrift ‚Tot oder Vermißt’ waren die ersten beiden Namen, die erschienen:


FRANCIS ALDERSLEY

RICHARD WARDOUR


In sprachloser Sorge und Bestürzung schaute Mrs. Crayford auf Clara. Hatte sie genügend Kraft bei ihrer schwächlichen Gesundheit, um den Schock auszuhalten, der sie getroffen hatte? Ja! sie ertrug ihn mit einer seltsamen, unnatürlichen Resignation – wie sie blickte, und wie sie sprach, tat sie es mit der traurigen Selbstbeherrschung der Verzweiflung.

„ Ich war darauf vorbereitet“, sagte sie. „Ich sah sie letzte Nacht im Geist. Richard Wardour hat die Wahrheit entdeckt; und Frank mußte mit seinem Leben büßen – und ich – ich allein, bin schuld.“ Sie schauderte, und legte sich die Hand auf ihr Herz. „Wir werden nicht lange getrennt sein, Lucy. Ich werde zu ihm gehen. Er wird nicht zu mir zurückkehren.“

Diese Worte waren gesprochen worden mit einer ruhigen Sicherheit der Überzeugung, die schrecklich anzuhören war. „Ich habe nichts weiter zu sagen“, fügte sie hinzu, einen Moment danach, und erhob sich, um zum Haus zurückzukehren. Mrs. Crayford griff sie bei der Hand und zwang sie, sich wieder auf ihren Platz zu setzen.

Schau mich nicht an und sprich nicht mit mir auf diese schreckliche Weise!“ rief sie aus. „Clara! es ist eines vernünftigen Wesens unwürdig, es ist ein Zweifel an der Gnade Gottes, wenn man sagt, was du soeben gesagt hast. Schau noch mal in die Zeitung. Sieh! Sie sagen dir unmißverständlich, daß man sich auf ihre Informationen nicht verlassen kann – sie legen dir nahe, auf weitere Einzelheiten zu warten. Schon die Worte am Anfang der Liste zeigen, wie wenig sie wußten von der Wahrheit ‚Tot oder Vermißt’! Laut ihrer eigenen Darstellung ist es ebenso wahrscheinlich, daß Frank vermißt ist wie, daß Frank tot ist. Es ist gut möglich, daß die nächste Post einen Brief von ihm bringen könnte. Hörst du mir zu?“

„ Ja.“

„ Kannst du bestreiten, was ich sage?“

„ Nein.“

„ ‚ Ja!’ ‚Nein!’ Ist das die Art, mir zu antworten, wenn ich so besorgt und bange um dich bin?“

„ Es tut mir leid, daß ich so gesprochen habe, wie ich es tat, Lucy. Wir betrachten einige Themen auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Ich bestreite nicht, Liebes, daß deine die vernünftige Ansicht ist.“

„ Du bestreitest es nicht?“ erwiderte Mrs. Crayford hitzig. „Nein! du tust etwas, das schlimmer ist – du glaubst an deine eigene Meinung; du beharrst auf deiner eigenen Folgerung – mit der Zeitung vor dir! Glaubst du der Zeitung, oder nicht?“

„ Ich glaube an das, was ich letzte nacht sah.“

„ An das, was du letzte Nacht sahst! Du, eine gebildete Frau, eine kluge Frau, glaubst an eine Vision deiner eigenen Phantasie – an einen bloßen Traum! Ich wundere mich, daß du dich nicht schämst, es zuzugeben!“

„ Nenne es einen Traum, wenn du magst, Lucy. Ich habe andere Träume gehabt zu anderen Zeiten – und ich habe gewußt, daß sie sich erfüllen würden.“

„ Ja!“ sagte Mrs. Crayford. „Zur Abwechslung mögen sie sich einmal erfüllt haben, durch Zufall – und du hast es bemerkt und erinnerst dich daran, und setzt deinen ganzen Glauben darauf. Komm, Clara, sei ehrlich! – Was ist mit den Gelegenheiten, als das Schicksal gegen dich war, und deine Träume sich nicht erfüllt haben? Ihr abergläubischen Menschen seid alle gleich. Ihr vergeßt es bequemerweise, wenn eure Träume und eure Vorahnungen sich als falsch erweisen. Um meinetwillen, Liebes, wenn nicht um deiner selbst“, fuhr sie fort, in leiserem und sanfterem Tonfall, „versuch, vernünftiger und hoffnungsvoller zu sein. Verlier nicht dein Vertrauen in die Zukunft, und dein Vertrauen in Gott. Gott, der meinen Ehemann gerettet hat, kann Frank retten. Solange es Zweifel gibt, gibt es Hoffnung. Verbittere mir nicht mein Glück, Clara! Versuch’ zu denken, wie ich denke – und wenn es nur dafür ist, um zu zeigen, daß du mich lieb hast.“

Sie legte den Arm um den Nacken des Mädchens und küßte sie. Clara gab den Kuß zurück; Clara antwortete, traurig und ergeben:

„ Ich habe dich lieb, Lucy. Ich werde es versuchen.“

Nachdem sie auf diese Weise geantwortet hatte, seufzte sie in sich hinein und sagte nichts mehr. Es wäre selbst für weit weniger aufmerksame Augen als die von Mrs. Crayford offenkundig gewesen, nur zu offenkundig, daß kein heilsamer Eindruck auf sie gemacht worden war. Sie hatte damit aufgehört, ihre eigene Denkweise zu verteidigen, sie sprach nicht mehr davon – doch war die schreckliche Überzeugung von Franks Tod durch Wardours Hände so beständig in ihrem Geist verankert wie immer! Entmutigt und bedrückt verließ Mrs. Crayford sie und ging wieder zurück zum Haus.


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