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Blinde Liebe

Neunzehntes Kapitel

Nachdem Mountjoy wohl schon zehnmal aus dem Fenster des Empfangszimmers geschaut hatte, erblickte er endlich Iris auf der Straße, als sie nach Hause zurückkehrte.

Sie brachte ihr Kammermädchen mit in das Empfangszimmer und stellte Rhoda in heiterster Laune ihrem Freunde vor.

»Welch ein Vergnügen ist doch ein so weiterer Spaziergang, man muss es nur erst kennen lernen!« rief sie aus. »Sehen Sie nur die frisch geröteten Wangen meiner kleinen Rhoda! Wer würde da glauben, dass sie mit trüben Augen und bleicher Gesichtsfarbe hieher gekommen wäre? Ausgenommen, dass sie sich jedes Mal in der Stadt verirrt, so oft sie allein ausgeht, haben wir allen Grund, uns zu unserem Aufenthalte in Honeybuzzard Glück zu wünschen. Der Doktor ist Rhodas guter Genius und seine Frau ihre Patin, wie die Fee im Märchen.«

Mountjoy sprach mit seiner gewohnten Höflichkeit dem Mädchen seine Glückwünsche aus. Darauf durfte Rhoda auf ihr Zimmer gehen.

Iris kam sofort auf sein gemeinsames Mittagessen mit dem Doktor zu sprechen.

»Ich hätte dabei sein mögen,« sagte sie, »um zu sehen, wie sich Ihr Gast an den Herrlichkeiten aus der Speisekammer des Hotels gütlich tat. Im Ernst gesprochen, Hugh, Ihre gesellschaftlichen Sympathien haben eine Richtung angenommen, auf die ich nicht vorbereitet war. Nach dem Beispiel, das Sie mir gegeben haben, fühle ich mich wirklich wegen meiner Zweifel, ob Mister Vimpany einer so liebenswürdigen Frau würdig sei, sehr beschämt. Glauben Sie nicht etwa, dass ich gegen den Doktor undankbar bin; er hat durch das, was er an Rhoda getan, sich meine Achtung zu erringen verstanden. Ich bin mir nur darüber nicht klar, wie er sich Ihre Sympathien erworben hat.«

In der Weise fuhr sie noch weiter zu reden fort und freute sich ihrer eigenen guten Laune in unschuldiger Unkenntnis der ernsten Dinge, über die sie lachte.

Mountjoy versuchte, sie etwas zu mäßigen, aber es war umsonst.

»Nein, nein,« beharrte sie so mutwillig wie zuvor, »der Gegenstand ist zu interessant, als dass ich ihn so schnell fallen ließe. Ich bin furchtbar neugierig, zu hören, wie Sie und Ihr Gast das Mittagessen gefunden haben. Hatte er mehr Wein getrunken, als gut für ihn wahr? Wenn er sich manchmal selbst vergisst, so bringt er alles doch immer gleich wieder in Ordnung, indem er sagt: ,Bitte, nicht beleidigt sein!' und sich die Flasche von neuem reichen lässt.«

Jetzt konnte Hugh nicht länger ruhig zuhören.

»Bitte, mäßigen Sie für einen Augenblick Ihre Lebhaftigkeit!« sagte er; »ich bringe für Sie Nachrichten von zu Hause.«

Diese Worte machten dem Ausbruch ihrer Fröhlichkeit sofort ein Ende.

»Nachrichten von meinem Vater?« fragte sie.

»Ja.«

»Ist er hieher gekommen?«

»Nein, ich habe nur Mitteilungen von ihm erhalten.« »Einen Brief?«

»Ein Telegramm,« erklärte Mountjoy, »als Beantwortung auf einen Brief von mir. Ich tat mein Möglichstes, um ihm Ihre Wünsche verständlich zu machen, und freue mich, Ihnen sagen zu können, dass meine Mühe nicht umsonst gewesen ist.«

»Hugh. Lieber Hugh, Sie haben es also wirklich fertig gebracht, uns zu versöhnen?« Mountjoy zog das Telegramm aus der Tasche.

»Ich bat Mr. Henley,« sagte er, »mich sofort wissen zu lassen, ob er Sie wieder aufnehmen wollte, er solle einfach mit Ja oder Nein antworten. Die Antwort hätte nun zwar liebenswürdiger ausgedrückt werden können, es ist indessen doch wenigstens eine günstige Antwort.«

Iris las das Telegramm.

»Gibt es wohl noch auf der Welt einen zweiten Vater,« sagte sie traurig, »der seiner Tochter sagen würde, wenn sie ihn bittet, wieder nach Haus zurückkehren zu dürfen, er wolle sie versuchsweise wieder bei sich aufnehmen?«

»Sie sind ihm doch nicht gram, Iris?«

Sie schüttelte ihren Kopf.

»Nein,« sagte sie, »mir geht es wie Ihnen. Ich kenne ihn zu gut um durch seine Art und Weise beleidigt zu sein. Er soll mich pflichtgetreu, er soll mich geduldig finden. Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht so lange zumuten, hier in Honeybuzzard zu warten, bis ich wegkommen kann. Wollen Sie meinem Vater sagen, dass er mich in ungefähr einer Woche zurückerwarten soll?«

»Entschuldigen Sie, Iris, ich sehe keinen Grund, weswegen Sie noch eine ganze Woche hier in dieser Stadt bleiben wollen. Im Gegenteil, je angelegentlicher Sie es sich sein lassen, zu Ihrem Vater zurückzukehren, umso wahrscheinlicher ist es, dass Sie Ihrem Platz in seiner Liebe und Achtung wiedergewinnen. Ich beabsichtigte, Sie mit dem nächsten Zuge nach Hause zu bringen.«

Iris sah ihn erstaunt an.

»Ist es möglich,« sagte sie, »dass das Ihre wirkliche Meinung ist?« »Meine aufrichtigste, liebe Iris. Warum sollten Sie zögern? Welcher stichhaltige Grund könnte Sie denn veranlassen, hier noch länger bleiben?« »O Hugh, wie Sie mich enttäuschen! Wohin ist denn Ihre Liebenswürdigkeit, wohin ist denn Ihr Gerechtigkeitssinn und Ihre Rücksicht auf andere gekommen? Arme Miss Vimpany!« »Was hat denn Mrs. Vimpany damit zu tun?« Iris war empört.

»Was Mrs. Vimpany damit zu tun hat!« wiederholte sie. »Nach allem, was ich der Liebenswürdigkeit dieser guten Frau verdanke, nachdem ich versprochen habe, sie zu begleiten - sie hat so wenig glückliche Tage, die arme Seele! - auf Ausflügen nach den interessantesten Punkten der Nachbarschaft, da erwarten Sie von mir, dass ich sie sofort verlassen soll - nein, noch viel Schlimmeres als das - Sie erwarten von mir, die Arme wie ein altes, abgetragenes Kleid beiseite zu werfen? Und dies, nachdem ich sie in so ungerechter, in so undankbarer Weise in meinen Gedanken verdächtigt habe? Schändlich!«

Mit Mühe bewahrte Mountjoy seine Selbstbeherrschung. Nach dem, was er soeben gehört hatte, waren seine Lippen verschlossen betreffs des wahren Charakters der Mrs. Vimpany. Er konnte jetzt nur noch sich an die Pflicht gegen ihren Vater halten.

»Sie lassen sich von Ihrem lebhaften Charakter immer gleich zu den sonderbarsten Äußerungen fortreißen,« antwortete er.« Wenn ich es für wichtiger halte, eine Versöhnung mit Ihrem Vater so schnell wie möglich herbeizuführen, als Sie zu ermutigen, Ausflüge mit einer Dame zu machen, die Sie doch nur erst eine oder zwei Wochen kennen, was habe ich dann so Entsetzliches getan, dass ich einen solchen Ausdruck des Zornes und Ärgers verdiene? Still, nicht ein Wort mehr hievon, denn da ist Mrs. Vimpany selbst!«

Während er sprach, war Mrs. Vimpany in das Zimmer getreten; sie war von der Unterredung mit ihrem Gatten aus dem Gasthaus zurückgekommen. Sie warf zuerst einen Blick auf Iris und bemerkte sofort Zeichen von Verwirrung und Missstimmung in dem Gesichte des jungen Mädchens.

Indem sie ihre Befürchtungen geschickt unter einem wunderbaren Bühnenlächeln verbarg, welches für so viele geheime Gedanken einen praktischen Schleier abgibt, sagte Mrs. Vimpany einige entschuldigende Worte wegen ihrer Abwesenheit. Miss Henley antwortete, ohne die geringste Veränderungen in ihrem freundschaftlichen Verhalten gegen die Frau des Doktors. Die Zeichen der Verwirrung und Missstimmung waren also nach Mrs. Vimpanys Ansicht augenscheinlich einer ganz unwichtigen Ursache zuzuschreiben. Mr. Mountjoy hatte ihr noch nicht seine Entdeckungen mitgeteilt.

Auf Hughs Gemütszustand übte die Anwesenheit der Herrin des Hauses einen störenden Einfluss aus und zwang ihn, seinen Verstand anzustrengen. Unglücklicherweise kam er auf den Gedanken, ihr eine Frage vorzulegen, welche sich auf den Streit zwischen ihm und Iris bezog.

»Es handelt sich um etwas ganz Einfaches,« sagte er zu Mrs. Vimpany. Miss Henleys Vater wünscht, dass sie zu ihm zurückkehren soll, nachdem eine kleine Differenz, die zwischen ihnen geherrscht hatte, glücklicherweise beigelegt ist. Glauben Sie nun, dass einige zufällige Bekanntschaften, die sie gemacht hat, sie von der sofortigen Heimkehr abhalten dürfen? Wenn sie um Ihre gütige Nachsicht unter diesen Umständen bittet, hat sie dann ein Recht, eine Abweisung vorauszusetzen?«

Mrs. Vimpanys ausdrucksvolle Augen blickten mit scheinheiliger Ergebenheit zu der schmutzigen Zimmerdecke empor und schienen durch einen stummen Blick zu fragen, was sie denn für ein Unrecht getan hätte, das einen solchen Zweifel in sie zu setzen erlaubte!

»Mr. Mountjoy,« sagte sie ernst, »Sie beleidigen mich durch diese Frage! - Liebe Miss Henley,« fuhr sie fort, sich an Iris wendend, »Sie tun mir gewiss unrecht! Halten Sie mich denn für fähig, dass ich meinen persönlichen Gefühlen gestatten würde, hindernd in den Weg zu treten, wenn Ihre Kindespflicht in Frage kommt? Verlassen Sie mich nur ohne Bedenken, meine liebe Freundin, gehen Sie, ich beschwöre Sie, gehen Sie sofort nach Hause zu Ihrem Vater!«

Sie zog sich von der Bühne zurück - das heißt, sie ging nur an das andere Ende des Zimmers und brach dort in Tränen aus, natürlich Theatertränen. Die leicht gerührte Iris beeilte sich, ihr Trost zuzusprechen.

»Schämen Sie sich!« flüsterte sie Mr. Mountjoy zu, als sie an ihm vorüberging.

So war er denn zum zweitenmale von Mrs. Vimpany geschlagen worden - und diesmal, ohne dass es ihm möglich war, seinen Widerstand gegen Miss Henleys Entschluss zu rechtfertigen; mit den beiden Frauen gegen sich, welche hinter den Vorrechten ihres Geschlechtes verschanzt waren, war die einzige noch mögliche Gelegenheit, im Interesse von Iris Henley zu handeln, dass er unter Aufopferung seiner eigenen Gefühle seinen Wunsch unterdrückte, das Haus sofort zu verlassen. In der ratlosen Lage, in der er sich jetzt befand, konnte er nur warten, um zu beobachten, welchen Weg Mrs. Vimpany jetzt für vorteilhaft hielt, einzuschlagen. Würde sie wohl in ihrer gewohnten, sehr höflichen Weise ihn bitten, seinen Besuch zu beendigen? Nein, sie blickte zu ihm hin - zögerte - warf verstohlen einen Blick durch das Fenster auf die Straße - lächelte geheimnisvoll - und setzte der Aufopferung ihrer eigenen Gefühle die Krone auf durch die Worte:

»Liebste Miss Henley, lassen Sie mich Ihnen beim Einpacken Ihrer Sachen behilflich sein!«

Iris schlug dies rundweg ab.

»Nein,« sagte sie, »ich stimme hierin nicht mit Mr. Mountjoy überein. Mein Vater überlässt es mir vollkommen, den Tag zu bestimmen, an welchem ich zurückkehren will. Ich halte fest, meine liebe Mrs. Vimpany, an unserer Abmachung - ich verlasse eine angenehme, liebenswürdige Freundin nicht so, wie ich von einer Fremden weg gehen würde.«

Mrs. Vimpany schlang ihre kräftigen Arme um die edelmütige Iris und dankte ihr mit der unnachahmlichsten Grazie durch einen Kuss.

» Ihre Güte wird es mir schwerer denn jemals machen, mein einsames Leben zu ertragen,« flüsterte sie, »wenn Sie von mir weggegangen sind.«

»Aber wir dürfen doch hoffen, uns in London wieder zu sehen,« erinnerte Iris sie, »wenn Mr. Vimpany nicht seinen Plan ändert, diese Stadt zu verlassen.«

»Das wird mein Gatte sicherlich nicht tun, meine Teure; er ist fest entschlossen, sein Glück, wie er sagt, in London zu versuchen. Inzwischen werden Sie wohl so liebenswürdig sein und mir Ihre Adresse geben; wollen Sie? Vielleicht versprechen Sie mir sogar, einmal an mich zu schreiben.«

Iris gab das Versprechen sofort und schrieb ihre Adresse in London auf ein Blattpapier.

Mountjoy machte keinen Versuch, es zu verhindern, es war nutzlos.

Mrs. Vimpany kehrte wieder an das Fenster zurück. Bei dieser Gelegenheit blickte sie durch dasselbe auf die Straße hinab und nahm ihr Taschentuch in die Hand sollte das vielleicht ein Zeichen sein?

Iris ihrerseits näherte sich Mountjoy. So leicht sie sich auch zum Zorn hinreißen ließ, so wenig war ihre Natur fähig, lange darin zu verharren. So war es ihr jetzt Bedürfnis, einige begütigende Worte an Hugh zu richten.

Sie bot ihm herzlich ihre Hand. Er hatte sie gerade an seine Lippen gezogen, als die Türe des Besuchszimmers heftig aufgerissen wurde. Sie sahen sich beide erschreckt um.

Der Mann, welchen Hugh von allen am wenigsten zu sehen wünschte, war es, der jetzt das Zimmer betrat. Das Opfer des leichten französischen Rotweins hatte ruhig auf der Straße gewartet, bis er das Taschentuch aus dem Fenster flattern sah. Dann war er in das Haus getreten nach den Instruktionen seiner Frau. Er war bereit und auch begierig darauf, mit Mountjoy wegen des Mittagessens in dem Gasthofe zu sprechen.


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