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Zwei Schicksalswege

Erstes Kapitel

Die Grünwasser-Fläche

Schau zurück, Erinnerung, durch das dunkle Labyrinth der Vergangenheit durch die gemischten Freuden und Schmerzen von zwanzig Jahren. Erwache wieder, meine Knabenzeit, an den geschlängelten, grünen Ufern des kleinen Sees. Kehre zu mir zurück, meine Kinderliebe, in der schuldlosen Schöne deiner ersten zehn Jahre. Lass uns wiederum leben, mein Engel, wie wir in unserem ersten Paradiese lebte, ehe Sünde und Schmerz ihre flammenden Schwerter erhoben und uns in die Welt hinaustrieben.

Es war im Monat März. Die letzten wilden Vögel der Jahreszeit flatterten über den Wassern des Sees, den wir in der Suffolkischen Mundart die »Grünwasser-Fläche« nannten.

Durch alle Windungen hindurch färbten die grünen Ufer und die überhängenden Bäume den See mit ihrem saftigen Grün, indem sie sich darin spiegelten und der dadurch seien Namen erhielt. In einer kleinen Bucht am südlichen Ende wurden die Boote aufgestellt – mein eigenes, niedliches Segelboot hatte seinen kleinen, natürlichen Hafen ganz für sich allein. Gegen Norden stand die große Schlinge, der Entenfang genannte, worin die wilden Vögel gefangen wurden, die im Winter zu Tausenden und Tausenden die »Grünwasser-Fläche« besuchten. Meine kleine Mary und ich gingen Hand in Hand hinaus, um die letzten Vögel in die Schlinge locken zu sehn.

Der äußere Teil der seltsamen Vogelfalle ragte aus dem Wasser des Sees in einer Reihe von Bogen hervor, die von biegsamen Zweigen geformt und von feinem Netzwerk bedeckt waren. Kleiner und kleiner werdend, folgten die Bogen mit ihrem Netzdach den geheimen Windungen der kleinen Bucht landwärts bis zu ihrem Ende. Rings um die Bogen, nach der Landseite zu, lief ein hölzerner Zaun, der hoch genug war, um einen knieenden Mann den Blicken der Vögel auf dem Wasser zu verbergen. In gewissen Zwischenräumen waren Öffnungen in den Zaun gemacht, die grade ausreichten um einem Dachshund oder Windspiel den Eingang zu ermöglichen. Dieses war die ganze, einfache Bauart des Entenfanges.

In jenen Tagen war ich dreizehn und Mary zehn Jahre alt. Auf unserem Wege zum See hatten wir Marys Vater als Führer und Begleiter bei uns. Der gute Mann diente als Vorgt auf meines Vaters Gute und war nebenbei einer der geschicktesten Meister in der Kunst des Entenfanges. Ein kleiner Dachshund war sein Gehülfe, als Lockvögel waren wir in Suffolk gewohnt Enten zu zähmen. Der Dachshund war auch in seiner Art ein Meister in seiner Kunst – ein Geschöpf, welches zu gleichen Teilen die beneidensweten Vorzüge unwandelbar guter Laune und natürlichen Verstandes besaß.

Der Hund folgte dem Vogte und wir folgten dem Hunde.

Als wir an dem Zaune ankamen, der den Entenfang umgab, setzte sich der Hund, um zu warten, bis er gebraucht wurde. Der Vogt und die Kinder kauerten hinter dem Zaun, und guckten durch das äußerste Hundeloch, durch das man einen völligen Überblick über den See hatte. Es war ein windstiller Tag; nicht eine Welle trübte die Spiegelfläche des Sees; sanfte, graue Wolken überzogen den Himmel und verbargen die Sonne den Blicken. Wir guckten durch das Loch im Zaun. Da waren die wilden Enten – im Bereich des Entenfanges versammelt – auf dem friedlichen Spiegel des Wassers, friedlich ihre Federn ordnend. Der Vogt machte dem Hunde ein Zeichen. Der Hund sah den Vogt an; und, langsam vorwärts schreitend, ging er durch das Loch, so dass er sich auf dem schmalen Landstreifen zeigte, der sich von der äußeren Seite des Zaunes in den See senkte.

Zuerst entdeckte eine Ente, dann eine andere, endlich ein halbes Dutzend zusammen, den Hund.

Der neue Gegenstand, der auf der einsamen Szenerie erschien, wurde sofort auch der alles verschlingende Gegenstand der Neugierde der Enten. Die Äußersten derselben begannen langsam dem seltsamen, vierfüßigen Geschöpf entgegen zu schwimmen, das regungslos am Ufer saß. Zu zweien und dreien rückte das ganze Gros der Wasservögel allmälig der Avantgarde nach. Näher und näher an den Hund heranschwimmend, machten die schlauen Enten plötzlich Halt und auf dem Wasser sitzend, betrachteten sie aus einiger Entfernung das Phänomen auf dem Lande.

Der Vogt, der hinter dem Zaune kniete, flüsterte »Trim!« Als er seinen Namen hörte, wendete sich der Dachshund um, und sich durch das Loch zurückziehend, war er den Blicken der Enten entschwunden. Die Vögel saßen regungslos auf dem Wasser und wunderten sich und warteten. Einen Augenblick später war der Hund herum gegangen und zeigte sich in dem nächsten Loch des Zaunes, das mehr nach innen belegen war, wo der See den äußersten Windungen der Bucht folgte.

Das zweite Erscheinen des Hundes erregte neue Neugier unter den Enten. Mit einem Ruck schwammen sie wieder vorwärts, um den Hund wiederholt und näher in Augenschein zu nehmen; dann, um ihre gesicherte Stellung nicht zu verlieren, hielten sie wieder an, und zwar unter dem äußersten Bogen des Entenfanges. Wiederum verschwand der Hund und die erstaunten Enten warteten. Es entstand eine Pause – und Trim erschien zum dritten Male, im dritten Loche des Zaunes, welches weiter landeinwärts, an der Bucht lag. Zum dritten Male lockte unwiderstehliche Neugier die Enten weiter und weiter vorwärts in die verhängnisvollen Bogen des Entenfanges. Zum vierten und fünften Male begann das Spiel, bis der Hund die Wasservögel Schritt für Schritt weiter vorwärts in die inneren Räume des Entenfanges gelockt hatte. Dort erschien Trim zum letzten Male. Ein letztes Vorwärtsbringen, eine letzte vorsichtige Pause wurde von den Enten gemacht. Der Vogt zog an den Schnüren. Das beschwerte Netzwerk sank senkrecht ins Wasser und verschloss den Entenfang. Nun wurden die Enten zu Dutzenden und Dutzenden durch ihre eigene Neugier gefangen – durch keine andere Lockspeise als einen kleinen Hund! Wenige Stunden darauf waren sie alle als tote Enten auf dem Wege zu den Londoner Märkten befindlich.

Als der letzte Akte der seltsamen Komödie im Entenfange zu Ende war, legte mir die kleine Mary ihre Hand auf die Schulter, erhob sich auf die Zehspitzen und flüsterte mir ins Ohr:

»George! Komm mit mir nach Hause. Ich möchte dir etwas zeigen, was sehenswerter ist als die Enten.«

»Was ist es?«

»Es ist eine Überraschung. Ich sage es nicht.«

»Willst du mir einen Kuss geben?«

Das reizende kleine Geschöpf legte seine schlanken, sonnverbrannten Arme um meinen Hals und sagte:

»So viele Küsse als du willst, George.«

Sie sagte es unschuldig und ich ebenso. Der gute, gemütliche Vogt, der gerade von seinen Enten zur Seite blickte, sah uns in unserer kindlichen Courmacherei einander in den Armen liegen. Er drohte uns mit seinem dicken Zeigefinger und lächelte trübe und zweifelhaft:

»Oh, Mr. George! Mr. George!« sagte er. »Wenn Ihr Vater heimkehrt, meinen Sie, dass er damit einverstanden sein wird, wenn sein Sohn und Erbe die Tochter seines Vogtes küsst?«

»Wenn mein Vater heimkehrt«, sagte ich mit großer Würde, »so werde ich ihm die Wahrheit sagen. Ich werde ihm sagen, dass ich Ihre Tochter zu heiraten gedenke.«

Der Vogt lachte laut auf und kehrte zu seinen Enten zurück.

»Nun! Nun!« hörten wir ihn zu sich selbst sagen, » sie sind ja noch Kinder. Es ist noch nicht nötig, die armen Dinger jetzt schon zu trennen.«

Mary und ich hörten uns sehr ungern Kinder nennen. Von rechtswegen war einer eine Dame von zehn Jahren und der andere war ein dreizehnjähriger Herr. Wir verließen sehr ungehalten den Vogt und gingen Hand in Hand nach Hause.

Zweites Kapitel

Zwei junge Herzen

»Er wächst zu schnell«, sagte der Doktor zu meiner Mutter, »und wird für einen Knaben von seinem Alter viel zu klug. Lassen Sie ihn sechs Monate lang aus der Schule, Madame, damit er zu Hause in der freien Luft umherlaufen kann; und sehen Sie ein Buch in seiner Hand, so nehmen Sie es ihm fort. Das sind meine Verordnungen!«

Diese Worte waren für ein Lebensschicksal entscheidend.

Um des Doktors Rat zu befolgen, wurde ich unbeschäftigt gelassen und durchstreifte einsam, ohne Brüder, Schwestern oder Gefährten meines Alters, die Umgebungen unseres einsamen Landhauses. Die Tochter des Vogtes war, wie ich, ein einziges Kind und hatte gleich mir keine Spielgefährten. Wir begegneten uns auf unseren einsamen Wanderungen an den Ufern des Sees. Aus unzertrennlichen Gefährten wurden wir allmälig zärtliche Liebende und beabsichtigten unser bräutliches Verhältnis ehe ich zur Schule zurückkehrte zur vollen Reife zu bringen, indem wir uns heirateten.

Was ich schreibe ist kein Scherz. So töricht es »vernünftigen Menschen« auch erscheinen mag, wir beiden Kinder waren Liebesleute - wenn solche überhaupt je existiert haben.

Wir kannten keine andere Freude, als die alles umfassende, die wir einer in des andern Gesellschaft fanden. Wir zürnten der Nacht, weil sie uns trennte. Wir flehten unsere beiderseitigen Eltern an, uns im nämlichen Zimmer schlafen zu lassen. Ich grollte meiner Mutter und Mary war ungehalten über ihren Vater, wenn sie uns auslachten und nach unseren ferneren Wünschen befragten. Wenn ich von jenen Tagen bis zur Zeit meines Mannesalters vorwärts blicke, erinnere ich mich lebhaft der glücklichen Stunden, die ich damals verlebte. Aus der späteren Zeit aber wüsste ich kein Entzücken dem zu vergleichen, das ich damals unaussprechlich und unwandelbar empfand und das mein ganzes, junges Herz erfüllte, wenn ich mit Mary die Felder durchstreifte; wenn ich mit Mary in meinem Boot den See durchkreuzte; wenn ich Mary nach der grausamen Trennung der Nacht wiedersah und in ihre geöffneten Arme flog, als wären wir Monde und Monde lang getrennt gewesen.

Welch eine Anziehungskraft fesselte uns so eng in einem Alter aneinander, wo der sympathische Zug der Geschlechter in ihr, wie in mir noch verborgen schlief?

Wir wussten es nicht und bemühten uns nicht es zu ergründen, wir gehorchten dem Triebe uns zu lieben, wie der Vogel dem Triebe zu fliegen folgt.

Man darf durchaus nicht voraussetzen, dass wir hervorragende Gaben oder Vorzüge besaßen, die uns in irgendeiner Art vor anderen Kindern unseres Alters auszeichneten. Wir waren durchaus nicht anders als andere. Man hatte mich in der Schule einen klugen Jungen genannt, aber es gab tausend Knaben in tausend anderen Schulen, die so gut wie ich obenan in der Klasse saßen und ihre Auszeichnungen erhielten. Um die Wahrheit zu sagen, ich ragte in keiner Weise hervor, außer - wie man zu sagen pflegt, dass ich »groß für mein Alter« war. Mary, ihrerseits, entwickelte keine besonderen Reize. Sie war ein zartes Kind mit milden, grauen Augen und von bleicher Gesichtsfarbe; sie war seltsam scheu, still und zurückhaltend, außer, wenn sie mit mir ganz allein war. Die Schönheit, die sie in jenen jungen Jahren schmückte, lag in einer gewissen ungekünstelten Reinheit und Liebenswürdigkeit des Ausdrucks und in der reizenden rotbraunen Farbe ihres Haares, das zierlich und anmutig in wechselndem Glanze strahlte. Obgleich wir dem äußeren Anscheine nach zwei ganz gewöhnliche Kinder waren, schien ihr Geist und der meine doch geheimnisvoll durch einen verwandten Zug verbunden zu sein, der nicht nur uns selbst verborgen blieb, sondern auch zu tief in uns schlummerte, um von älteren und weiseren Köpfen als die unseren enthüllt zu werden.

Man wird natürlich fragen, ob unsere Eltern nichts taten, um unsere vorzeitige Neigung, als sie nur noch eine harmlose Tändelei zwischen einem Knaben und einem Mädchen war, zu verhindern.

Mein Vater tat nichts - aus dem einfachen Grunde, weil er von Hause abwesend war.

Er war ein Mann von ruhelosem, unternehmendem Charakter. Da er sein Gut von Schulden beladen geerbt hatte, war es sein höchster Ehrgeiz, sein geringes Einkommen durch seine Bestrebungen zu vergrößern, einen Haushalt in London zu haben und auf der Leiter des Parlaments politische Ehren zu erklimmen. Ein alter Freund, der nach Amerika ausgewandert war, hatte ihm ein landwirtschaftliches Unternehmen in den westlichen Staaten vorgeschlagen, wodurch sie beide ihr Glück machen würden. Meines Vaters erregbare Phantasie erfasste die Idee. Über ein Jahr war er fern von uns in den Vereinigten Staaten; wir wussten nichts von ihm, als dass er, wie seine Briefe besagten, in nächster Zeit als einer der reichsten Männer Englands zurückkehren würde.

Was meine arme Mutter anbelangt, so war sie die sanfteste, weichherzigste Frau der Welt und - mich glücklich zu sehn, war das Ziel ihrer Wünsche.

Der kleine, hübsche Liebesroman der zwei Kinder zerstreute und interessierte sie. Sie scherzte mit Marys Vater über die bevorstehende Verbindung der beiden Familien, ohne den geringsten Gedanken an die Zukunft - ohne auch nur eine Ahnung von dem zu haben, was bei meines Vaters Rückkehr geschehen könnte. »Jeder Tag hat sein eigenes Glück und Leid« war der Wahlspruch meiner Mutter ihr ganzes Leben hindurch gewesen und sie stimmte ganz der Philosophie des Vogtes bei, die wir schon in diesen Zeilen mitteilten: »Sie sind nur Kinder, es ist kein Grund die Dinger jetzt schon zu trennen!«

Ein Mitglied der Familie aber fasste die Sache doch ernster und bedenklicher auf.

Meines Vaters Bruder besuchte uns in unserer Einsamkeit - er entdeckte was zwischen Mary und mir vorging - und war natürlich zuerst auch geneigt uns auszulachen; ein näheres Eingehen auf die Sache änderte aber seine Denkweise. Er überzeugte sich bald, wie töricht meine Mutter handelte, sah, dass der Vogt, obgleich er der bravste Diener war, den man sich denken konnte, hierbei schlau seine Interessen durch seine Tochter zu fördern suchte und fand, dass ich ein junger Tollkopf war, der seine natürliche Anlage zum Dummheiten machen außergewöhnlich früh entwickelte. Im Sinne dieser Beobachtungen sprach mein Onkel mit meiner Mutter und bot ihr an mich mit nach London zu nehmen und dort zu behalten, bis ich durch den Umgang mit seinen Kindern und die sorgfältige Aufsicht in seinem Hause wieder vernünftig geworden wäre.

Meine Mutter zögerte seinen Vorschlag anzunehmen, da sie besser meinen Charakter als mein Onkel kannte. Während sie noch zweifelte und mein Onkel ungeduldig die Entscheidung erwartete, ordnete ich selbst die Sache für meine Angehörigen, indem ich davon lief.

Ich ließ als Stellvertreter in meiner Abwesenheit einen Brief zurück, worin ich erklärte, dass keine Macht mich von Mary trennen würde und dass ich, so wie mein Onkel das Haus verlassen haben würde, heimzukehren und die Verzeihung meiner Mutter zu erbitten beabsichtigte. Trotz der genausten Nachforschungen gelang es nicht, mein Versteck zu entdecken. Mein Onkel reiste mit der Prophezeiung ab, dass ich zur Schande der Familie heranwachsen würde und versprach, dass er meinem Vater mit der nächsten Post seine Ansichten über mich nach Amerika hin mitteilen würde.

Das Geheimnis von dem Versteck, in dem ich allen Nachforschungen trotzte, ist bald zu erklären.

Ich war, ohne dass der Vogt es wusste, in dem Schlafgemach seiner Mutter versteckt. Ihr fragt: ob die Mutter des Vogtes darum wusste? Worauf ich Euch antworte: dass sie es wusste und - was noch mehr sagen will, dass sie stolz darauf war; nicht um eine feindliche Tat gegen meine Familie zu begehen, sie meinte nur damit eine Gewissenspflicht zu erfüllen.

Aber, im Namen alles Wunderbaren, wie war der Charakter dieser alten Frau? Lasst sie vor Euch erscheinen und für sich selber sprechen - die wilde, fast für eine Zauberin geltende Großmutter der sanften kleinen Mary, die moderne Sybille, die weit und breit in unserem Teile von Suffolk, als Dame Dermody, bekannt war.

Sie schwebt mir wiederum so deutlich vor, als ich dieses schreibe, wie sie strickend oder lesend in dem niedlichen Landhause ihres Sohnes am Wohnstubenfenster saß und das Licht auf ihre Schulter fiel. Dame Dermody war eine kleine, magere, bewegliche, alte Frau mit feurigen schwarzen Augen, die von buschigen weißen Brauen bestattet waren, mit einer hohen, gefurchten Stirn und dichtem, weißem Haar, das sauber unter einem Häubchen geordnet war. Das Gerücht behauptete und behauptete mit Recht, dass sie von Geburt und Erziehung eine Dame war und dass sie absichtlich ihre Lebensstellung aufgegeben hatte, um einen Mann zu heiraten, der dem gesellschaftlichen Rande nach weit unter ihr stand. Sie selbst bedauerte diesen Schritt nie, wie auch ihre Familie darüber denken mochte. Nach ihrer Anschauung war ihres Gatten Andenken für sie etwas Heiliges; sein Geist war der Schutzgeist, der, wachend oder schlafend, tags oder nachts, sie bewachte.

Da sie an diesem Glauben festhielt, blieb sie ganz unbeeinflusst von den modernen Auswüchsen grobsinnlicher Anschauungen, die die Gegenwart der Geister mit plumpen Verschwörungskünsten und närrischen Zeichen auf Tischen und Stühlen in Verbindung zu bringen suchen. Dame Dermodys edlerer Aberglaube bildete einen wichtigen Teil ihrer religiösen Überzeugungen - Überzeugungen, die seitdem längst in Emanuel Swedenborgs mystischen Lehren ihren Ausdruck gefunden haben. Die Werke des schwedischen Sehers waren die einzigen Bücher, die sie las. Sie vermischte Swedenborgs Lehren über Engel und abgeschiedene Geister, über Nächstenliebe und Reinheit des Wandels mit ihren eigenen milden Phantasien und verwandten Anschauungen und predigte die so gewonnenen schwärmerischen Religionslehren nicht allein im Hause des Vogtes, sondern auch aus Bekehrungsausflügen in den Häusern ihrer einfachen Nachbarn weit und breit.

Unter ihres Sohnes Dach war sie, nach dem Tode seiner Frau, die oberste Machthaberin und rühmte sich ebenso der treuen Erfüllung ihrer häuslichen Pflichten, wie des bevorzugten Verkehrs mit Engeln und Geistern. Mochte zugegen sein, wer da wollte, so hielt sie doch lange Unterreedungen mit dein Geist ihres verstorbenen Mannes und versetzte dadurch die einfältigen Zuhörer in stummes Grauen. Bei ihrer mystischen Anschauungsweise erschien ihr der Liebesbund zwischen Mary und mir als etwas so Heiliges und Schönes, dass man ihn nicht nach den niedrigen und gewöhnlichen Gesetzen der Gesellschaft beurteilen durfte. Sie schrieb für uns kleine Gebete und Lobgesänge, deren wir uns täglich, bei unserm Begegnen oder Auseinandergehen, bedienen mussten. Ihren Sohn ermahnte sie ernstlich uns als zwei junge, geheiligte Wesen zu betrachten, die auf einem himmlischen Pfade wandelten, dessen Beginn zwar hier auf Erden sei, dessen seliges Ende wir aber droben in einem besseren Sein bei den Engeln finden würden. Nun stelle man sich den Eindruck vor, als ich vor dieser Frau in Tränen der Verzweiflung gebadet erschien und ihr meinen Entschluss verkündigte: eher zu sterben, als mich durch meinen Onkel von Marys Seite reißen zu lassen - und man wird ein Verständnis für die Gastfreundschaft bekommen, welche mir das Heiligtum von Dame Dermodys Zimmer öffnete.

Ich machte einen argen Missgriff, als es Zeit war mein Versteck zu verlassen. Als ich der alten Frau nämlich beim Fortgehen dankte, sagte ich, veranlass durch meine kindischen Begriffe von Ehre: »Ich werde Sie nicht verraten, Madame. Meine Mutter soll nicht erfahren, dass Sie mich in Ihrem Schlafzimmer verborgen hielten.«

Die Sybille legte ihre dürren, knochigen Hände auf meine Schulter und drückte mich in den Stuhl, von dem ich eben aufgestanden war, zurück.

»Knabe!« rief sie, mich mit ihren feurigen Augen durchbohrend, »wagst Du zu glauben, dass ich je in meinem Leben etwas tat, dessen ich mich zu schämen hätte? Glaubst Du, dass ich mich dieser Tat schäme? Warte hier. Damit Deine Mutter mich nicht auch missversteht, werde ich ihr schreiben.«

Sie setzte ihre große, runde Brille mit der Schildpatteinfassung auf und begann zu schreiben. Sobald ihre Gedanken sie verließen oder sie einen Ausdruck suchte, den sie nicht gleich finden konnte, blickte sie über ihre Schulter, als ob ein sichtbares Wesen dort stände und ihren Brief verfolgte - es war der Geist ihres Mannes, den sie so zu Rate zog, wie man einen lebenden Menschen befragt - sanft lächelnd schrieb sie dann ruhig weiter. »So!« sagte sie und reichte mir den Brief mit einer herablassenden Gebärde: »Seine Ansicht und die meine sind hier niedergeschrieben. Geh Kind, ich verzeihe Dir. Diesen Brief gib Deiner Mutter.«

Sie sprach immer mit derselben Förmlichkeit und würdigen Gemessenheit in Ausdruck und Bewegung.

Ich brachte meiner Mutter den Brief. Wir lasen und bestaunten ihn gemeinschaftlich. Beeinflusst durch den immer gegenwärtigen Geist ihres Gatten, hatte Dame Dermody also geschrieben:

»Madame! - Ich nehme mir nach Ihrer Ansicht wohl eine große Freiheit heraus, indem ich Ihnen schreibe. Ich bin Ihrem Sohne behilflich gewesen seinem Onkel Trotz zu bieten. Ich habe Ihren Sohn George in seinem Vorsatze, meiner Enkelin Mary Dermody in Zeit und Ewigkeit treu zu sein, bestärkt.

Ich bin Ihnen und mir selbst die Erklärung der Beweggründe schuldig, die mich zu diesem Schritt veranlassen.

Ich glaube, dass jede wahre Liebe im Himmel vorausbestimmt und geweiht ist. Geister, die zu einer ewigen Vereinigung in einer besseren Welt bestimmt sind, haben die göttliche Weisung sich hienieden zu suchen und in dieser Welt ihren Bund zu schließen. Nur wo die für einander bestimmten Geister sich hinieden finden, kann eine glückliche Ehe geschlossen werden.

Sind die verwandten Geister sich einmal begegnet, so vermag keine Macht sie zu trennen. Dem göttlichen Befehl zufolge müssen sie sich immer wieder finden und wieder vereinigen. Mag weltliche Weisheit sie in ganz verschiedene Lebensbahnen zwingen; mag weltliche Weisheit sie täuschen oder mögen sie sich selber täuschend einen irdischen, falschen Bund schließen, das ändert nichts. Die Zeit muss kommen, wo dieser Bund sich als irdisch und falsch erweist und wo die beiden getrennten Geister sich hier wiederfinden, um sich hinieden für das Jenseits zu vereinen - zu vereinen, sage ich, trotz aller menschlichen Satzungen, trotz aller weltlichen Begriffe von Recht und Unrecht.

Das ist mein Glaube und ich habe ihn durch mein eigenes Leben bewährt. Als Mädchen, wie als Gattin und als Witwe, habe ich daran festgehalten und ich habe ihn richtig erfunden.

Ich bin in der Lebensstellung geboren, zu der auch Sie gehören, Madame. Man unterrichtete mich in dem niedrigen, materiellen Wissen, das den weltlichen Begriff von Erziehung bildet. Gott sei es gedankt, dass der mir verwandte Geist dem meinen in frühen Jahren schon begegnete, ich lernte wahre Liebe und wahre Geistesgemeinschaft kennen bevor ich zwanzig Jahre alt wurde. Mein Mann gehörte den arbeitenden Klassen an, ich heiratete also in die Gesellschaftsschicht hinein, Madame, aus der Christus einst seine Jünger wählte. Kein irdisches Wort kann genugsam das Glück bezeichnen, das ich schon in unserer Vereinigung hinieden fand - sein Tod hat uns nicht getrennt. Er steht mir bei, während ich diesen Brief schreibe. In meiner letzten Stunde werde ich ihn sehen, wie er an den Ufern des glänzenden Flusses unter der Engelschar steht und mich erwartet.

Sie werden nun begreifen, mit welchen Blicken ich das Band betrachte, welches die jugendlichen Geister unserer Kinder, schon bei ihren ersten Schritten in das Leben, verbindet.

»Glauben Sie mir, die Tat, die Ihres Gatten Bruder von Ihnen forderte, war eine Entheiligung und Entweihung. Ich gestehe offen, dass ich das, was ich in dieser Angelegenheit tat, um die Absichten Ihres Verwandten zu durchkreuzen, für ein Gebot der Tugend halte. Sie können von mir nicht erwarten, dass ich den Zufall, dass Ihr Sohn des Herrn Erbe und meine Enkelin des Vogtes Tochter ist, als ein ernstliches Hindernis für eine Vereinigung betrachte, die im Himmel vorausbestimmt ist. Werfen auch Sie, ich beschwöre Sie, die unwürdigen und unchristlichen Standesvorurteile ab. Sind wir vor Gott nicht alle gleich? Sind wir nicht auch selbst vor dieser Welt vor Elend und Tod gleich? Von der Beachtung meiner Worte hängt nicht allein Ihres Sohnes Glück, sondern Ihr eigener Seelenfrieden ab. Es wird Ihnen nicht gelingen, Madame, in späteren Jahren den vorausbestimmten Ehebund dieser beiden Kindergeister zu verhindern, dess' seien sie versichert. Trennen Sie sie jetzt und - Sie werden die Verantwortung für alle Opfer, Erniedrigungen und Schmerzen zu tragen haben, durch die Ihr George und meine Mary in ihrem späteren Leben den Rückweg zueinander suchen müssen.

Jetzt ist mein Gewissen seiner Bürde enthoben. Ich habe Alles gesagt.

Habe ich zu frei gesprochen oder Ihnen ohne mein Wissen wehe getan, so erbitte ich mir Ihre Verzeihung, Madame, und verharre, mit treuen Wünschen für ihr Wohlergehn Ihre ergebene Dienerin

Helene Dermody.«

So endete der Brief.

Mir gilt er mehr als eine bloße seltsame Probe von Briefstellerei. Mir ist er die wunderbar in späteren Jahren erfüllte Prophezeiung von Ereignissen in Marys und meinem Leben, die die folgenden Seiten enthüllen werden.

Meine Mutter beschloss den Brief unbeantwortet zu lassen. Sie fürchtete, wie viele ihrer ärmeren Nachbarn, Dame Dermody ein wenig und war, nebenbei, allen Abhandlungen über die Mysterien des Geisterlebens abgeneigt. Ich wurde gescholten, verwarnt und mit ihrer Verzeihung entlassen - so endete die Sache.

Für einige glückliche Wochen kehrten Mary und ich, ungestört und ungehindert, zu unserem früheren, innigen Verkehr zurück. Leider aber kam das Ende, als wir es am wenigsten erwarteten. Eines Morgens erhielt meine Mutter einen Brief von meinem Vater, worin er sie zu ihrem Erstaunen benachrichtigte, dass er unverhofft gezwungen worden sei, sofort nach England abzusegeln und auch bereits in London angekommen sei, wo ihn unverschiebbare Geschäfte noch zurückhielten. So wie er sich frei machen könne, würde er kommen, wir könnten ihn also täglich erwarten.

Diese Nachrichten erfüllten das Gemüt meiner Mutter mit ahnungsvollen Zweifeln über das Gelingen der großen Spekulationen ihres Gatten in Amerika. Seine plötzliche Abreise aus den Vereinigten Staaten, der geheimnisvolle Aufenthalt in London, waren in ihren Augen Vorboten herannahender Missgeschicke. Ich schreibe jetzt von jenen dunklen Tagen der Vergangenheit, als Eisenbahnen und elektrische Telegraphen nur noch goldene Träume in den Köpfen ihrer Erfinder waren. So war ein schneller Verkehr mit meinem Vater unmöglich, selbst wenn er darein gewilligt hätte, uns in sein Vertrauen zu ziehen. Uns blieb keine Wahl, als zu hoffen und zu harren.

Langsam vergingen die Tage - und immer noch sagten uns meines Vaters flüchtige Briefe, dass er in London zurückgehalten würde. So kam der Morgen, wo Mary und ich mit dem Vogte Dermody ausgingen, um die letzten wilden Vögel in den Entenfang locken zu sehen - und noch immer harrte man daheim, um den Herrn des Hauses zu begrüßen und harrte noch immer vergebens.

Drittes Kapitel

Swedenborg und die Sybille

Ich nehme meine Erzählung an der Stelle wieder auf, wo ich sie im ersten Kapitel fallen ließ.

Wie man sich erinnern wird, hatten Mary und ich den Vogt im Entenfange allein gelassen und hatten uns auf den Weg nach Dermodys Hause gemacht.

Als wir uns dem Gartengitter näherten, sah ich einen Diener unseres Hauses dort warten. Er brachte eine Botschaft von meiner Mutter - eine Botschaft für mich.

»Mr. George, meine Herrin wünscht, dass Sie sobald als möglich nach Hause kommen, es ist ein Brief mit der Post gekommen. Der Herr beabsichtigt von London einen Postwagen zu nehmen und benachrichtigt uns, dass wir ihn im Laufe des Tages erwarten können.«

Marys gespanntes Gesicht verdüsterte sich bei diesen Worten. »Musst Du wirklich gehn, George,« flüsterte sie, »ehe Du gesehen hast, was dich hier zu Hause erwartet?«

Mir fiel Marys verheißene »Überraschung« ein, deren Geheimnis erst enthüllt werden sollte, wenn wir im Hause wären. Wie konnte ich sie betrüben? Mein armes, kleines Herzblatt begann fast, bei dem bloßen Gedanken daran, schon zu weinen.

Ich entließ den Diener mit der vertröstenden Bestellung, dass ich meine Mutter grüßen ließe und in einer halben Stunde nach Hause zurückkehren würde.

Wir gingen ins Haus.

Dame Dermody saß wie gewöhnlich am Fenster, auf ihrem Schoße lag geöffnet eines von Emanuel Swedenborgs mystischen Büchern. Bei unserem Eintreten erhob sie feierlich die Hand und gab uns ein Zeichen, dass wir uns in unsere gewohnte Ecke zurückziehen sollten, ohne mit ihr zu sprechen. Es galt als ein Akt des häuslichen Hochverrats, wenn man die Sybille bei ihren Büchern störte. Wir schlichen still auf unsere Plätze. Mary wartete, bis ihrer Großmutter graues Haupt sich neigte und ihrer Großmutter buschige Augenbrauen sich aufmerksam über ihrem Buche zusammenzogen. Da erst erhob sich das bescheidene Kind auf den Zehenspitzen, verschwand geräuschlos in der Richtung ihrer Schlafkammer und trug, zu mir zurückkehrend, etwas in der Hand, das sie vorsichtig in ihr bestes, baumwollenes Taschentuch gehüllt hatte.

»Ist das die Überraschung?« flüsterte ich.

Mary erwiderte ebenso: »Rate, was es ist!«

»Etwas für mich?«

»Ja. Rate. Was ist es?«

Ich riet drei Mal - und jedes Mal riet ich falsch. Mary entschloss sich mir durch einen Wink zu Hilfe zu kommen.

»Sage die Buchstaben her,« meinte sie, »und fahre fort bis ich Dich unterbreche.«

Ich begann: »A, B, E, D, E, F« - Hier unterbrach sie mich.

»Es ist der Name einer Sache,« sagte sie. »Er beginnt mit F.«

Ich riet »Farnkraut«, »Feder«, »Fünf« - da war meine Weisheit zu Ende.

Mary seufzte und schüttelte den Kopf. »Du gibst Dir keine Mühe,« sagte sie. »Du bist drei ganze Jahre älter als ich. Nach aller der Mühe, die ich mir gegeben habe Dich zu erfreuen, bist Du nun am Ende zu groß, um dir aus meinem Geschenk etwas zu machen, wenn Du es siehst. Rate weiter.«

»Ich kann nicht raten.«

»Du musst!«

»Ich gebe es auf!«

Mary wollte nicht, dass ich aufhörte zu raten. Sie kam mir durch einen anderen Wink zu Hilfe.

»Was wünschtest Du neulich in Deinem Boot zu haben?« fragte sie.

»Ist es schon lange her, als ich es wünschte?« fragte ich, verlegen um eine Antwort.

»Lange, lange ist es her! Es war noch vor dem Winter, als im Herbst die Blätter fielen und Du mich zu einer Wasserfahrt abholtest. Oh, George, Du hast es vergessen!«

Ihre Worte waren nur zu wahr in Bezug auf mich, wie auf alle meine alten und jungen Mitbrüder. Es ist überall seine Liebe, die vergessen kann und ihre Liebe, die alles treu im Gedächtnis bewahrt. Wir waren nur zwei Kinder und doch war der Typus von Mann und Weib schon so bezeichnend in uns ausgeprägt! Mary verlor die Geduld. Trotz der furchtbaren Gegenwart ihrer Großmutter sprang sie auf und riss das Taschentuch von dem verborgenen Gegenstande.

»Hier!« rief sie aus, »weißt Du nun, was es ist?«

Endlich fiel es mir ein. Der Gegenstand, den ich mir monatelang für mein Boot gewünscht hatte, war eine neue Flagge. Und nun hatte Mary eigenhändig eine neue Flagge für mich gearbeitet! Auf grünseidenem Grunde war eine weiße Taube gestickt, die den herkömmlichen Ölzweig, aus Goldfäden gearbeitet, im Schnabel hielt. Die Arbeit war das unsichere, zaghafte Werk kindlicher Finger. Wie treulich hatte mein kleiner Liebling meinen Wunsch behalten - wie geduldig hatte sie ihre Nadel auf dem aufgezeichneten Muster hin- und hergleiten lassen, - wie fleißig hatte sie in den trüben Wintertagen gearbeitet; und das Alles für mich! Wie konnte ich orte finden ihr meinen Stolz, meine Dankbarkeit, mein Glück auszusprechen? Auch ich vergaß die Anwesenheit der über ihr Buch gebeugten Sybille - ich schloss die kleine, fleißige Arbeiterin in meine Arme und küsste sie, bis ich ganz außer Atem war und nicht mehr küssen konnte.

»Mary!« rief ich im ersten Feuer meines Enthusiasmus aus, »heute kehrt mein Vater heim. Ich will heute Abend mit ihm sprechen und morgen heirate ich Dich.«

»Knabe!« sagte die ehrfurchtgebietende Stimme am anderen Ende des Zimmers, »komm her!«

Dame Dermodys mystisches Buch war geschlossen und Dame Dermodys zauberische schwarze Augen beobachteten uns in unserer Ecke. Ich näherte mich ihr und Mary folgte mir schüchtern Schritt für Schritt.

Die Sybille fasste mich in einer so milden, liebkosenden Weise bei der Hand, wie sie mir ganz neu an ihr war.«

»Ist Dir dieses Spielzeug teuer?« fragte sie, auf die Flagge deutend. »Verbirg es!« rief sie, ehe ich ihr antworten konnte, »verbirg es oder es wird dir genommen werden!«

»Warum soll ich es verbergen?« fragte ich. »Es soll eben am Maste meines Bootes wehen.«

»Nimmer wird das geschehen!« Bei diesen Worten nahm sie die Flagge aus meiner Hand und steckte sie ungeduldig in die Brusttasche meiner Jacke.

»Zerknittere sie nicht, Großmutter!« rief Mary bittend.

Ich wiederholte meine Frage:

»Warum soll sie nie an dem Maste meines Bootes wehen?«

Dame Dermody legte ihre Hand auf das geschlossene Buch von Swedenborg, das in ihrem Schoße lag.

»Seit diesem Morgen habe ich das Buch drei Mal aufgeschlagen,« sagte sie. »Dreimal verkünden mir die Worte des Propheten, dass Sorgen heranziehen. Kinder! Diese Sorgen werden über Euch kommen! Wenn ich dorthin blicke,« fuhr sie fort, indem sie auf eine Stelle im Zimmer wies, die ein Sonnenstrahl beschien, »so sehe ich meinen Gatten im himmlischen Licht. Er beugt kummervoll sein Haupt und weist mit seiner nimmerirrenden Hand auf Euch. George und Mary, Ihr seid einander geweiht; bleibt immer dieser Weihe, bleibt Eurer selbst würdig.« Sie schwieg. Ihre Stimme bebte. Ihre Augen ruhten mit jenem sanften, trüben Blick auf uns, der von einer nahen Trennungsstunde sprach. »Kniet nieder!« sagte sie im leisen Tone der Furcht und des Kummers. »Zum letzten Male segne ich Euch! Zum letzten Male bete ich für Euch in diesem Hause. Kniet nieder!«

Wir knieten noch beieinander zu ihren Füßen. Ich fühlte Marys erregten Herzschlag, als sie sich enger und enger an mich schmiegte. Ich fühlte die Schläge meines eigenen Herzens sich unter dem Einflusse einer Furcht verdoppeln, die mir unerklärlich war.

»Gott segne und behüte George und Mary jetzt und immerdar. Gott fördre in Zukunft ihre Vereinigung, die seine Weisheit ja beschlossen hat. Amen. So sei es. Amen.«

Als sie die letzten Worte ausgesprochen hatte, wurde die Haustür aufgerissen. Mein Vater, - von dem Vogt gefolgt - trat ins Zimmer. Dame Dermody erhob sich langsam und musterte ihn mit strengen Blicken.

»Das Verhängnis bricht herein,« sagte sie zu sich selbst, »es blickt mit den Augen - es spricht mit der Stimme dieses Mannes.«

Sich zu dem Vogte wendend, brach mein Vater das Schweigen.

»Ich finde meinen Sohn in Eurem Zimmer, Dermody«, sagte er, »wie Ihr seht, statt dass er in meinem Hause ist.« Geduldig aus die Gelegenheit zum Sprechen wartend, stand ich und hatte meine Arme um die kleine Mary geschlungen, als er sich zu mir wendete. »George,« sagte er, mit dem herben Lachen, welches ihm eigentümlich war, wenn er seinen Zorn verbergen wollte, »du machst Dich zum Narren. Lass das Kind und komme zu mir.«

Jetzt oder niemals musste ich mich erklären. Dem Anscheine nach war ich noch ein Knabe. Meinem eigenen Gefühl nach bedurfte es eines Augenblicks, um mich zum Manne zu entwickeln.

»Papa,« sagte ich, »ich freue mich, dass Du heimgekehrt bist. Dies ist Mary Dermody, die ich liebe und die mich wieder liebt. Ich möchte sie heiraten sobald als Du und meine Mutter es gestatten.« Mein Vater brach in lautes Gelächter aus, doch bevor ich weiter sprechen konnte, wechselte seine Stimmung. Er hatte beobachtet, dass Dermody sich anschickte, die Sache auch scherzhaft aufzufassen. Im nächsten Augenblick schien er wild vor Wut zu werden. »Man hat mich von diesem höllischen Narrenspiel in Kenntnis gesetzt,« sagte er, »aber ich habe bis jetzt nicht daran glauben wollen. Wer hat des Knaben schwachen Kopf verdreht? Wer hat ihn ermutigt, dieses Mädchen zu umarmen? Wenn Ihr es waret, Dermody, so war das die schlechteste Tagearbeit, die Ihr in Eurem Leben getan habt.« Er wandte sich wieder zu mir, ehe der Vogt sich verteidigen konnte. »Hörst Du was ich sage? Ich befehle Dir Dermodys Tochter zu verlassen und mit mir nach Hause zu kommen.«

»Jawohl, Papa,« sagte ich, »aber wenn ich bei Dir gewesen bin, gestattest Du doch, dass ich zu Mary zurückkehre.«

Trotz seines Ärgers wurde mein Vater ganz stutzig über meine Verwegenheit.

»Deine Unverschämtheit übersteigt Alles, junger Narr,« brach er los. »Ich sage Dir, dass Dein Fuß nie wieder diese Schwelle betreten wird! Man hat Dich gelehrt mir den Gehorsam zu verweigern. Man hat Dir hier Dinge in den Kopf gesetzt, die kein Knabe Deines Alters wissen darf, die kein anständiger Mensch Dir beigebracht haben würde - weiter will ich nichts sagen.«

»Verzeihung, Herr,« unterbrach ihn Dermody sehr ehrerbietig, aber gleichzeitig sehr bestimmt, »es gibt viele Dinge, welche ein Herr das Vorrecht hat, seinem Diener in der Erregung zu sagen, aber Sie haben dieses Vorrecht überschritten. Sie haben mich in Gegenwart meiner Mutter und vor den Ohren meines Kindes beschimpft.«

Hier fiel ihm mein Vater ins Wort.

»Erspart Euch das Ende,« sagte er. »Wir sind nicht länger Herr und Diener. Als mein Sohn Euer Haus zu besuchen anfing und mit Eurer Tochter zu tändeln begann, war es Eure Pflicht ihm Eure Tür zu verschließen. Ihr habt Eure Pflicht versäumt, ich kann Euch nicht länger trauen. Ich kündige Euch hiermit für den nächsten Monat Euren Dienst, Dermody.«

Nun stand der Vogt mit meinem Vater auf neutralem Boden. Er war nicht länger der bequeme, sanfte, bescheidene Mann, als den ich ihn kannte.

»Ich erlaube mir Ihre Kündigung für den nächsten Monat abzulehnen, mein Herr,« erwiderte er. »Sie sollen keine Gelegenheit haben mir das eben Gesagte zu wiederholen. Ich werde Ihnen heute Abend meine Rechnungen zuschicken und werde morgen Ihren Dienst verlassen.«

»So sind wir doch in einer Sache einverstanden,« sagte mein Vater, »je eher Ihr geht, je besser.«

Er schritt durch das Zimmer und legte seine Hand auf meine Schulter.

»Höre mich an,« sagte er, indem er eine letzte Anstrengung zur Selbstbeherrschung machte. »Ich mag vor einem entlassenen Diener nicht mit Dir streiten. Dieser Unsinn muss ein Ende haben. Verlass diese Leute, damit sie aufpacken und gehn können - und komm mit mir nach Hause.«

Seine schwere Hand, die auf meine Schulter drückte, schien den Geist des Widerspruchs in mir zu erdrücken. Ich gab in so weit nach, als ich ihn durch Bitten zu erweichen versuchte.

»Ach Papa! Papa!« rief ich aus, »trenne mich nicht von Mary! Sieh wie hübsch und gut sie ist! Sie hat mir eine Flagge für mein Boot gestickt. Lass mich zuweilen her gehen und sie sehen, ich kann nicht ohne sie leben.«

Weiter konnte ich nichts sagen. Meine arme, kleine Mary brach in Tränen aus, aber ihre Tränen rührten meinen Vater eben so wenig, als meine Bitten.

»Wähle,« sagte er, »ob Du gutwillig mit mir kommen willst oder ob ich Gewalt brauchen soll. Ich werde Dich und Dermodys Tochter trennen.«

»Weder Sie noch irgend ein Mensch kann sie trennen,« warf eine Stimme aus dem Hintergrunde dazwischen, »geben Sie diesen Gedanken auf, Herr, ehe es zu spät ist.«

Mein Vater sah sich schnell um und bemerkte Dame Dermody, die hell vom Fenster beleuchtet vor ihm stand. Sie hatte sich beim Beginn des Streites in die Ecke am Kamin zurückgezogen. Dort hatte sie ihre Zeit abgewartet und verließ nun ihren stillen Winkel bei meines Vaters letzter Drohung, um zu sprechen.

Sie blickten sich einen Augenblick lang an. Mein Vater schien es unter seiner Würde zu halten, ihr zu antworten und fuhr also in dem fort, was er mir zu sagen hatte:

»Ich werde langsam bis drei zählen, bevor ich die letzte Zahl ausspreche, entschließe Dich zu tun, was ich von Dir fordere, oder füge Dich der Schande, mit Gewalt fortgeschleppt zu werden.«

»Bringt ihn, wohin Ihr wollt,« sagte Dame Dermody, »er wird immer auf dem Wege bleiben, der zur Verheiratung mit meiner Enkelin führt.«

»Und wo werde ich bleiben, wenn's beliebt?« fragte mein Vater, der nun doch versucht war mit ihr zu sprechen.

Die Antwort erfolgte sofort in den wunderbaren Worten: -

»Sie werden dann auf dem Wege zu Ihrem Untergange und zu Ihrem Tode sein.«

Mein Vater kehrte der Prophetin mit einem verächtlichen Lächeln den Rücken.

»Eins!« begann er zu zählen.

Ich biss die Zähne zusammen und schlang beide Arme um Mary, als er sprach. Er sollte jetzt erfahren, dass ich etwas von seinem Charakter geerbt hatte.

»Zwei!« fuhr mein Vater nach einer kleinen Weile fort.

Mary flüsterte mir mit bebenden Lippen ins Ohr: »Lass mich hinaus gehen, George! Ich kann es nicht ertragen, sieh, wie er grollt, ich weiß er wird Dir weh tun!«

Mein Vater erhob seinen Zeigefinger, um mich noch einmal zu warnen, ehe er Drei zählte.

»Haltet ein!« schrie Dame Dermodv.

Mein Vater sah sich mit höhnischem Erstaunen nach ihr um.

»Verzeihen Sie, Madame, - haben Sie mir irgendetwas Wichtiges zu sagen?« fragte er.

»Mann!« erwiderte die Sybille, »Ihr sprecht leichtfertig. Habe ich auch leichtfertig zu Euch gesprochen? Lasst Euch warnen, beugt Euren gottlosen Willen vor dessen Willen, der mächtiger ist als Ihr. Die Geister dieser Kinder sind verwandt, sie sind für Zeit und Ewigkeit verbunden. Trennt sie durch Land und Meer, - sie bleiben doch vereint; sie werden durch Visionen miteinander verkehren; sie werden in Träumen beieinander sein. Bindet sie mit irdischen Banden; vermählt Euren Sohn einem anderen Weibe, gebt meiner Enkelin einen anderen Mann - umsonst! Ich sage Euch, es ist umsonst! Ihr könnt sie zum Elend verdammen, - Ihr könnt sie zur Sünde treiben, - der Tag, wo sie sich auf Erden wiederfinden werden, ist dennoch im Himmel voraus bestimmt. Er muss kommen! Und wird kommen! Unterwerft Euch dem Schicksal nun es Zeit ist. Ihr seid ein Verurteilter! Ich sehe auf Eurem Gesicht die Schatten des Unheils, ich sehe das Siegel des Todes darauf. Geht und lasst diese füreinander bestimmten Wesen ihren dunklen Weg durch das Leben gemeinsam gehen, in der Kraft ihrer Unschuld» im Lichte ihrer Liebe. Geht - und Gott möge Euch vergeben.«

Gegen seinen eigenen Willen war mein Vater erstaunt über die unwiderstehliche Macht der Überzeugung, die aus diesen Worten sprach. Die Mutter des Vogtes hatte auf ihn den Eindruck gemacht, wie eine tragische Schauspielerin auf der Bühne ihn ihm gemacht haben würde. Die höhnische Antwort war auf seinen Lippen erstorben - aber sein eiserner Wille war nicht erschüttert. Sein Gesicht war so streng wie zuvor, als er sich wieder zu mir wendete.

»Entschließe Dich, George!« sagte er - und zählte: »Drei!« -

Ich stand stumm und regungslos.

»So willst Du denn nicht anders?« sagte er und packte meine Hand.

Ich hielt Mary fest und flüsterte ihr zu: »Ich lasse dich nicht!« Sie schien mich nicht zu hören und zitterte von Kopf bis Fuß in meinen Armen. Ein schwacher Aufschrei entrang sich ihren Lippen. Dermody trat zu mir und ehe mein Vater mich von ihr losreißen konnte, sagte er mir ins Ohr: »Ihr könnt sie mir anvertrauen, Mr. George!« Damit entwand er sein Kind meiner Umarmung. Als sie in Dermodys Armen lag, streckte sie ihre kleine, zarte Hand verlangend nach mir aus. »Lebewohl, Geliebtester!« flüsterte sie. Als ich zur Tür geschleppt wurde, sah ich ihren Kopf an ihres Vaters Brust sinken. In meiner machtlosen Wut und Verzweiflung bot ich alle meine Kraft auf, mich den grausamen Händen zu entwinden, die mich umklammerten. Ich rief ihr zu: »Ich liebe Dich, Mary! Ich werde zu Dir zurückkehren und nie ein andres Weib heiraten, als Dich! Schritt für Schritt wurde ich vorwärts gestoßen. Das Letzte, was ich sah, war noch, wie meines Lieblings Kopf an ihres Vaters Brust lehnte. Neben ihr stand ihre Großmutter und - meinem Vater drohend, rief sie ihm, in der fieberhaften Aufregung, in die sie durch die vollzogene Trennung versetzt war, ihre furchtbare Prophezeiung noch einmal nach! »Geht! - Ihr geht ins Verderben! In den sicheren Tod!« Während ihre Worte noch in meinen Ohren widerhallten, wurde die Haustür geöffnet und geschlossen. Es war Alles vorbei. Die bescheidene Welt meiner Kinderliebe und meiner Kinderfreuden sank wie ein Traumbild vor mir zusammen. Die Wildnis draußen, die meines Vaters Welt war, öffnete sich mir - liebeleer, - freudenleer. Gott verzeihe mir - wie ich meinen Vater in jenem Augenblick hasste! -

Viertes Kapitel

Der Vorhang fällt

Den Tag über und während der nächsten Nacht wurde ich als Gefangener in einem Zimmer gehütet. - Ein Mann, auf dessen Zuverlässigkeit mein Vater bauen konnte, bewachte mich.

Am nächsten Morgen machte ich einen Fluchtversuch, wurde aber entdeckt ehe ich das Haus verlassen hatte. Wieder in mein Zimmer verbannt, gelang es mir an Mary zu schreiben und meinen Brief den willigen Händen des Hausmädchens, die mich bediente, zu übermitteln. Vergebene Mühe! Die Wachsamkeit meines Hüters war nicht zu täuschen. Er beargwöhnte das Mädchen, verfolgte sie und nahm ihr den Brief ab. Mein Vater zerriss ihn eigenhändig.

Im Laufe des Tages wurde meiner Mutter gestattet, mich zu besuchen. Die arme Seele war nicht fähig für mich einzutreten oder meine Rechte wahrzunehmen. Sie war ganz benommen durch die Mitteilung meines Vaters, dass bei seiner Rückkehr nach Amerika, seine Frau und sein Sohn ihn begleiten sollten.

»Er steckt jeden Pfennig, den er besitzt in diese verhasste Spekulation,« sagte meine Mutter. »Er hat in London Geld aufgenommen; hat sein Haus auf sieben Jahre an einen reichen Kaufmann vermietet und hat das Silbergeschirr und die Juwelen verkauft, die ich von seiner Mutter geerbt hatte. Die Ländereien in Amerika verschlingen das alles. Wir haben keine Heimat, George, und es bleibt uns keine Wahl, als ihm zu folgen.«

Eine Stunde später stand der Postwagen vor der Tür.

Mein Vater brachte mich selbst in den Wagen. Ich riss mich mit einer Verzweiflung von ihm los, der selbst seine Entschlossenheit nicht Widerstand leisten konnte. Ich lief, ich flog den Pfad entlang, der zu Dermodys Hause führte. Die Tür stand offen; das Wohnzimmer war leer, ich ging in die Küche, ich stieg zu den oberen Zimmern hinauf. Überall Stille. Der Vogt hatte den Ort verlassen und seine Mutter und Tochter waren mit ihm gegangen. Kein Freund oder Nachbar war mit einer Botschaft für mich betraut; nirgends lag ein Brief für mich; kein Zeichen verriet mir auf welchem Wege sie von dannen gezogen waren. Dermody setzte seinen Stolz darin, keine Spur eines Daseins zurückzulassen, nachdem sein Herr ihn so tief beleidigt hatte; mein Vater hätte ja glauben können, dass er mir absichtlich, um mich zu Mary zu leiten, ein Zeichen gegeben. Ich hatte kein Andenken, das mir von meinem verlorenen Liebling sprach, außer der Flagge, die sie eigenhändig gestickt hatte. Die Einrichtung war im Hause geblieben. Ich setzte mich in der gewohnten Ecke neben Marys leerem Stuhle nieder, sah meine liebe, grüne Flagge an und brach in heiße Tränen aus.

Eine leichte Berührung schreckte mich auf. Mein Vater hatte so weit nachgegeben, dass er meiner Mutter die Verantwortlichkeit übertrug, mich zu dem Reisewagen zurückzuführen.

»Hier können wir Mary nicht mehr finden, George,« sagte sie sanft. »Vielleicht hören wir in London von ihr. Komm mit mir.«

Ich stand auf und reichte ihr schweigend die Hand.

Als wir die reine, weiße Schwelle überschritten, fiel mein Auge auf einen kleinen Gegenstand, der dort lag. Ich hob ihn auf und sah einige mit Bleistift geschriebene Zeilen, bei näherer Beobachtung erkannte ich Marys Hand. In ungeübten, kindlichen Schriftzügen hatte sie mir ein letztes Lebewohl zurückgelassen:

»Lebe wohl, Teurer. Vergiss nie Deine Mary.«

Ich kniete nieder und küsste die Schrift. Sie tröstete mich - sie war mir wie ein letzter Händedruck von Mary. Still folgte ich nun meiner Mutter in den Wagen.

Am Abend spät kamen wir in London an.

Meine Mutter tat Alles, was ihr ihre eigene traurige Lage gestattete, um mich liebevoll zu trösten. Sie schrieb selbst an die Anwälte ihrer Familie, übersandte ihnen eine genaue Beschreibung von Dermody und seiner Mutter und Tochter und ersuchte sie in allen Reisebureaux in London nach ihnen zu forschen. Auch an zwei Verwandte von Dermody, die in der City wohnten, verwies sie sie, vielleicht wussten diese etwas über sein Verbleiben, nachdem er meines Vaters Dienst verlassen hatte. Damit hatte sie das Mögliche für mich getan, denn zu Zeitungsannoncen besaßen wir leider nicht Geld genug.

Eine Woche später segelten wir nach den Vereinigten Staaten ab. Bis dahin fragte ich zwei Mal bei den Anwälten nach, ob sie etwas erfahren, hörte aber leider beide Male, dass die Nachforschungen zu keinem Resultat geführt hatten.

Hiermit endet der erste Abschnitt meiner Liebesgeschichte.

Zehn Jahre lang sah ich nichts von meiner kleinen Mary, - ich erfuhr selbst nicht einmal ob sie noch lebte, um zum Weibe heranzureifen. Die grüne Flagge mit der gestickten Taube bewahrte ich sorgsam - übrigens hatten die Wogen der Vergessenheit sich über den goldenen Tagen an der »Grünwasser-Fläche« geschlossen.

Fünftes Kapitel

Meine Geschichte

Ihr habt mich zuletzt als einen dreizehnjährigen Knaben gesehen. Jetzt bin ich ein Mann von dreiundzwanzig Jahren.

Die Geschichte der Zeit, die zwischen diesen beiden Lebensepochen liegt, ist bald erzählt.

Um zuerst von meinem Vater zu reden, habe ich nur zu bestätigen, dass das Ende seiner Laufbahn in der Tat so war, wie Dame Dermody es vorausgesagt hatte. Ehe wir noch ein Jahr in Amerika waren, folgte sein Tod schon dem gänzlichen Zusammensturz seiner Spekulationen in Ländereien. Der Ruin war vollständig. Hätte meine Mutter nicht das kleine Einkommen gehabt, was bei ihrer Verheiratung für sie festgestellt war, so waren wir der Gnade fremder Menschen erbarmungslos anheimgefallen.

Wir hatten einige gütige Freunde unter den warmherzigen und gastfreien Bewohnern der Vereinigten Staaten gefunden, von denen wir mit aufrichtigem Bedauern schieden; triftige Gründe bestimmten uns aber nach meines Vaters Tode in unsere Heimat zurückzukehren - so reisten wir denn ab.

Außer ihrem Bruder, dessen ich schon früher in dieser Erzählung erwähnte, hatte meine Mutter noch einen anderen Verwandten, - einen Vetter, namens Germaine, auf dessen Beistand sie sehr hoffte, wenn die Zeit herangekommen sein würde, wo ich irgendeinen Beruf erwählen musste. Ich erinnere mich als ein Familiengeheimnis gehört zu haben, dass Herr Germaine, als beide jung waren, sich vergeblich um die Hand meiner Mutter beworben haben sollte. Als er zu einer späteren Zeit durch den Tod seines Bruders, der ohne Erben starb, in den Besitz eines hübschen Vermögens kam, war er noch Junggesell. Der erlangte Reichtum änderte seine Lebensgewohnheiten nicht; er war ein einsamer Mann, allen seinen anderen Verwandten entfremdet, als meine Mutter und ich nach England zurückkehrten. Wenn es mir nur gelang Herrn Germaine zu gefallen, so konnte ich, wenigstens in gewisser Beziehung, meine Aussichten im Leben für gesichert halten.

Dieses war der eine Grund, der uns bestimmte Amerika zu verlassen. Es gab aber noch einen zweiten, - für mich allein bestimmenden - der mich unwiderstehlich zu den einsamen Ufern der Grünwasser-Fläche zurückzog.

Meine einzige Hoffnung eine Spur von Mary zu entdecken lag in der Möglichkeit, unter den Bewohnern der Nachbarschaft meiner alten Heimat Nachforschungen anstellen zu können. Der gute Vogt war in seinem engen Lebenskreise herzlich geliebt und geachtet gewesen. Es war wenigstens nicht unmöglich, dass einer oder der andere seiner vielen Freunde in Suffolk, im Laufe des Jahres, das ich fern von England verlebte, eine Spur von ihm entdeckt hatte. In meinen Träumen von Mary - und ich träumte immer von ihr, - bildete oft der See mit seinen waldigen Ufern den Hintergrund für das Bild, das mein Geist sich von der verlorenen Gefährtin schuf. Zu den Ufern des Sees blickte ich, mit freudiger Ahnung, als zu dem einzigen Leben vorwärts, das für mich glückverheißend war - zu einem Leben mit Mary.

Gleich nach unserer Ankunft in London reiste ich, auf meiner Mutter Wunsch allein nach Suffolk ab. Sie schreckte natürlich, in ihrem vorgerückten Lebensalter, vor dem Gedanken zurück, ihre alte Heimat, in der nun die Fremden walteten, denen wir sie überlassen hatten, so verändert wieder zu sehen.

O, wie schlug mein Herz, jung wie ich war, als ich die wohlbekannten grünen Wogen des Sees wiedersah! Es war Abend. Der erste Gegenstand, den mein Auge erblickte, war mein altes Boot in seinen heiteren Farben, wie oft hatten Mary und ich darin miteinander den See durchkreuzt! Jetzt fuhren die neuen Bewohner unseres Hauses darin. Der Widerhall ihres fröhlichen Lachens zog über den stillen See zu mir herüber. Ihre Flagge wehte von der kleinen Mastspitze, an der der fröhliche Wind Marys Flagge nie bewegen sollte. Ich wendete mich von dem Boote ab, - es schmerzte mich, es zu sehen. Wenige Schritte vorwärts brachten mich zu einem Vorsprung des Ufers, von wo sich mir der Entenfang an der gegenüberliegenden Seite zeigte. Da war der Zaun, hinter dem wir gekniet hatten, um dem Fangen der Enten zuzusehen; dort war das Loch, durch welches »Trim«, der Dachshund, sich gezeigt hatte, um die Neugierde der einfältigen Wasservögel zu erregen; dort, durch die Bäume schimmernd, wand sich der Waldweg entlang, auf dem Mary und ich an jenem Tage, als meines Vaters grausame Hand uns voneinander riss, zu Dermodys Hause wanderten. Wie weise war es von meiner Mutter, dass sie sich weigerte die alte Heimat wiederzusehen! Ich wendete dem See den Rücken, um, in der schattigen Einsamkeit des Waldes, ruhiger denken zu können.

Nachdem ich eine Stunde ungefähr an den gewundenen Ufern des Sees entlang gegangen, kam ich bei dem Häuschen an, das einst Marys Heimat gewesen.

Eine Frau, die mir fremd war, öffnete die Tür. Sie lud mich höflich ein in das Wohnzimmer zu treten, allein ich hatte schon genug gelitten und zog es also vor, meine Fragen von der Türschwelle an sie zu richten. Sie waren bald erledigt. Die Frau war in unserem Teil von Suffolk fremd; weder sie noch ihr Mann hatten je Dermodys Namen gehört. Von Haus zu Haus gehend, verfolgte ich meine Nachforschungen unter den Landleuten. Die Dämmerung brach herein; der Mond ging auf; die Lichte fingen an hinter den Fenstern zu verlöschen - und doch setzte ich noch meine traurige Wanderung fort; leider war, wo ich auch fragen mochte, die Antwort immer dieselbe. Niemand wusste etwas von Dermody; im Gegenteil glaubte jeder, dass ich Nachrichten von ihm brächte. Noch jetzt schmerzt es mich, wenn ich an die grausame Nutzlosigkeit aller der Anstrengungen, die ich an jenem unseligen Abende machte, gedenke. Die Nacht verbrachte ich in einem der Bauernhäuser; am nächsten Tage kehrte ich gebrochen und mutlos nach London, ohne Plan oder Sorge für die nächste Zukunft zurück.

Dennoch waren wir nicht ganz getrennt. Wie Dame Dermody vorausgesagt hatte, sah ich Mary in meinen Träumen.

Oft erschien sie mir mit der grünen Flagge in der Hand und wiederholte mir ihre Abschiedsworte »Vergiss Mary nicht!« Oft führte sie mich in die wohlbekannte Ecke des alten Wohnzimmers und öffnete das Papier, auf das ihre Großmutter die Gebete für uns aufgeschrieben hatte: dann beteten wir miteinander und sangen unsere Hymnen, als wären die alten Zeiten zurückgekehrt. Einst erschien sie mir mit tränenfeuchten Augen, und sprach: »Wir müssen noch warten, Geliebter; unsere Zeit ist noch nicht erfüllt.« Zweimal sah sie mich unruhig und angstvoll an und ich hörte sie zweimal sagen: »Lebe in Geduld, lebe in Unschuld, Georg, um meinetwillen.«

Wir siedelten uns in London an, wo ein Privatlehrer meine Ausbildung übernahm. Bald nachdem wir unsere neue Wohnung bezogen hatten, trat ein unerwarteter Wechsel in unseren Verhältnissen ein. Meine Mutter erhielt zu ihrer großen Überraschung einen schriftlichen Heiratsantrag von Mr. Germaine.

»Ich bitte Sie über meinen Vorschlag nicht zu sehr zu erstaunen,« schrieb der alte Herr; »Sie werden sicher nicht vergessen haben, dass ich Sie einst liebte, als wir beide jung und mittellos waren. Die Gefühle jener Zeit können jetzt unmöglich wieder in uns erwachen. Alles, was ich in meinem Alter noch von Ihnen erbitten möchte, ist, dass Sie die Gefährtin meiner letzten Lebensjahre werden und dass Sie mir über Ihren Sohn etwas von den Rechten eines Vaters einräumen, indem Sie mir gestatten, für sein künftiges Wohlergehn zu sorgen. Überlegen Sie das Alles, meine Teure, und sagen Sie mir ob Sie den leeren Stuhl am einsamen Herde eines alten Mannes einnehmen wollen.«

Meine Mutter sah so verschämt aus, als wäre sie wieder ein junges Mädchen geworden, die arme Seele! Die ganze Verantwortung der Entscheidung legte sie aber auf die Schultern ihres Sohnes! Ich bedurfte keiner langen Überlegung. Mit ihrem Jawort nahm sie die Hand eines reichen und ehrenwerten Mannes an, dessen Herz ihr sein ganzes Leben hindurch gehört hatte; und sie erlangte alles Behagen, allen Luxus, die Wohlfahrt und die gesellige Stellung wieder, die meines Vaters gewissenloses Leben ihr geraubt hatte. Dazu kommt noch, dass ich Mr. Germaine und er mich liebte. Warum sollte meine Mutter unter diesen Umständen Nein sagen. Als ich ihr diese Frage vorlegte, konnte sie mir keine vernünftige Antwort geben. Sie wurde also in kürzester Zeit Mrs. Germaine. Ich habe nur noch hinzuzufügen, dass meine Mutter sich an ihrem Lebensende wenigstens in diesem Falle dazu beglückwünschte, dem Rate ihres Sohnes gefolgt zu sein.

Jahre vergingen - und, außer in meinen Träumen, blieben Mary und ich noch immer getrennt. Jahre vergingen, bis auch ich die gefahrvolle Zeit erreichte, die in dem Leben jedes Mannes ihre Rechte fordert. Ich erreichte das Alter, wo die stärkste aller Leidenschaften die Sinne umfängt und ihre Herrschaft über Leib und Seele ausübt.

Ich hatte bis dahin den Untergang meiner ersten und schönsten Hoffnungen geduldig ertragen, ich hatte ergeben und unschuldig um Marys willen gelebt. Jetzt verließ mich die Geduld; meine Unschuld gehörte den verlorenen Schätzen vergangener Zeiten an. Ich verbrachte die Tage mit Arbeiten für meinen Erzieher, das ist wahr, aber meine Nächte widmete ich heimlich gewissenlosen Schwelgereien, an die ich in diesem Augenblick mit Widerwillen und Scham zurückdenke. Ich entweihte meine Erinnerungen an Mary durch den Umgang mit Frauen, die die tiefsten Tiefen der Erniedrigung erreicht hatten. Gottloserweise sagte ich mir: »Ich habe lange genug auf sie gehofft; lange genug habe ich gewartet: ich kann nichts Besseres tun als meine Jugend genießen und - sie vergessen.«

Von dem Augenblick an, wo ich in diese Erniedrigung versank, dachte ich wohl manchmal reuevoll an Mary - besonders morgens, wenn uns oft Gedanken der Buße erfüllen, - aber meine Träume von ihr hatten völlig aufgehört. Jetzt waren wir, im wahren Sinne des Wortes, getrennt. Marys reiner Geist konnte jetzt keine Gemeinschaft mit mir haben - Marys reiner Geist war von mir geflohen. Selbstverständlich konnte ich vor den Augen meiner Mutter das Geheimnis meiner Gesunkenheit nicht bewahren. Der Anblick ihres Kummers war der erste ernüchternde Einfluss. In gewissem Grade legte ich mir Zügel an - ich versuchte zu einem reineren Lebenswandel zurückzukehren. Mr. Germaine war ein zu verständiger Mann, um mich verloren zu geben, so sehr ich ihn auch betrübt hatte. Er riet mir, als Mittel zur Selbstbesserung, mir einen Beruf zu wählen und mich dann in die dazu gehörigen Studien so zu vertiefen, wie ich es bis jetzt in keinerlei Weise getan.

Ich schloss mit meinem besten Freunde, meinem zweiten Vater, Frieden, nicht allein, indem ich seinen Rat befolgte, sondern auch indem ich den Beruf als Arzt wählte, dem er selbst angehörte, bevor er sein großes Vermögen erbte. Mr. Germaine war Arzt gewesen: ich beschloss es auch zu werden.

Jünger als es meist der Fall ist, hatte ich meinen neuen Lebensweg betreten und kann zu meiner Ehre sagen, dass ich wacker arbeitete. Ich gewann und erhielt mir die Gunst der Professoren, bei denen ich studierte. Andrerseits darf ich nicht leugnen, dass meine moralische Umwandlung durchaus nicht vollkommen war. Ich arbeitete freilich, - aber was ich tat, tat ich aus Eigennutz, mit verbittertem, verhärtetem Herzen. In religiöser und sittlicher Beziehung nahm ich die ganz materiellen Lebensanschauungen eines Studiengenossen an - eines ganz abgelebten Menschen, der noch einmal so alt war, als ich. Ich glaubte nichts, was ich nicht sehen, schmecken oder fühlen konnte. Den Glauben an die Menschheit verlor ich ganz. Mit Ausnahme meiner Mutter, hatte ich keine Achtung vor den Frauen. Meine Erinnerungen an Mary verloren sich mehr und mehr, bis sie nichts weiter als ein kleines Bindeglied mit der Vergangenheit waren. Die grüne Flagge bewahrte ich noch aus Gewohnheit auf - aber ich trug sie nicht mehr bei mir: sie lag unberührt in einem Kasten meines Schreibtisches. Ab und zu stieg ein leiser Zweifel in mir auf, ob mein Leben nicht ein ganz wertloses, unwürdiges sei, aber meine Gedanken verweilten nicht lange dabei. Der logischen Ordnung der Dinge nach musste ich, indem ich Andere verachtete, meine Schlüsse auch bis zu dem bitteren Ende zu verfolgen, mich selbst zu verachten.

Die Zeit meiner Mündigkeit kam heran. Ich war einundzwanzig Jahre alt - und von den Illusionen meiner Jugend war nicht ein Schimmer geblieben!

Weder meine Mutter noch Mr. Germaine konnten sich eigentlich über mein Benehmen beklagen, beide waren aber in hohem Grade besorgt um mich. Nach reiflichen Erwägungen kam mein Stiefvater zu einem Entschluss. Er gewann die Überzeugung, dass die einzige Möglichkeit mich meinem besseren, edleren Selbst wieder zurückzugeben, in dem Einflusse lag, den ein Leben unter neuen Menschen und in neuen Umgebungen auf mich auszuüben vermöchte.

Zur Zeit von der ich schreibe, hatte die einheimische Regierung beschlossen, eine besondere diplomatische Sendung an einen der eingeborenen Fürsten abgehen zu lassen, der eine entlegene Provinz unseres indischen Kaiserreiches beherrschte. Bei dein unruhigen Zustande, in dem sich die Provinz damals befand, war es nötig, dass die Gesandtschaft bei ihrer Ankunft in Indien von einer Eskorte aus Truppen und Zivilbeamten der Krone bestehend, an den Hof des Fürsten begleitet wurde. Der Arzt, der die Expedition von England aus begleiten sollte, war ein alter Freund von Mr. Germaine, er suchte einen Assistenten, auf dessen Leistungen er sich verlassen konnte. Durch meines Stiefvaters Vermittelung wurde mir die Stellung angeboten. Ohne Zögern nahm ich sie an. Der einzige Stolz, der mir geblieben war, war der elende Stolz gänzlicher Blasiertheit. So lange ich meinem Berufe obliegen musste, war mir die Stellung, in der ich es tat, ganz gleichgültig.

Um meine Mutter nur zu veranlassen meine neue Lebensaussicht in Erwägung zu ziehen, bedurfte es langer Überredung. Als sie das schließlich tat, gab sie, wenn auch ungern, nach. Ich gestehe, dass ich sie mit heißen Tränen - die ersten, die ich seit manchem, langem Jahre vergossen, verließ. Die Geschichte dieser Sendung bildet einen Teil der indischen Geschichte und gehört also nicht in diese Erzählung.

Was mich anlangt, so habe ich nur zu berichten, dass ich kaum eine Woche, nachdem die Sendung ihr Ziel erreicht hatte, unfähig wurde meine Berufspflichten zu erfüllen. Wir hatten unser Lager außerhalb der Stadt aufgeschlagen, und die fanatischen Eingeborenen machten unter dem Deckmantel der Finsternis einen Angriff auf uns. Der Angriff wurde, mit geringer Schwierigkeit und unerheblichen Verlusten unsrerseits, zurückgeschlagen. Ich befand mich unter den Verwundeten - indem ich durch einen Wurfspieß oder Speer getroffen war, als ich von einem Zelt zum andern ging.

Hätte eine europäische Waffe mich verletzt, so würde die Wunde ganz ohne Bedeutung gewesen sein, aber die Spitze des indischen Speeres war vergiftet. Ich entging zwar der Todesgefahr des »Kinnbackenkrampfes« - aber, durch eine eigentümliche Einwirkung des Giftes auf meinen Organismus, die mir selbst unerklärlich ist, wollte meine Wunde durchaus nicht heilen. Ich wurde als Kranker nach Kalkutta geschickt, wo mir die beste ärztliche Hilfe zur Verfügung stand. Dem Anscheine nach heilte hier die Wunde - brach aber bald wieder auf und zwar wiederholentlich; da kamen die Ärzte darin überein, dass ich nach England geschickt werden müsste. Sie rechneten auf die belebende Kraft der Seereise, und, sollte diese fehlschlagen, auf den heilsamen Einfluss der vaterländischen Luft. Im indischen Klima hielten sie mich für unheilbar.

Zwei Tage bevor das Schiff absegelte, brachte mir ein Brief meiner Mutter sehr aufregende Nachrichten. Mein zukünftiges Leben, - wenn es noch ein solches für mich gab, - war in eine ganz neue Bahn geleitet. Mr. Germaine war plötzlich an einem Herzleiden gestorben. Sein letzter Wille, der von der Zeit meiner Abreise aus England datiert war, bestimmte für meine Mutter ein lebenslanges Einkommen und übergab mir seinen übrigen, großen Besitz unter der Bedingung, dass ich seinen Namen annahm. Natürlich ging ich auf die Bedingung ein und - wurde George Germaine.

Drei Monate später war ich mit meiner Mutter wieder vereint.

Abgesehen von den Leiden, die mir meine Wunde noch bereitete, war ich nun allem Anscheine nach einer der beneidenswertesten Sterblichen: zur Stellung eines reichen Mannes erhoben, Besitzer eines Hauses in London und eines Landsitzes in Pertshire! - Und dennoch war ich in der Tat mit dreiundzwanzig Jahren einer der elendesten Menschen, die da lebten!

Und Mary!

Was war in den letztverflossenen zehn Jahren aus ihr geworden? Ihr kennt nun meine Geschichte, lest die wenigen folgenden Seiten, um die ihrige zu erfahren.

Sechstes Kapitel

Ihre Geschichte

Was ich von Marys Geschichte erzählen will, habe ich erst durch Nachforschungen zu einer viel späteren Zeit meines Lebens erfahren, viele Jahre nachdem alles bisher Geschriebene sich zutrug. Man möge das beherzigen.

Der Vogt Dermody hatte Verwandte in London, von denen er zuweilen sprach und andere in Schottland, derer er nie erwähnte. Mein Vater hatte nämlich ein hartes Vorurteil gegen die schottische Nation. Dermody kannte seinen Herrn zu gut, um nicht zu fürchten, dass das Vorurteil sich auch auf ihn erstrecken könnte, wenn er über seine schottische Verwandtschaft sprach. Er schwieg deshalb und nannte sie nie.

Als er den Dienst meines Vaters verließ, war er teils zu Lande teils zu Wasser, nach Glasgow gegangen, wo seine Verwandten lebten. Durch seinen Charakter und seine Erfahrungen zeichnete sich Dermody von Tausenden aus und war für jeden Herrn, der das Glück hatte ihn in seine Dienste zu nehmen, von großem Wert. Seine Freunde bemühten sich für ihn und nach sechs Wochen war er von einem Gentleman angestellt, dessen Gut an der östlichen Küste Schottlands lag. Dort hatte er nun mit Mutter und Tochter eine behagliche neue Heimat gefunden.

Die beleidigenden Worte, welche mein Vater zuletzt an ihn gerichtet hatte, waren tief in Dermodys Gemüt gedrungen. Er schrieb seinen Verwandten in London im geheimen, dass er eine neue, vorteilhafte Stellung gefunden hätte, vorläufig aber Gründe habe seine Adresse zu verschweigen. So vereitelte er die Nachfragen, welche die Anwälte meiner Mutter bei seinen Londoner Verwandten anstellten, nachdem sie seine Spur anderswo nicht hatten auffinden können. Teils gereizt durch die Vorwürfe seines früheren Herrn - teils aus einem Gefühl der Selbstachtung - opferte er Mary und mich; andererseits hielt er es auch für seine Pflicht bei der Verschiedenheit unserer Lebensstellungen, jeden Verkehr zwischen uns abzubrechen, ehe es zu spät war.

In einem entlegenen Teile von Schottland, mir und der Welt verloren, lebte nun die kleine Familie in Zurückgezogenheit begraben.

In meinen Träumen hatte ich Mary gesehen und gehört. Sie sah und hörte mich in den Ihrigen. Das unschuldige Sehnen und Verlangen meines Herzens wurde ihr in geheimnisvollem Schlummer offenbar, so lange ich noch ein Knabe war. Ihre Großmutter, welche den Glauben an unsere vorausbestimmte Vereinigung festhielt, stärkte ihr Herz und erhob ihren Mut. Wenn sie ihren Vater auch sagen hörte, was der meine gesagt hatte, dass wir getrennt wären, um uns nie wiederzusehen, so gedachte sie im Stillen ihrer glückverheißenden Träume und hielt diese für sichere Bürgschaften einer anderen Zukunft als die, die Dermody im Auge hatte. So lebte sie doch im Geiste mit mir - und hoffte.

Der Tod der Großmutter, die in sehr hohem Alter der natürlichen Schwäche erlag, war die erste Trübsal die über die kleine Familie kam. Im letzten Augenblick, als sie noch bei Bewusstsein war, sagte sie zu Mary: »Vergiss nie, dass Du und George für einander bestimmte Geister seid. Warte geduldig - in der festen Überzeugung, dass keine Macht der Erde Eure Verbindung verhindern kann, wenn Eure Zeit gekommen ist.

Obgleich diese Worte in Mary unauslöschlich fortlebten, wurde unsere geistige Gemeinschaft in Träumen plötzlich ihrerseits unterbrochen, wie es mir ja ebenfalls geschehen war. Von den ersten Tagen meiner Selbsterniedrigung an war mir Mary nicht mehr erschienen - genau zur selben Zeit sah sie mich auch nicht mehr.

Des Mädchens gefühlvolle Natur brach unter diesem Schlage zusammen. Sie hatte nun keine ältere Frau mehr, die ihr Trost und Rat gab; sie lebte mit ihrem Vater allein und dieser wechselte jedes Mal den Gegenstand der Unterhaltung, wenn von den alten Zeiten die Rede war. Der geheime Kummer, der Leib und Seele verzehrt, nagte auch an ihr. Eine Erkältung, die sie sich in der rauhen Jahreszeit zugezogen hatte, artete in ein Fieber aus. Wochenlang war sie in Lebensgefahr. Als sie genas, war ihr Kopf, auf Wunsch des Arztes, seines schönen Haarschmuckes beraubt. Das Opfer war nötig, um ihr Leben zu retten. In einer Hinsicht war dieses Opfer sehr groß gewesen - denn ihr Haar wuchs nie wieder so üppig. Das neue Haar hatte keine Spur von dem reizvollen, rotbraunen Schimmer des früheren; es war nun einförmig lichtbraun geworden, so dass Marys schottische Verwandte sie zuerst kaum wieder erkannten.

Aber die Natur glich reichlich den Verlust des schönen Haares durch den größeren Reiz aus, den sie dem Gesicht und der Gestalt verlieh.

In einem Jahre war nach der Krankheit das zarte kleine Kind aus der alten Zeit der Grünwasserfläche in der stählenden schottischen Luft und durch ihre gesunde Lebensweise zur hübschen, stattlichen Jungfrau herangereift. Ihre Züge waren, wie in ihren früheren Jahren, durchaus nicht regelmäßig schön und doch war die Veränderung eine sehr merkliche. Das hagere Gesicht war ausgefüllt und der bleiche Teint hatte nun seinen Farbenschmuck erhalten. Die wunderbare Veränderung ihrer Gestalt fiel selbst den rohen Leuten um sie her auf. Höchst unbedeutend, als sie ein Kind war, hatte sie sich nun zu jungfräulicher Fülle, zu Ebenmaß und Anmut entwickelt - sie hatte im wahren Sinne des Wortes eine überraschend schöne Gestalt.

Es gab zu jener Zeit Augenblicke, wo selbst der eigene Vater seine Tochter, geistig, wie körperlich, kaum wieder erkannte. Sie hatte ihre kindliche Lebhaftigkeit - ihr süßes, fröhliches Geplauder verloren. Still und versunken in sich selbst, erfüllte sie geduldig ihre täglichen Pflichten. Die Hoffnung mich wiederzusehen war zu dieser Zeit in ihr erstorben. Sie klagte nie; die Kraft, die ihr Körper in der letzten Zeit gewonnen hatte, unterstützte und stärkte nun die Seele. Als ein oder zwei Mal ihr Vater sie fragte, ob sie noch mein gedenke, antwortete sie ruhig, dass sie es nun über sich gewonnen habe, seine Ansichten über die Sache zu teilen. Sie zweifelte nicht, dass ich sie längst vergessen hatte und war nun alt genug geworden, um einzusehen, dass, selbst wenn ich ihr treu geblieben war, unsere Heirat in den verschiedenen Lebenssphären, denen wir angehörten, eine Unmöglichkeit wäre. Sie sagte sich, dass es das Beste sei die Vergangenheit zu vergessen - mein nicht mehr zu gedenken, wie ich ihrer nicht mehr gedachte. So sprach sie jetzt. Allem Anscheine nach hatten Dame Dermodys vertrauensvolle Voraussagungen über unser Schicksal sich nicht bewahrheitet und waren dem Reiche der unerfüllten Prophezeiungen verfallen.

Als Mary neunzehn Jahre alt war, ereignete sich seit ihrer Krankheit der nächste wichtige Vorfall in den Familienannalen. Selbst jetzt, nach dieser langen Zeit, sinkt mir das Herz, fehlt mir der Mut bei der inhaltsschweren Stelle meiner Erzählung, an der ich jetzt angelangt bin.

Ein ungewöhnlich heftiger Sturm tobte an der Ostküste von Schottland. Unter den Fahrzeugen, die der Sturm vernichtete, war ein holländisches Schiff, das an der felsigen Küste nah bei Dermodys Wohnung scheiterte. Wie er in allen guten Werken voranging, zeigte der Vogt auch hier durch sein Beispiel den Weg zur Rettung der Passagiere und Bemannung des verlorenen Schiffes. Einen Mann hatte er bereits lebend ans Land gebracht und war nun wieder auf dem Wege zum Schiff - als zwei heftig aufeinander folgende Windstöße ihn gegen die Felsen warfen. Er wurde von seinen Nachbarn mit Lebensgefahr gerettet. Die ärztliche Untersuchung ergab, dass ein Knochen gebrochen war und verschiedene andre ernstliche Verletzungen stattgefunden hatten. Soweit waren seine Beschädigungen leicht festzustellen gewesen, aber nach einiger Zeit entdeckte der Arzt an dem Kranken Symptome, die ernstliche innere Verletzungen schließen ließen. Nach des Doktors Ansicht konnte er seine tätige Lebensweise nie wieder aufnehmen. Er musste für seine Lebenszeit ein elender, gebrechlicher Mann bleiben.

Sein Herr tat für den Vogt Alles, was man unter diesen traurigen Umständen erwarten durfte. Er mietete einen Stellvertreter, der die Landarbeit beaufsichtigen konnte und gestattete Dermody noch für die nächsten drei Monate in seinem Hause zu bleiben. Dadurch war dem armen Manne Zeit gegeben, die Trümmer seiner früheren Kräfte zu sammeln und sich mit seinen Verwandten in Glasgow über seine Zukunftspläne zu beraten.

Die Aussichten waren sehr trübe. Dermody war für jede sitzende Lebensweise untauglich und die geringen Mittel, die er erübrigt hatte, reichten nicht für seinen und seiner Tochter Unterhalt aus. Die schottischen Verwandten waren freundlich und bereitwillig, aber sie hatten ihre eigenen Familien und konnten kein Geld missen.

Der Passagier des gescheiterten Schiffes, dem Dermody das Leben gerettet hatte, trat, grade in dieser Not, mit einem Vorschlage hervor, der Vater und Tochter in gleiches Erstaunen versetzte. Er machte nämlich Mary einen Heiratsantrag, mit der ausdrücklichen Bedingung, dass, wenn sie seine Hand annähme, ihre Heimat auch lebenslang die Heimat ihres Vaters sein sollte.

Der Mann, der der Familie Dermody in dieser schweren Zeit so nahe trat, war ein holländischer Edelmann namens Ernst von Brandt. Er besaß einen Anteil an einer Fischerei an den Ufern des Zuider-Sees und war, als das Schiff scheiterte, auf dem Wege eine Vereinbarung mit den Fischereien des nördlichen Schottlands anzubahnen. Als er Mary zuerst sah, hatte sie einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Er hatte sich in der Nachbarschaft aufgehalten, weil er hoffte mit der Zeit ihre Gunst zu gewinnen. Er war ein hübscher Mann, im Lenz des Lebens; sein Einkommen machte es ihm vollständig möglich zu heiraten. Als er um Mary anhielt, nannte er Personen von hoher, gesellschaftlicher Stellung in Holland, die über ihn Auskunft geben konnten, insofern es seinen Charakter und seine Stellung anlangte.

Mary überlegte lange, was für ihren hilflosen Vater und für sie selbst das Geratenste sein würde.

Seit Jahren hatte sie die Hoffnung auf eine Heirat mit mir aufgegeben. Keine Frau sieht gern ein einsames Leben vor sich und Mary sah sich natürlich, wenn sie an ihre Zukunft dachte, immer als verheiratete Frau. Konnte sie jemals erwarten einen annehmbareren Antrag zu erhalten, als diesen jetzigen? Herr van Brandt hatte jeden persönlichen Vorzug, den eine Frau wünschen kann, er liebte sie zudem zärtlich und hatte ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit für ihren Vater, seinen Lebensretter. Was konnte sie Besseres tun als Herrn van Brandt zu heiraten, welche andere Aussicht blieb ihr - welche andere Hoffnung durfte sie hegen?

Durch diese Betrachtungen veranlasst, entschloss sie sich das verhängnisvolle Wort zu sprechen. Sie sagte, Ja!

Gleichzeitig sprach sie ganz offen mit Herrn van Brandt. Sie gestand ihm ohne Rückhalt, dass sie von einer anderen Zukunft, als die, die jetzt vor ihr läge, geträumt habe. Sie verschwieg ihm nicht, dass eine alte Liebe in ihrem Herzen gewohnt habe und dass es außer ihrer Macht sei wieder zu lieben - Dankbarkeit, Achtung und Verehrung hatte sie jetzt noch zu geben und Liebe konnte ja mit der Zeit kommen. Übrigens hatte sie sich längst von der Vergangenheit losgerissen und entschieden alle Hoffnungen und Wünsche aufgegeben, die sich darauf bezogen. Die einzigen Segnungen, die sie vom Schicksal erbat, waren Ruhe für ihren Vater und ein stilles Glück für sich selbst. Diese konnte sie unter dem Dache eines ehrenwerten Mannes, der sie liebte und achtete, finden und wenn sie ihm auch nichts anderes bieten konnte, so konnte sie ihm versprechen, ihm ein gutes, treues Weib zu sein. Es war nun an Herrn van Brandt sich klar zu machen, ob er unter den obwaltenden Umständen in dieser Ehe sein Glück finden würde.

Herr van Brandt nahm ohne Zögern ihre Bedingungen an.

Durch eine bedenkliche Verschlimmerung in Dermodys Zustande musste die Hochzeit, die sonst augenblicklich stattgefunden hätte, noch verschoben werden. Es zeigten sich Symptome, die der Doktor nach seiner eigenen Aussage nicht vorausgesehen hatte, als er sein Urteil über die Krankheit abgab. Er unterrichtete Mary, dass ihres Vaters Ende herannahe. Herr van Brandt ließ einen Arzt aus Edinburgh kommen, der die Ansicht des Landarztes bestätigte. Der gute Vogt quälte sich noch einige Tage. Am letzten Tage legte er die Hand seiner Tochter in van Brandts Hand: »Machen Sie sie glücklich, Herr,« sagte er in seiner einfachen Weise, »und ich bin dafür entschädigt, dass ich Ihnen das Leben rettete.« Am selben Tage starb er ruhig in den Armen seiner Tochter.

Marys Zukunft lag nun ganz in den Händen ihres Verlobten. Die Verwandten in Glasgow hatten für ihre eigenen Töchter zu sorgen, die Londoner Verwandten ließen sie entgelten, dass Dermody sie vernachlässigt hatte. Mit zarter Rücksicht wartete van Brandt bis das arme Mädchen die erste Heftigkeit ihres Schmerzes niedergekämpft hatte - und dann machte er unwiderstehlich die Macht eines Gatten geltend, um sie besser trösten zu können.

Sie heiratete zu derselben Zeit in Schottland, als ich von Indien zurückkehrte. Mary war nun zwanzig Jahre alt geworden.

* * *

Die Geschichte unserer zehnjährigen Trennung ist nun erzählt: und wir stehen an dem Ausgangspunkte unserer neuen Lebensschicksale.

Ich lebe mit meiner Mutter und beginne meine Laufbahn als ein Landedelmann auf dem Gute in Pertshire, welches ich von Mr. Germaine ererbte. Mary erfreut sich an der Seite ihres Mannes ihrer neuen Rechte und erlernt ihre neuen Pflichten als Frau. Auch sie lebt in Schottland - und durch eine wunderbare Fügung, nicht weit von meinem Landsitze entfernt. Ich ahne nicht, dass sie mir so nahe ist: der Name von Frau van Brandt, selbst wenn ich ihn gehört hätte, ruft in meiner Erinnerung keinerlei Beziehungen wach. So sind die verwandten Geister noch immer getrennt. Noch ahnt weder sie noch ich, dass wir uns je wieder begegnen werden.

Siebtes Kapitel

Die Frau auf der Brücke

Meine Mutter störte mich durch einen Blick in die Tür der Bibliothek, bei meinen Büchern.

»Ich habe in meinem Zimmer ein kleines Bild aufgehängt«, sagte sie, »komm hinauf, mein Sohn und sage mir deine Meinung darüber.«

Ich stand auf und folgte ihr. Sie zeigte auf ein kleines Miniaturbild, das sie über den Kaminsims gehängt hatte.

»Weißt du, wen dieses Bild darstellt?« fragte sie, halb traurig, halb scherzend. »George! Erkennst du dich wirklich selbst, als dreizehnjährigen Knaben, nicht wieder?«

Wie soll ich mich wiedererkennen? Durch Krankheit und Kummer gealtert, auf meinem langen Heimwege von der Sonne gebräunt! Schon begann mein Haar sich an der Stirn zu lichten, meine Augen hatten sich gewöhnt traurig und müde zu blicken - was hatte ich mit jenem blonden, starken, lockigen, klaräugigen Knaben gemein, der mich aus dem Bilde anblickte? Der Anblick des Bildes machte mir einen merkwürdigen Eindruck. Es ergriff mich eine unsagbare Schwermut und eine unerträgliche Verzweiflung über mich selbst erfüllte mich. Indem ich mich bestmöglichst bei meiner Mutter entschuldigte, verließ ich das Zimmer und stand im nächsten Augenblick vor der Haustür.

Zuerst durchschritt ich den Park und ließ dann die Grenzen meiner Besitzung hinter mir. Einen Nebenweg verfolgend, kam ich an unseren wohlbekannten Fluss - der so schön, so berühmt unter Schottlands Forellenfischern ist. Augenblicklich war nicht die Jahreszeit zum Fischen. Kein lebendes Wesen war in der Nähe, als ich mich an das Ufer setzte. Die alte steinerne Brücke, die sich über den Fluss wölbte, war ungefähr hundert Schritte von mir entfernt; und die untergehende Sonne färbte eben das sanft unter ihren Bogen dahinfließende Wasser mit dem roten Licht der sinkenden Sonne.

Immer verfolgte mich das Gesicht des Knaben auf dem Bilde. Mir war's, als machte mir das Bild in seiner eigenen, unerbittlichen Sprache den Vorwurf: »Sieh wie Du einst warst - und was bist Du jetzt!«

Mein Gesicht in dem weichen, duftigen Grase verbergend dachte ich der zehn verlorenen Jahre von damals bis jetzt.

Wie sollte das enden? Wenn ich das gewöhnliche Leben eines Mannes lebte, welche Aussichten hatte ich dann?

Liebe? Heirat? Ich lachte laut auf, als mir der Gedanke einkam. Seit den harmlos glücklichen Tagen meiner Knabenzeit hatte ich von Liebe nicht mehr empfunden als das Insekt, das eben vom Grase auf meine Hand kroch. Sicherlich konnte ich mir mit meinem Gelde eine Frau kaufen; aber würde mein Geld sie mir teuer machen? - so teuer wie mir einst Mary in der goldenen Zeit war, als jenes Bild gemalt wurde? May! Ob sie noch lebte? Ob sie verheiratet war? Würde ich sie wohl wiederkennen, wenn ich sie sähe? Torheit! Ich hatte sie seit ihrem zehnten Jahre nicht gesehen: jetzt war sie eine Frau, ich ein Mann. Würde sie mich erkennen, wenn wir uns begegneten? Das Bild, das mich noch immer verfolgte, beantwortete mir die Frage! »Sieh, wie Du einst warst -was bist Du nun?«

Ich erhob mich und schritt auf und ab, bestrebt meinen Gedanken eine andere Richtung zu geben. Es war unmöglich. Nach jahrelanger Verbannung war Mary in mein Gedächtnis zurückgekehrt. Ich setzte mich wieder am Ufer nieder. Die Sonne sank tiefer; schwarze Schatten hingen unter den Bogen der alten, steinernen Brücke. Der rote Schimmer war von dem sanft fließenden Wasser gewichen und hatte es mit eintönigem Stahlgrau überzogen. Friedlich blickten die ersten Sterne vom Himmel hernieder. Die ersten Schauer des Nachtwindes rauschten durch die Bäume und erregten hier und dort die seichten Stellen des Wassers. Und immer wieder - je dunkler es wurde, je beharrlicher führte mein Bild mich in die Vergangenheit zurück - je lebhafter zeigte sich meiner Erinnerung das längst verlorene Bild der kleinen Mary.

War das die Vorahnung, dass sie auch in meinen Träumen zurückkehren würde - in vollendeter Weiblichkeit, im Frühling ihres Lebens?

Es war ja möglich.

Ich war nicht mehr ihrer unwert, wie ich es einst gewesen. Schon der Eindruck, den mein Bild auf mich hervorgebracht hatte, war in sich selbst durch eine innere, moralische Wandlung zum Bessern hervorgerufen, und diese hatte sich im sicheren Fortschreiten vollzogen, seit ich an meiner Wunde krank, ganz hilflos unter Unbekannten im fremden Lande lag. Krankheit, die manchem Menschen Freund und Lehrer geworden ist, war es auch mir geworden. Mit Schrecken gedachte ich meiner Jugendsünden - der verlorenen Tage, als ich mich gottlosen Zweifeln über die edelsten und trostreichsten Güter des menschlichen Lebens ergeben hatte. War es töricht zu hoffen, dass ihr Geist und der meine sich wieder vereinigen könnten, nun ich geweiht durch Schmerzen, gereinigt durch Reue war. Wer konnte das sagen? Ich erhob mich wiederum. Es war ungesund, wenn ich mich bis zur Nachtzeit an dem Ufer des Flusses aufhielt. Dem Antrieb folgend, der uns in gewissen aufgeregten Gemütsstimmungen veranlasst, Wechsel und Bewegung aufzusuchen, hatte ich das Haus verlassen. Das Mittel war fehlgeschlagen, denn mein Gemüt war mehr beunruhigt als zuvor. Das Weiseste was ich tun konnte, war nach Hause zu gehen und meiner guten Mutter bei ihrem Lieblingsspiel, dem Piquet, Gesellschaft zu leisten. Ich erhob mich, um den Heimweg anzutreten - blieb aber gebannt durch die Schönheit des letzten, matten Lichtes am westlichen Himmel, der hinter der dunklen Linie des Brückengeländers hervorleuchtete, stehn.

In dem großartigen Zusammenfließen der nächtlichen Schatten, in dem tiefen Schweigen des scheidenden Tages, stand ich allein und beobachtete das sinkende Licht.

Als ich so dastand, wechselte die Szenerie. Eilig und leicht glitt eine lebende Gestalt über die Brücke. Sie kam hinter der dunklen Linie des Brückengeländers hervor und wurde von dem letzten Strahle des westlichen Lichtes beleuchtet. Sie überschritt die Brücke, stand still und kehrte halbwegs zurück. Wiederum stand sie still. Es vergingen Minuten - und immer noch stand die Gestalt dort hinter dem Brückengeländer wie ein bewegungsloser, dunkler Gegenstand.

Ich trat ein Wenig vorwärts, bis ich nahe genug war um den Anzug, in den die Gestalt gekleidet war, zu erkennen. Aus der Kleidung ging mir hervor, dass die einsame Gestalt ein weibliches Wesen war.

Sie sah mich im Schatten, den die Bäume auf das Ufer warfen, nicht. Sie stand, die Arme in ihren Mantel gehüllt und blickte in den dunklen Fluss. Warum wartete sie hier, am späten Abend, so allein?

Als ich darüber nachdachte, bewegte sie den Kopf. Sie blickte von einem Ende bis zum andern über die Brücke. Erwartete sie jemand, den sie hier treffen wollte? Oder fürchtete sie beobachtet zu werden und wollte sich überzeugen, dass sie allein war?

Ein plötzlicher Zweifel über den Grund, weshalb sie diesen einsamen Ort aufsuchte - ein plötzliches Misstrauen gegen die verlassene Brücke und den sanft rauschenden Fluss machte mein Herz rascher schlagen und bewog mich zum sofortigen Entschluss. Ich stieg schnell den Weg vom Ufer zur Brücke hinan, in der Absicht sie anzureden, da es noch Zeit war.

Sie bemerkte mich erst, als ich ganz nahe bei ihr stand. Ich war ihr mit einem unwiderstehlichen Gefühl der Erregung genaht, weil ich nicht wusste wie sie meine Anrede aufnehmen würde. Im Augenblick, als sie sich zu mir umwendete, kam mir die Fassung zurück. Mir war als hätte ich mit der Voraussetzung einem Fremden zu begegnen, plötzlich einen Freund gefunden.

Und doch war sie eine Fremde. Ich hatte nie vorher in dieses edle, erregte Antlitz geschaut, nie die hohe Gestalt gesehen, deren ungewöhnliche Anmut und deren vollkommenes Ebenmaß, selbst der lange Mantel nicht ganz zu verhüllen im Stande war. Sie war vielleicht eine vollendete Schönheit. Ihr Äußeres hatte Mängel, die selbst in dem erlöschenden Lichte sichtbar waren. Auch ihr Haar, wie es unter dem großen Gartenhut hervorblickte, schien nur kurz, wie Männerhaar, zu sein und die Farbe war jenes einförmige, glanzlose Braun wie man es so oft bei englischen Frauen von gewöhnlichem Schlage sieht. Trotz dieser Mängel aber, lag ein geheimnisvoller Reiz in ihrem Ausdruck, ein angeborener Zauber in ihren Bewegungen, die mich unendlich sympathisch berührten und mich zur Bewunderung hinrissen. Der erste Blick, den ich auf sie richtete, hatte mich für sie eingenommen.

»Darf ich fragen, ob Sie Ihren Weg verfehlt haben?« fragte ich.

Mit einem wunderbar forschenden Ausdruck ruhten ihre Augen auf mir. Sie schien weder erstaunt noch verwirrt, dass ich gewagt hatte, sie anzureden.

»Ich kenne die Gegend sehr genau,« fuhr ich fort. »Kann ich Ihnen irgendwie nützlich sein?«

Sie sah mich noch immer mit ruhigen forschenden Blicken an. Für einen Augenblick schien mein Gesicht, fremd, wie ich ihr war, sie zu beunruhigen; es war ihr, als hätte sie dieses Gesicht einstmals gesehen und wieder vergessen. Mit einer leichten Kopfbewegung verwarf sie den Gedanken, wenn sie ihn überhaupt gehabt hatte, und sah in den Fluss hinab, als ob ich sie nichts weiter anginge.

»Tausend Dank. Ich habe den Weg nicht verfehlt und gehe oft abends allein aus. Gute Nacht.«

Sie sprach kalt, aber höflich. Ihre Stimme war herrlich; ihre Verneigung, als sie sich von mir verabschiedete, war vollendet in ihrer ungekünstelten Anmut. Sie ging von der Seite die Brücke hinab, von der sie sie betreten hatte und folgte langsam der dunklen Spur des Weges.

Ich war aber noch nicht ganz befriedigt. Hinter diesem reizenden Ausdruck und diesen bezaubernden Bewegungen lag etwas Anderes, was mir mein Instinkt als etwas Gefahrdrohendes bezeichnete. Als ich dem entgegengesetzten Ende der Brücke zuschritt, begannen sich Zweifel in mir zu regen, ob sie die Wahrheit gesprochen hatte. Verließ sie die Nähe des Flusses nicht etwa bloß, um mich los zu werden?

Ich beschloss meinen Argwohn auf die Probe zu stellen. Von der Brücke aus hatte ich nur den Weg zu überschreiten, um in eine Schonung am Ufer des Flusses zu gelangen. Hier konnte ich, versteckt hinter dem nächsten Baum, der stark genug war, mich zu decken, die ganze Brücke übersehen und ich musste es sicher bemerken, wenn sie zum Fluss zurückkehrte, weil noch ein Lichtstrahl die Stelle erhellte. Es ging sich nicht leicht in der dunklen Schonung; ich musste mich förmlich bis zu einem geeigneten Baume durchtasten.

Kaum hatte ich auf dem unebenen Boden festen Fuß hinter dem Baume gefasst, als die Stille der Dämmerungsstunde plötzlich durch den fernen Ton einer Stimme unterbrochen wurde.

»Es war eine Frauenstimme. Sie erhob sich durchaus nicht zu besonderer Höhe - der Ausdruck war der Ausdruck des Gebets - und die Worte, die ich vernahm, waren:

»Christus, sei mir gnädig!«

Darauf war Alles still. Eine namenlose Angst beschlich mich, als ich nach der Brücke sah.

Sie stand am Geländer. Ehe ich mich bewegen, ehe ich rufen, ja selbst ehe ich frei atmen konnte, sprang sie in den Fluss.

Der Strom floss mir entgegen. Ich sah sie aus dem Wasser emportauchen, während ein Lichtstrahl auf die Mitte der Strömung fiel. Ich stürzte am Ufer hinab. Als ich eben Hut, Mantel und Schuh abwerfen wollte, versank sie wieder. Ich war ein geübter Schwimmer und sobald ich im Wasser war, gewann ich meine Fassung wieder - ich war wieder ich selbst geworden.

Ich wurde mitten in die Strömung getrieben und schwamm dadurch erheblich schneller. Als sie zum zweiten Male auftauchte, war ich dicht hinter ihr - ich sah sie nur als einen dunklen Gegenstand, der noch vor mir auf der Oberfläche des Wassers trieb. Noch ein Stoß und - ich hatte sie mit meinem rechten Arm umfasst, und hielt ihr Gesicht über dem Wasser. Sie war bewusstlos. Ich konnte sie bequem so halten, dass ich Herr meiner Bewegungen blieb und konnte mich, wenn nicht Ermüdung oder ein Windstoß mich hinderten, sicher der Aufgabe unterziehen, sie ans Ufer zurückzubringen.

Mein erster Anlauf machte mir klar, dass ich die Hoffnung aufgeben musste, beladen, wie ich war, dem starken Strome entgegen zu schwimmen, der von beiden Ufern zur Mitte trieb. Ich versuchte es von einer und von der andern Seite und - gab es auf. Mir blieb nur der Ausweg mich mit ihr in den Strom hinabtreiben zu lassen. Einige fünfzig Ellen weiter abwärts machte der Fluss eine Biegung um einen Landvorsprung, auf dem ein kleines Gasthaus stand, das Angler in der Zeit des Fischens besuchten. An der Stelle angelangt, machte ich einen wiederum vergeblichen Versuch zu landen. Jetzt blieb unsere letzte Hoffnung nur noch, dass die Bewohner des Gasthauses mich hörten. Ich rief mit aller Kraft meiner Stimme, als wir vorbeitrieben. Der Ruf wurde beantwortet. Ein Mann bestieg ein Boot. Fünf Minuten später hatte ich sie sicher am Ufer und der Mann und ich trugen sie in das Gasthaus am Ufer.

Die Wirtin und ihr Dienstmädchen waren sehr bereitwillig uns zu helfen, aber ebenso ungeschickt, um es richtig anzufangen. Zum Glück befähigten meine medizinischen Kenntnisse mich, sie anzuleiten. Ein gutes Feuer, warme Decken, Wärmflaschen, Alles stand zu meiner Verfügung. Ich zeigte den Frauen, wie sie das Belebungswerk anzufangen hatten, wir arbeiteten Alle beharrlich daran. Leider aber lag sie noch immer in ihrer ganzen Formenschönheit da, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben - allem Anscheine nach war sie ertrunken.

Eine letzte Hoffnung blieb noch - die Hoffnung, sie durch den Prozess, den man »künstliches Atmen« nennt, wieder zu beleben, wenn es mir nur gelang den dazu nötigen Apparat rechtzeitig herzustellen. Als ich im Begriff stand der Wirtin klar zu machen, was ich brauchte, wurde ich mir einer seltsamen Schwerfälligkeit mich auszudrücken bewusst; die gute Frau trat plötzlich von mir zurück und stieß einen Schrei des Schreckens aus.

»Guter Gott, Herr, Sie bluten!« schrie sie. »Wo kommt das Blut her? Wo sind Sie verwundet?«

In dem Augenblick, als sie das sagte, wusste ich was geschehen war. Die alte indische Wunde, wahrscheinlich durch die heftige Anstrengung, die ich mir zugemutet hatte, beschädigt, war wieder aufgegangen. Ich kämpfte mit einer plötzlichen Ohnmacht, die mich zu befallen drohte; ich versuchte den Bewohnern des Gasthauses noch zu sagen, was zu tun sei. Vergebens. Ich sank in die Knie; mein Kopf fiel an die Brust der Frau, die bewusstlos vor mir auf dem niedrigen Lager lag. Der Scheintod, der sie umfangen hielt, umfing nun auch mich. Der Welt um uns her verloren, lagen wir vereint durch die Zaubermacht des Todes, während mein Blut auf sie niederströmte! Wo weilten unsere Geister in jenem Augenblick? Waren sie vereint und sich einander bewusst? Kannten wir uns in jener Entzückung wieder, die uns durch ein geistiges Band vereinte, wir Zwei, die wir uns ahnungslos und unentdeckt auf der verhängnisvollen Brücke begegnet waren? Ihr die Ihr geliebt und verloren habt - deren einziger Trost gewesen ist an andre Welten über diese hinaus zu glauben - könnt Ihr Euch unwillig von meiner Frage abwenden? Könnt Ihr wahrheitsgemäß sagen, dass Ihr nicht auch einmal so gefragt habt?

Achtes Kapitel

Die verwandten Geister

Der Morgensonnenschein, der in ein schlecht verhängtes Fenster schien; ein ungeschicktes, hölzernes Bett, mit dicken Pfosten, die bis zur Decke reichten; an einer Seite des Bettes meiner Mutter willkommenes Gesicht; an der anderen Seite ein ältlicher Herr, der mir im Augenblick fremd erschien - das waren die Gegenstände, die sich meinen Blicken darboten, als ich zuerst wieder mit Bewusstsein zu der Welt zurückkehrte, in der wir leben.

»Sehen Sie, sehen Sie Doktor, er kommt wieder zur Besinnung.«

»Öffnen sie den Mund, mein Herr, und nehmen Sie einen Schluck hiervon.«

An einer Seite des Bettes saß meine Mutter und erfreute sich an meinem Anblick und von der andern reichte mir der unbekannte Herr, der als »Doktor« angeredet wurde, einen Löffel voll Branntwein und Wasser. Er nannte das »das Lebenselixier« und bat mich zu beachten, er sprach mit starkem, schottischem Akzent, dass er selbst auch davon genösse, um mich von der Wahrheit seiner Aussage zu überzeugen.

Das Reizmittel tat seine guten Dienste. Mein Kopf war weniger schwindlig; mein Bewusstsein wurde klarer. Ich konnte mich einigermaßen auf die Hauptereignisse des letzten Abends besinnen. Eine oder zwei Minuten später - und in meinem Gedächtnis tauchte lebhaft das Bild derjenigen auf, um deren Person sich alle diese Ereignisse gedreht hatten. Ich versuchte mich im Bett auszurichten und fragte ungeduldig: »Wo ist sie?« Der Doktor reichte mir einen zweiten Löffel voll von dem Lebenselixier und wiederholte mir ernst seine erste Anrede.

»Öffnen Sie den Mund, mein Herr, und nehmen Sie einen Schluck hiervon.«

Ich beharrte auf meiner Frage.

»Wo ist sie?«

Der Doktor beharrte auf seiner Verordnung.

»Nehmen Sie einen Schluck hiervon.«

Ich war zu schwach, um über die Sache zu streiten und - gehorchte.

Mein ärztlicher Beistand nickte meiner Mutter über mein Bett hin zu, und sagte: »Nun wird es werden!« Meine Mutter empfand Mitleid mit mir und befreite mich mit einigen Worten aus meiner Unruhe:

»Dank der Hilfe des Herrn Doktors hier wird die Dame bald wieder hergestellt sein, George.«

Ich sah meinen ärztlichen Kollegen mit erneutem Interesse an. Er war also der rechtmäßige Urquell der Überzeugung, die mir beigebracht worden war, dass ich sterben müsse.

»Wie haben Sie sie wieder zum Leben zurückgebracht?« fragte ich. »Wo ist sie jetzt?«

Der Doktor erhob seine Hand und gemahnte mich zu schweigen.

»Es wird Alles gut werden, mein Herr, wenn wir systematisch vorschreiten,« begann er in sehr entschiedener Weise. »Jedes Mal, wenn Sie den Mund öffnen, darf es nur geschehen, um einen Schluck hiervon zu nehmen, nicht aber um zu sprechen. Zur gehörigen Zeit werde ich sowohl als Ihre gute Frau Mutter Ihnen Alles sagen, was für Sie wissenswert ist. Da ich zufällig der Erste war, der, wie man es zu nennen pflegt auf dem Schauplatz der Tat erschien, so liegt es in der Natur der Sache, dass ich auch zuerst spreche. Erlauben Sie mir nur noch einen Löffel voll von dem Lebenselixier zu mischen - und dann werde ich, wie der Dichter sagt, meine schlichte ungeschmückte Geschichte erzählen.«

In dem sorgfältig gewähltesten Englisch, das ich je gehört habe, sprach er diese Worte mit seinem scharfen schottischen Akzent. Ein dickköpfiger, breitschultriger, halsstarriger Mann - es war vollkommen nutzlos mit ihm zu streiten. Zu meiner Ermutigung blickte ich meiner Mutter in ihr liebes Gesicht und ließ dem Doktor seinen Willen.

»Mein Name ist Mac Glue,« fuhr er fort. »Bald nachdem Sie Ihren Wohnsitz in dieser Gegend aufgeschlagen hatten, gab ich mir die Ehre, Ihnen meine Aufwartung zu machen. Sie erinnern sich meiner jetzt nicht, was bei dem unsicheren Zustand Ihres Gedächtnisses sehr begreiflich ist. Da Sie selbst Arzt sind, werden Sie sich erklären, dass dieser Zustand von dem starken Blutverlust herrührt.«

Hier riss mir die Geduld.

»Bitte, lassen Sie mich ganz aus dem Spiel,« warf ich ein. »Sprechen Sie mir nur von der Dame.«

»Sie haben den Mund geöffnet, mein Herr!« rief Mr. Mac Glue streng. »Sie wissen die Strafe, die darauf steht - nehmen Sie einen Schluck hiervon. Ich sagte Ihnen, dass wir systematisch vorgehen müssten,« fuhr er fort, nachdem er mich gezwungen hatte, mich seiner Strafe zu unterziehen. »Jedes Ding zu seiner Zeit, Mr. Germaine, jedes Ding zu seiner Zeit. Ich sprach von Ihrem körperlichen Zustand. Nun mein Herr, wie entdeckte ich Ihren körperlichen Zustand? Zu Ihrem Glück fuhr ich gestern Abend auf dem unteren Wege, das ist der Weg am Ufer des Flusses, nach Hause; als ich mich in der Nähe dieses Gasthauses, sie nennen es zwar Hotel, aber es ist nur ein Gasthaus, befand, hörte ich das Geschrei der Wirtin schon eine halbe Meile vorher. Wenn Alles im Geleise ist, sehen Sie, dann ist sie eine gute Frau, aber ganz unbrauchbar im Notfall. Halten Sie sich ruhig, ich komme nun zur Sache. Ich ging also hinein, um zu hören, ob das Geschrei durch irgendetwas veranlasst sei, was ärztliche Hilfe wünschenswert mache und da fand ich Sie und die fremde Dame - in einer Lage, die aufrichtig gesagt, was die Schicklichkeit anlangte, einiges zu wünschen übrig ließ. Still! Still! Ich spreche im Scherz - Sie waren beide ohnmächtig. Als ich die Erzählung der Wirtin angehört und nach besten Kräften Erzählung und Erregung voneinander getrennt hatte, befand ich mich, während die Frau weiter sprach, im Zwiespalt, welchem von zwei Gesetzen ich zuerst gehorchen sollte. Das Gesetz der Galanterie gebot mir zuerst die Dame zum Gegenstande meiner ärztlichen Fürsorge zu machen - während das Gesetz der Menschlichkeit, da ich Sie noch immer bluten sah, mich gebieterisch an Sie wies. Ich bin kein Jüngling mehr - so ließ ich die Dame warten. Auf mein Wort! Mr. Germaine, Ihr Fall war kein leichter, besonders da wir Sie hier hinaufschaffen mussten. Mit Ihrer alten Wunde ist nicht zu scherzen mein Herr. Hüten Sie sich davor sie je wieder aufzureißen. Wenn Sie das nächste Mal abends spazieren gehen und eine Dame im Wasser finden - werden Sie im Interesse Ihrer Gesundheit am Besten tun, sie ruhig darin liegen zu lassen. Was sehe ich? Öffnen Sie schon wieder den Mund? Wünschen Sie wieder einen Schluck?«

»Er möchte mehr über die Dame hören,« sagte meine Mutter, meine Wünsche verdolmetschend.

»Ach so über die Dame,« fuhr Mac Glue fort. Er machte dabei den Eindruck eines Mannes, dem das vorgeschlagene Gesprächsthema nicht sehr anziehend erschien. »Über die Dame weiß ich nicht viel zu sagen. Sie ist ohne Zweifel eine schöne Frau. Wenn man ihr das Fleisch von den Knochen abziehen könnte, würde man ein herrliches Skelett darunter finden. Denn, glauben Sie mir, es gibt keine schön geformte Frau, die nicht bei ihrer Entstehung ein gutes Knochengerüst mitbekommen hat. Ich halte nicht viel von dieser Dame, - vom sittlichen Standpunkte aus, verstehen Sie. Wenn Sie mir gestatten, Madame, meine Ansicht auszusprechen, so glaube ich unbedingt, dass im Hintergrund dieser dramatischen Aufführung auf der Brücke, die sie gemacht hat, ein Mann steckt. Da ich aber entschieden nicht der Mann bin so geht mich die Sache nichts an. Ich hatte nur die Pflicht, die lebende Maschine wieder in Gang zu bringen und, weiß der Himmel, das war ein gutes Stück Arbeit! Der Fall war noch schwieriger als der Ihre, mein Herr. In meinen langen Erfahrungen sind mir noch nie zwei Menschen begegnet, die so wenig bereit waren zu dieser Welt und ihren Mängeln zurückzukehren als Sie beide. Als mir nun endlich das Werk gelungen war und ich selbst vor Anstrengung und Ermüdung fast ohnmächtig wurde, raten Sie - dieses eine Mal erlaube ich Ihnen zu sprechen - raten Sie, welches die ersten Worte der Dame waren, als sie wieder zum Bewusstsein kam!«

Ich war zu erregt, um nachdenken zu können. »Ich kann nicht raten!« sagte ich ungeduldig.

»Ja, geben Sie es nur auf,« bemerkte Mr. Mac Glue. »Die ersten Worte, die sie an den Mann richtete, der sie dem Rachen des Todes entrissen hatte«, waren diese: »Wie konnten Sie wagen mein Vorhaben zu stören? Warum ließen Sie mich nicht sterben?« Ich kann einen Eid darauf leisten, dass dieses ihre eigenen Worte sind. Ich war so gereizt dadurch, dass ich sie mit ihrer eigenen Münze bezahlte, wie man zu sagen pflegt. »Der Fluss ist hier ganz nah, Madame«, sagte ich. »Führen Sie Ihr Vorhaben aus. Ich verspreche Ihnen, dass ich meinerseits keine Hand rühren werde, um sie zu retten.« Sie sah mich scharf an. »Sind Sie der Mann, der mich aus dem Wasser zog?« fragte sie. »Gott bewahre! Nein,« sagte ich. »Ich bin nur der Arzt, der töricht genug war sich nachher an Ihre Behandlung zu wagen.« Sie wendete sich zur Wirtin: »Wer zog mich aus dem Flusse?« fragte sie. Die Wirtin sagte es ihr - und nannte Ihren Namen. »Germaine?« sprach sie zu sich selbst. »Ich kenne niemand des Namens; ob er der Mann sein mag, der auf der Brücke mit mir sprach?« »Ja,« sagte die Wirtin; »Mr. Germaine sagte, dass er Sie auf der Brücke traf.« Als sie das hörte, dachte sie ein Weilchen nach und dann verlangte sie Mr. Germaine zu sehen. »Wer er auch sei,« sagte sie, »er hat sein Leben für meine Rettung eingesetzt und dafür bin ich ihm Dank schuldig.« »Heute Abend können Sie ihm nicht mehr danken,« versetzte ich, »er liegt hier oben und befindet sich zwischen Leben und Sterben; ich habe nach seiner Mutter geschickt - warten Sie bis morgen.« Sie drehte sich nach mir um, und sah halb erschreckt, halb erzürnt aus. »Ich kann nicht warten« sagte sie, »Sie wissen nicht, was Sie dadurch hier angerichtet haben, dass Sie mich zum Leben zurückbrachten; ich muss morgen diese Gegend verlassen; ich muss morgen aus Pertshire fort sein, wann kommt die erste Post, die nach Süden geht, hier vorüber?« Da mich die erste Post, die nach Süden geht, nichts anging, verwies ich sie an die Bewohner des Gasthauses. Nun die Dame hergestellt war, führte mich mein Beruf hinauf in dieses Zimmer, um zu sehen, wie es bei Ihnen ging. Sie befanden sich ganz nach Wunsch; ich fand Ihre gute Mutter an Ihrem Bett. So ging ich denn nach Hause, um zu sehen, wer von meinen gewöhnlichen Kranken mich erwartete. Als ich diesen Morgen zurückkam - erzählte mir die alberne Wirtin eine neue Geschichte. »Sie ist fort!« rief sie. »Wer ist fort?« fragte ich. »Die Dame,« sagte sie, »sie fuhr heute früh mit der ersten Post ab!«

»Sie wollen mir doch nicht sagen, dass sie dieses Haus verlassen hat?« rief ich aus.

»Ja, gewiss!« sagte der Doktor, so bestimmt wie immer. »Fragen Sie Ihre Frau Mutter, die wird es Ihnen nach Herzenslust bestätigen. Ich muss noch andere Kranke besuchen - und bin eben auf meiner Rundfahrt begriffen. Sie werden nichts mehr von der Dame sehen und ich denke das ist das Beste! In zwei Stunden bin ich wieder zurück und wenn sich Ihr Zustand inzwischen nicht verschlimmert hat, will ich versuchen Sie aus diesem unbehaglichen Ort in Ihr bequemes, wohlbekanntes Bett daheim zu übersiedeln. Aber lassen Sie ihn nicht sprechen, Madame, - lassen Sie ihn nicht sprechen!«

Mit diesen Abschiedsworten verließ uns Mr. Mac Glue.

»Ist es wirklich wahr?« fragte ich meine Mutter.

»Hat Sie das Gasthaus ohne mich zu sehen, verlassen?«

»Sie war nicht aufzuhalten, George,« antwortete meine Mutter. »Die Dame verließ das Gasthaus heute früh mit der Edinburgher Post.«

Ich war tief betrübt und bitter enttäuscht. Ja »bitter« ist das rechte Wort, obgleich sie mir eine Fremde war.

»Sahst Du sie selbst?« fragte ich.

»Ich sah sie einige Minuten lang, lieber Sohn, als ich auf dem Wege zu Deinem Zimmer war.«

»Was sagte sie?«

»Sie bat mich, sie bei Dir zu entschuldigen. Sie sagte: »Teilen Sie Mr. Germaine mit, dass meine Lage furchtbar ist: mir kann kein Mensch helfen. Ich muss fort von hier. Mein verflossenes Leben ist in diesem Augenblicke ebenso entschieden beendet, als hätte Ihr Sohn mich gestern in dem Flusse ertrinken lassen. Ich muss an einem neuen Ort ein neues Leben zu beginnen versuchen. Bitten Sie Mr. Germaine in meinem Namen um Vergebung, dass ich abreise, ohne ihm gedankt zu haben. Ich darf nicht zögern! Man könnte mich verfolgen und auffinden. Es gibt einen Menschen, den ich entschlossen bin nie wieder zu sehen - nie! nie! nie! Leben Sie wohl; versuchen Sie mir zu vergeben.«

Sie barg ihr Gesicht in ihre Hände und schwieg. Ich bemühte mich ihr Vertrauen zu gewinnen - es war vergebens; ich musste sie verlassen. Diese unglückliche Frau, George, muss maßlos elend sein und sie ist ein so herzgewinnendes Geschöpf! Es war mir unmöglich ihr mein Mitleid zu versagen, ob sie es verdient oder nicht. Ein tiefes Geheimnis umgibt sie, lieber Sohn. Sie spricht Englisch ohne jeden fremdartigen Akzent - und doch trägt sie einen fremden Namen.

»Sagte sie Dir ihren Namen?«

»Nein - und ich wollte sie nicht danach fragen. Die Wirtin hier ist aber keine sehr rückhaltende Person, sie erzählte mir, dass sie die Wäsche der Unglücklichen noch gesehen habe, während sie am Feuer getrocknet wurde. Der Name, den sie trug war: »Van Brandt.«

»Van Brandt?« wiederholte ich. »Das klingt, wie ein holländischer Name. Du sagst aber, dass sie wie eine Engländerin sprach, vielleicht ist sie in England geboren.«

»Oder vielleicht ist sie verheiratet,« fügte meine Mutter hinzu, »und van Brandt ist der Name ihres Mannes.«

Der Gedanke, dass sie verheiratet sein möchte, war mir unbehaglich. Ich wünschte meine Mutter hätte diese Vermutung nicht ausgesprochen. Ich weigerte mich sie zu teilen und beharrte in meinem Glauben, dass die Fremde unvermählt sei, dann konnte ich mir ja gestatten, ungehindert an sie zu denken; ich konnte dann ja hoffen die Spur der reizenden Fliehenden zu entdecken, die mir ein so hohes Interesse eingeflößt hatte und deren Selbstmordversuch mich fast das Leben gekostet hätte. Freilich war die Hoffnung sie wiederzufinden zweifelhaft genug, wenn sie wirklich bis Edinburgh gereist war, - was ziemlich sicher schien, da sie unentdeckt bleiben wollte. Die große Stadt und mein schwacher Gesundheitszustand machten das Suchen dort sehr schwer und dennoch belebte mich die Hoffnung so, dass ich kein Gefühl der Niedergeschlagenheit empfand. Ich hatte die feste Überzeugung, oder ich sollte besser sagen, den sicheren Aberglauben, dass wir beide, die wir beinah mit einander gestorben wären, die wir vereint zum Leben zurückgerufen waren, auch bestimmt sein mussten in Zukunft noch gemeinsame Freuden oder Schmerzen zu durchleben. »Ich denke, ich werde sie wiedersehen,« war mein letzter Gedanke, ehe die Schwäche mich übermannte und ich in einen friedlichen Schlummer sank.

In derselben Nacht wurde ich von dem Gasthause nach meinem eigenen Zimmer gebracht und in dieser Nacht sah ich sie im Traum wieder.

Ihr Bild war mir ebenso lebhaft gegenwärtig, als das so ganz verschiedene der kleinen Mary, wie ich sie in früheren Tagen erblickt hatte. Die Traumgestalt der Frau war gekleidet wie ich sie auf der Brücke gesehen hatte. Sie trug denselben breitgeränderten Gartenhut von Stroh. Sie sah mich an, wie sie mich angesehen hatte, als ich mich ihr in dem matten Abendlicht genähert hatte, bald aber verklärte sich ihr Gesicht durch ein göttlich schönes Lächeln und sie flüsterte in mein Ohr: »Freund, kennst du mich?«

Ich kannte sie sicherlich und - doch hatte ich ein unbegreifliches Gefühl von Zweifel. Obgleich ich sie im Traum als die Fremde erkannte, die mich so lebhaft beschäftigte, war ich doch unzufrieden mit mir selbst, als hätte ich sie nicht recht erkannt. Mit diesem Gedanken erwachte ich und schlief die Nacht über nicht mehr.

In drei Tagen war ich kräftig genug mit meiner Mutter auszufahren und zwar in dem bequemen, altmodischen, offenen Wagen, der Mr. Germaine gehört hatte.

Am vierten Tage beschlossen wir einen Ausflug nach einem kleinen Wasserfall in unserer Nachbarschaft zu machen. Meine Mutter hatte eine große Vorliebe für diesen Ort und hatte den Wunsch ausgesprochen, ein Andenken daran zu besitzen. Ich beschloss mein Skizzenbuch mitzunehmen, für den Fall, dass ich mich kräftig genug fühlen würde, um ihr eine Zeichnung von ihrer Lieblingslandschaft zu machen. Ich fand das Skizzenbuch, das ich suchte und das ich seit Jahren nicht benutzt hatte, in einem alten Schreibtisch, der seit meiner Abreise nach Indien nicht geöffnet worden war. Während des Suchens zog ich einen Schubkasten in dem Tisch auf und fand darin eine Reliquie aus alter Zeit - meiner armen, kleinen Mary erste Stickerei - die grüne Flagge!

Der Anblick des vergessenen Talismanes führte meine Erinnerung zu des Vogtes Hause zurück, ich gedachte der Dame Dermody und ihrer vertrauensvollen Prophezeiung für Mary und mich.

Ich lächelte, als ich mir die Behauptung der alten Frau zurückrief, dass es in Zukunft keiner menschlichen Macht gelingen würde, die verwandten Geister dieser Kinder zu trennen. Was war aus den prophezeiten Träumen geworden, durch die wir während unserer Trennungszeit miteinander verkehren sollten? Jahre waren vergangen und ich hatte weder schlafend noch wachend etwas von Mary gesehen. Jahre waren vergangen und das erste Traumbild, das mir von einem Weibe erschienen, war, vor wenigen Nächten, das Bild der Frau gewesen, die ich vom Ertrinken gerettet hatte! Ich dachte über diese Ereignisse und Wechsel in meinem Leben nach - aber ohne Zorn und Bitterkeit. Die neue Liebe, die sich in mein Herz geschlichen hatte, machte mich sanfter und milder. Ich sprach zu mir selbst: »Arme kleine Mary!« - und küsste die grüne Flagge in dankbarer Erinnerung an jene Tage, die nimmer wiederkehren konnten.

Wir fuhren nach dem Wasserfall.

Es war ein herrlicher Tag: die einsame Waldgegend war so strahlend und schön! Der Besitzer des Ortes hatte ein hölzernes Lusthaus, das eine Aussicht auf den niederstürzenden Strom bot, zur Bequemlichkeit der Besucher erbaut. Meine Mutter bat mich, zu versuchen, ob ich nicht von dieser Stelle aus die Aussicht aufnehmen könnte. Ich bemühte mich ihr den Gefallen zu tun, aber das Resultat befriedigte mich nicht und ich gab das Zeichnen auf, ehe ich halb fertig war. Skizzenbuch und Bleistift auf dem Tische des Lusthauses zurücklassend, schlug ich meiner Mutter vor einen Gang über die kleine hölzerne Brücke zu machen, die den Strom dicht bei seinem Fall überspannt, um zu sehen, wie sich die Landschaft von dem neuen Gesichtspunkte aus ausnahm.

Die Ansicht des Wasserfalles, vom entgegengesetzten Ufer aus gesehen, bot für einen mittelmäßigen Zeichner, wie ich es war, noch größere Schwierigkeiten, als die eben verlassene. Wir kehrten also zum Lusthause zurück.

Ich näherte mich zuerst der geöffneten Tür, stand aber, durch eine unerwartete Entdeckung am Eintreten gehindert, plötzlich still. Das Haus war nicht mehr leer, wie wir es verlassen hatten. Eine Dame saß am Tisch, meinen Bleistift in der Hand, in meinem Skizzenbuche schreibend!

Nach einigem Zögern trat ich näher zur Tür und hielt dann wieder, in atemlosem Erstaunen, inne. Die Fremde in dem Lusthause war keine Andere, als die Frau, die sich von der Brücke aus den Tod geben wollte!

Darüber war kein Zweifel. Es war dasselbe Kleid; es war das unvergessliche Gesicht, das ich im Abendlicht gesehn, das mir noch vor wenigen Nächten im Traum erschienen war! Ja, es war dieselbe Frau - ich sah sie so deutlich, wie ich die Sonne auf den Wasserfall scheinen sah - es war dieselbe, mit meinem Bleistift in der Hand, in meinem Buche schreibend!

Meine Mutter stand dicht hinter mir: sie sah meine Erregung. »George, was ist Dir!« rief sie aus.

Ich wies durch die offene Tür des Lusthauses.

»Nun?« fragte meine Mutter, »was ist da zu sehen?«

»Siehst Du nicht jemand am Tisch sitzen und in meinem Skizzenbuche schreiben?«

Meine Mutter blickte mich erstaunt an. »Sollte er wieder krank werden?« sagte sie zu sich selbst.

Im selben Augenblick legte die Frau den Bleistift aus der Hand und erhob sich langsam.

Sie sah mich mit traurigen, bittenden Augen an, und erhob ihre Hand, indem sie mir winkte. Ich gehorchte. Mich unwillkürlich vorwärts bewegend, fühlte ich mich durch eine unwiderstehliche Macht näher und näher zu ihr gezogen, ich erstieg die kleine Treppe, die zu dem Lusthause führte. Wenige Schritte vor ihr stand ich still. Sie trat zu mir heran und legte ihre Hand auf meine Brust. Ihre Berührung erfüllte mich mit einem wunderbar gemischten Gefühl von Entzücken und Ehrfurcht. Nach einigen Augenblicken sprach sie, in leisen, melodischen Tönen, die sich in meinem Ohr mit dem fernen Rauschen des Wasserfalls vermischten, bis sie zu einem Tone verschwammen. Ich hörte das Rauschen, ich hörte von ihrer Stimme die Worte: »Gedenke mein. Komm zu mir.« Ihre Hand sank von meiner Brust herab. Das helle Tageslicht in dem Zimmer verdunkelte sich einen Augenblick, wie durch einen flüchtigen Schatten. Ich sah mich nach ihr um, als es wieder hell wurde. Sie war verschwunden.

Ich kehrte zum Bewusstsein der Wirklichkeit zurück.

Die länger werdenden Schatten draußen machten mir klar, dass der Abend herannahte. Der Wagen stand vor dem Lusthause, um uns abzuholen. Meine Mutter hatte ihre Hand auf meinen Arm gelegt und sprach ängstlich zu mir. Es gelang mir, ihr durch ein Zeichen zu sagen, dass sie unbesorgt über mich sein möchte - mehr konnte ich nicht tun. Der Wunsch, mein Skizzenbuch zu sehen, erfüllte mich ganz und gar. So bestimmt ich die Frau gesehen hatte, so sicher hatte ich sie mit meinem Bleistift in der Hand, etwas in mein Buch schreiben sehen.

Ich trat an den Tisch, auf dem das geöffnete Buch lag. Ich sah den leeren Raum auf dem unteren Teil der Seite, auf der ich meine unvollendete Zeichnung begonnen hatte. Meine Mutter, die mir gefolgt war, blickte ebenfalls darauf.

Da war die Schrift! Die Frau war verschwunden - aber sie hatte die geschriebenen Worte zurückgelassen, die meiner Mutter sowohl, als mir sichtbar waren, die meine Mutter ebenso deutlich lesen konnte, als ich!

Die Worte, die wir sahen, lauteten, in zwei Reihen geschrieben, wie ich sie hier abschreibe:

Wenn der Vollmond scheint

An Sankt Antonios Brunnen.

Neuntes Kapitel

Natürlich und übernatürlich

Indem ich auf die Schrift in meinem Skizzenbuch wies, blickte ich meine Mutter an. Ich hatte mich nicht geirrt, sie hatte es ebenso gut beobachtet, wie ich. Sie wollte aber nicht zugeben, dass irgend etwas Aufregendes geschehen sei, - wenigstens deutete ich so ihren Gesichtsausdruck.

»Es hat Dir jemand einen Streich spielen wollen, George,« sagte sie.

Ich schwieg. Was sollte ich sagen. Meine arme Mutter war entschieden selbst eben so wenig von ihrer ungenügenden Erklärung befriedigt, wie ich. Der Wagen erwartete uns am Tor, so traten wir schweigend unsern Rückweg an.

Das Skizzenbuch lag offen auf meinen Knien, meine Augen waren darauf geheftet; im Geiste rief ich mir den Augenblick zurück, als die Erscheinung mir winkte in das Lusthaus einzutreten und dort zu mir sprach. Hielt ich ihre Worte und diese Schrift zusammen, so war es mir möglich einen Schluss daraus zu ziehen: die Frau, die ich vom Ertrinken errettet hatte, bedurfte meiner wiederum.

Und das war die Frau, eben dieselbe Frau, die ohne Säumen die erste Gelegenheit benutzt hatte, um das Haus zu verlassen, das uns beiden ein Obdach bot - ohne einen Augenblick zu verziehen, um erst dem Manne, der sie vom Tode errettet hatte, ein Wort des Dankes zu sagen. Vier Tage waren erst verstrichen, seit sie mich, scheinbar, auf Nimmerwiedersehn verlassen hatte und nun kehrte ihre geistige Erscheinung wie zu einem erprobten, treuen Freunde zu mir zurück, rief die Erinnerung an sich wieder selbst in mir wach und forderte mich auf zu ihr zu kommen; ja, um jede Täuschung meiner Phantasie zu vermeiden, hatte sie die Worte noch aufgeschrieben, die mich zu ihr beriefen: »wenn der Vollmond scheint an St. Antonios Brunnen.«

Was war in der Zwischenzeit vorgegangen? Was bedeutete diese übernatürliche Verbindung zwischen uns? Was hatte ich zunächst zu tun? Meine Mutter unterbrach mich in meinen Betrachtungen. Sie streckte die Hand aus und schloss das offene Buch auf meinen Knien, als wäre ihr der Anblick jener Schrift unerträglich.

»Warum sprichst Du Dich nicht aus, George,« sagte sie. »Warum behältst Du Deine Gedanken für Dicht?«

»Ich bin ganz verwirrt,« antwortete ich. »Mir fehlt jede Vermutung, jede Erklärung. All mein Denken richtet sich auf die eine Frage, was tue ich zunächst. Nur über den einen Punkt bin ich ganz sicher.« Ich berührte bei diesen Worten das Skizzenbuch. »Komm was da wolle, ich werde ihrem Wunsch, zu erscheinen, folgen.«

Meine Mutter sah mich an, als ob sie ihren Sinnen nicht recht traute. »Er spricht als wäre das Alles wirklich geschehen!« rief sie aus. »George! Du glaubst doch nicht, dass Du in der Tat jemand in dem Lusthause gesehn hast? Die Stelle war leer. Ich versichere Dich, als Du in das Lusthaus hinein zeigtest, war die Stelle leer. Du hast so lange an diese Frau gedacht, bis Du Dir einbildest sie wirklich gesehn zu haben.«

Ich öffnete das Skizzenbuch wieder. »Ich glaubte zu sehen, wie sie etwas auf diese Seite schrieb,« erwiderte ich. »Sieh her - und sage mir, ob ich irrte.« Meine Mutter weigerte sich hinzusehen. So entschieden sie auch darauf beharrte die Sache mit der Vernunft zu erklären, so sehr erschwerte die Schrift in dem Buche ihr das.

»Es ist kaum eine Woche her,« fuhr sie fort, »als ich Dich mit dem Tode ringend auf dem Bett in dem Gasthause liegend fand. Wie kannst Du bei Deinem Gesundheitszustande daran denken, ihrem Rufe zum Brunnen zu folgen? Dem Rufe eines geheimnisvollen Wesens, das in Deiner Einbildung lebt, auftaucht und verschwindet, und sichtbar geschriebene Worte zurücklässt! Es ist lächerlich, George; ich wundere mich, dass Du nicht selbst darüber lachst.«

Sie wollte mich durch ihr Beispiel zum Lachen reizen - mit tränenfeuchten Augen machte die arme Seele den vergeblichen Versuch. Ich bereute, dass ich mich so offen zu ihr ausgesprochen hatte.

»Nimm die Sache nicht zu ernst, Mutter,« sagte ich. »Vielleicht kann ich den Ort gar nicht auffinden. Ich hörte nie etwas von St. Antonios Brunnen; ich habe keinen Begriff wo er ist. Vorausgesetzt, dass ich ihn entdeckte - und vorausgesetzt, dass die Reise dahin angenehm ist, - würdest Du mich dann dahin begleiten?«

»Gott behütet« rief meine Mutter heftig aus. »Ich mag damit nichts zu tun haben, George, Du befindest Dich in einer Täuschung - ich will mit dem Doktor sprechen!«

»Jedenfalls, liebste Mutter! Mr. Mac Glue ist ein einsichtsvoller Mann. Wir wollen ihn zu Mittag einladen, da wir auf unserem Heimwege an seinem Hause vorüber kommen. Bis dahin lass uns die Sache nicht mehr berühren, erst wollen wir den Doktor sprechen.«

Ich sagte das leicht hin, meinte aber ganz ernstlich, was ich sagte. Mein Gemüt war tief beunruhigt; meine Nerven waren so erschüttert, dass das leiseste Geräusch auf dem Wege mich erschreckte. Vielleicht war mir wirklich die Anschauung eines Mannes, wie Mr. Mac Glue, der alle irdischen Angelegenheiten von demselben unwandelbar praktischen Standpunkte aus betrachtete, als eine Art moralischen Heilmittels von Nutzen.

* * *

Wir warteten bis der Nachtisch aufgetragen war und die Dienerschaft das Speisezimmer verlassen hatte. Dann erzählte ich meine Geschichte, wie ich sie hier erzählt habe, dem schottischen Doktor, dann öffnete ich das Skizzenbuch und zeigte ihm die Schrift, damit er sie selbst betrachten konnte.

Hatte ich eine falsche Seite aufgeschlagen?

Ich sprang auf und hielt das Buch dicht unter die Lampe, die über dem Esstisch hing. Nein: es war die richtige Seite, da war meine halbbeendete Zeichnung des Wasserfalles - aber wo waren die beiden geschriebenen Zeilen darunter?

Verschwunden!

Ich strengte meine Augen an, ich sah und sah und das leere weiße Papier starrte mir entgegen.

Ich legte das offene Blatt vor meine Mutter hin. »Du hast es doch ebenso deutlich gesehen, als ich,« sagte ich. »Täuschen mich meine eigenen Augen? Sieh die Seite hier unten an.«

Meine Mutter sank mit einem Schreckensruf in ihren Stuhl zurück.

»Verschwunden?« fragte ich.

»Verschwunden!«

Ich wendete mich zu dem Doktor und war erstaunt, als ich ihn ansah. Kein ungläubiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht; keine Scherzworte kamen über seine Lippen. Er hörte uns aufmerksam zu, ernstlich gespannt mehr zu hören.

»Ich versichere Sie auf mein Ehrenwort,« sagte ich ihm, »dass ich die Erscheinung mit meinem Bleistift hier unten auf diese Seite schreiben sah. Ich versichere Sie, dass, als ich das Buch in die Hand nahm, ich diese Worte darauf geschrieben sah: »Wenn der volle Mond scheint, an St. Antonios Brunnen.« Nicht mehr als drei Stunden sind seitdem vergangen - und, sehen Sie selbst, kein Schimmer ist von der Schrift zurückgeblieben.«

»Es bleibt kein Schimmer von solcher Schrift,« wiederholte Mr. Mac Glue ruhig.

»Wenn Sie im Geringsten bezweifeln, was ich Ihnen sage,« fuhr ich fort, »so fragen Sie meine Mutter - sie wird bezeugen, dass sie die Schrift auch gesehen hat.«

»Ich bezweifle nicht, dass Sie beide die Schrift sahen,« erwiderte Mr. Mac Glue mit einer Ruhe, die mich in Erstaunen setzte.

»Können Sie das erklären?« fragte ich.

»Nun wohl,« sagte der undurchdringliche Doktor, »wenn ich meinen Verstand anstrenge, so glaube ich es zur Zufriedenheit gewisser Leute erklären zu können. Zum Beispiel könnte ich Ihnen erstens die natürlichste Erklärung, wie man es nennt, geben. Ich könnte sagen, dass Sie, nach meinem besten Wissen, in einer sehr erregten, nervösen Stimmung sind, und dass Sie, als Sie die vermeintliche Erscheinung sahen, eben nichts sahen, als Ihre eigene Vorstellung von einer abwesenden Frau - die, wie ich ernstlich befürchte, Sie bei der schwachen oder verliebten Seite erfasst hat. Ich will Sie nicht beleidigen, Mr. Germaine -«

»Ich nehme Ihnen nichts übel, Doktor, Aber, verzeihen Sie, wenn ich aufrichtig spreche, - diese natürliche Erklärung ist an mir verloren.«

»Ich bin gern bereit Sie zu entschuldigen,« antwortete Mr. Mac Glue, »besonders, da ich ganz Ihrer Ansicht bin. Ich glaube dieser Erklärung selber nicht.«

Dieser Ausspruch überraschte mich in hohem Grade!

»Woran glauben Sie denn?« fragte ich.

Mr. Mac Glue wollte sich nicht durch mich übereilen lassen.

»Geduld, Geduld,« sagte er. »So wollen wir es denn mit der übernatürlichen Erklärung versuchen. Vielleicht sagt die Ihrem jetzigen Gemütszustande mehr zu, als die Andere. Sehen wir voraus, dass Sie wirklich den Geist oder Doppelgänger einer lebenden Person gesehen haben. Nun wohl. Wenn Sie annehmen können, dass ein körperloser Geist in irdischen Gewändern - von Seide oder Merino, je nachdem, - erscheint, so ist es kein weiter Schritt bis zu der Annahme, dass derselbe Geist fähig ist einen irdischen Bleistift zu führen und in ein irdisches Buch irdische Worte zu schreiben. Ist nun der Geist, wie der Ihre es tat, verschwunden, so scheint es den Gesetzen des Übernatürlichen entsprechend, dass die Schrift seinem Beispiel folgt und auch verschwindet. Der Grund dieses Verschwindens, wenn Sie einen solchen suchen, mag darin liegen, dass der Geist es nicht liebt, einen Fremden, wie mich, in seine Geheimnisse eingeweiht zu sehen oder dass das Verschwinden eine feststehende Gewohnheit bei den Geistern und bei Allem, was zu ihnen gehört, ist. Vielleicht hat dieser Geist auch in den drei Stunden, was, da es der Geist einer Frau war, um so weniger wunderbar ist, seine Ansicht geändert und wünscht nicht mehr Sie »wenn der volle Mond scheint an St. Antonios Brunnen« zu sehen. Da haben Sie die übernatürliche Erklärung; aber, wenn ich meine Ansicht sagen soll, muss ich hinzufügen, dass diese Erklärung auch nicht eine Stecknadel wert ist.«

Mr. Mac Glues erhabene Gleichgültigkeit über die beiden Gesichtspunkte von der Sache störte mich.

»Aufrichtig gesagt, Doktor,« sagte ich, »halten Sie die Umstände, die ich Ihnen mitteilte, keiner ernsten Untersuchung wert.«

»Ich halte die Sache für eine ernste Untersuchung nicht angetan,« antwortete der Doktor. »Sehen Sie es in der Weise an und Sie haben das Richtige. Sehen Sie um sich. Hier sitzen wir drei Personen lebendig und froh um diesen behaglichen Tisch. Wenn, was Gott verhüte, Sie oder Mrs. Germaine, hier plötzlich tot umfielen, könnte ich, obgleich ich Arzt bin, ebensowenig erklären, welches Haupterfordernis des Lebens oder der Bewegung plötzlich gestockt hat, wie der Hund es könnte, der dort am Kamine schläft. Wenn ich mich darin finde, einem so undurchdringlichen Geheimnisse, wie dieses, das sich mir doch Tag für Tag, wo ich ein Geschöpf sterben oder zur Welt kommen sehe, aufdrängt, unwissend gegenüber zu sitzen - warum soll ich mich da nicht begnügen angesichts Ihrer Dame in dem Lusthause, zu gestehen, dass sie über meinem Begriffsvermögen steht und dass ich sie zu ergründen aufgebe!«

Bei diesen Worten mischte sich meine Mutter zum ersten Male in die Unterhaltung.

»Ach, mein Herr,« sagte sie, »wenn Sie meinen Sohn nur bewegen könnten Ihre vernünftige Ansicht zu teilen, wie glücklich würde ich sein! Wollen Sie es glauben - er hat ernstlich die Absicht nach St. Antonios Brunnen zu gehen, wenn er ihn auffindet!«

Diese Entdeckung überraschte Mr. Mac. Glue durchaus nicht.

»Nun, nun! Er will der Aufforderung des Geistes Folge leisten - nicht mehr! Wohlan! Wenn er seinem Entschlusse treu bleibt, kann ich ihm dabei von Nutzen sein. Ich kann ihm erzählen, was mit einem anderen Manne geschah, der so der Berufung eines Geistes folgte.«

Das war ein merkwürdiger Ausspruch. Meinte er wirklich, was er sagte?

»Scherzen Sie oder sprechen Sie im Ernst?" fragte ich.

»Ich scherze nie, mein Herr!« versetzte Mr. Mac Glue. »Kein Kranker traut einem Arzte, der scherzt. Zeigen Sie mir einen Mann aus meiner Berufsklasse, den selbst seine nächsten und liebsten Freunde je während seiner Geschäftsstunden in heiterer Laune gesehen hätten. Sie haben sich gewundert, wie ich vermute, dass ich Ihre Erzählung so kühl aufnahm. Das kommt aber natürlich daher, mein Herr, dass die Ihre nicht die erste Geschichte ist, die ich von einem Geiste und einem Bleistift hörte.

»Wollen Sie mir damit sagen,« fragte ich, »dass Sie noch jemand kennen, der gesehen hat, was ich sah?«

»Eben das wollte ich Ihnen sagen,« erwiderte der Doktor. »Der Mann war ein entfernter Vetter von meiner verstorbenen Frau, er führte den geachteten Namen Bruce und war Seemann. Erst werde ich noch ein Glas Sherry trinken, um mir die Kehle anzufeuchten, wie man im Volke sagt, und dann will ich beginnen. Also, Sie müssen wissen, dass Bruce in der Zeit, von der ich rede, auf einem Schiffe angestellt war und sich auf einer Reise von Liverpool nach Neu-Braunschweig befand. Eines Nachmittags war er mit dem Kapitän eifrig beschäftigt, die Sonne zu beobachten, Länge und Breite genau messend. Bruce sah aus seiner Kajüte durch die offene Tür in die gegenüberliegende Kajüte des Kapitäns. »Wie beurteilen Sie das, mein Herr?« sagte Bruce. Der Mann in der Kajüte des Kapitäns sah auf. Und was sah Bruce? Das Gesicht des Kapitäns? Keine Spur davon - das Gesicht eines völlig Fremden! Bruce springt auf, sein Herz schlug im Augenblick gewaltig, er sucht den Kapitän auf Deck und findet ihn wie gewöhnlich; seine Berechnungen waren beendet, und er hatte sich die Längen- und Breitenverhältnisse für diesen Tag ans dem Sinn geschlagen. »Dort unten ist jemand an Ihrem Pult, Herr,« sagt Bruce. »Er schreibt auf Ihre Tafel, aber er ist mir völlig fremd.« »Ein Fremder in meiner Kajüte?« ruft der Kapitän. »Unmöglich Mr. Bruce, das Schiff ist seit sechs Wochen aus dem Hafen. Wie sollte er an Bord gekommen sein?« Bruce weiß nicht wie, aber ihn verfolgt seine Geschichte. Der Kapitän geht fort und eilt wie ein Wirbelwind in seine Kajüte, findet aber niemand darin. Bruce selbst ist genötigt zuzugeben, dass der Platz leer ist. »Wüsste ich nicht, dass Sie ein nüchterner Mann wären, so würde ich Sie der Trunkenheit beschuldigen,« sagte der Kapitän. »So will ich Sie nur der Träumerei zeihen, aber tun Sie das nicht wieder, Mr. Bruce.« Bruce bleibt bei seiner Geschichte; Bruce schwört, dass er den Mann auf des Kapitäns Tafel schreiben sah. Der Kapitän besichtigt die Tafel. »Der Herr segne und behüte uns,« sagt er, »wahrhaftig, hier ist die Schrift!« Bruce sieht sie auch, so deutlich wie möglich, in folgenden Worten: »Steure nach Nord-West!« Das und nichts weiter. Ach, mein Himmel, Erzählen ist eine trockne Arbeit, Mr. Germaine! Mit Ihrer Erlaubnis trinke ich erst wieder einige Tropfen Sherry!«

»Nun wohl! Das ist feuriger alter Wein; sehen Sie nur diese öligen Tropfen am Glase herunterlaufen. Also, Sie begreifen, nach Nordwest zu steuern war dem Kapitän ganz aus dem Wege. Dessenungeachtet, da keine Lösung des Geheimnisses an dem Schiffe zu finden war und das Wetter günstig, beschloss der Kapitän noch so lange das Tageslicht währte die Richtung zu ändern und zu sehen, was dann kommen würde. Gegen drei Uhr nachmittags kam ein Eisberg, der ein gescheitertes Schiff mit sich führte, das fest mit dem Eise zusammengefroren war und dessen Passagiere und Bemannung vor Kälte und Erschöpfung dem Tode nah waren. Das war wunderbar genug, werden Sie sagen, aber es steckt noch mehr dahinter. Als Bruce einem der geretteten Passagiere auf das Schiff hinauf helfen will, erkennt er denselben Mann, dessen Geistererscheinung er in des Kapitäns Kajüte, an seinem Pulte schreibend, gesehen hatte! Und mehr noch - wenn Ihre Fähigkeit zu Erstaunen nicht bereits erschöpft ist - der Passagier erkennt das Schiff als dasselbe, das er an diesem Nachmittage im Traume gesehen hatte. Als er erwacht war, hatte er davon sogar mit einem Offizier an Bord des gescheiterten Schiffes gesprochen. »Wir werden heute noch gerettet werden«, hatte er gesagt, - und hatte genau die Spitze des Schiffes beschrieben, Stunden und aber Stunden bevor es in Sicht kam. Nun wissen Sie, Mr. Germaine, wie ein entfernter Vetter meiner Frau der Aufforderung eines Geistes folgte und was dadurch geschah.«1

Mit diesen Worten schloss der Doktor seine Geschichte, indem er sich wieder ein Glas Sherry eingoss. Ich war indes nicht befriedigt, ich wollte noch mehr wissen.

»Verschwand die Schrift auf der Tafel, wie die in meinem Buche,« fragte ich, »oder blieb sie darauf stehen?«

Mr. Mac Glues Antwort enttäuschte mich. Er hatte weder je gehört noch nachgefragt, ob die Schrift darauf geblieben war oder nicht. Er hatte mir Alles gesagt, was er wusste und hatte nur noch eines hinzuzufügen - und das war eine Bemerkung mit einer darangeknüpften Moral. »Es ist eine große Ähnlichkeit zwischen Ihrer Geschichte und der von Bruce vorhanden, Mr. Germaine. Der hauptsächlichste Unterschied, den ich finde, ist, dass durch die Aufforderung jenes Passagiers die ganze Bemannung eines Schiffes gerettet wurde - ob die Aufforderung der Dame zu ihrer Rettung beitragen wird - bezweifle ich.«

Ich durchdachte schweigend die seltsame Geschichte, die mir soeben erzählt worden war. Ein anderer Mann hatte gesehen, was ich sah, - hatte getan, was ich beabsichtigte! Meine Mutter beobachtete mit ernstlichem Missbehagen den lebhaften Eindruck, den Mr. Mac Glues Geschichte mir gemacht hatte.

»Ich wünschte Sie hätten Ihre Geschichte für sich behalten, Doktor,« sagte sie scharf.

»Darf ich fragen weshalb, Madame?«

»Sie haben meinen Sohn in seiner Absicht, nach St. Antonios Brunnen zu gehen, bestärkt.«

Mr. Mac Glue zog ruhig seinen Taschenkalender zu Rate, ehe er antwortete.

»Am Neunzehnten dieses Monats ist Vollmond, »sagte er, »da kann sich Mr. Germaine noch mehrere Tage ruhen, bevor er die Reise antritt. Wenn er in seinem eigenen, bequemen Wagen reist, - so kann ihm wie ich auch vom moralischen Standpunkte aus sein Unternehmen beurteilen mag, vom ärztlichen Standpunkte betrachtet nicht viel Schlimmes daraus erwachsen.«

»Wissen Sie wo St. Antonios Brunnen ist?« warf ich ein.

»Dann müsste ich Edinburgh sehr wenig kennen, wenn ich das nicht wüsste,« versetzte der Doktor.

»So ist der Brunnen also in Edinburgh?«

»Er ist kurz vor Edinburgh - sieht darauf herab, wenn Sie wollen. Sie verfolgen die alte Straße, die Canongate heißt, bis zu ihrem Ende, wenden sich zur Rechten; an dem berühmten Palast von Holyrood vorbei; Sie durchschreiten den Park und gehen über den Fahrweg, dann schlagen Sie den Weg hinauf zur Antonio-Kapelle, an der Seite des Hügels ein - und Sie sind am rechten Orte! Hinter der Kapelle ist ein hoher Felsen, an dessen Fuße Sie die Quelle, die man St. Antonios Brunnen nennt, finden werden. Beim Mondschein gilt die Aussicht von dort als schön - und man sagt mir, dass der Ort jetzt nicht mehr, wie vor alten Zeiten, nachts von schlechtem Gesindel heimgesucht ist.«

Meine Mutter erhob sich in steigendem Unwillen, um sich in das Empfangszimmer zurückzuziehen.

»Ich gestehe, Sie haben mich enttäuscht,« sagte sie zu Mr. Mac Glue. »Ich hätte Sie für den Letzten gehalten, der meinen Sohn zu einem unvorsichtigen Unternehmen anspornen würde.«

»Um Vergebung, Madame, Ihr Sohn bedarf des Anspornens nicht. Ich habe sehr wohl gesehen, dass sein Entschluss gefasst ist. Warum soll jemand, wie ich, ihn daran hindern? Verehrte Frau, wenn er Ihrem Rate nicht folgt, welche Hoffnung hätte ich, dass er dem meinen Gehör gäbe?«

Mac Glue begleitete diese verbindliche Äußerung mit einer ehrfurchtsvollen Verbeugung und öffnete meiner Mutter die Tür. Als wir allein bei unserem Wein saßen, befragte ich den Doktor, wie bald ich die Reise nach Edinburgh ohne Gefahr für meine Gesundheit antreten könnte. Wenn Sie die Strecke in zwei Tagen zurücklegen wollen, so können Sie, wenn Ihnen daran liegt, anfangs der nächsten Woche abreisen. Das Eine aber beherzigen Sie,« fuhr der vorsichtige Doktor fort, »was die betreffende Dame anbelangt, so wasche ich über die Folgen meine Hände in Unschuld - wenn ich auch gestehen muss, dass ich gespannt bin zu hören, was sich aus der Reise entwickelt.«

Zehntes Kapitel

St. Antonios Brunnen

Ich stand auf der felsigen Höhe, vor den Ruinen der St. Antonio-Kapelle, und genoss die herrliche Aussicht auf Edinburgh und den alten Palast von Holyrood, vom hellsten Mondlicht begünstigt. Der Brunnen lag, wie der Doktor mir gesagt, hinter der Kapelle. Ich wartete einige Augenblicke an der Vorderseite der Ruine, teils um nach Ersteigung des Hügels zu Atem zu kommen, teils, ich gestehe es, um der nervösen Erregung Herr zu werden, die meine seltsame Lage in diesem Augenblick hervorgerufen hatte. Vielleicht war die Frau, oder die Erscheinung einer Frau - was es auch sein mochte, - wenige Schritte von mir entfernt. Kein lebendes Wesen war vor der Kapelle zu sehen, kein Laut traf mein Ohr auf dem einsamen Hügel. Ich versuchte meine ganze Aufmerksamkeit den Schönheiten der mondbeleuchteten Aussicht zuzuwenden, aber es war unmöglich. Meine Gedanken waren weit ab von den Gegenständen, auf denen meine Augen ruhten. Mein Geist weilte bei der Frau, die ich im Lusthause in meinem Buche schreiben gesehen.

Ich ging an der Seite der Kapelle herum. Noch wenige Schritte über den unebenen Boden und der Brunnen lag vor mir am Fuße des hohen Felsens, sein Wasser plätscherte fröhlich im Mondenschein.

Dort stand sie.

Ich erkannte sogleich ihre Gestalt, wie sie an den Felsen gelehnt dastand, die Hände auf der Brust gekreuzt, tief in Gedanken verloren. Als sie, durch den Widerhall meiner Fußtritte in der tiefen Stille erschreckt, aufblickte, erkannte ich auch ihr Gesicht.

War es die Frau selbst oder nur ihre Erscheinung? Ich wartete - und blickte sie schweigend an.

Sie sprach. Der Ton ihrer Stimme hatte nicht den geheimnisvollen Klang, wie ich sie dort im Lusthause hörte - es war derselbe Ton, wie ich ihn auf der Brücke, wo wir uns zuerst im düsteren Abendlichte trafen, vernahm.

»Wer sind Sie? Was führt Sie hierher?«

Indem sie diese Worte sprach, erkannte sie mich. »Sie hier! Was bedeutet das?« fuhr sie fort und trat mir mit unverhehltem Erstaunen einen Schritt näher.

»Ich bin gekommen, um Sie auf Ihre eigene Aufforderung hier zu treffen,« erwiderte ich.

Sie trat wieder zurück und lehnte sich an den Felsen. Der helle Mondschein fiel auf ihr Gesicht; als sie mich erblickte, drückten ihre Augen Schreck und Erstaunen aus.

»Ich verstehe Sie nicht,« sagte sie, »ich habe Sie ja nicht gesehen, seit wir auf der Brücke miteinander sprachen.«

»Verzeihen Sie,« erwiderte ich, »aber ich habe Sie oder Ihre Erscheinung wenigstens doch seitdem gesehen. Ich hörte sie sprechen und sah Sie schreiben.«

Sie sah mich mit einem Gemisch von Zorn und Neugierde an. »Was habe ich denn gesagt, was geschrieben?« fragte sie.

»Sie sagten: Gedenke mein und komme zu mir. Sie schrieben: Wenn der Vollmond scheint an St. Antonios Brunnen.«

»Wo?« rief sie, »wo tat ich das ?«

»In einem Lusthause, das an einem Wasserfall liegt,« antwortete ich. »Kennen Sie den Ort nicht?«

Ihr Kopf fiel gegen den Felsen, während Sie einen Schreckensruf ausstieß, ihr Arm, der auf dem Felsen ruhte, glitt herab. Ich sprang eilig hinzu, weil ich fürchtete, dass sie auf den steinigen Boden fallen könnte. Sie raffte sich wieder auf und rief mir entgegen: »Rühren Sie mich nicht an, gehen Sie zurück, mein Herr! Sie ängstigen mich!«

Ich versuchte sie zu beruhigen. »Wieso ängstige ich Sie, da Sie wissen wer ich bin? Können Sie an meinem Interesse für Sie zweifeln, da ich doch zu Ihrem Lebensretter berufen war?«

Augenblicklich verschwand ihre Rückhaltung, sie trat zu mir und erfasste meine Hand.

»Ich bin Ihnen Dank schuldig,« sagte sie, »und ich statte ihn gern ab. Halten Sie mich nicht für so undankbar, wie ich Ihnen erscheinen muss, auch nicht für eine Verworfene, mein Herr! Ich war nur elend und verzweifelt, als ich den Entschluss fasste mich zu ertränken. Misstrauen Sie mir nicht! Verachten Sie mich nicht!« Sie hielt inne, ich sah wie sie die Tränen, die ihre Wangen herabrollten, mit einer heftigen Bewegung abtrocknete. Wiederum verwandelten sich ihr Ton und ihre Haltung zu ihrer früheren Kälte und sie blickte mich mit Argwohn und Zorn an. Darauf sagte sie kurz und abgebrochen: »Beherzigen Sie das Eine! Als Sie glaubten mich schreiben zu sehen, träumten Sie! Sie haben mich weder gesehen, noch hörten Sie mich sprechen, wie hätte ich so vertraulich zu einem Fremden reden können? Das sind alles Gebilde Ihrer Phantasie, von denen Sie, um mich zu ängstigen, wie von wirklichen Tatsachen sprechen!« Wiederum wechselte ihr Benehmen und ihre Augen nahmen den sanften, traurigen Ausdruck an, der so unwiderstehlich schön war. Die kalten Schauer der Nachtluft nötigten sie, sich fester in ihren Mantel zu hüllen und ich hörte sie leise zu sich selbst sagen: »Was ist mir? Warum vertraue ich diesem Manne in meinen Träumen und scheue mich dessen, wenn ich wach bin?«

Dieser seltsame Ausspruch gab mir Mut ihr zu gestehen, dass ich ihn gehört hätte.

»Sie lassen mir nur Gerechtigkeit widerfahren,« sagte ich, »wenn Sie mir in Ihren Träumen vertrauen, aber tun Sie jetzt auch ein Gleiches - schenken Sie mir Ihr Vertrauen! Sie bedürfen eines Freundes, denn Sie sind unglücklich und verlassen und ich bin bereit Ihnen zu helfen.«

Als sie zögerte, versuchte ich ihre Hand zu erfassen, aber das seltsame Wesen entzog sie mir mit einem Aufschrei; sie schien meine Berührung vor Allem zu fürchten.

»Geben Sie mir Zeit zum Nachdenken,« sagte sie, »denn Sie ahnen nicht, was auf mir lastet. Ich werde Ihnen morgen schreiben. Bleiben Sie in Edinburgh?«

Ich hielt es für geraten, mich wenigstens dem Scheine nach mit ihrem Wunsche einverstanden zu erklären und so schrieb ich ihr auf meine Karte die Adresse des Hotels, in dem ich wohnte. Sie las die Karte, als ich sie ihr reichte, beim Lichte des Mondes.

»George!« wiederholte sie sich und warf bei Nennung meines Namens einen verstohlenen Blick auf mich. »George Germaine!« »Germaine« ist mir ganz unbekannt, aber der Name »George« ruft alte Erinnerungen in mir wach.« Sie lächelte trübe, als diese Erinnerung, von der ich ja nichts ahnen konnte, an ihr vorüberzog. »Es ist durchaus nichts Absonderliches »George« zu heißen, fuhr sie fort, der Name ist sehr gangbar, man begegnet ihm überall als Männernamen, und doch - ihre Augen beendeten den Satz, indem Sie mir sagten: »Nun ich weiß, dass Du »George« heißt, fürchte ich dich nicht so sehr!«

So führte sie mich unbewussterweise auf die Spur zur Entdeckung!

Hätte ich sie nur gefragt, welche Erinnerungen sich für sie an meinen Taufnamen knüpften, hätte ich sie nur vermocht zu mir über ihre Vergangenheit u sprechen, wenn auch nur in der kürzesten, rückhaltendsten Weise, - so musste ja die Scheidewand fallen, welche die Veränderung unserer beiderseitigen Namen und der Verlauf von zehn Jahren zwischen uns aufgerichtet hatten. Wir hätten uns wiedererkennen müssen. Ich verfiel mit keinem Gedanken darauf und zwar aus dem einfachen Grunde nicht - weil ich verliebt in sie war. Das Einzige, was mich eben ganz erfüllte, war die selbstsüchtige Idee, das freundliche Interesse, das mein Name eben in ihr erweckt hatte, auszunutzen, um mich noch mehr in ihrer Gunst zu befestigen.

»Warten Sie nicht bis Sie mir schreiben können,« sagte ich. »Verschieben Sie nichts auf morgen, wer weiß, was bis morgen geschieht? Ich fordere nicht viel, aber einen kleinen Lohn verdiene ich wohl für die lebhafte Teilnahme, die ich Ihnen widme. Wollen Sie mich nicht, ehe wir diese Nacht scheiden, glücklich machen, indem Sie meine Dienste annehmen?«

Ehe sie sich's versah, nahm ich ihre Hand und es schien, als wenn ihr ganzes Wesen sich mir bei dieser Berührung hingab. Ihre Hand lag widerstandslos in der meinen, während ihre reizende Gestalt sich mir leicht mehr und mehr näherte, bis ihr Kopf fast meine Schulter berührte. Seufzend flüsterte sie mir leise zu: »Missbrauchen Sie mein Vertrauen nicht, ich bin so verlassen, so ganz in Ihrer Macht.« Ehe ich antworten, ja ehe ich mich bewegen konnte, drückte sie mir die Hand und legte ihren Kopf an meine Schulter, indem sie in Tränen ausbrach.

Sie musste in diesem Augenblick jedem Manne, der nicht ein geborener und geschulter Schurke war, Achtung einflößen. Ich zog ihre Hand in meinen Arm und führte sie sanft an den Ruinen der Kapelle vorbei, den Hügel hinab.

»Dieser einsame Ort beängstigt Sie,« sagte ich, »wir wollen ein wenig auf- und abgehn, damit Sie sich erholen.«

Sie lächelte wie ein Kind durch ihre Tränen.

»Ja, aber nicht diesen Weg,« sagte sie hastig. Ich hatte zufällig die Richtung von der Stadt abwärts eingeschlagen, aber sie bat mich, dass wir uns den Häusern und Straßen zuwenden möchten. So wanderten wir nach Edinburgh zurück und sie betrachtete mich bei dem hellen Mondschein wiederholt mit unschuldigen, erstaunten Blicken. »Welchen unbegreiflichen Einfluss üben Sie auf mich aus!« sagte sie mir. »Haben Sie mich vor dem Abende, als wir uns dort am Flusse begegneten, jemals gesehen oder auch nur meinen Namen gehört?«

»Niemals!«

»Und auch ich habe nie vorher Ihren Namen gehört oder Sie gesehn. Das ist seltsam, sehr seltsam! Und doch erinnere ich mich jemandes, freilich war's nur eine alte Frau, die mir das Rätsel gelöst haben würde. Wo werde ich je ihresgleichen finden?«

Sie seufzte tief und schwer, jedenfalls war ihr die verlorene Freundin oder Verwandte sehr teuer gewesen. »War sie eine Verwandte von Ihnen?« fragte ich, eigentlich mehr um sie um Sprechen zu bewegen, als weil ich an irgendeinem Mitgliede ihrer Familie außer ihr selbst ein Interesse hatte.

Wiederum waren wir am Rande der Entdeckung angelangt und wiederum war es unser Verhängnis nicht weiter darin vorzudringen!

»Fragen Sie mich nicht nach meinen Angehörigen,« sprach sie schmerzvoll. »In dem Kummer, der mich jetzt drückt, darf ich der Verstorbenen nicht gedenken, denn ich würde wieder in Tränen ausbrechen, wenn ich mich jetzt der Heimat und der lieben alten Zeit erinnerte. Ich will Sie nicht wieder beunruhigen, mein Herr, darum lassen Sie uns von etwas Anderem, ganz Anderem sprechen.«

Da das Geheimnis ihrer Erscheinung in dem Lusthause noch nicht aufgeklärt war, so benutzte ich diese Gelegenheit, um den Gegenstand zu berühren.

»Sie sagten mir vorhin, dass Sie von mir geträumt hätten,« begann ich, »erzählen Sie mir doch Ihren Traum.«

»Ich weiß wirklich nicht, ob es ein Traum oder etwas Anderes war,« antwortete sie, »ich nenne es nur so, weil mir ein besserer Ausdruck fehlt.«

»War es nachts?«

»Nein, es war am Tage - nachmittags.«

»Spät am Nachmittag?«

»Ja - nach dem Abend.«

In meiner Erinnerung stieg die Geschichte des Doktors von dem schiffbrüchigen Manne auf, dessen Doppelgänger ja auch auf dem reisenden Schiffe erschienen war, das er selbst im Traume gesehen.

»Erinnern Sie ich des Datums und der Stunde?« fragte ich.

Sie nannte mir beides und es war genau derselbe Tag, wo meine Mutter und ich die Fahrt nach dem Wasserfall gemacht hatten, dieselbe Stunde, in der ich die Erscheinung im Lusthause vor meinem Buche schreibend fand!

Ich stand still und konnte mein Erstaunen kaum unterdrücken. Währenddessen waren wir auf unserem Rückwege zur Stadt bis an den Palast von Holyrood gekommen und nachdem sie einen Blick auf mich geworfen hatte, wendete sich meine Gefährtin dem düsteren, alten Bauwerk zu, das eben der liebliche Mond mit sanfter Schönheit übergoss.

»Seit ich in Edinburgh bin,« sagte sie einfach, »ist dieses mein Lieblingsspaziergang. Die Einsamkeit schreckt mich nicht, weil ich die tiefe Stille der Nacht so sehr liebe.« Wiederum sah sie mich an. »Was ist Ihnen,« fragte sie, »dass Sie nicht sprechen und mich nur ansehen?«

»Ich möchte mehr von Ihren Träumen hören,« sagte ich. »Wie kam es, dass Sie bei Tage schliefen?«

Im Weitergehen sagte sie: »Was ich eigentlich tat, weiß ich selbst nicht, dazu war ich zu bedrückt und krank und fühlte meine hilflose Lage an jenem Tage grade so tief. Dass es um die Mittagszeit war, weiß ich noch und dass ich nicht essen mochte, sondern hier im Gasthause, wo ich wohne, hinauf in mein Zimmer ging und mich aufs Bett legte. Ich war sehr erschöpft und weiß nicht, ob ich ohnmächtig war oder nur schlief - ich hatte das Bewusstsein für Alles was mich umgab verloren und dafür ein anderes Bewusstsein; ob das nun Traum war, kann ich nicht sagen, jedenfalls war es der lebhafteste Traum, den ich je hatte.

»Fing er damit an, dass Sie mich sahen?« fragte ich.

»Nein, ich sah Ihr Skizzenbuch auf dem Tische in einem Lusthause liegen.«

»Können Sie mir das Lusthaus beschreiben, wie Sie es sahen?«

Sie beschrieb nicht nur das Lusthaus, sondern auch die Aussicht auf den Wasserfall, den man durch die geöffnete Tür hatte. Sie kannte die Größe und den Einband meines Skizzenbuches, das in diesem Augenblick in meinem Schreibtisch eingeschlossen lag.

»Und erinnern Sie sich, dass Sie etwas in jenes Buch hinein schrieben und was Sie schrieben?« fuhr ich fort.

Als schäme sie sich dieses Teiles ihres Traumes, wendete sie sich verwirrt von mir ab.

»Sie sagten es ja schon selbst,« sagte sie, »wozu soll ich Ihnen die Worte wiederholen. Aber beantworten Sie mir nun eine Frage, standen Sie auf dem Wege zu dem Lusthause einen Augenblick still ehe Sie eintraten?«

Es war ja richtig, ich hatte im Erstaunen über die Frau, die vor meinem Buche saß, stillgestanden. Ich bejahte also ihre Frage und bat sie mir zu sagen, was sie da getan, als ich in das Lusthaus eingetreten war.

»Ich tat das Ungewöhnlichste,« antwortete sie in leisem, erregten Tone. »Wenn Sie mein Bruder gewesen wären, hätte ich Sie nicht mit mehr Vertraulichkeit behandeln können, denn ich winkte Sie zu mir heran und legte Ihnen meine Hand auf die Brust. Ich sprach ja zu Ihnen, wie ich nur zu einem alten, treuen Freunde sprechen würde. »Gedenke mein und komme zu mir!« sagte ich. O ich war so tief beschämt über das Alles, als ich wieder zu mir kam und mich dessen erinnerte! Ist zwischen einer Frau und einem vollkommen fremden Manne, den sie nur einmal im Leben sah, eine solche Vertraulichkeit - selbst im -Traume denkbar?«

»Wie viel Zeit verging ungefähr von da, wo sie sich zu Bett legten, bis Sie wieder erwachten?«

»Ich kann es ungefähr berechnen,« erwiderte sie, »denn es war Mittagszeit als ich mich niederlegte, wie ich Ihnen schon sagte, und als ich wieder zum Bewusstsein gekommen war hörte ich eine Turmuhr schlagen. Danach waren drei Stunden zwischen der Zeit wo ich mich legte und wieder aufstand verflossen.«

Konnte ich darin den Schlüssel zu dem Verschwinden der geheimnisvollen Schrift suchen?

Nach später gemachten Entdeckungen bin ich fast geneigt es zu glauben, denn grade nach drei Stunden waren jene Zeilen, die die Erscheinung niederschrieb unsichtbar geworden und nach eben drei Stunden, als sie erwachte, schämte sie sich der vertraulichen Weise in der sie mit mir verkehrt hatte. So lange sie mir in jenem wunderbaren Schlafe vertraut hatte, - vertraut weil ihr Geist fessellos den meinen zu erkennen vermochte - so lange war die Schrift sichtbar gewesen, nun aber im wachen Zustande ihr Wille, den Willen der Träumenden vernichtete, verschwand die Schrift. Vielleicht ist das die Erklärung und wo soll ich sie suchen, wenn sie es nicht ist?

Wir erreichten so den Teil der Canongatestraße, in der sie wohnte und standen vor der Tür still.

Elftes Kapitel

Der Empfehlungsbrief

Ich betrachtete das Haus. Es war ein kleines Gasthaus von anständigem Aussehn. Endlich war es nun aber Zeit, das Gespräch über die Träume abzubrechen, wenn ich ihr noch in dieser Nacht von Nutzen sein wollte.

»Nach Allem, was Sie mir gesagt haben, will ich nicht weiter in Sie dringen, mir Ihr Vertrauen zu schenken, bis wir uns wiedersehn; nur das Eine sagen Sie mir, wie ich Sie von Ihren drückendsten Sorgen zu befreien vermag. Kann ich irgend etwas tun, um Ihre Pläne, welche sie auch sein mögen, zu fördern, bevor sie heut zur Ruhe gehn?«

Sie dankte mir herzlich, zögerte dann aber und sah verlegen die Straße auf und ab.

»Beabsichtigen Sie in Edinburgh zu bleiben?« fragte ich.

»O nein! Ich möchte nicht in Schottland bleiben, sondern viel weiter fortgehn, vielleicht nach London. Dort könnte ich ein besseres Unterkommen bei einer geachteten Modistin finden, wenn ich nur irgend eine Empfehlung hätte. Ich bin recht gewandt mit der Nadel, verstehe auch das Zuschneiden, selbst die Bücher könnte ich führen, wenn man mir das anvertrauen wollte.«

Die arme Seele hielt inne und blickte mich zweifelnd an, als wäre sie nicht einmal sicher mein Vertrauen zu gewinnen und das bewog mich mit der unüberlegten Raschheit eines Verliebten zu handeln.

»Ich kann Ihnen, wann Sie es wünschen die nötigen Empfehlungen geben,« sagte ich. »Auf der Stelle, wenn Sie es wollen.«

Ihre reizenden Züge wurden hell und freudig. »Ja, Sie sind mir wirklich ein Freund!« sagte sie herzlich, aber schon verdüsterte sich ihr Gesicht wiederum - sie sah meinen Vorschlag in einem andren Lichte. »Aber welches Recht habe ich denn,« fragte sie traurig, »Ihr Anerbieten anzunehmen.«

»Ich werde Ihnen den Brief gehen,« antwortete ich, »und es steht dann bei Ihnen ihn zu benutzen oder nicht.«

Ich zog ihren Arm wieder in den meinen und so betraten wir das Gasthaus.

Sie weigerte sich ängstlich. Was würde die Wirtin denken, wenn ihre Mieterin nachts mit einem fremden Herrn nach Hause käme. Aber die Wirtin stand schon vor uns. Unbekümmert um das was ich sagte oder tat, führte ich mich als einen Verwandten ein und erbat mir ein ruhiges Zimmer, um einen Brief schreiben zu können. Ein prüfender Blick schien die Wirtin davon überzeugt zu haben, dass sie es wirklich mit einem anständigen Herrn zu tun habe und so führte sie mich in eine Art von Wohnzimmer, das hinter der Schänkstube lag, setzte Schreibutensilien vor mich hin und verließ uns, indem sie meine Begleiterin mit einem Blicke maß, den eben nur eine Frau der andern zuwerfen kann.

Zum ersten Male war ich allein mit ihr in einem Zimmer. Das Bewusstsein ihrer peinlichen Lage hatte ihre Farbe erhöht, und ihren Augen stärkeren Glanz verliehen. So stand sie, die Hand auf den Tisch gestützt, verwirrt und unentschlossen da, während ich in dem Anblick ihrer schlanken, biegsamen Gestalt, die in ungesuchter Anmut vor mir stand, wahrhaft schwelgte. Ich schwieg, aber meine Augen sprachen ihr von meiner Bewunderung, die Schreibutensilien blieben unberührt stehen. Sie brach plötzlich das Schweigen, das eine Zeit lang gedauert haben mochte, weil in unsrer Lage ihr Instinkt sie wohl vor den Gefahren dieses Schweigens warnen mochte. Mit einiger Anstrengung wendete sie sich zu mir und sagte erregt: »Aber Sie brauchen den Brief doch nicht bei Nacht zu schreiben, mein Herr!«

»Warum nicht?«

»Weil Sie mich nicht kennen und sicher nicht eine Person empfehlen werden, die Ihnen ganz fremd ist und schlimmer als fremd. Ich bin in Ihren Augen nichts als eine elende Sünderin, die ein großes Verbrechen begehen wollte, indem sie versuchte sich das Leben zu nehmen. Wenn Sie wüssten, in welchem Elend ich mich damals befand, so würden Sie darin vielleicht eine Entschuldigung für mich finden und Sie sollen es erfahren. Für heute Abend ist es aber zu spät, da ich obenein sehr angegriffen bin und Ihnen Dinge zu sagen habe, mein Herr, die einem Mann gegenüber, für eine Frau schwer auszusprechen sind.«

Sie sagte nichts weiter und ließ den Kopf auf die Brust sinken, ihre Lippen bebten. Das Mittel sie zu beruhigen und zu trösten, war mir in die Hand gelegt, wenn ich mich seiner bedienen wollte und ohne Zögern ergriff ich es.

Sie hatte mir vor wenigen Stunden selbst angeboten mir zu schreiben, daran erinnerte ich sie jetzt und schlug ihr vor, mir, wenn sie sich dazu aufgelegt fühlen würde, die Geschichte ihrer Leiden in Form eines Briefes zu senden. »Inzwischen vertraue ich Ihnen vollständig und erbitte es mir als eine Gunst, dass ich Ihnen einen Beweis dafür geben darf. Noch ehe ich Sie heute Abend verlasse will ich Sie einer Modistin in London empfehlen, die an der Spitze eines großen Geschäftes steht.«

Bei diesen Worten tauchte ich meine Feder in das Tintenfass und gestehe ehrlich wie weit mich meine Verzauberung führte. Die Modistin von der ich sprach, war eine frühere Kammerjungfer meiner Mutter, die Mr. Germaine, mein Stiefvater mit einer Summe, die er ihr lieh, etabliert hatte. Ich benutzte ohne Bedenken die Namen meiner Eltern und schrieb meine Empfehlung in Ausdrücken, die zu verdienen die beste aller lebenden Frauen und die geschickteste aller vorhandenen Modistinnen, nicht erhoffen konnte. Wird man mich entschuldigen? Die wenigen Menschen, die es nicht ganz vergessen haben, dass sie auch einmal liebten, werden eine Entschuldigung für mich finden; was kommt auch darauf an, dass ich sie im Grunde nicht verdiene.

Ich gab ihr den offenen Brief zu lesen.

Ihr Erröten war reizend - ein dankbarer Blick war mein Lohn und für so manchen Augenblick in späterer Zeit eine süße Erinnerung. Zu meinem Erstaunen änderte dieses immer veränderliche Wesen wiederum sein Benehmen in einem Augenblick. Irgend ein neues Bedenken musste ihr aufgestiegen sein, denn sie erblasste, der sanfte Zug der Freude erstarrte allmälig auf ihrem Gesicht und sie sah mich mit einem unendlich traurigen Blick voll Verwirrung und Verzweiflung an. Indem sie den Brief vor mir auf den Tisch hinlegte, sagte sie schüchtern:

»Macht es Ihnen Mühe noch eine Nachschrift hinzuzufügen, mein Herr?«

Ich unterdrückte jeden Ausruf des Erstaunens so gut ich konnte und nahm die Feder zur Hand.

»Fügen Sie gütigst hinzu,« fuhr sie fort, »dass ich zuerst nur versuchsweise angestellt sein möchte. Ich wünsche nicht auf länger als -« ihre Stimme wurde leiser und leiser, so dass ich die letzten Worte kaum verstehen konnte - »als auf drei Monate gefesselt zu sein.«

Einige Wissbegierde über den Grund, weshalb sie meinem Empfehlungsbriefe diese eigentümliche Nachschrift zuzufügen wünschte, hätte wohl jeder empfunden, wenigstens jeder, der sich in meiner Lage befand.

»Haben Sie denn irgend eine andere Beschäftigung in Aussicht?« fragte ich.

»Nein,« antwortete sie, mit gesenktem Kopf, meinem Blicke ausweichend. Die niedrige Eifersucht erweckte in mir für einen Augenblick unwürdige Zweifel an ihr.

»Haben Sie einen entfernten Freund,« fuhr ich fort, »der Ihnen, wenn er Zeit gewinnt, bessere Dienste leisten kann, als ich?«

Sie erhob ihren edlen Kopf und ihre großen, schuldlosen, grauen Augen hefteten sich mit einem Blicke ruhigen Vorwurfs auf mich.

»Ich habe außer Ihnen keinen Freund in der Welt,« sprach sie, »aber um Gottes willen fragen Sie mich heute Abend nichts mehr.«

Ich erhob mich und gab ihr den Brief zurück, dem ich die Nachschrift in ihren eigenen Worten hinzugefügt hatte.

Wir standen beide an dem Tische und sahen einander einen Augenblick schweigend an.

»Wie soll ich Ihnen danken,« flüsterte sie weich, »o, mein Herr, ich will mich wahrlich des Vertrauen wert machen, das Sie in mich setzen!« Ihre Augen wurden feucht, die Farben wechselten lebhaft und das Gewand bewegte sich leicht über ihrem schön geformten Busen. In diesem Augenblick hätte ihr wohl kein Mensch von Fleisch und Blut widerstanden, wenigstens verlor ich jede Kraft mich zu beherrschen, ich schloss sie in meine Arme und flüsterte: »Ich liebe Dich!« indem ich sie leidenschaftlich küsste. Einen Augenblick lang, lag sie hilflos und zitternd an meiner Brust und ihre duftigen Lippen erwiderten meine Küsse - einen Augenblick später war Alles vorbei! Mit einem Schauder, der ihren ganzen Körper durchrieselte, riss sie sich von mir los und warf mir den Brief, den ich ihr eben gegeben, verächtlich vor die Füße.

»Wie können Sie es wagen meine schutzlose Lage so zu benutzen! Wie können Sie es wagen mich anzurühren!« rief sie aus. »Nehmen Sie Ihren Brief zurück mein Herr, ich will ihn nicht, wir werden uns nie wieder sprechen. O, wenn Sie wüssten, was Sie getan und wie tief Sie mich verwundet haben! Wie soll ich je meine Selbstachtung wiedergewinnen? Nie kann ich mir vergeben, was ich diesen Abend tat!« sagte sie und warf sich verzweifelt auf ein Sofa, das in ihrer Nähe stand. Aus tiefstem Herzensgrunde erbat ich ihre Verzeihung und versicherte sie meines Bedauerns und meiner Reue. Die Heftigkeit ihrer Erregung machte mich ernstlich besorgt für sie.

Nach einer Weile beruhigte sie sich und reichte mir als Zeichen ihrer Vergebung die Hand, indem sie sich mit bescheidener Würde erhob.

»Wollen Sie mir Zeit geben mein Unrecht zu sühnen,« bat ich, »und nicht gleich alles Vertrauen zu mir verlieren? Gestatten Sie mir Sie wiederzusehn, um Ihnen wenigstens beweisen zu können, dass ich Ihrer Verzeihung nicht unwert bin. Bestimmen Sie mir selbst die Zeit und lassen Sie, wenn es Ihnen wünschenswert erscheint, eine dritte Person dabei zugegen sein.«

»Ich werde Ihnen schreiben,« sagte sie.

»Morgen?«

»Ja, morgen.«

Ich hob den Empfehlungsbrief vom Boden auf.

»Machen Sie das Maß Ihrer Güte ganz voll,« sagte ich, »und nehmen Sie meinen Brief wiederum an.«

»Ich will es tun,« antwortete sie ruhig, »und ich danke Ihnen, dass Sie ihn schrieben. Nun aber verlassen Sie mich, bitte. Gute Nacht.«

Ich verließ sie mit meinem Briefe in der Hand, bleich und traurig und befand mich selbst in einem Gewirr widerstreitender Gefühle, die sich schließlich zu zwei herrschenden Regungen gestalteten: zur Liebe, die sie inbrünstiger denn je anbetete und zur Hoffnung, sie am andern Tage wiederzusehn.

Zwölftes Kapitel

Frau van Brands Missgeschick

Wenn jemand seinen Abend so verlebt hat, wie ich, mag er sich ruhig nachher zu Bett legen im Falle er nichts andres zu tun hat, aber er kann vernünftiger Weise nicht erwarten, dass »zu Bett gehn« dann auch »schlafen und Ruhe finden« heißt. Als es längst Morgen war und das Gasthaus sich wieder in vollster Unruhe befand, begannen sich meine Augen erst zum Schlafe zu schließen, als ich erwachte, war es auf meiner Uhr nah an der Mittagsstunde.

Ich klingelte. Mein Diener erschien mit einem Briefe in der Hand, der vor drei Stunden von einer Dame, die beim Hotel vorfuhr, und dann weiter fuhr, abgegeben worden war. Da ich schlief, als mein Diener in das Schlafzimmer gekommen war und ich ihm nicht befohlen hatte mich in dem Fall zu wecken, hatte er den Brief auf einen Tisch in meinem Wohnzimmer gelegt, bis ich klingelte.

Wohl wissend von wem der Brief war, öffnete ich ihn sogleich und bemerkte im ersten Augenblick kaum, dass dabei eine Einlage heraus fiel. Der Brief versetzte mich in die größte Spannung und ich las gierig die ersten Zeilen, die mich benachrichtigten, dass die Schreiberin mir zum zweiten Male entflohen war - sie hatte frühmorgens Edinburgh verlassen! Die Einlage war mein Empfehlungsbrief an die Modistin, den sie mir zurückschickte.

Ich war im höchsten Grade empört, denn ich sah diese zweite Flucht als eine schwere Beleidigung für mich an. Fünf Minuten später befand ich mich angekleidet auf dem Wege nach dem Gasthause in Canongate, wohin ich so schnell gelangte, als ein Pferd irgend laufen konnte.

Die Dienerschaft konnte mir gar keine Auskunft geben, da sie nichts von ihrer Flucht wusste.

Als ich mich darauf an die Wirtin wendete, verweigerte mir diese geflissentlich jeden Beistand in dieser Angelegenheit. »Ich habe der Dame versprochen,« sagte mir die widerspenstige Person, »kein Wort auf irgend eine Ihrer Fragen zu antworten und nach meiner Ansicht ist sie im vollen Recht, und handelt, wie es einer ehrbaren Frau geziemt, wenn sie jede Beziehung zu Ihnen abbricht. Ich habe Sie gestern Abend durch das Schlüsselloch beobachtet, mein Herr, und wünsche Ihnen jetzt einen Guten Morgen.«

Ich versuchte, nachdem ich in mein Hotel zurückgekehrt war, alles, um sie aufzufinden, es gelang mir auch den Fuhrmann, der sie fuhr zu entdecken, er hatte sie aber nur an einem Laden abgesetzt und war dann entlassen. Ich erkundigte mich in dem Laden, wo ich aber nichts weiter erfuhr, als dass eine verschleierte Dame, die in der Hand eine Reisetasche trug, Leinenzeug gekauft habe. Darauf sendete ich an die verschiedenen Reisebüreaus eine Beschreibung ihrer Person, der denn auch drei junge Damen »die verschleiert waren und Reisetaschen trugen,« entsprachen, welche aber die Fliehende war, die ich suchte, war unmöglich zu entscheiden. Zur Zeit der Eisenbahnen und elektrischen Telegraphen, würde es mir wohl gelungen sein, sie aufzufinden, in jenen Tagen aber von denen ich schreibe, konnte sie jeder Verfolgung trotzen.

In der Hoffnung, dass irgend ein Federstrich in ihrem Briefe, mir die Auskunft geben konnte, die ich sonst vergeblich suchte, las ich ihn wieder und wieder. Ich lasse hier die wörtlich von dem Original abgeschriebene Erzählung folgen, die sie mir übersendet hatte:

»Mein Herr! Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie wiederum in der Weise verlasse, wie ich es in Pertshire tat, aber, meiner Schwäche und des Einflusses, den Sie auf mich auszuüben scheinen, wohl eingedenk, bleibt mir nach den Ereignissen des gestrigen Abends keine Wahl, als Ihnen für alle Ihre Güte herzlich zu danken und Ihnen Lebwohl zu sagen. Dass ich in so unfreundlicher Weise von Ihnen scheide und es wage Ihnen Ihren Empfehlungsbrief zurückzuschicken, kann nur meine traurige Lage entschuldigen, da ich durch Benutzung desselben Ihnen ja den Weg zu mir offen lassen würde und das darf um Ihret- wie um meinetwillen nicht geschehn. Zum zweiten Male in meinem Leben dürfen Sie die Gelegenheit mir Ihre Liebe zu gestehn, nicht finden und darum muss ich verschwinden ohne dass Sie je meine Spur auffinden können.«

Dass ich mein armseliges Leben Ihrem Mute und Ihrem Mitleid verdanke, werde ich nie vergessen und räume Ihnen als meinem Erretter, das Recht ein zu erfahren, was mich zu jenem verzweifelten Schritt trieb und in welcher Lage ich mich jetzt befinde, um darin, dank Ihnen, weiter zu leben. Sie sollen meine düstere Geschichte also hören, mein Herr, und ich will möglichst kurz damit sein:

Ich heiratete vor nicht langer Zeit einen Holländer namens van Brandt. Verzeihen Sie mir wenn ich einzelne Familienverhältnisse berühre. Gerne hätte ich Ihnen über meinen teuren verstorbenen Vater und meine Heimat geschrieben, aber ich sehe nicht die Linien auf dem Papier, so trüben Tränen meine Augen, wenn ich der glücklichen Vergangenheit gedenke.

Herr van Brandt, um nur das anzuführen, war, ehe ich ihn heiratete, meinem Vater warm empfohlen und erst jetzt habe ich erfahren, dass er unter falschen Vorspiegelungen seinen Freunden diese Empfehlungen entlockte, das Nähere darüber will ich Ihnen ersparen. Ahnungslos über seine Handlungsweise, lebte ich glücklich mit ihm. Wenn er auch, aufrichtig gestanden, nicht der erste Gegenstand meiner Neigung war, so war er doch nach meines Vaters Tode der einzige Mensch, dem ich angehörte. Ich achtete und bewunderte ihn und glaube ohne Überhebung sagen zu können, dass ich ihn auch beglückte.«

So, mein Herr, verging die Zeit leidlich gut bis zu jenem Abende, wo Sie mich auf der Brücke sahen.

Ich war allein im Garten und beschäftigte mich mit dem Verschneiden einiger Hecken, als mein Mädchen mir meldete, dass eine fremde Dame vorgefahren sei, die mich auf einige Augenblicke zu sprechen wünsche. Das Mädchen musste voraus laufen, um die Dame in mein Wohnzimmer zu führen, wohin ich ihr, sowie ich meine Toilette geordnet hatte, folgte, um meinen Besuch zu empfangen. Sie war eine entsetzliche Erscheinung mit erhitztem, lebhaftem Gesicht und großen, unverschämten Augen. »Sind Sie Frau van Brandt?« fragte sie, was ich bejahte. »Sind Sie wirklich mit ihm verheiratet?« fragte sie weiter. Natürlicherweise beleidigte mich diese Frage tief und ich sagte: »Wie können Sie wagen daran zu zweifeln?« Sie lachte mir ins Gesicht. »Lassen Sie van Brandt rufen,« fuhr sie fort, worauf ich selbst auf den Flur ging, um ihn aus den oberen Zimmern herunterzurufen, wo er sich beim Schreiben befand. »Ernst« rief ich, »komm sofort herunter, hier ist eine Person, die mich beleidigt hat!« Sowie er mich hörte, trat er aus seinem Zimmer. Die Frau war mir auf den Flur gefolgt. Als sie ihn sah, machte sie eine kleine Verbeugung. Er erblasste, als er sie erblickte. Das erschreckte mich und ich fragte ihn: »Um Gotteswillen, was bedeutet das?« Er erfasste meinen Arm und sprach: »Ich werde es Dir sogleich sagen, aber erst geh' in den Garten zurück und betritt das Haus nicht eher bis ich Dich rufen lasse.« Ich war wahrhaft entsetzt über sein verändertes Aussehen und seine unheimlichen Blicke und ließ mich ruhig von ihm bis zur Gartentür führen. Da drückte er mir die Hand und flüsterte: »Tu' um meinetwillen um was ich Dich bitte, mein Liebling.« Ich ging in den Garten und setzte mich auf die nächste Bank, wo ich zitternd wartete was kommen würde.

Wie lange Zeit verging, weiß ich nicht, aber zuletzt konnte ich die namenlose Angst nicht länger ertragen und ging ins Haus zurück.

»Dort lauschte ich auf dem Flur, hörte aber nichts, auch im Wohnzimmer, dessen Tür ich mich näherte, war Alles still, da fasste ich Mut und öffnete die Tür.

»Das Zimmer war leer, nur ein Brief lag auf dem Tisch. Da ich meines Mannes Handschrift erkannte und der Brief meine Adresse trug, so öffnete ich ihn und las. Er sagte mir, dass ich verlassen, entehrt und zu Grunde gerichtet sei. Die Frau mit dem unruhigen Gesicht und den unverschämten Augen war van Brandts gesetzliche Gattin. Sie hatte ihm die Wahl gestellt, ob er ihr sofort folgen oder wegen Bigamie angeklagt sein wollte, er hatte das Erstere gewählt und - mich verlassen.

»Erinnern Sie sich, mein Herr, dass meine beiden Eltern tot waren und ich keine Verwandten hatte. Ich stand ganz allein in der Welt, ohne ein Wesen, das mich trösten oder mir raten konnte und dazu kommt, dass ich, wie Sie selbst wissen, sehr empfindlich gegen die geringste Schmähung oder Beleidigung bin, die man mir zufügt. Ist es ein Wunder, dass ich mich da zu dem Schritte entschloss, den ich an jenem Abende auf der Brücke ausführen wollte?

Glauben Sie mir, ich hätte vielleicht nie daran gedacht mir das Leben zu nehmen, wären mir in jenen Stunden Tränen vergönnt gewesen, aber es kam keine Träne. Ein banges, dumpfes Gefühl umklammerte mir Kopf und Herz und ich ging ohne Nachdenken an den Fluss. Auf dem Wege sagte ich mir ganz ruhig: »Dort kannst Du Allem ein Ende machen und je eher je lieber. Den andern Verlauf wissen Sie so gut, wie ich selbst und so kann ich gleich vom nächsten Morgen reden - dem Morgen, wo ich Sie so undankbar in dem Gasthause am Flussufer verließ.

Die Furcht, dass van Brandt mich wiederfinden könnte, wenn ich in Portshire blieb, war der einzige Grund, der mich veranlasste, die erste Gelegenheit zu benutzen, um weiter zu reisen. Der Brief, den er mir auf dem Tisch zurückließ, war voll Beteuerungen seiner Liebe und seiner Gewissensbisse, abgesehen von allen Entschuldigungen über seine nichtswürdige Handlungsweise gegen mich. Er schrieb mir, dass er halb noch als Knabe zu einer geheimen Ehe mit einer verworfenen Frau verleitet worden sei, die aber durch gegenseitiges Übereinkommen längst getrennt war. Als er sich zuerst um mich bewarb, hätte er mit Bestimmtheit annehmen müssen, dass sie tot war, wodurch dieser Irrtum entstanden und wie sie erfahren habe, dass er mit mir verheiratet sei, müsse er erst noch ergründen. Um eine Einmischung der Gerichte und eine Bloßstellung vor der ganzen Nachbarschaft zu vermeiden, sei er mit ihr gegangen, da er ihren wütenden Charakter wohl kenne, hoffe aber in wenigen Tagen zu mir zurückzukehren. Wenn er sich durch eine Erhöhung ihres Jahrgeldes von ihr losgekauft haben würde, dann wollte er mit mir ins Ausland gehen, wo mir jeder neue Kummer fern bleiben sollte, denn ich wäre vor Gott sein Weib und die Einzige, die er je geliebt. So ging es weiter und weiter.

Jetzt werden Sie einsehen, mein Herr, wie gewagt es für mich war in Ihrer Nachbarschaft zu bleiben, der bloße Gedanke daran macht mich schaudern. Ich war entschlossen, den Mann, der mich so schmählich hintergangen hatte, nie wieder zu sehen und das ist auch noch mein Wille, nur mit dem Vorbehalt, dass ich meinen Vorsatz ändern würde, wenn ich sichere Kunde von dem Tode seiner Frau hätte und das ist nicht wahrscheinlich. Lassen Sie mich fortfahren und Ihnen erzählen, was ich tat, als ich in Edinburgh ankam. Der Fuhrmann empfahl mir das Gasthaus in Canongate, wo Sie mich fanden und von dort schrieb ich gleich am andern Tage an die Verwandten meines Vaters in Glasgow über meinen Aufenthalt hier und über die verlassene Lage, in der ich mich befand.

Mit der nächsten Post schon erhielt ich eine Antwort. Das Oberhaupt unserer Familie und dessen Frau schrieben mir, dass ich sie augenblicklich nicht in Glasgow besuchen könne. Da sie Geschäfte hätten, die sie nach Edinburgh führen würden, könnte ich sie hier sobald als irgend möglich erwarten.

Ihrem Versprechen gemäß suchten sie mich auch auf und begegneten mir mit aller Rücksicht, liehen mir auch eine kleine Summe Geldes, als sie hörten, wie bedenklich es mit meiner Kasse stand, aber ich glaube nicht, dass Einer von ihnen wahrhafte Teilnahme für mich fühlte. Bei ihrer Abreise verwiesen sie mich an meines Vaters andere Verwandte in England. Vielleicht tue ich ihnen mit meiner Vermutung Unrecht, aber ich glaube sie wünschten mich sobald als möglich los zu sein, wie man so zu sagen pflegt.

Der Tag der Abreise meiner Verwandten, mein Herr, an dem ich ganz verlassen zurückblieb, war eben der Tag, an dem ich jenen wunderbaren Traum von Ihnen hatte, über den wir schon sprachen. Ich blieb immer noch in dem Hause in Canongate, teils weil die Wirtin freundlich gegen mich war, teils weil ich mich so niedergedrückt fühlte, das ich keine neuen Pläne machen mochte.

In dieser elenden Lage befand ich mich, als Sie mich auf meinem Lieblingsspaziergange von Holyrood nach St. Antonios Brunnen, trafen. Sein Sie versichert, dass Ihre freundliche Teilnahme an meinem Schicksal nicht an eine Unwürdige verschwendet ist, denn welchen größeren Segen konnte ich vom Himmel erstehen, als einen Bruder und Freund zu finden. Leider haben Sie diese Hoffnung selbst durch unser Beisammensein in dem Gasthauszimmer zerstört, aber ich tadle Sie darum nicht, denn ich fürchte, dass ich Sie unbewusst zu dem was Sie taten, ermutigte. Ich bin nur unendlich traurig, dass mir keine andere Wahl bleibt, als Sie nie wiederzusehen.

Ich bin nun zu dem Entschluss gekommen, nachdem ich viel nachgedacht habe, dass ich mich an jene andern Verwandten meines Vaters wenden will, denen ich noch nichts über meine Lage mitteilte. Mir bleibt als einzige Hoffnung nur der Gedanke, dass sie mir zu irgendeinem ehrenwerten Broterwerb verhelfen werden. Gott segne Sie, Mr. Germaine. Von ganzem Herzen wünsche ich Ihnen Wohlfahrt und Glück und verbleibe immer Ihre ergebene Dienerin

M. van Brandt.

Nachschrift. Um Ihnen zu beweisen, dass ich Ihnen von Anfang bis zum Ende der Wahrheit gemäß getreu berichtet, unterzeichne ich meinen Namen oder den Namen, den ich einst mit Recht zu tragen glaubte. In Zukunft muss ich um meiner Sicherheit willen unter einem andern Namen leben und möchte am Liebsten den Namen wieder annehmen, den ich als glückliches Kind trug, aber van Brandt kennt ihn und ich habe ihn, wenn auch ohne mein Verschulden, befleckt. Leben Sie wohl, mein Herr, und gestatten Sie mir meinen wiederholten Dank.«

Dieses war der Inhalt des Briefes.

Ich las ihn in einer ganz gedrückten und unvernünftigen Stimmung und fand Alles unrecht was die arme Frau van Brandt getan hatte. Erstens war es unrecht von ihr, dass sie überhaupt geheiratet hatte, dann war es ebenfalls unrecht, dass sie daran dachte Herrn van Brandt jemals wieder zu sehen, selbst, wenn seine rechtmäßige Gattin inzwischen gestorben sein sollte. Es war unrecht von ihr, dass sie mir meinen Empfehlungsbrief zurückschickte, den ich mir obenein die Mühe gemacht hatte nach ihrer wandelbaren Laune zu ändern. Es war unrecht, über einen gestohlenen Kuss und eine Liebeserklärung so übertrieben spröde Ansichten zu haben, als hätte ich einen ebenso großen Schurkenstreich begangen, wie Herr van Brandt und schließlich war das das schwerste Unrecht von allen, dass sie nur den Anfangsbuchstaben ihres Taufnamens unterzeichnet hatte. Ich liebte nun diese Frau leidenschaftlich und wusste nicht einmal mit welchem süßen Namen ich sie in Gedanken nennen konnte. »M. van Brandt!« Nun konnte ich sie Maria, Margarethe, Mabel, Magdalene, Mary nennen, nein, Mary doch nicht. War auch die alte kindliche Liebe erstorben, ihr Andenken war mir doch noch wert. Wenn die »Mary« aus jenen Tagen noch lebte, würde sie mich so behandelt haben wie diese Frau? Niemals! Ich tat schon Unrecht unter ihrem teuren Namen an dieses herzlose Wesen zu denken, hatte ich denn allen Stolz, alle Selbstachtung verloren? Wie musste ich jetzt handeln, wo ich in der Blüte meiner Jahre stand, ein schönes Vermögen besaß und vor mir die Welt voll angenehmer Frauengesichter und reizender Frauengestalten lag? Sollte ich auf meinen Landsitz zurückkehren und über den Verlust eines Weibes trauern, das mich vorsätzlich verlassen hatte, oder mir einen Kurier und einen Reisewagen bestellen, um sie leicht unter fremden Menschen und Umgebungen zu vergessen? Der Gedanke an eine Vergnügungsreise durch Europa reizte meine Einbildungskraft in der Stimmung, in der ich mich augenblicklich befand. Zuerst erregte ich in meinem Hotel durch das plötzliche Einstellen aller Nachforschungen nach Frau van Brandt Erstaunen, dann öffnete ich meine Schreibmappe, um meiner Mutter meine neuen Pläne rückhaltlos mitzuteilen. Die Antwort erfolgte umgehend. Meine gute Mutter stimmte meinen neuen Entschlüssen zu meinem freudigsten Erstaunen nicht allein vollkommen bei, sondern hatte mit einer Energie, die ich ihr gar nicht zutraute, eiligst alle Einrichtungen für ihre Abwesenheit von Hause getroffen und war bereits auf dem Wege nach Edinburgh, um mich auf meiner Reise zu begleiten. »So lange ich Kraft und Lust habe Dich zu begleiten, George,« schrieb sie, »sollst Du nicht allein reisen.«

Drei Tage nachdem ich diese Worte gelesen, waren unsere Reisevorbereitungen beendet und wir waren nach dem Kontinent aufgebrochen.

Dreizehntes Kapitel

Noch nicht geheilt

Wir besuchten Frankreich, Deutschland und Italien und waren beinahe zwei Jahre von England abwesend.

Hatte ich der Zeit und der Abwechselung recht vertraut? War in meiner Erinnerung das Bild von Frau van Brandt wirklich erloschen?

Nein! Was ich auch tat, um mit den prophetischen Worten der Dame Dermody zu reden, ich suchte unablässig den Weg zu einer dereinstigen Vereinigung mit dem mir verwandten Geiste. In den ersten zwei oder drei Monaten unserer Reise verfolgten mich Träume von der Frau, die mich so entschlossen verlassen hatte. Da sie mir im Schlaf immer reizend erschien, immer voll Anmut, immer bescheiden und herzlich gegen mich erschien, hegte ich die glühende Hoffnung, dass ihre Erscheinung sich mir noch einmal wieder im wachen Zustande zeigen würde - dass sie mich zu einer bestimmten Zeit wieder an irgend einen einsamen Ort berufen würde. Aber meine Erwartungen blieben unerfüllt, die Erscheinung kam nicht. Die Träume von ihr wurden seltener und weniger lebhaft, bis sie ganz aufhörten.

Konnte ich daraus annehmen, dass ihre Prüfungszeit zu Ende war und dass sie der Hilfe nicht mehr bedurfte, den Mann vergessen hatte, der sie ihr leisten wollte? Sollten wir uns nie wiedersehen?

»Ich bin nicht wert ein Mann zu sein,« sagte ich mir, »wenn ich sie nun nicht vergesse!« doch sie behielt unverändert ihren Platz in meinem Herzen, was ich mir auch sagen mochte.

Ich sah alle Wunder der Kunst und Natur, die fremde Länder aufzuweisen hatten und lebte in dem blendenden Glanze der besten Gesellschaft, die sich in Paris, Rom und Wien vereinigt hatte. Ich verbrachte viele Stunden in Gesellschaft der schönsten Frauen Europas - und doch behielten diese einsame Gestalt an St. Antonios Brunnen und diese großen, grauen Augen, die mit so schwermütigem Ausdruck auf mir geruht hatten, ihren Platz in meiner Erinnerung unwandelbar fest und prägten unauslöschlich ihr Bild in mein Herz ein.

Ob ich dem Zauber, der mich gefangen hielt zu widerstehen versuchte, oder ob ich ihm folgte - ich sehnte mich stets nach ihr und versuchte mühsam meiner Mutter meinen Zustand zu verbergen. Ihre liebenden Augen entdeckten aber mein Geheimnis, sie sah mich leiden und litt mit mir. Sie sagte mir oftmals: »George, durch Reisen kommen wir nicht zum Ziel, lass uns heimkehren,« und mehr als einmal antwortete ich ihr mit der Entschlossenheit der Verzweiflung:

»Nein lass uns noch neue Menschen und neue Umgebungen aufsuchen.« Erst als ich sah, dass unter den fortdauernden Anstrengungen des Reisens ihre Kraft und Gesundheit litten, gab ich das hoffnungslose Jagen nach Vergessenheit auf und wir kehrten heim.

Ich vermochte meine Mutter, erst in meinem Hause in London auszuruhen, ehe sie sich nach ihrem Lieblingsaufenthalte, dem Landsitze in Portshire zurückbegab und natürlich blieb ich bei ihr in der Stadt. Meine Mutter war ja jetzt der einzige Gegenstand, der mir das Leben noch wert und teuer machte, denn weder Politik, noch Literatur oder Landwirtschaft, alles Dinge, die ja sonst einem Mann in meiner Lebensstellung von Interesse sind, hatten die geringste Anziehungskraft für mich.

Wir kamen in London, wie man zu sagen pflegt »auf der Höhe der Saison« an. Auf der Bühne erregte in dem Jahre eine Tänzerin durch ihre Anmut und Schönheit die ungeteilteste Bewunderung. In der Zeit, von der ich schreibe war nämlich das Ballett noch die Hauptunterhaltung für das Publikum. Wohin ich kam, fragte man mich, ob ich sie gesehen, bis meine Stellung in der Gesellschaft, als der Einzige, der gleichgültig gegen die Reize der herrschenden Gottheit war, gerade zu unerträglich wurde. So nahm ich denn die nächste Einladung in die Loge eines Freundes an und, ungern genug, ging ich in die Wogen der großen Welt, das heißt, ich ging in die große Oper.

Als wir das Theater betraten, war der erste Akt der Vorstellung vorbei und das Ballett hatte noch nicht begonnen. Während meine Freunde sich damit unterhielten, bekannte Gesichter in den Logen und Rängen zu entdecken, setzte ich mich auf einen Stuhl in die Ecke und wartete auf den Tanz. Meine Gedanken schweiften fern von dem Theater umher. Wie allen Damen, war auch der Dame neben mir die Nachbarschaft eines stummen Herrn unangenehm und sie war entschlossen, mich zur Sprache zu nötigen.

»Haben Sie je ein Theater so voll gesehen, Mr. Germaine,« sagte sie, »wie dieses Theater heute Abend ist?«

Sie reichte mir ihr Opernglas, während sie sprach und ich trat an die Logenbrüstung vor, um die Versammlung zu übersehen.

Es war ein schöner Anblick, jeder benutzbare Raum schien mir ausgefüllt, als ich allmälig mein Glas vom Fußboden bis zu der Decke des Theaters erhob. Höher und höher sehend, trat dann endlich die Galerie in meinen Gesichtskreis und selbst auf diese Entfernung brachte mir das vorzügliche Glas, welches mir in die Hand gesteckt war, die Gesichter der Zuschauer ganz deutlich nah. Zuerst sah ich die Personen, die sich in der ersten Sitzreihe der Logen auf der Galerie befanden.

Ich drehte mein Glas allmälig im Halbkreise der Sitze herum, bis ich ungefähr in der Mitte anhielt.

Mein Herz begann so mächtig zu schlagen, als wollte es mir aus der Brust springen, jenes Gesicht war unter den gewöhnlichen Gesichtern, die es umgaben, nicht zu verkennen, ich hatte Frau van Brandt entdeckt. Sie saß vorne an - aber nicht allein. Ein Mann saß dicht hinter ihr, der sich zu ihr herüber neigte und mit ihr sprach. Sie hörte ihm, wie mir schien, mit müdem, traurigen Ausdruck zu. Wer aber war der Mann? War es möglich das zu ergründen? Jedenfalls wollte ich Frau van Brandt sprechen.

Der Vorhang hob sich zum Ballett, aber ich verließ unter dem bestmöglichen Vorwand meine Loge.

Es gelang mir nicht, Einlass zur Galerie zu erlangen, selbst mein Geld wurde zurückgewiesen, da nicht einmal ein Stehplatz auf der Galerie vorhanden war.

Es blieb mir nur die Möglichkeit, auf die Straße zurückzugeben und an der Ausgangstür der Galerie, wenn die Vorstellung vorüber war, Frau van Brandt zu erwarten.

Wer aber war ihr Begleiter, der Mann, der hinter ihr saß und sich zutraulich über ihre Schulter weg mit ihr unterhielt? Diese eine Frage nahm meine Gedanken beim Auf- und Abgehen vor der Tür so völlig ein, dass es mir endlich unerträglich wurde. Nur um den Mann noch einmal anzusehen, kehrte ich zur Loge meiner Freunde zurück.

Ich erinnere mich nicht mehr, wodurch ich mein seltsames Benehmen entschuldigte. Mit dem Opernglase der Dame bewaffnet, das ich nämlich ohne Gewissensbiss behielt, wendete ich, als Einziger in dieser großen Versammlung, der Bühne den Rücken und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die Plätze der Galerie.

Er saß ruhig auf seinem Platz hinter ihr, allem Anschein nach ganz in die Reize der schönen Tänzerin versunken, Frau van Brandt dagegen schien die Leistungen auf der Bühne wenig anziehend zu finden. Sie sah dem Tanze, soviel ich wahrnehmen konnte, ermüdet und zerstreut zu und als der Beifall in wahrhaft wahnsinnigen Zurufen und Händeklatschen losbrach, blieb sie vollständig gleichgültig für den Enthusiasmus, der das Theater erfüllte. Der Mann hinter ihr, wie mir schien, verstimmt durch ihre sichtliche Gleichgültigkeit für die Aufführung, berührte sie ungeduldig an der Schulter, als ob er fürchtete, dass sie auf ihrem Platz einschlafen könnte. Die Vertraulichkeit seines Benehmens, die in mir die Vermutung befestigte, dass er van Brandt sei, versetzte mich in solche Aufregung, dass ich etwas sagte oder tat, was einen der Herren in meiner Loge zu einer Zurechtweisung veranlasse. »Gehen Sie lieber hinaus,« flüsterte er, »wenn Sie sich nicht beherrschen können.« Da er mit dem Rechte eines alten Freundes zu mir sprach, war ich klug genug seinen Rat anzunehmen und auf meinen Posten an der Tür der Galerie zurückzukehren.

Kurz vor Mitternacht endete die Vorstellung und die Zuschauer strömten aus dem Theater.

Aus meiner stillen Ecke hinter der Tür beobachtete ich die Treppe zur Galerie und wartete auf sie. Nach einer, wie mir schien, endlosen Zeit, sah ich sie und ihren Begleiter die Treppe herunter kommen. Sie trug einen langen, dunklen Mantel, ein zierlicher Hut bedeckte ihren Kopf und erschien darauf als die kleidsamste Kopfbedeckung, die eine Frau tragen kann. Ich hörte den Mann in verdrießlichem Tone zu ihr sprechen, als sie an mir vorüber kamen.

»Dich in die Oper führen, heißt sein Geld wegwerfen,« sagte er.

»Ich bin nicht wohl,« antwortete sie mit gesenktem Kopf und niedergeschlagenen Augen. »Ich bin heute Abend so verstimmt.«

»Willst Du nach Hause fahren oder gehen?«

»Wenn es Dir recht ist, will ich gehen.«

Ich folgte ihnen, unbeobachtet, bis die Massen sich verlaufen hatten, dann wollte ich mich ihr zeigen. Nach wenigen Minuten bogen sie in eine Querstraße ein, ich beschleunigte meine Schritte, bis ich dicht neben ihr war, nahm dann den Hut ab und redete sie an.

Mit einem Ausruf des Erstaunens erkannte sie mich und für einen Augenblick erleuchtete ihr Gesicht der lieblichste Ausdruck der Freude, den ich je auf einem menschlichen Antlitz sah - im nächsten Augenblick war Alles vorbei! Die reizenden Züge wurden wieder düster und hart, sie stand vor mir, als wäre sie schuldbeladen und sprach kein Wort, nahm selbst nicht meine dargereichte Hand.

Ihr Begleiter brach das Schweigen.

»Wer ist der Herr?« fragte er, mit ausländischem Akzent und einer gewissen Unverschämtheit in Ton und Gebärde.

Im Augenblick, als er sie anredete, überwand sie sich und antwortete: »Es ist Mr. Germaine, ein Herr, der in Schottland sehr gütig gegen mich war.« Sie schlug einen Moment lang ihre Augen zu mir auf und nahm ihre Zuflucht zu einer förmlichen, höflichen Frage nach meinem Befinden. »Ich hoffe es geht Ihnen gut, Mr. Germaine,« sagte die weiche, süße Stimme immer bebend.

Ich gab die gewöhnliche Antwort und erklärte, dass ich sie in der Oper gesehen hätte. »Leben Sie in London?« fragte ich, »und kann ich die Ehre haben Ihnen meine Aufwartung zu machen?«

Ehe sie sprechen konnte, antwortete ihr Begleiter für sie:

»Meine Frau dankt Ihnen für die Ehre, die Sie ihr erweisen wollen, mein Herr, sie empfängt aber keinen Besuch. Wir beide wünschen Ihnen eine gute Nacht!«

Bei diesen Worten nahm er den Hut mit spöttischer Verbindlichkeit ab und zwang sie, ihren Arm fest haltend, ohne Aufenthalt mit ihm weiter zu gehen. In der festen Überzeugung, die ich nun gewonnen hatte, dass der Mann kein Anderer als van Brandt war, stand ich im Begriff ihm eine scharfe Antwort zu geben, die Frau van Brandt aber sogleich abschnitt.

»Um meinetwillen!« flüsterte sie mir zu und ihr flehender Blick brachte mich sofort zum Schweigen. Es lag ja allerdings ganz in ihrem freien Willen zu dem Mann zurückzukehren, der sie so abscheulich betrogen und verlassen hatte oder nicht. Ich verneigte mich und ging. Das Gefühl der Demütigung, dass ich der Nebenbuhler von Herrn van Brandt war, erfüllte mich mit grenzenloser Bitterkeit.

Ich ging auf die andere Seite der Straße, aber ehe ich drei Schritte weit gegangen war, bemächtigte sich der alte Zauber, den sie auf mich ausübte, wieder meiner und, ohne mich zur Selbstbeherrschung zu zwingen, entschloss ich mich, mich zum Spion zu erniedrigen und ihnen nach ihrer Wohnung zu folgen. Das gelang mir denn auch, da ich vorsichtig auf der andern Seite der Straße hinter ihnen her ging und so ihre Haustür erreichte, ich verzeichnete Straße und Nummer genau in mein Notizbuch.

Niemand, der diese Zeilen liest, kann mich härter beurteilen, als ich selbst es tat. Wie durfte ich eine Frau lieben, die mir absichtlich einen Schurken vorzog, der sie heiratete, während er schon mit einer andern Frau getraut war und doch trotzdem ich Alles das wusste, liebte ich sie mit derselben Innigkeit! Es war unglaublich und entsetzlich - aber es war wahr! Zum ersten Male in meinem Leben nahm ich meine Zuflucht zum Wein, um das Gefühl meiner Erniedrigung zu vergessen. Ich ging nach meinem Club, wo ich mich einer heiteren Abendgesellschaft zugesellte und vergeblich den Champagner Glas auf Glas herunter goss, denn meine Stimmung erheiterte sich dennoch nicht und es gelang mir nicht, auch nur für einen Augenblick das Bewusstsein meiner verächtlichen Handlungsweise loszuwerden. Verzweifelt ging ich zu Bett und in der schlaflosen Nacht, verfluchte ich jenen verhängnisvollen Abend, wo ich ihr zum ersten Male am Ufer des Flusses begegnete. Wie ich sie aber auch schmähen mochte, wie tief ich mich selbst verachtete, ich liebte sie trotz alledem!

Unter den Briefen, die ich am andern Morgen auf meinem Tische fand, waren zwei, die in der Erzählung erwähnt werden müssen.

Die Handschrift auf dem Einen hatte ich schon einmal in dem Hotel in Edinburgh gesehen, die Schreiberin war Frau van Brandt.

»Um meinetwillen,« so lautete der Brief, »machen Sie keinen Versuch weiter, mich zu sehen und schlagen Sie die Einladung aus, die Sie, wie ich fürchte, mit diesen Zeilen zugleich erhalten werden. Ich bin für mein Leben entehrt und Ihrer Beachtung nicht mehr würdig, Sie sind es sich selbst schuldig, mein Herr, ein elendes Weib zu vergessen, das Ihnen heute zum letzten Male schreibt und Ihnen voll Dankgefühl ein letztes Lebewohl sendet.«

Diese traurigen Worte waren nur mit Buchstaben unterzeichnet und befestigten in mir, was ich wohl kaum zu sagen brauche, den Entschluss sie auf jeden Fall wiederzusehen. Als ich das Papier geküsst hatte, das ihre Hand berührt, las ich den zweiten Brief, der richtig die oben erwähnte »Einladung« enthielt und also lautete:

»Indem Herr van Brandt Mr. Germaine seine Hochachtung bezeigt, erbittet er sich seine Verzeihung für die etwas schroffe Weise, in der er Mr. Germaines höfliches Entgegenkommen, erwiderte. Da Herr van Brandt stets an nervöser Reizbarkeit leidet und gerade gestern Abend besonders unwohl war, hofft er, dass Mr. Germaine diese aufrichtige Entschuldigung in dem Sinne auffassen wird, wie sie niedergeschrieben ist und erlaubt sich hinzuzufügen, dass Frau van Brandt sich glücklich schätzen wird, Mr. Germaine zu empfangen, sobald es ihm belieben wird, bei ihr vorzusprechen.«

Nachdem ich die beiden Briefe gelesen hatte, stand die Überzeugung in mir fest, dass Herr van Brandt, als er dieses unverschämte Schriftstück an mich verfasste, irgendeinem schmutzigen eigennützigen Zwecke diente und dass die unglückliche Frau, die seinen Namen trug, über sein Vorhaben tief beschämt sein musste. Der natürliche Argwohn, den ich gegen diesen Mann und seine Zwecke empfand, brachte mich unverzüglich zum Entschluss, welchen Weg ich ihm gegenüber einzuschlagen hatte und ich war sogar erfreut, dass Herr van Brandt selbst mir ein Wiedersehen mit seiner Frau ermöglichte, mochten seine Beweggründe nun sein, welche sie wollten.

Bis Mittag wartete ich geduldig zu Hause, dann aber war es mir unmöglich länger auszuhalten; indem ich für meine Mutter, der zu begegnen mich doch mein natürliches Schamgefühl verhinderte, eine Entschuldigung zurück ließ, eilte ich davon um gleich von meiner Einladung an demselben Tage, wo ich sie erhielt, Gebrauch zu machen.

Vierzehntes Kapitel

Frau van Brandt in ihrer Häuslichkeit

Als ich meine Hand nach der Hausklingel ausstreckte, wurde die Tür von innen geöffnet und niemand Geringeres, als Herr van Brandt selbst, stand vor mir! Er hatte den Hut auf dem Kopfe und war entschieden eben im Begriff auszugehen.

»Wie gütig von Ihnen, mein Herr, Sie beantworten meinen Brief auf die liebenswürdigste Weise, indem Sie selbst erscheinen. Sie finden Frau van Brandt zu Hause und sie wird außerordentlich erfreut sein. Bitte treten Sie näher!«

Er öffnete die Tür eines Zimmers im Erdgeschoss. Seine Höflichkeit war, wo möglich, noch beleidigender als seine Unverschämtheit.

»Bitte nehmen Sie Platz, Mr. Germaine!« Er ging und öffnete die Tür, aus der er mit lauter, sicherer Stimme die Treppe herauf rief:

»Mary komm sofort herunter!«

Also »Mary!« So musste ich durch Brandt endlich ihren Taufnamen erfahren. aber ich kann nicht beschreiben, wie er mir, von seinen Lippen gesprochen, die Ohren zerriss. Zum ersten Male seit langen Jahren kehrte meine Erinnerung zu Mary Dermody und der Grünwasserfläche zurück, Ich hörte aber schon Frau van Brandts Kleider auf der Treppe tauschen und bei diesem Tone waren die alten Zeiten und die alten Gestalten so gänzlich aus meinem Gedächtnis verschwunden, als hätten sie nie darin gelebt. Was hatte sie denn mit ihrer Namensschwester aus alten Zeiten, mit dem zarten, schüchternen, kleinen Mädchen gemein? Wie konnte das düstere Wohnhaus in London mich an des Vogtes blumenumduftetes Häuschen am Ufer des Sees erinnern?

Van Brandt nahm den Hut ab und verbeugte sich mit niedriger Unterwürfigkeit vor mir.

»Mich erwartet eine unaufschiebbare Geschäftsangelegenheit« sagte er, »bitte, entschuldigen Sie mich. Frau van Brandt wird Sie empfangen. Guten Morgen.«

Die Haustür wurde geöffnet und geschlossen, das Rauschen ihres Kleides kam immer näher, bis sie vor mir stand.

»Mr. Germaine!« rief sie aus und trat zurück, als ob sie schon bei meinem bloßen Anblick zurückgestoßen wurde. »Ist es ehrenwert, ist es Ihrer würdig, dass Sie mich verleiten lassen, Sie zu empfangen und Herrn van Brandt dabei zu ihrem Mitschuldigen machen? O, mein Herr, ich hatte mich daran gewöhnt zu Ihnen, als zu einem edlen Manne empor zu sehen und wie bitter haben Sie mich enttäuscht!«

Ich beachtete ihre Vorwürfe nicht, denn sie erhöhten nur ihre Farbe und steigerten dadurch das Entzücken sie anzuschauen.

»Wenn Sie mich so treu liebten, wie ich Sie liebe,« sagte ich, »so würden Sie begreifen, weshalb ich hier bin. Ich scheue kein Opfer um Sie nach zweijähriger Trennung endlich wiederzusehen.«

Sie neigte sich zu mir und richtete ihre Augen tief forschend auf mein Gesicht.

»Es muss hier ein Irrtum obwalten,« sagte sie, »Sie können meinen Brief unmöglich erhalten haben oder haben Sie ihn nicht gelesen?«

»Ich erhielt und las ihn.«

«Und van Brandts Brief auch, haben Sie den auch gelesen?«

»Ja.«

Sie setzte sich an den Tisch und ihre Arme darauf stützend, bedeckte sie ihr Gesicht mit den Händen. Es schien, als ob meine Antwort sie schmerzte und in Erstaunen versetzte. »Sind denn alle Männer gleich?« hörte ich sie sagen, »ich hoffte, dass er fühlen würde, was seine Pflicht gegen sich selbst war und was ihm das Mitleid für mich gebot.«

Ich schloss die Tür und setzte mich zu ihr. Als sie meine Nähe fühlte, nahm sie die Hände vom Gesicht und sah mich mit kaltem Erstaunen an.

»Was beabsichtigen Sie nun?« fragte sie.

»Ich werde versuchen mir Ihre Achtung wiederzugewinnen,« sagte ich. »Ich werde zuerst Ihr Mitleid für einen Mann anrufen, dessen ganzes Herz Ihnen gehört, dessen Leben in Ihnen aufgeht!«

Sie sprang auf und sah sich ungläubig an, als zweifle sie, ob sie meine letzten Worte richtig gehört und richtig verstanden habe. Ehe ich weiter sprechen konnte, trat sie vor mich hin und schlug mit ihrer geöffneten Hand mit einer so leidenschaftlichen Entschlossenheit auf den Tisch, wie ich sie nie zuvor von ihr gesehen hatte.

»Halten Sie ein!« rief sie. »Diese Sache muss und wird ein Ende nehmen. Wissen Sie denn, wer der Mann ist, der eben das Haus verlassen hat? Antworten Sie mir, Mr. Germaine. ich spreche im vollen Ernst.« Es blieb mir keine Wahl als zu antworten, denn sie sprach in der Tat im Ernst - im furchtbaren Ernst.

»Aus seinem Briefe ersehe ich,« sprach ich, »dass er Herr van Brandt ist.«

Sie setzte sich und wendete das Gesicht von mir ab.

»Wissen Sie warum er Ihnen schrieb?« fragte sie. »Warum er Sie hierher einlud?«

Ich gedachte des Argwohns, der mich beschlich, als ich van Brandts Brief las und schwieg.

»Sie zwingen mich, Ihnen die Wahrheit zu sagen,« fuhr sie fort. »Gestern Abend beim Nachhausegehn fragte er mich, was Sie wären. Da ich wusste, dass Sie ein reicher Mann sind und er Geld braucht, sagte ich ihm, dass ich gar nichts über Ihre Lebensverhältnisse wüsste, aber er ist zu schlau, um mir zu glauben und ging sofort in ein Restaurant, um in einem Adresskalender nachzusehn. Als er zurückkam, sagte er: »Mr. Germaine hat ein Haus in Berkeley Square und einen Landsitz in den Hochlanden. Ein armer Teufel wie ich darf solchen Mann nicht beleidigen, ich beabsichtige ihn mir zum Freunde zu machen und erwarte ein Gleiches von Dir.« Damit setzte er sich hin und schrieb Ihnen. Wissen Sie denn, Mr. Germaine, dass ich nur unter dem Schutze dieses Mannes lebe, seine Frau ist nicht tot, wie Sie wohl voraussehen mögen, sie lebt und ich weiß, dass sie lebt. Ich schrieb Ihnen, dass ich Ihrer Teilnahme nicht mehr wert wäre, nun zwingen Sie mich Ihnen zu sagen, warum. Bin ich nun vor Ihnen genugsam erniedrigt, um Sie wieder zur Besinnung zu bringen?«

Ich rückte näher zu ihr heran. Sie wollte aufstehen, um mich zu verlassen, aber da ich meine Macht über sie kannte, bediente ich mich ihrer ohne Bedenken, wie es wohl jeder an meiner Stelle getan hätte.

»Ich glaube nicht, dass Sie sich freiwillig erniedrigt haben,« sagte ich. »Sie sind zu Ihrer jetzigen Stellung gezwungen worden und verschweigen mir absichtlich die Entschuldigungsgründe. Dennoch werden Sie mich nie überzeugen, dass Sie eine Unwürdige sind! Glauben Sie, dass ich Sie lieben würde, wie ich Sie liebe, wenn Sie meiner wirklich unwert wären?«

Sie versuchte mir ihre Hand zu entziehen, aber ich hielt sie fest, so beschloss sie denn den Gegenstand des Gesprächs zu wechseln und sagte mit schwachem, erzwungenem Lächeln:

»Eines müssen Sie mir noch sagen, haben Sie meine Erscheinung je wiedergesehen, seit ich Sie verließ?«

»Nein. Haben Sie mich je wieder so gesehn, wie Sie mich im Gasthause in Edinburgh sahen?«

»Niemals. Unsere gegenseitigen Erscheinungen sind verschwunden, können Sie sich einen Grund dafür denken?«

Hätten wir diesen Gegenstand weiter verfolgt, so hätte er unbedingt zu unserer Erkennung führen müssen, aber wir ließen ihn fallen. Statt ihre Frage zu beantworten, zog ich sie näher an mich und kehrte zu dem verbotenen Thema von meiner Liebe zurück.

»Sehen Sie mich an,« bat ich, »und seien Sie aufrichtig. Können Sie mich sehn, mich hören und finden Sie in Ihrem Herzen keine sympathische Regung für mich? Bin ich Ihnen ganz gleichgültig und haben Sie, seit wir uns trennten, wirklich niemals meiner gedacht?«

Ich sprach, wie ich empfand, inbrünstig, leidenschaftlich. Sie machte einen letzten Versuch mich. von sich zu stoßen, während dessen sie aber schon selbst nachgab. Sie drückte meine Hand und ein leiser Seufzer entfloh ihren Lippen, als sie sich plötzlich von der Rückhaltung, die sie bis jetzt beobachtet hatte frei machte und mir mit voller Hingebung antwortete:

»Ich gedenke immer Ihrer, so auch gestern Abend in der Oper und mein Herz jauchzte auf, als ich Ihre Stimme auf der Straße vernahm.«

»So lieben Sie mich?« flüsterte ich.

»Ob ich Sie liebe?« wiederholte sie. »Gegen meinen eigenen Willen gehört Ihnen mein ganzes Herz. Ich liebe Sie, ob ich gleich erniedrigt und Ihrer unwert bin, ob ich gleich weiß, dass ich keinerlei Hoffnung habe, dennoch liebe ich Sie!«

Sie schlang ihre Arme um meinen Hals und zog mich mit aller Kraft an sich, dann sank sie auf ihre Knie.

»Ach, führen Sie mich nicht in Versuchung!« sprach sie. »Haben Sie Erbarmen mit mir!«

Ich war außer mir und sprach eben so rückhaltlos, wie sie zu mir gesprochen hatte.

»So beweisen Sie mir, dass Sie mich lieben,« sagte ich, »indem Sie mir gestatten Sie von dem erniedrigenden Leben mit diesem Manne zu erretten. Verlassen Sie ihn und folgen Sie mir, verlassen Sie ihn auf immer und suchen Sie an meiner Seite eine bessere Zukunft, die Ihrer würdig ist - die Zukunft, mein Weib zu sein.«

»Niemals!« sagte sie, sich zu meinen Füßen niederkauernd.

»Warum nicht? Was behindert Sie?«

»Das kann und darf ich Ihnen nicht sagen.«

»Wollen Sie es mir schreiben?«

»Nein, Ihnen kann ich es auch nicht schreiben. Gehen Sie, ich flehe Sie an, ehe van Brandt heimkehrt, gehen Sie, wenn Sie Liebe, wenn Sie Mitleid für mich fühlen.«

Sie hatte meine Eifersucht erregt und ich verweigerte Sie zu verlassen.

»Ich fordre von Ihnen zu wissen, was Sie an diesen Mann fesselt,« sagte ich. »Lassen Sie ihn kommen! Wenn Sie mir diese Frage nicht beantworten wollen, werde ich sie ihm vorlegen.«

Sie sah mich wild an und stieß einen Schrei des Entsetzens aus, als sie meinen unwandelbaren Entschluss auf meinem Gesichte las.

»So lassen Sie mich nachdenken,« sagte sie, »aber erschrecken Sie mich nicht!«

Als sie einen Augenblick nachgedacht, erhellten sich ihre Augen, als hätte sie einen neuen Ausweg aus diesen Verwickelungen gefunden.

»Lebt Ihre Mutter noch?« fragte sie.

»Ja.«

»Würde sie zu mir kommen?«

»Wenn ich sie darum bitte, gewiss.«

Sie überlegte wiederum und sagte dann nachdenklich: »dann will ich Ihrer Mutter das Hindernis nennen.«

»Wann?«

»Morgen um diese Zeit.«

Sie erhob sich von den Knien und Tränen standen in ihren Augen. Indem sie mich sanft an sich zog, flüsterte sie: »Küssen Sie mich, denn wir werden uns nie wiedersehn, küssen Sie mich zum letzten Male.«

Kaum hatten meine Lippen die ihren berührt, als sie aufsprang und meinen Hut von dem Stuhle nahm, auf den ich ihn gestellt hatte.

»Er kommt,« sagte sie, »nehmen Sie Ihren Hut.«

Mein schwächerer Gehöressinn hatte nichts wahrgenommen, aber um sie zu beruhigen, stand ich auf und nahm meinen Hut zur Hand. In demselben Augenblicke wurde die Tür schnell und leise geöffnet und Herr van Brandt trat ein. Die Enttäuschung in seinen Zügen sagte mir deutlich, dass er uns aus irgendeinem niedrigen Grunde zu überraschen hoffte und dass seine Absicht fehlgeschlagen war.

»Sie werden doch jetzt nicht aufbrechen?« sagte er und heftete seine Augen auf seine Frau, während er mit mir sprach. »Ich habe mein Geschäft möglichst beschleunigt, um Sie noch hier zu finden und zu bitten mit uns zu frühstücken. So legen Sie Ihren Hut doch ab, Mr. Germaine, und machen Sie keine Umstände.«

»Sie sind sehr gütig,« erwiderte ich, »aber ich muss Sie und Frau van Brandt bitten, mich für heute zu entschuldigen, meine Zeit ist grade sehr gemessen.«

Ich verabschiedete mich von ihr, während ich sprach, sie erblasste, als ich ihr die Hand gab. Hatte sie, wenn ich den Rücken kehrte, irgend eine Misshandlung von van Brandt zu fürchten? Der Gedanke machte mein Blut gerinnen, aber ich gedachte ihrer und sagte mir, dass es für sie das Weiseste und Sicherste war, wenn ich ihren Mann für mich gewann, ehe ich ging. Darum sagte ich, als wir zur Tür gingen: »Ich bedaure sehr Ihre Einladung nicht annehmen zu können, vielleicht gestatten Sie mir ein andres Mal Ihr Gast zu sein?«

Er blinzelte schlau mit den Augen und fragte: »Was meinen Sie zu einem kleinen, einfachen Mittagsmahl mit uns? Nichts als ein Stück Hammelbraten und eine Flasche guten Weines. Ich lade nur noch einen alten Freund dazu ein, damit wir unserer Vier sind, und am Abend einen Rubber Whist spielen können; Sie als Marys Partner - wie? Wann wollen Sie kommen, wollen wir gleich übermorgen bestimmen? Sie war mit bis an die Tür gekommen und stand hinter van Brandt. Als er des »alten Freundes« und des »Rubbers Whist« erwähnte, drückten ihre Züge Scham und Widerwillen aus. Erst als sie hörte, dass er den Tag der Gesellschaft als auf »übermorgen« festsetzte, wurden ihre Züge ruhiger, als wenn sie sich erheblich erleichtert fühlte. Was bedeutete das? »Auf morgen« hatte sie sich den Besuch meiner Mutter erbeten, glaubte sie wirklich, dass ich nie wieder ihr Haus betreten und jeden Versuch sie wiederzusehn aufgeben würde, wenn ich erfuhr, was sie meiner Mutter zu sagen hatte. Fühlte sie sich deshalb erleichtert, als sie hörte, dass die Mittagsgesellschaft erst am Tage darauf stattfinden sollte?

Ich nahm die Einladung an und verließ das Haus, indem ich diese Frage in mir bewegte. Ihr Abschiedskuss, die sichtliche Erleichterung, die sie empfand, als die Gesellschaft auf übermorgen festgesetzt war, das Alles bedrückte mich und ich hätte gern zwölf Jahre meines Lebens darum hin gegeben, hätte ich die nächsten zwölf Stunden damit auslösen können.

In diesem Gemütszustande langte ich zu Hause an und suchte meine Mutter in ihrem Wohnzimmer auf.

»Veranlasste Dich das schöne Wetter früher als gewöhnlich auszugehn, mein lieber Sohn?« sagte sie. Als sie mich aber nach einer Pause näher betrachtete, rief sie erschreckt aus: »George! Was ist Dir zugestoßen? Wo warst Du?«

Ich erzählte ihr Alles eben so aufrichtig, wie ich es hier getan habe.

Das Blut stieg ihr ins Gesicht und sie sprach mit einer Strenge zu mir, die ich gar nicht von ihr gewohnt war.

»Muss ich Dich zum ersten Male in Deinem Leben darauf aufmerksam machen, was Du Deiner Mutter schuldig bist?« fragte sie. »Kannst Du wirklich von mir verlangen, dass ich eine Frau besuche, die nach ihrem eigenen Geständnis -«

»Ich ersuche Dich eine Frau zu besuchen, die es nur ein Wort kostete um Deine Schwiegertochter zu werden,« unterbrach ich sie. »Sei überzeugt, dass ich nichts von Dir fordern würde, was unter Deiner Würde ist.«

Meine Mutter blickte erschrocken zu mir auf.

»Du willst doch damit nicht sagen, dass Du ihr einen Heiratsantrag gemacht hast, George?«

»Ja .«

»Und sie hat ihn abgelehnt?«

»Sie lehnt ihn ab, weil irgend ein Hindernis im Wege steht, das ich mich vergeblich von ihr zu erfahren bemühte. Dir nur will sie es anvertrauen.«

Der Ernst der Sachlage zwang meine Mutter nachzugeben. Indem sie mir das kleine Täfelchen von Elfenbein reichte, auf dem sie ihre geselligen Verpflichtungen zu notieren pflegte, sagte sie: »Schreibe den Namen und die Adresse hierauf.«

»Ich werde Dich begleiten,« antwortete ich, »und vor der Türe im Wagen warten, denn ich muss im Augenblick, wo Deine Zusammenkunft mit Frau van Brandt beendet ist, das Resultat hören.«

»Ist die Sache so ernst, George?«

»Ja, Mutter, sie ist sehr ernst.«

Fünfzehntes Kapitel

Das Hindernis überwindet mich

Wie lange habe ich im Wagen vor Frau van Brandts Wohnung gewartet? Meinem Gefühl nach war es ein halbes Menschenalter, meiner Uhr nach nur eine halbe Stunde.

Ehe meine Mutter die Lippen öffnete, war meine Hoffnung auf einen glücklichen Erfolg ihres Zwiegesprächs mit Frau van Brandt erloschen, denn ich sah ihr bei ihrer Umkehr auf den ersten Blick an, dass das Hindernis, das zwischen mir und dem heißesten Wunsche meines Lebens stand, für meine Kraft unüberwindlich war.

»Sage mir das Schlimmste und sage es gleich,« sagte ich, als wir von dem Hause abfuhren.

»Sie bat mich selbst, dass ich es Dir in derselben Weise sagen möchte, George,« sagte meine Mutter traurig, »wie sie es mir gesagt hat. »Wir müssen ihn enttäuschen,« sagte sie, »aber nicht wahr, wir wollen es so sanft als möglich tun.« Nach dieser Einleitung erzählte sie mir die schmerzliche Geschichte, die Du schon kennst - die Geschichte ihrer Verheiratung und ging dann auf Euer Zusammentreffen in Edinburgh und die Umstände über, die sie veranlassen ihr jetziges Leben zu führen. Diesen letzten Teil ihrer Geschichte bat sie mich Dir besonders zu wiederholen, fühlst Du Dich augenblicklich fähig mich anzuhören oder willst Du warten?«

»Lass es mich gleich hören, Mutter, und bediene Dich so viel als möglich ihrer eigenen Worte.«

»Ich will Dir Alles, was sie mir sagte, so getreu als möglich wiederholen, lieber Sohn. Nachdem sie von ihres Vaters Tode gesprochen hatte, sagte sie, dass sie nur noch zwei Verwandte besaß: »Ich habe eine verheiratete Tante in Glasgow und eine verheiratete Tante in London,« das waren ihre Worte. »Als ich Edinburg verließ, ging ich zu der Tante nach London, die leider mit meinem Vater nicht in freundschaftlichen Beziehungen gestanden hatte, da sie sich von meinem Vater zurückgesetzt glaubte. Sein Tod hatte sie gegen ihn, wie gegen mich milder gemacht, so dass sie mich freundlich empfing und mir eine Stelle in einem Laden verschaffte, die ich drei Monate lang behielt, dann aber aufgeben musste.«

Meine Mutter schwieg. Mir fiel gleich die seltsame Nachschrift ein, die ich auf Frau van Brandts Wunsch jenem Empehlungsbrief hinzufügen musste, den ich in dem Gasthause in Edinburgh für sie schrieb. Damals wollte sie auch nur für drei Monate eine Versorgung.

»Weshalb musste sie ihre Stellung verlassen?« fragte ich.

»Dieselbe Frage legte ich ihr vor,« erwiderte meine Mutter, »sie hat sie mir aber nicht beantwortet, sondern wechselte die Farbe und sah verlegen aus. »Das will ich Ihnen nachher sagen, Madame,« sagte sie, »lassen Sie mich jetzt erst fortfahren. Meine Tante zürnte mir, dass ich die Stellung aufgegeben hatte und zürnte noch mehr, als sie meinen Grund dafür hörte, weil sie meinte, dass ich die Pflicht gehabt hätte, gleich ganz aufrichtig gegen sie zu sein. Wir schieden kalt von einander. Zum Glück hatte ich etwas Geld von meinem Gehalt erspart und so lange das reichte, ging es mir ganz gut, als es aber aufgezehrt war und ich mich nach einer neuen Stellung umsah, gelang es mir nicht, eine zu finden. Meine Tante versicherte mich, und sie sprach die Wahrheit, dass meines Onkels Einkommen grade nur ausreicht, um seine Familie zu erhalten, dass sie also nichts für mich tun könne und ich selbst war unfähig für mich zu sorgen. Den Brief, den ich an meine Tante nach Glasgow schrieb, ließ diese unbeantwortet. Ich stand dem Hungertode gegenüber, als ich eines Tages in einer Zeitung einen Aufruf fand, den Herr van Brandt an mich richtete. Er beschwor mich, ihm zu schreiben, da sein Leben ohne mich zu öde und leer wäre und gelobte mir feierlich, dass nichts wieder meine Ruhe stören sollte, wenn ich zu ihm zurückkehrte. Hätte ich nur an mich zu denken brauchen, so hätte ich lieber mein Brot auf den Straßen erbettelt, als dass ich zu ihm zurückgekehrt wäre -«

Hier unterbrach ich die Erzählung, indem ich sagte:

»Aber für wen sonst musste sie Rücksicht nehmen?«

»Ahnst Du in der Tat nicht, George, worauf sie hindeutete, als sie diese Worte sprach?« erwiderte meine Mutter.

Ich beachtete diese Frage nicht, denn meine Gedanken weilten mit großer Bitterkeit bei van Brandt und seinem Aufruf. »Natürlich beantwortete sie also den Aufruf?« fragte ich.

»Sie sah Herrn van Brandt wieder,« fuhr meine Mutter fort, »beschrieb mir aber das Begegnen mit ihm nicht näher. »Er rief mir ins Gedächtnis,« sagte sie, »dass die Frau, die ihn zu jener Heirat verleitet hatte, unheilbar dem Trunke ergeben war und er also unmöglich je wieder mit ihr zusammen leben konnte. Aber sie lebte noch und hatte das Recht sich seine Frau zu nennen. Ich will mich nicht entschuldigen, dass ich unter diesen Umständen zu ihm zurückkehrte, aber ich wusste in meiner damaligen Lage keinen andern Ausweg und will Sie nicht unnütz durch meine Schilderung dessen, was ich damals litt und noch leide, aufregen. Ich bin verloren. Machen Sie sich keine Sorge um ihres Sohnes willen, Madame, bis an mein Lebensende werde ich stolz darauf sein, dass er mir die Ehre und das Glück antrug, sein Weib zu werden - aber ich werde auch nie vergessen, was ich ihm und was ich Ihnen schuldig bin. Ich werde Ihren Sohn nicht wiedersehn, aber Eines bleibt mir noch zu tun: ich muss ihn überzeugen, dass unsere Heirat unmöglich ist. Sie sind Mutter und werden begreifen, weshalb ich lieber Ihnen als Ihrem Sohne enthülle, welches Hindernis unsere Verbindung unmöglich macht.« Sie erhob sich bei diesen Worten und öffnete die Flügeltüren, die von dem Empfangszimmer in ein Hinterzimmer führten. Nach wenigen Augenblicken kehrte sie zurück.«

Auf dem Gipfel ihrer Erzählung angelangt, hielt meine Mutter inne. Fürchtete sie sich, weiter zu sprechen oder hielt sie es für überflüssig mehr zu sagen?

»Nun,« sagte ich.

»Muss ich es Dir wirklich sagen, George? Errätst Du selbst jetzt nicht, wie es endete?«

Ich hatte aus doppelten Gründen wirklich nichts erraten, einmal, weil ich als Mann eine schwerfällige Auffassungsgabe hatte und andrerseits, weil ich halb wahnsinnig vor Erwartung war. So unglaublich es klingen mag, ich war zu benommen, um selbst jetzt die Wahrheit zu begreifen.

»Als sie zu mir zurückkam,« fuhr meine Mutter fort, »war sie nicht allein, mit ihr kam ein liebliches, kleines Mädchen, das eben erst an der Hand der Mutter zu gehn versuchte. Sie küsste das Kind zärtlich und setzte es auf meinen Schoß. »Hier sehn Sie den einzigen Trost meines Lebens,« sagte sie einfach, »aber zugleich auch das Hindernis, weshalb ich nie Mr. Germaines Weib werden kann.«

Van Brandts Kind! Van Brandts Kind!

Mit einem Male war Alles erklärt, Alles entschuldigt - deshalb die Nachschrift, die ich dem Briefe zufügen musste und der unbegreifliche Rücktritt aus der Stellung, die ihr doch zuzusagen schien, deshalb die entsetzlichen Schwierigkeiten, die sie an den Rand des Hungertodes führten und endlich deshalb die Rückkehr zu dem Manne, der sie grausam hintergangen hatte! Wie konnte sie eine neue Stellung annehmen, da sie ein Kind an der Brust hatte? Was konnte die freundlose Frau dem Hungertode gegenüber Anderes tun, als zu dem Vater ihres Kindes zurückzukehren? Im Vergleich zu ihm, welch ein Anrecht hatte ich an sie? Wenn das arme Geschöpf meine Liebe auch im Geheimen erwiderte, was galt die jetzt? Ihr Kind stand zwischen uns, das war es was sie an ihn fesselte, da sie einmal zurückgekehrt war! Welch Anrecht hatte ich auf sie? Die Sitte und das Gesetz beantworten diese Frage gleich sicher mit: - keines!

Ich ließ den Kopf sinken und empfing schweigend den furchtbaren Schlag.

Meine gute Mutter reichte mir die Hand und sagte traurig: »Nun verstehst Du Alles, George, nicht wahr?«

»Ja, Mutter, Alles, Alles!«

»Eines habe ich noch unerwähnt gelassen, mein lieber Sohn, was ich Dir auf ihren Wunsch sagen sollte. Sie beschwört Dich nicht zu glauben, dass sie die geringste Kenntnis von ihrer Lage hatte, als sie sich das Leben nehmen wollte. Durch ein Gespräch mit ihrer Tante in Edinburgh, kam sie zuerst auf die Vermutung, dass sie vielleicht Mutter werden sollte. Man muss mit dieser unglücklichen Frau Mitleid haben, George, denn so bedauernswürdig ihre Lage auch ist, trägt sie durchaus keine Schuld daran. Sie war das unschuldige Opfer eines niedrigen Verrats, als dieser Mann sie heiratete, seitdem hat sie unverdienterweise gelitten und gegen uns hat sie sehr edel gehandelt. Ich muss ihr alle Gerechtigkeit widerfahren lassen, und erkennen, dass man unter Tausenden nicht eine solche Frau findet und dass sie unter glücklichen Umständen wert wäre, meine Tochter und Dein Weib zu sein. Glaube mir, mein lieber Sohn, dass ich aus tiefstem Herzen für Dich und mit Dir fühle.«

So war allem Anscheine nach der Vorhang vor diesem Teil meines Lebens gefallen. Wie die Liebe meiner Knabenzeit geendet hatte, so auch begrub ich nun die Liebe reiferer Jahre.

Als ich im Laufe des Tages meine Selbstbeherrschung einigermaßen wiedererlangt hatte, schrieb ich Herrn van Brandt, wie sie vorausgesehen hatte, dass es geschehen würde, und bedauerte seiner Einladung für morgen nicht folgen zu können.

Durfte ich mein letztes Lebewohl an die Frau, die ich geliebt und verloren hatte, auch einem Briefe anvertrauen? Nein! Es war für uns Beide besser, wenn ich nicht schrieb und doch konnte ich den Gedanken, sie schweigend aufzugeben, unmöglich ertragen. In den letzten Worten mit denen sie sich von meiner Mutter verabschiedete, sprach sie, wie mir diese sagte, noch die Hoffnung aus, dass ich sie nicht hart beurteilen würde. Auf welche Weise konnte ich sie nun versichern, dass ich bis an mein Lebensende in Liebe ihrer gedenken würde? Der feine Takt und die aufrichtige Teilnahme meiner Mutter halfen mir den Ausweg finden.

»Schicke dem Kinde, dem armen, kleinen Kinde, gegen das Du doch sicher keinen Groll hegst, ein unbedeutendes Geschenk, George,« sagte sie. Gott weiß es, dass ich dem Kinde nicht grollte! Ich ging selbst aus, um ein Spielzeug für sie zu kaufen, brachte es gleich mit nach Hause und befestigte, ehe ich es abschickte, ein Zettelchen daran, worauf ich folgende Worte schrieb: »Ihrem Töchterchen von George Germaine«. Entschieden liegt nichts besonders Rührendes in diesen Worten und doch brach ich in Tränen aus, als ich sie niedergeschrieben hatte.

Am nächsten Morgen reisten meine Mutter und ich nach unserem Landsitz in Pertshire ab, denn London war mir nun unerträglich geworden. Das Ausland hatte ich schon als Heilmittel versucht, mir blieb also nichts übrig als in die Hochlande zurückzukehren und zu sehen, wie sich das Leben ertrug, wenn ich es ganz meiner Mutter widmete.

Sechzehntes Kapitel

Das Tagebuch meiner Mutter

In meiner Hochlands-Heimat folgten sich die Tage trübe und einförmig, denn wir lebten in tiefster Zurückgezogenheit und noch heute, nach Verlauf von Jahren, denke ich ungern daran zurück, die Erinnerung an Zeiten voller Tätigkeit, so gering diese auch sein mochte, ist, da sie mich mit meinen Mitmenschen zusammenführte und mich in Beziehung zu der lebhaften Strömung des Welttreibens brachte, mir dagegen immer lieb gewesen. Das kleinliche Zerlegen der eigenen Gefühle woran viele Menschen im Unglück ein selbstgefälliges Vergnügen zu finden scheinen, ist mir von jeher unbegreiflich gewesen. Darum will ich die Schilderung unseres einförmigen Lebens in Pertshire, so weit es mich betrifft, lieber in den Worten meiner Mutter folgen lassen. Einige Zeilen aus dem Tagebuche, das sie zu führen gewohnt war, werden alles nötige mitteilen, bis diese Erzählung einen vorgerückteren Zeitpunkt und neuere Ereignisse erreicht hat.

Den 20. August. - Trotzdem wir seit zwei Monaten in Schottland sind, finde ich George durchaus nicht vorteilhaft verändert. Er hat sich mit der Trennung von dieser unglücklichen Frau noch keineswegs ausgesöhnt, obgleich er mir das nie zugestehen will. Er erklärt, dass das Stilleben hier mit mir ganz seinen Wünschen entspricht. Ich weiß es aber besser, denn ich war in der vergangenen Nacht in seinem Schlafzimmer und hörte ihn im Schlaf von ihr sprechen und sah die Tränen an seinen Augenlidern! Der arme Junge! Wie viel tausende reizender Frauen würden sich glücklich schätzen sein Weib zu werden, und die Einzige, die ihm nie gehören kann, ist grade die Einzige, die er liebt!

Den 25. - Ich hatte eine lange Unterredung mit Mr. Mac Glue über Georges Zustand. Seit er meinen Sohn ermutigte jener Aufforderung nach St. Antonios Brunnen zu folgen, habe ich diesen schottischen Arzt nicht mehr leiden mögen, aber immerhin scheint er ein tüchtiger Mann in seinem Beruf zu sein und, wie ich glaube, meint er es in seiner Weise gut mit George. Er erteilte seinen Rat in derselben rauhen und entschiedenen Weise wie immer.

»Ihrem Sohn, Madame, wird nichts von seiner verliebten Leidenschaft für die halbertrunkene Dame seines Herzens heilen, als Abwechselung und - eine andre Herzensdame. Lassen Sie ihn dieses Mal allein reisen, damit er sich bewusst wird, wie schmerzlich er die Nähe eines mitfühlenden Wesens vermisst und wenn er ein solches gefunden hat, es gibt deren so viele, wie Fische in der See, dann beunruhigen sie sich nicht, wenn sie auch nicht ganz ohne Fehler ist. Ich besitze eine gesprungene Teetasse und benutze sie seit zwanzig Jahren. Verheiraten Sie ihn der Neuen, Madame, so schleunig und ohne Überlegung, wie das Gesetz es irgend gestattet.« Mir ist Mr. Mac Glues rohe, hartherzige Ansicht verhasst, aber leider fürchte ich, dass ich mich für eine kurze Zeit von meinem Sohne, um seiner selbst willen trennen muss.

Den 26. - Wohin soll ich George schicken? Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht und kann nicht zum Entschluss kommen. Es wird mir gar so schwer ihn fortzulassen.

Den 29. - Ich habe immer an besondere Fügungen geglaubt und bin nun in meinem Glauben noch befestigt. Der heutige Morgen brachte uns einen Brief von unserem guten Freunde und Nachbar Belhelyin. Sir James gehört zu der Kommission für die Leuchttürme des Nordens und bereist in einem Regierungsschiffe den Norden von Schottland, die Orkney- und die Shetlandsinseln, um dort die Leuchttürme zu besichtigen. Da es ihm aufgefallen ist, wie bleich und elend mein armer Sohn aussieht, ladet er George ein auf dieser Reise sein Gast zu sein. Ihre Abwesenheit wird nur zwei Monate dauern. Sir James erinnert mich daran, welche Wunder die Seeluft an Georges Gesundheit bewirkt hat, als er von Indien zurückkehrte. Um zu sehen, was Luftwechsel und veränderte Umgebung wirken können, konnte ich mir keine bessere Gelegenheit wünschen. So schwer mir die Trennung auch wird, will ich doch ein heiteres Gesicht dazu machen und George dringend zureden, die Einladung anzunehmen.

Den 30. - Ich habe alles Mögliche getan und gesagt, aber er besteht darauf mich nicht zu verlassen und ich erbärmliche selbstsüchtige Person war so erfreut, als er Nein sagte.

Den 31. - Wieder eine durchwachte Nacht. Heute muss George entschieden Sir James Vorschlag beantworten. Ich bin entschlossen meine Pflicht gegen meinen Sohn zu tun. Er sieht heute so entsetzlich elend und krank aus und wer steht mir dafür, dass er nicht wieder zu Frau van Brandt zurückkehrt, wenn nicht etwas für seine Zerstreuung geschieht?

Ich sehe ein, dass ich tausend Gründe habe in ihn zu dringen, dass er die Einladung von Sir James annimmt. Wenn ich fest bleibe, wird es mir auch gelingen, der arme Bursche hat mir ja immer gehorcht - warum sollte er es in diesem Falle nicht tun.

Den 2. September. - Er ist abgereist! Und zwar nur mir zuliebe, ganz gegen seinen Willen. Wie traurig, dass solch ein guter Sohn nicht auch eine gute Frau finden kann, er würde ja jede Frau glücklich machen. Habe ich wohl recht getan ihn fortzuschicken? Der Wind heult in dem Fichtenwäldchen hinter dem Hause so stark! Ob es auf der See auch stürmen mag? Ich vergaß Sir James zu fragen, wie groß das Schiff ist. Der Führer durch Schottland schildert die Küste als unsicher und die See zwischen der Nordküste und den Orkneyinseln als wild. Fast bereue ich schon, dass ich so sehr auf die Reise drang - wie töricht bin ich doch! Wir sind ja Alle in Gottes Hand, möge er meinen guten Sohn segnen und behüten!

Den 10. - Ich bin sehr unruhig, da ich noch keinen Brief von George habe. Ach, wie sorgenvoll ist doch das Leben und doch hängen wir so fest daran!

Den 15. - Ein Brief von George! Die Nordküste liegt bereits hinter ihnen, sie haben glücklich die wilde See durchkreuzt und sind bereits auf den Orkneyinseln angelangt. Das schönste Wetter hat sie begünstigt und George fühlt sich kräftiger und besser an Leib und Seele! Ja, wenn wir nur geduldig ausharren, bringt dieses Leben doch immer wieder Zeiten voll Glück und Freude.

Den 2. Oktober. - Wieder ein Brief. Sie sind glücklich in dem bedeutendsten Hafen der Shetlandsinseln, in Lerwick angekommen, obgleich das Wetter in der letzten Zeit nicht günstig war. Die Besserung in Georges Zustand dauert glücklicherweise fort und er schreibt sehr dankerfüllt über die unablässige Güte von Sir James gegen ihn. Ich bin so glücklich, dass ich Sir James küssen möchte, wenn er auch hundert Mal ein berühmter Mann und ein Mitglied der Kommission für die Leuchttürme des Nordens ist! Wenn Wind und Wetter günstig sind, hoffen sie in drei Wochen zurück zu sein, dann will ich keinen Augenblick über das einsame Leben klagen, das ich jetzt führe, wenn ich nur George gesund und glücklich wiedersehe. Er schreibt mir, dass sie einen großen Teil ihrer Zeit auf dem Lande zugebracht haben, erwähnt aber kein Wort von Damenbekanntschaften; vielleicht gibt es dort kaum welche in diesen Wildnissen. Von Shetlands Wäldern und von shetländischen Ponys hörte ich oft sprechen, ob es wirklich auch shetländische Damen geben mag?

Siebzehntes Kapitel

Shetlands Gastfreundschaft

»Führer, wo sind wir?«

»Ich kann es nicht genau sagen.«

»Haben Sie den Weg verloren?«

Als Antwort auf meine Frage sieht sich der Führer langsam ringsum, dann sieht er mich an und das genügt mir.

»Wir waren unserer drei die sich verirrt hatten, mein Reisegefährte, ich und der Führer. Wir ritten auf drei Shetland Ponys die so sehr klein waren, dass wir beiden Fremden uns zuerst scheuten sie zu besteigen. Es umgab uns ein feuchter, weißer Nebel, der so dicht war, dass wir einander ein halbes Dutzend Ellen weit, nicht sehen konnten und wir wissen nichts weiter, als dass wir uns auf dem Festlande der Shetlandsinseln befinden. Unter den Füßen unserer Ponys sehn wir nur eine Mischung von Moorland und Sumpf und daneben die kleine, feste Stelle auf der wir stehn, einige Schritt weiter liegt ein Streifen wässerigen Torfmoors, der tief genug ist, um uns in die Gefahr des Versinkens zu bringen, wenn wir hinein geraten. Das war Alles was wir ergründen konnten und die Hauptfrage ist nun: was sollen wir tun?

Der Führer hatte uns ehe wir fortritten vor dem Wetter gewarnt, daran erinnert er uns nun, während er sich die Pfeife anzündet. Mein Reisegefährte sieht mich gelassen, aber mit einem Ausdruck milden Vorwurfs an und den verdiene ich. Die unangenehme Lage in der wir uns augenblicklich befinden, habe ich durch meine Vorschnelligkeit veranlasst.

In den Briefen an meine Mutter habe ich absichtlich immer nur Günstiges über meine Gesundheit und meinen Gemütszustand berichtet, aber ich gestand ihr nicht, dass ich unablässig des Tages gedenke, an dem ich von meiner schönsten Hoffnung schied und auf die einzige Liebe verzichtete, die mir das Leben teuer machen konnte. Durch die Aufregungen, die meine neue Lebensweise mit sich brachte, war eine beständige Ruhelosigkeit über mich gekommen, der natürlich der starre Gemütszustand gewichen war, in dem ich mich zu Hause befand. Ich muss mich jetzt immer beschäftigen, gleichviel womit, wenn ich nur meinen eigenen Gedanken damit entweiche. Untätigkeit ist mir unerträglich, die Einsamkeit entsetzlich. Während die andern Mitglieder der Gesellschaft, die Sir James auf seiner Besichtigungsreise zu den Leuchttürmen begleiten, geduldig im Hafen von Lermick auf eine günstige Änderung des Wetters warten, bestehe ich eigenwillig darauf, den behaglichen Aufenthalt auf dem Schiffe zu verlassen, um irgend wo auf der Insel eine vorzeitliche Ruine zu entdecken, von der ich nie hörte und die gar kein Interesse für mich hat. Bewegung ist Alles, was ich suche. Der Ritt soll die verhasste Zeit des Wartens ausfüllen, so mache ich mich allem verständigen Rate zum Trotz auf den Weg. Aus jugendlichem Übermut lässt das jüngste Mitglied unserer Reisegesellschaft sich von meinem Leichtsinn anstecken und begleitet mich und was haben wir nun erreicht? Wir sind vom Nebel verschleiert, im Morast verirrt ringsum hält uns der verräterische Torfmoor gefangen.

Was sollen wir tun?

»Überlassen Sie sich ganz den Ponys,« sagt der Führer.

»Glauben Sie, dass die Ponys den Weg finden werden?«

»Das glaube ich,« sagt der Führer. »Lassen Sie den Zügel los und vertrauen Sie sich den Tieren an. Sie müssen nun für sich selbst handeln, ich reite auf meinem Pony davon.«

Er legt seinen Zügel auf den Sattelknopf, pfeift und verschwindet im Nebel; die Hände in den Taschen, die Pfeife im Munde, reitet er so behaglich von dannen, als ob er zu Hause an seinem Kamin säße. Uns bleibt nichts übrig, als seinem Beispiel zu folgen oder hier allein in dem Moor zu bleiben. So wie sie von unserer ungeschickten Leitung befreit sind, schreiten die klugen kleinen Tiere, wie Hunde, die Nase nach unten dem Geruche folgend tapfer vorwärts. Wo der zwischenliegende Torfmoor breit ist, umgehen sie ihn, ist er schmal genug, um hinüber zu kommen, so überschreiten sie ihn mit einem Sprunge. Tapp! Tapp! marschieren die tapfern kleinen Geschöpfe vorwärts, ohne anzuhalten, ohne zu zögern. In diesem Falle war unser »überlegener Verstand« ganz nutzlos und verwunderte sich nur, wie der Ritt enden würde. Unser Führer, der vor uns war, beteuerte uns, dass die Ponys uns sicher zu einem der nächsten Dörfer oder Häuser bringen würden. »Lassen Sie nur den Zügel los,« warnt er uns immer wieder, »komme, was da wolle, lassen Sie nur den Zügel los.«

Für den Führer ist es leicht den Zügel los zu lassen, da er seines Ponys Leistungen genau kennt und gewohnt ist, unter schwierigen Umständen in dieser hilflosen Lage auszuhalten.

Uns ist diese Lage aber neu und erscheint uns äußerst gefährlich. Mehr als einmal musste ich mich selbst mit Gewalt davon zurückhalten, dass ich nicht an gefährlichen Stellen des Weges die Leitung des Ponys wieder übernahm. Die Zeit vergeht und kein Zeichen einer menschlichen Wohnung wird durch den Nebel sichtbar. Ich fange an erregt und ungeduldig zu werden, da mir nachgerade die Zuverlässigkeit des Führers zweifelhaft wird. Während ich mich in dieser unbehaglichen Gemütsverfassung befinde, nähert sich mein Pony einer düstern, schwarzen, gewundenen Linie, wo der Torfmoor wenigstens zum hundertsten Male übersprungen werden muss. Wahrscheinlich durch den Nebel getäuscht, erscheint meinem Auge die Breite des Moors so bedeutend, dass kein Pony der Welt darüber wegspringen konnte und hierüber verliere ich die Geistesgegenwart. Im Augenblick des Sprunges ergreife ich eiligst den Zügel des Ponys und halte ihn törichterweise zurück; er stutzt, wirft den Kopf hoch und stürzt nieder, als wäre er erschossen. Als wir zusammen zu Boden fallen, verwickelt sich meine rechte Hand unter mir und ich fühle, dass ich mir das Gelenk verrenkt habe.

Ich hätte mich glücklich schätzen können, wenn ich nur mit dieser geringen Verletzung davon gekommen wäre, aber das war keineswegs der Fall. Ehe es mir gelingt mich unter dem Pony hervor zu arbeiten, tritt dieser mich, bei seinen Anstrengungen aufzustehen und trifft unglücklicherweise mit seinem Hufe grade die Stelle, an der der vergiftete Speer damals während meiner Dienstzeit in Indien, eingedrungen war. Die alte Wunde wird wieder aufgerissen und ich liege blutend auf dem öden Moorland der Shetlandsinseln. Dieses Mal behalte ich die Besinnung, weil meine Kraft nicht wie damals erschöpft worden ist, wo ich mit einer ertrinkenden Frau im Arm der Strömung eines sanftfließenden Flusses entgegen arbeiten musste und so bin ich im Stande alle Anordnungen zu machen, damit meine Wunde, so gut als es eben die Umstände erlauben, verbunden wird. Meinen Pony konnte ich natürlich nicht wieder besteigen, sondern musste liegen bleiben, wo ich war und meinen Reisegefährten zur Pflege bei mir behalten, während der Führer dem Instinkte seines Ponys vertrauend, den nächsten Ort aufsuchte, wo für mich ein Obdach zu finden war.

Auf meinen Wunsch unterrichtet sich unser Führer, bevor er uns verlässt, so genau wie möglich, mit Hilfe meines Taschenkompasses von dem Orte, wo wir uns befinden und verschwindet dann im Nebel, den Zügel lose hängen lassend und der Pony mit der Nase am Boden, wie zuvor. Unter meines jungen Freundes Obhut bleibe ich zurück, auf einen Mantel gebettet und meinen Sattel als Kopfkissen. Was sie irgend in der Nähe an Gras auffinden konnten, verzehrten unsere Ponys inzwischen ganz gemütlich, blieben dabei aber immer möglichst in unserer Gesellschaft, als wären sie ein Paar Hunde. In dieser Lage erwarten wir nun die kommenden Ereignisse, während der tropfende Nebel immer dichter um uns er wird.

In der majestätischen Ruhe des Moores folgen die Minuten einander langsam und träge, das empfinden wir beide ohne uns zu gestehn, dass wir wohl noch viele Stunden warten mussten, ehe der Führer uns wieder auffindet. Das durchdringende Nass erfasst mich immer mehr mit seiner eisigen Gewalt und in meines Gefährten Reiseflasche ist kaum noch ein Teelöffel voll Sherry enthalten. Wir sehen einander an, weil wir bei diesem Wetter keine bessere Aussicht finden konnten und wir versuchen unser Schicksal mit Würde zu ertragen. So schleichen die trägen Minuten immer weiter, bis unsere Uhren uns überzeugen, dass deren vierzig vergangen sind seit der Führer unseren Blicken auf seinem Pony entschwand.

Mein Freund schlug vor, dass wir die Wirkung unserer Stimmen versuchen wollten, um irgend einem lebenden Wesen, das ein wunderbarer Zufall hierher geführt hatte, unsere Lage kund zu tun. Da mir die Kraft zu irgend welchen Leistungen mit meiner Stimme fehlte, überlasse ich ihm den Versuch und er schreit denn auch in der höchstmöglicher Tonlage in die Weite hinaus. Alles bleibt nach dem ersten Rufe still, er ruft wieder und dieses Mal dringt ein schwaches »Glück auf« beantwortend durch den weißen Nebel zu uns. So ist uns denn irgend ein menschliches Wesen, sei er ein Fremder oder der Führer, nah und es wird endlich Hilfe kommen.

Es entsteht eine Pause, dann vernehmen wir die Stimmen von zwei Männern, deren dunkle Erscheinungen wir auch allmälig durch den Nebel entdecken. Bald darauf ist uns der Führer so nah, dass wir ihn erkennen können und ihm folgt, in gemischter Tracht ein starker Bursche, der den zwiefachen Eindruck eines Reitknechts und Gärtners macht. Der Führer äußert einige Worte der Teilnahme, der gemischte Mann hüllt sich in undurchdringliches Schweigen - der Anblick eines verwundeten Fremden, macht weder den Eindruck des Erstaunens noch der Teilnahme auf den Reitknecht-Gärtner.

Die beiden Männer beschließen nach einer geheimen Beratung, zwischen sich auf ihren gekreuzten Händen einen Sitz für mich herzustellen. Ich fasse sie um die Schulter und so tragen sie mich fort. Mein Freund wandert mit Sattel und Mantel hinterher. Im unverkürzten Genuss ihrer Freiheit laufen und springen die Ponys um uns her. Ganz wie es ihre augenblickliche Laune erheischt, sind sie bald vor, bald hinter uns. Ich bin zum Glück für meine Träger, nur eine leichte Bürde. Nach zweimaligem Ausruhen machen sie endlich einen Halt und setzen mich an der trockensten Stelle, die sie finden können, nieder. Ich bin eifrig bemüht irgendwo ein Wohnhaus durch den Nebel zu entdecken, aber ich sehe nichts als eine kleine, herabhängende Birke und ein dunkles Wasser darunter. Wo sind wir?

Der Reitknecht-Gärtner verschwindet und erscheint dann auf dem Wasser wieder, wo er ein Boot heranrudert, auf dessen Boden ich mit meinem Sattelkopfkissen niedergelegt werde und so schwimmen wir davon, die Ponys der einsamen Freiheit des Moorlandes überlassend. Der Führer meint, dass sie genug Futter finden werden und, wenn die Nacht kommt, werden sie schon den Weg zu einer Herberge im nahen Dorfe auffinden. Als ich einen letzten Blick auf die kühnen, kleinen Geschöpfe warf, standen sie saufend nebeneinander am Wasser, spielten miteinander und bissen sich und waren ausgelassener denn je!

Auf dem dunklen Wasser, das nicht ein Fluss war, wie ich glaubte, sondern ein See, treiben wir langsam dahin, bis wir die Ufer einer kleinen Insel erreichen. Es war ein einsames, flaches Stück öden Landes. Ich werde auf einem unebenen, aus flachen Steinen hergestellten Fußsteg vorwärts gebracht, bis wir endlich feste Erde und eine menschliche Wohnung erblicken. Es ist ein langes, einstöckiges Haus, das, so viel ich sehen kann, drei Seiten eines Vierecks einnimmt, die Tür ist gastfrei geöffnet, der Flur darin ist öde, kalt und düster. Die Männer öffnen eine innere Tür, und wir befinden uns in einem langen, durch ein Torffeuer behaglich erwärmten Gange. An einer Wand bemerke ich geschlossene, eichene Zimmertüren, an der andern erblicken meine Augen, Reihe an Reihe, wohlgefüllte Bücherschränke. Am Ende des ersten Ganges angelangt, biegen wir im rechten Winkel in einen zweiten, von wo aus endlich eine Tür geöffnet wird und ich befinde mich in einem großen, vollständig und geschmackvoll möblierten Zimmer mit zwei Betten, vor einem hellen Kaminfeuer. Die Einkehr in dieses warme, freundliche Obdach erfüllte mich, nach der schaurigen, feuchten Einsamkeit des Moores, mit so schwelgerischem Entzücken, dass ich mich in den ersten Augenblicken vollkommen befriedigt fühle, als ich mich im Vollgenusse meiner behaglichen, neuen Lage auf meinem Bett ausstrecken kann. Ich vergesse ganz zu fragen in wessen Haus wir eigentlich eingedrungen sind und wundre mich nicht einmal darüber, dass weder Herr, noch Frau des Hauses, noch irgend ein Familienmitglied sich zeigt, um uns bei unserer Ankunft, unter ihrem gastfreien Dach, willkommen zu heißen.

Nach einer Weile legt sich mein erstes Bedürfnis nach Ruhe, die schlummernde Neugier erwacht und ich schaue um mich.

Der Reitknecht-Gärtner ist verschwunden, mein Reisegefährte befindet sich am andern Ende des Zimmers in Begriff den Führer auszufragen, ich rufe ihn zu mir ans Bett. Was hat er für Entdeckungen gemacht? In wessen Hause befinden wir uns und warum kam niemand aus der Familie, um uns zu begrüßen?

Mein Freund erzählt, was er weiß und der Führer hört seinem eigenen Bericht so aufmerksam zu, als ob er ihn zum ersten Male hörte.

Das Haus, das unser Zufluchtsort geworden ist, gehört einem Gentleman aus altem nordischem Geschlecht, namens Dunross, der seit zwanzig Jahren mit seinem einzigen Kinde, einer Tochter, auf dieser unfruchtbaren Insel in vollkommener Zurückgezogenheit, ohne jede andere Gesellschaft, lebt. Er wird für einen der gelehrtesten Menschen gehalten und ist weit und breit von den Bewohnern der Insel unter einem Namen bekannt, der, wenn man ihren Dialekt übersetzt, »den Meister der Bücher« bedeutet. Nur einmal weiß man, dass Vater und Tochter ihre Inseleinsamkeit verließen und zwar vor langen Zeiten, als eine furchtbare Seuche die benachbarten Dörfer heimsuchte. Vater und Tochter pflegten ihre armen und geprüften Nachbarn Tag und Nacht mit einem Mute, den keine Gefahr erschütterte, mit einer Sorgfalt, die keine Ermüdung erschöpfte. Der Vater war glücklich der Ansteckung entgangen, aber, als die Heftigkeit der Seuche schon nachließ, wurde die Tochter noch davon befallen. Ihr Leben wurde zwar erhalten, aber sie erlangte niemals ihre volle Gesundheit wieder. Sie krankt nun an einem geheimnisvollen Nervenleiden, das niemand begreift und das sie seit langen Jahren, fern von aller menschlichen Beobachtung, hier auf dieser Insel gefangen hält. Vater und Tochter werden unter der armen Bevölkerung dieser Gegend als halbe Götter verehrt, in den Gebeten, die die Eltern ihre Kinder lehren, werden ihre Namen nach denen der Heiligen genannt.

Nach der Erzählung des Führers ist das der Haushalt, in dessen Abgeschlossenheit wir eingedrungen sind. Ohne Zweifel erregt die Geschichte ein gewisses, eigentümliches Interesse, aber sie hat einen Fehler - sie erklärt in keiner Weise uns gegenüber die Abwesenheit von Mr. Dunross. Kann es ihm unbekannt sein, dass wir uns in seinem Hause aufhalten? Wir wenden uns an den Führer und legen ihm neue Fragen vor.

»Hat Mr. Dunross eingewilligt uns hier aufzunehmen?« frage ich. Der Führer starrt mich an. Hätte ich Griechisch oder Hebräisch mit ihm gesprochen, so hätte ich ihn nicht wirksamer in Erstaunen versetzen können. Mein Freund versucht es also in einfacheren Worten.

»Fragten Sie, als Sie dieses Haus hier fanden, um Erlaubnis uns hierher zu führen?«

Der Führer starrt uns noch mehr an, als vorhin und es erscheint uns fast, als fühlte er sich durch unsere Frage tief verletzt.

»Glauben Sie,« fragte er streng, »dass ich töricht genug sein werde, um solcher Kleinigkeit willen, wie dass Sie und Ihr Freund hier Obdach finden, den Herrn bei seinen Büchern zu stören?«

»Haben Sie uns wirklich hierher geführt ohne um Erlaubnis zu fragen?« rufe ich bestürzt aus.

Das Gesicht des Führers erhellt sich: endlich ist es ihm gelungen uns Dummköpfen die Sache klar zu machen! »Ja, gewiss habe ich das getan!« sagt er mit sichtlicher Befriedigung.

Ehe wir uns noch von dieser außerordentlichen Entdeckung erholt haben, öffnet sich die Tür und ein kleiner, magerer, alter Herr in einem langen, schwarzen Schlafrock, tritt ein. Der Führer tritt vor und schließt ehrerbietig die Tür hinter ihm. Offenbar standen wir dem Meister der Bücher gegenüber.

Achtzehntes Kapitel

Das verdunkelte Zimmer

Der kleine Herr tritt an mein Bett. Sein seidiges weißes Haar fließt über seine Schultern, er blickt uns mit blassblauen Augen an und verneigt sich in ernster, gedrückter Weise, indem er einfach sagt: »Sein Sie willkommen in meinem Hause, meine Herren.«

Wir begnügen uns nicht mit einem bloßen Dank, sondern versuchen natürlich uns wegen unseres Überfalls zu entschuldigen. Unser Wirt aber schneidet gleich die ersten Worte darüber ab, indem er seinerseits um Entschuldigung bittet.

»Ich ließ eben meinen Diener rufen,« fährt er fort, »und da erfuhr ich erst, dass Sie hier sind. Man hat sich hier im Hause daran gewöhnt mich bei meinen Büchern nicht zu stören. Nehmen Sie also meine Entschuldigung gütigst an,« setzt er, sich zu mir wendend, hinzu, »es war nicht recht, dass ich mich und mein Haus Ihnen nicht früher zur Verfügung stellte. Sie haben einen Unfall erlitten, wie ich mit Bedauern höre, gestatten Sie, dass ich nach ärztlicher Hilfe sende? Ich lege Ihnen diese Frage etwas eilig vor, da der nächste Arzt in beträchtlicher Entfernung von hier wohnt und Gefahr im Verzuge sein könnte.«

Er wählt seine Worte mit zierlicher Genauigkeit, während er spricht und macht daher mehr den Eindruck als diktiere er einen Brief, als dass er in einfacher Unterhaltung begriffen ist. In seinem Gesicht spiegelt sich der Zug von Trübsinn ab, der durch sein Wesen geht, die Trübsal muss ihm eine alte Bekannte sein und sie scheinen sich seit lange aneinander gewöhnt zu haben. Der Schatten eines tiefen Kummers hat sich ruhig und undurchdringlich über den ganzen Menschen ausgebreitet, ich entdecke ihn in den verblichenen blauen Augen, auf der hohen Stirn, auf den zarten Lippen, wie auf den bleichen, eingefallenen Wangen. Trotz seiner höflichen Begrüßung nimmt in mir die unbehagliche Überzeugung zu, dass wir ihm eine unangenehme Störung bereiten. Ich erkläre ihm, dass ich meine Wunde selbst behandeln kann, da ich selbst Arzt bin und dann komme ich auf meine unterbrochene Entschuldigungsrede zurück. Ich versichere ihn, dass wir erst soeben erfahren haben, wie unser Führer meinen Reisegefährten und mich, auf seine eigene Verantwortung hin, in dieses Haus gebracht hätte. Wie vorhin der Führer, so sieht mich Mr. Dunross jetzt an, als ob er keine Idee hat, was meine Selbstvorwürfe und Entschuldigungen eigentlich bedeuten sollen. Endlich scheint es ihm klar zu werden und ein schwaches Lächeln geht über sein Gesicht, indem er mir sanft und väterlich die Hand auf die Schulter legt.

»Wir sind hier an unsere schottländische Gastfreundschaft so gewöhnt, dass wir kaum begreifen, wie ein Fremder Anstand nehmen kann, sie in Anspruch zu nehmen. Ihr Führer ist keineswegs zu tadeln meine Herren, denn in jedem Hause auf der Insel, in dem ein Zimmer übrig ist, steht stets ein Fremdenzimmer zur Benutzung bereit. Wenn Sie Ihr Weg hier vorüberführt, ist es natürlich, dass Sie bei mir wohnen und meine Gäste sind, so lange es Ihnen gefällt und wenn Sie weiterreisen, erfülle ich nur meine Pflicht als guter Schottländer, wenn ich Sie bis zum nächsten Ziele Ihrer Reise begleite, um Ihnen dort Glück auf den Weg zu wünschen. Was anderswo in vergangenen Jahrhunderten Sitte war, ist hier modern. Bitte geben Sie meinem Diener alle zu Ihrer Bequemlichkeit erforderlichen Befehle, gerade so ungezwungen, wie Sie es in ihrer eigenen Häuslichkeit tun würden.« Er dreht sich um und klingelt mit einer Handklingel, die auf dem Tische steht, während er zu uns spricht und erblickt dabei auf dem Gesichte unseres Führers die deutlichen Anzeichen, dass er sich durch meine verletzenden Äußerungen beleidigt fühlt.

»Fremde sind mit unseren Sitten unbekannt, Andreas,« sagt der Meister der Bücher, »aber wir verstehn einander und das genügt.«

Des Führers rohes Gesicht strahlt vor Freude. Hätte ein gekröntes Haupt von seinem Throne aus herablassend mit ihm gesprochen, so konnte er auf die genossene Ehre nicht stolzer sein, als seine Züge es eben ausdrückten. Er macht einen plumpen Versuch die Hand des Meisters zu ergreifen und zu küssen, was Mr. Dunross aber verhindert, indem er ihm leise den Kopf zurückhält. Darauf sieht der Führer mich und meinen Freund mit einer Genugtuung an, als wäre ihm die größeste Ehre zu Teil geworden, die einem irdischen Wesen widerfahren konnte. Des Meisters Hand hatte ihn ja freundlich berührt! Im nächsten Augenblick erscheint auf den Ruf der Klingel der Reitknechtgärtner in der Tür.

»Bringe den Medizinkasten hierher, Peter,« sagt Mr. Dunroß, »und pflege diesen Herrn, der durch einen Unfall an das Bett gefesselt ist, so sorgsam, als pflegtest Du mich selbst. Klingeln wir beide zu gleicher Zeit, so hol Du Dir erst die Befehle dieses Herrn. Das notwendige Leinenzeug liegt doch im Wäschschrank ohne Zweifel bereit? Gut, gut. Geh nun und bestelle bei der Köchin ein gutes Mittagsmahl und hole eine Flasche von dem alten Madeira aus dem Keller. Für heute wenigstens wird die Tafel hier in diesem Zimmer hergerichtet, so wird es den beiden Herren, denke ich, am behaglichsten ein. Komm in fünf Minuten wieder herein, im Fall man Deiner bedarf und beweise meinen Gästen, Peter, dass ich mich nicht irrte, indem ich Dich als einen ebenso guten Krankenwärter ausgab, als Du ein treuer Diener bist.« Über das ihm von seinem Meister ausgesprochene Vertrauen fühlt sich der stille, zuverlässige Peter ebenso beglückt, als vorhin der Führer über die freundliche Liebkosung, die ihm der Meister zu Teil werden ließ. Beide Männer verlassen das Zimmer zugleich.

Die Pause, die augenblicklich im Gespräch eintritt, nehmen wir wahr, um uns unserem Wirte vorzustellen und ihn von den Umständen zu unterrichten, die unseren Besuch auf Schottland veranlassen. Er hört uns in seiner ernsten, höflichen Weise an, richtet aber keine Frage über unsere Angehörigen an uns und zeigt keinerlei Interesse für die Regierungsyacht oder die Kommission für die Leuchttürme des Nordens. In Mr. Dunroß ist entschieden jeder Anteil an den Ereignissen der Außenwelt, jede Wissbegierde über Personen von Rang und Bedeutung erstorben. Ihm ist seit zwanzig Jahren der kleine Kreis seiner Pflichten und Beschäftigungen die Welt geworden. Für diesen Mann hat das Leben seinen unschätzbaren Wert verloren und wenn der Tod kommen wird, empfängt er diesen König der Schrecken, wie er den letzten seiner Gäste empfangen hat.

»Kann ich noch irgend etwas für Sie tun, ehe ich zu meinen Büchern zurückkehre?« sagt er, mehr zu sich selbst, als zu uns sprechend.

Indem er diese Frage tut, fällt ihm noch etwas ein und er wendet sich mit seinem matten, trüben Lächeln an meinen Freund: »Ich fürchte für Sie, mein Herr, wird dieses Leben allzu einförmig sein. Wenn Ihnen das Angeln Vergnügen macht, kann ich Ihnen dazu behilflich sein. Es gibt sehr viele Fische im See und ich habe einen Gartenjungen, der Ihnen mit Freuden im Kahn zu Diensten sein wird.«

Da mein Freund mit Vergnügen angelt, nimmt er freudig das Anerbieten an. Ehe er zu seinen Büchern zurück kehrt, richtet der Meister noch einige Worte an mich.

»Solange Sie so unglücklich sind an das Zimmer gefesselt zu sein, Mr. Germaine, können Sie sich sicher der Pflege meines Dieners Peter anvertrauen. Er hat den Vorzug bei Kranken ein sehr stiller, ruhiger Wärter zu sein und doch ist er in seiner rückhaltenden Weise sehr sorgsam und vorsichtig. Was die leichteren Pflichten, wie ich sie bezeichnen möchte, als Vorlesen, Ihre Briefe schreiben, so lange Ihre rechte Hand dazu unfähig ist, die Temperatur des Zimmers regeln und so weiter, an Ihrem Krankenlager anlangt, so glaube ich fast, wenn ich es auch nicht bestimmt versprechen kann, dass eine andere Person, deren ich bis jetzt noch nicht Erwähnung tat, diese übernehmen wird. Wir werden ja sehn, wie sich das in einigen Stunden gestaltet, bis dahin, mein Herr, gestatten Sie mir, dass ich Ihnen Ruhe gönne.«

Mit diesen Worten verlässt er das Zimmer so leicht, wie er es betreten hat und seine beiden Gäste bleiben in dankbarer Betrachtung über Schottlands Gastfreundschaft zurück. Die letzten Worte unseres Wirtes haben uns in große Spannung versetzt und wir tauschen mehr oder minder geistreiche Vermutungen über diese »andere Person« ohne Namen durch, die mich möglicherweise pflegen wird, bis unsere Gedanken durch das Erscheinen des Mittagsmahles eine andere Richtung bekommen.

Die wenigen Gänge sind vorzüglich gekocht und mit großem Geschmack angerichtet. Ich bin aber zu müde, um viel zu essen und belebe meine Kräfte nur durch ein Glas von dem alten Madeira. Während des Mahles machen wir unsere Zukunftspläne, da unsere Rückkehr auf die Yacht, im Hafen von Berwick am nächsten Tage spätestens erwartet wird. Wie die Sachen stehn, muss mein Begleiter, um unsere Freunde vor unnützen Sorgen über mein Ergehn zu bewahren, allein zum Schiff zurückkehren. Am folgenden Tage versprach ich einen Bericht über mein Befinden an Bord zu senden und der Bote sollte dann meinen Mantelsack mit zurückbringen.

Auf meinen Wunsch geht mein Freund, nachdem Alles verabredet ist, nach dem See, um sein Glück im Angeln zu versuchen. Aus dem wohlgefüllten Medizinkasten verbinde ich mit Peters Hilfe meine Wunde, hülle mich in den behaglichen Schlafrock, der immer im Fremdenzimmer bereitgehalten wird und lege mich wieder auf mein Bett, um die heilende Kraft des Schlafes zu erproben.

Der stille Peter geht, ehe er das Zimmer verlässt, an das Fenster und fragt mich in möglichst wenigen Worten, ob er die Vorhänge vorziehen soll, worauf ich, da ich schon schläfrig bin, in noch wenigeren Worten verneinend antworte. Ich liebe es nicht, wenn das erheiternde Tageslicht ausgeschlossen wird, meiner krankhaften Phantasie erscheint das augenblicklich wie die Vorbereitung zu einer langen Krankheit.

Außerdem steht ja die Klingel an meinem Bett und ich kann Peter in jedem Augenblick hier haben, wenn mich das Licht am Schlafen hindert. Das ist Peter auch einleuchtend, er nickt mit dem Kopfe und geht hinaus. Für einige Augenblicke liege ich in müßiger Betrachtung über das Feuer, das mir Gesellschaft leistet. Inzwischen lindern der Verband an meiner Wunde und die Bähung an meiner verrenkten Hand die Schmerzen, die ich bis dahin empfand und allmälig scheint das helle Feuer zu verlöschen, der Schlaf bemächtigt sich meiner mehr und mehr und alle meine Sorgen sind vergessen.

Nach scheinbar langem Schlaf erwache ich und fühle im Erwachen die Verwirrung, die jeder an sich wahrnimmt, der zuerst die Augen in einem fremden Bett und in einem unbekannten Zimmer öffnet. Allmälig sammle ich meine Gedanken, finde mein Erstaunen aber durch einen geringfügigen, seltsamen Umstand gesteigert. Die Vorhänge, die ich Peter verhinderte vorzuziehn, sind zu, fest zugezogen, so dass das ganze Zimmer in tiefes Dunkel gehüllt ist. Was mich aber noch mehr verwundert, ist, dass ein hoher Bettschirm ganz ausgespannt vor dem Feuer steht und das Licht, das dieses sonst verbreiten würde, so abschließt, dass es nur die Decke beleuchtet. Ich bin ganz in Dunkel gehüllt. Ist es denn schon Nacht?

In müßigem Erstaunen wende ich meinen Kopf auf dem Kopfkissen um und sehe auf die andere Seite meines Bettes.

So dunkel es auch ist, entdecke ich doch sofort, dass ich nicht allein bin. Eine dunkle Gestalt steht an meinem Bette und ich erkenne an den unklaren Linien des Gewandes, dass es die Gestalt einer Frau ist. Mir scheint, als sehe ich, wenn ich meine Augen anstrenge, einen wallenden, schwarzen Gegenstand, der ihren Kopf bedeckt und wie ein weiter Schleier um die Schultern fällt. Obgleich ihr Gesicht mir zugewendet ist, kann ich keinen Zug darin unterscheiden. Sie steht wie eine Statue, deren gekreuzte Hände sich gegen die dunkle Masse ihres Kleides deutlich abheben, das sehe ich - aber nichts mehr.

Nach einem Augenblick des Schweigens erhebt das schattenhafte Wesen seine Stimme und spricht zuerst.

»Hoffentlich fühlen Sie sich nach dem Schlafe wohler, mein Herr?«

Die leise Stimme hat eine gewisse Weichheit im Klange, die mein Ohr wohltuend berührt, die Sprechweise ist entschieden die einer feingebildeten Person. Nachdem ich der unbekannten und nur halbsichtbaren Dame ihre Frage beantwortet habe, richte ich die unvermeidliche Frage an sie: »Mit wem habe ich die Ehre zu speechen?«

Die Dame erwidert: »Ich bin Miss Dunroß und möchte, wenn Sie nichts dawider haben, Peter bei Ihrer Pflege behilflich sein.«

Das also war die geheimnisvoll von unserem Wirte erwähnte »andere Person«! Sofort fällt mir Miss Dunroß's heldenmütiges Benehmen gegen ihre armen, heimgesuchten Nachbarn ein und ich gedenke des schmerzlichen Erfolges ihrer Aufopferung für Andere, durch die sie nun selbst unheilbar krank ist. Hundertfach wächst mein Verlangen die Dame zu sehen, deutlich erkennen zu können und ich bitte sie also das Maß ihrer Güte voll zu machen, indem sie mir sagt, warum das Zimmer so verdunkelt ist. »Es ist doch sicher noch nicht Nacht?« sage ich.

»Sie haben nicht mehr als zwei Stunden geschlafen,« antwortet sie, »inzwischen ist der Nebel verschwunden und die Sonne scheint.«

Ich nehme die Klingel zur Hand, die neben mir auf dem Tische steht.

»Soll ich nach Peter klingeln, Miss Dunroß?«

»Um die Vorhänge zu öffnen, Mr. Germaine?«

»Ja, wenn Sie es gestatten, ich möchte gern den Sonnenschein sehen.«

»So will ich Ihnen Peter gleich schicken.«

Die Schattengestalt meiner neuen Pflegerin gleitet hinaus. Wenn ich sie nicht zurückhalte, hat die Dame, die ich zu sehen so begierig bin, das Zimmer verlassen.

»O bitte, bleiben Sie!« sage ich, »ich möchte Sie um keinen Preis mit einer unbedeutenden Bestellung bemühen. So wie ich klingle wird der Diener ja kommen.«

Mehr in Dunkel gehüllt, denn zuvor, bleibt sie zwischen meinem Bett und der Tür stehn und sagt traurig:

»Während ich im Zimmer bin wird Peter das Tageslicht nicht hinein lassen, er schloss auf mein Geheiß die Vorhänge.«

Das setzt mich in Erstaunen! Warum sollte Peter das Zimmer dunkel machen, so lange Miss Dunroß darin war? Hat sie so schwache Augen? Doch, dann würde sie sie ja durch einen Schirm schützen und so dunkel es auch ist, sehe ich doch genau, dass sie desgleichen nicht trägt. Warum ist das Zimmer dunkel gemacht, wenn nicht um ihretwillen? Diese Frage wage ich nicht an sie zu richten und entschuldige mich also nur höflichst.

»Kranke sind so selbstsüchtig,« sage ich, »ich glaubte Sie hätten die Stube meinetwegen dunkel gemacht.«

Sie naht sich wieder leise meinem Bette ehe sie spricht und dann sagt sie mir diese seltsamen Worte:

»Sie irren sich, Mr. Germaine, das Zimmer ist nicht um Ihretwillen, sondern um meinetwillen verdunkelt.«

Neunzehntes Kapitel

Die Katzen

Ich wusste wirklich nicht, was ich sagen sollte, so erstaunt hatte mich die Äußerung von Miss Dunroß gemacht.

Es wäre eine große Rücksichtslosigkeit von mir gewesen, besonders nach Allem, was ich gehört hatte, wenn ich sie gradezu befragt hätte, weshalb das Zimmer, so lange sie sich darin aufhält, dunkel sein muss. Da ich ihre Verhältnisse nicht im mindesten kannte, hätte eine allgemeine Versicherung meiner Teilnahme an ihrem Leiden uns beide schon beim Beginn unserer Bekanntschaft in eine peinliche Stellung zueinander bringen müssen. Ich bat also nur, dass sie das Zimmer unverändert ließe, wie es jetzt war und stellte es ihrem eigenen Ermessen ganz anheim, ob sie mich in ihr Vertrauen ziehn wollte oder nicht.

Sie ahnte vollkommen was in mir vorging, setzte sich auf einen Stuhl an mein Bett und erzählte mir rückhaltlos und ernst die düstere Geschichte über das verdunkelte Zimmer.

»Sie müssen sich an diese Schattenwelt gewöhnen, Mr. Germaine,« begann sie, »wenn Sie mich öfter sehen wollen. Sie ist die Welt in der ich leben muss. Vor langer Zeit wütete eine ansteckende Krankheit auf unserer Insel und ich war so unglücklich von der Seuche auch befallen zu werden. Als ich genas - nein das Wort »Genesung« darf ich nicht anwenden, als ich dem Tode entronnen war, wurde ich von einem Nervenleiden heimgesucht, das bis heute jeder ärztlichen Hilfe Trotz geboten hat. Nach dem Ausspruch der Ärzte leiden die Nerven an der Oberfläche meines Körpers an einer krankhaften Empfindlichkeit gegen den Einfluss des Lichtes. Zum Beispiel würde ich über dem ganzen Gesichte die heftigsten Schmerzen empfinden, wenn ich jetzt die Vorhänge öffnete und zum Fenster hinaus sähe; bedeckte ich aber das Gesicht und zöge die Vorhänge mit den bloßen Händen auf, so würden mich meine Hände in derselben Weise schmerzen. Sie können vielleicht kaum unterscheiden, dass ich über meinem Kopf einen weiten, sehr dichten Schleier trage. Wenn ich den herablasse während ich gezwungen bin über die Flure zu gehn, oder meines Vaters Studierzimmer zu betreten, so habe ich dadurch Schutz genug vor dem Lichte. Beklagen Sie mein trauriges Schicksal aber nicht zu sehr, mein Herr. Ich habe mich so daran gewöhnt im Dunklen zu sehn, dass ich darin vollständig allen Anforderungen meines armseligen Daseins genügen kann. Ich kann in diesem Dunkel lesen und schreiben, ich sehe Sie deutlich und kann Ihnen, wenn Sie es mir gestatten, manchen kleinen Dienst leisten. Weshalb sollte ich also über mein Los verzweifeln? Fühle ich doch ganz sicher, dass mein Leben obenein nicht lange währen wird. Hoffentlich ist es mir vergönnt die Gefährtin der letzten Lebensjahre meines Vaters zu sein. Darüber hinaus denke ich nicht und inzwischen habe ich meine kleinen Freuden, deren spärlicher Zahl ich gerne das Vergnügen Ihnen nützlich zu sein, hinzufügen möchte. Ihr Erscheinen ist ein Lebensereignis für mich. Die Aussicht Ihnen vorzulesen oder für Sie Briefe zu schreiben, ist für mich, was für andre Mädchen ein neues Kleid oder ein erster Ball ist. Ich hoffe, dass Sie es nicht unpassend finden, dass ich Ihnen das Alles so offen sage, aber ich kann nicht anders. Alles was ich denke, sage ich meinem Vater und unseren armen Nachbarn rings umher - wie sollte ich diese Gewohnheit nun in einem Augenblick aufgeben? Ich sage jedem gerade heraus, ob ich ihn gern mag oder nicht. Ich habe nun auch in Ihren Zügen, während Sie schliefen, wie in einem Buche gelesen und habe Anzeichen von Gram auf Ihrer Stirn und auf Ihren Lippen gefunden, die mich auf einem so jungen Gesicht Wunder nehmen. Am Ende werde ich Sie mit zu vielen Fragen über Ihr Schicksal quälen, wenn wir erst bekannter mit einander werden. Zuerst frage ich nun aber in meiner Eigenschaft als Pflegerin, ob Ihre Kopfkissen so auch bequem für Sie liegen? Mich dünkt sie müssten etwas ausgeschüttelt werden. Soll ich nach Peter klingeln, dass er Sie aufrichtet? Leider bin ich nicht kräftig genug, um das selbst zu tun. Nein, können Sie sich selbst aufrichten? Warten Sie einen Augenblick - so! Nun legen Sie sich zurück und sagen Sie mir jetzt, ob ich es gut verstehe, zwischen einem ganz verschobenen Kopfkissen und einem müden Kopfe das rechte Einvernehmen herzustellen.«

Mich berührte es fast schmerzlich, als die weichen süßen Töne ihrer Stimme plötzlich verstummten, so unbeschreiblich rührte und bewegte sie mich, obgleich ich ihr ganz fremd war. Während ich ihr in ziemlich ungeschickter Weise bei dem Kopfkissen behilflich war, berührte meine Hand die ihre, die so kalt und mager war, dass ich förmlich darüber erschrak. Nun ich ihr viel näher gekommen war, versuchte ich vergeblich etwas von ihrem Gesicht zu erkennen, aber die unbarmherzige Finsternis hüllte es in ihr geheimnisvolles Dunkel, wie zuvor. Da doch nichts ihrer Beobachtung entging, sollte meine Neugierde von ihr unbemerkt geblieben sein? Ihre Worte überzeugten mich bald, dass ich entdeckt war. »Sie bemühten sich mich zu sehen,« sagte sie, »aber meine Hand hat Sie wohl davor gewarnt. Ich sah Ihren Schreck, als Sie sie eben berührten.«

Diese ungemein scharfe Auffassungsgabe war nicht zu täuschen, diese furchtlose Offenherzigkeit erheischte von meiner Seite eine gleiche Aufrichtigkeit. Ich gestand ihr also die Wahrheit und überließ es Ihrer Nachsicht mir zu verzeihen - sie setzte sich langsam wieder auf den Stuhl n mein Bett.

»Wenn wir Freunde werden wollen, Mr. Germaine,« sagte sie, »so müssen wir uns zuerst gegenseitig ganz klar werden und Sie dürfen sich keinerlei romantische Vorstellungen von unsichtbarer Schönheit über mich machen. Vor meiner Krankheit war meine Gesichtsfarbe meine einzige Zierde und die habe ich nachher verloren. Jetzt ist an mir nichts, als das Spiegelbild meines früheren Ichs zu sehn - die Trümmerreste einer Frau. Durch diese Mitteilung will ich Sie nicht betrüben, ich will Sie nur mit der Dunkelheit aussöhnen, die, soweit es Ihre Augen betrifft, zwischen uns eine dauernde Scheidewand aufrichtet. Fassen Sie Ihre Lage hier von der besten und nicht von der ungünstigen Seite an, sie bietet Ihnen neue Eindrücke, die Sie unterhalten können, während sie krank sind. Sie haben eine Pflegerin, die ein körperloses Wesen ist - ein Schatten zwischen Schatten; sie besitzt nur eine Stimme, um mit Ihnen zu sprechen und Hände, um Ihnen zu helfen, nichts weiter. Nun aber genug von mir!« rief sie sich erhebend aus und wechselte den Ton. »Ich habe schlimme Liebhaberein,« fuhr sie fort, »vielleicht kann ich Ihnen aber doch durch eine derselben eine Zerstreuung bereiten, Mr. Germaine. Geht es Ihnen, wie so vielen Menschen, dass Sie die Katzen hassen?«

Ich erstaunte über die Frage, die ich aber ehrlich dahin beantworten konnte, dass ich in diesem Falle nicht wie andere Menschen sei.

»Meiner Ansicht nach,« fügte ich hinzu, »wird die Katze besonders in England sehr verkannt. Wenn die Frauen auch im Allgemeinen ihrer anschmiegenden Natur Gerechtigkeit widerfahren lassen, so behandeln die Männer sie doch grader wie Feinde des Menschen. Wenn eine Katze es wagt die Treppe herauf zu kommen, so vertreiben die Männer sie aus ihrer Gegenwart und hetzen die Hunde auf sie, wenn sie sich auf den Straßen zeigt. Dann aber wenden sie sich um und beschuldigen das arme Tier, dessen gesellige Natur sich irgendwo anzuschmiegen sucht, dass es sich mit Vorliebe in der Küche aufhält.«

Meine ungewöhnliche Gesinnung über die Katzen schien mich in Miss Dunroß's Augen sehr zu heben.

»So haben wir also auf alle Fälle eine gemeinschaftliche Neigung,« sachte sie, »dann kann ich Ihnen Vergnügen bereiten! Jetzt sollen sie eine Überraschung haben!«

Sie zog bei diesen Worten den Schleier über ihr Gesicht und klingelte aus der halbgeöffneten Tür. Peter erschien und empfing seine Befehle. »Nimm den Schirm fort,« sagte Miss Dunroß. Peter gehorchte, der rötliche Schein des Feuers erhellte den Fußboden, während Miss Dunroß in ihren Vorbereitungen fortfuhr. »Öffne die Tür zum Katzenzimmer, Peter und bringe mir meine Harfe. Erwarten Sie ja keine große Kunstleistung, Mr. Germaine,« fuhr sie fort, als Peter seinen seltsamen Auftrag ausführte, »die Harfe, die Sie sehn werden, ist auch nicht so, wie Sie sie sich, nach Ihren modernen Begriffen, vorstellen. Ich kann nur einige alte, schottische Weisen darauf spielen und meine Harfe ist ein altes Instrument mit neuen Saiten - seit mehreren Jahrhunderten ein Erbstück in unserer Familie. Ihr Anblick wird Sie an die Bilder von der heiligen Cäcilie erinnern und ich hoffe Sie werden meine Leistung milde beurteilen, in Erwägung, dass ich keine Heilige bin!«

Sie zog ihren Stuhl an das Licht des Feuers und pfiff auf einer kleinen Pfeife, die sie aus der Kleidertasche zog. Im nächsten Augenblick erschienen, dem Rufe ihrer Herrin gehorsam, die schlanken und schattenhaften Katzengestalten geräuschlos im Zimmer. Ich zählte ihrer sechs, als die Tiere sich ganz ehrbar im Kreise um den Stuhl am Kamin setzten. Peter folgte ihnen mit der Harfe, schloss die Tür und verschwand. Als das Tageslicht wieder ganz aus dem Zimmer verbannt war, schlug Miss Dunroß den Schleier zurück und legte die Harfe, nachdem sie, wie ich bemerkte, ihr Gesicht vom Feuer abgewendet hatte, an ihr Knie.

»Diese Beleuchtung wird für Sie ausreichend sein, um die Katzen zu sehn,« sagte sie, »und ist für mich nicht zu grell. Der Schein des Feuers veranlasst mir auch nicht die heftigen Schmerzen, die das Tageslicht hervorbringt, ich fühle so nur ein Unbehagen an meinem Gesicht, nichts weiter.«

Sie berührte die Saiten ihres Instruments, der alten Harfe von dem Bilde der heiligen Cäcilie, wie sie sie genannt hatte, ich möchte sie mehr den Harfen der alten schottischen Barden vergleichen. Meinem ungeschulten Ohre klang der Ton zuerst unangenehm hoch. Bei den ersten Tönen der Melodie einer sanft klagenden Weise erhoben sich die Katzen und marschierten ganz im Takt, im Kreise um ihre Herrin herum, dann gingen sie einzeln hinter einander her, dann bei einem Wechsel in der Melodie zu Zweien und Zweien, endlich teilten sie sich in Abteilungen zu je Drei und Dreien und gingen in entgegengesetzten Richtungen um den Stuhl herum. Als die Musik schneller wurde, beschleunigten auch die Katzen ihren Schritt, bis die Weise schneller und schneller erklang und die Katzen sich schließlich im roten Schein des Feuers, lebenden Schatten gleich, wirbelnd um den Stuhl drehten, auf dem ihre Harfe auf dem Knie, die stille, schwarze Gestalt saß. Selbst in meinen Träumen hatte ich mir nie etwas so Zauberisches, Mildes, Geisterhaftes ausmalen können! Jetzt änderte sich die Musik und die wirbelnden Katzen begannen zu springen. Die Eine setzte sich am Fuße der Harfe nieder, Vier sprangen zugleich und setzten sich je Zwei und Zwei auf die Schultern ihrer Herrin, die letzte und kleinste der Katzen machte den größten Sprung und befand sich auf ihrem Kopfe. Dort nun saßen die sechs Tiere so still und regungslos, wie Statuen, es bewegte sich nichts als die mageren, weißen Hände auf den Saiten der Harfe, kein Laut war außer der Musik im Zimmer zu vernehmen. Wiederum wechselte die Melodie und sofort waren die sechs Katzen wieder am Boden und setzten sich um den Stuhl herum, wie sie gleich nach ihrem Erscheinen getan. Die Harfe wurde bei Seite gelegt und die leise sanfte Stimme sprach: »Ich bin so müde, meine Katzen können erst morgen mit ihrer Vorstellung fortfahren.«

Sie stand auf und näherte sich meinem Bett.

»Damit Sie aus Ihrem Fenster den Sonnenuntergang beobachten können, verlasse ich Sie jetzt,« sagte sie. »Vom Einbrechen der Dunkelheit bis morgen um die Frühstückszeit dürfen Sie auf meine Dienste nicht rechnen, das sind meine Ruhestunden. Mir bleibt keine Wahl als, wo möglich schlafend, zwölf Stunden zu Bett zu bleiben, es scheint, als wenn diese lange Ruhe mein Leben erhält. Habe ich Sie durch meine Katzen überrascht? Halten Sie mich für eine Hexe und diese für die mir verwandten Geister? Wenn Sie denken wie wenige Freuden ich habe, so werden Sie es erklärlich finden, dass ich mich damit zerstreue diesen kleinen Tieren ihre Künste beizubringen und sie wie Hunde an mich zu gewöhnen. Zuerst begriffen sie sehr schwer und lehrten mich Geduld zu üben, jetzt wissen Sie nun, was ich wünsche und lernen sehr leicht. Wie werden Sie Ihren Freund bei seiner Rückkehr vom Angeln mit der Geschichte von der Dame, die im Dunkel lebt und mit einer Katzengesellschaft Vorstellungen gibt, unterhalten. Morgen hoffe ich nun aber, dass Sie mich unterhalten werden, indem Sie mir von Ihren Erlebnissen sprechen und mir erzählen, was Sie hierher auf unsere wilde Insel führt. Wenn wir dann im Laufe des Tages näher mit einander bekannt geworden sind, werden Sie mich vielleicht mehr in Ihr Vertrauen ziehen und mir von dem Kummer reden, den ich so untrüglich, während Sie schliefen, in Ihren Zügen las. Sie sehen ich bin Frau genug geblieben, um der Neugierde zum Opfer zu fallen, sobald ich jemand finde, der mein Interesse erregt. Leben Sie also wohl bis auf morgen! Ich wünsche Ihnen eine ruhige Nacht und ein fröhliches Erwachen. Kommt meine verwandten Geister, kommt meine Katzenkinder. wir müssen uns in unsere Gemächer zurückziehen.«

Sie ließ ihren Schleier herab und verließ von ihrem Katzengefolge begleitet, leise das Zimmer.

Sogleich erschien Peter, um die Vorhänge aufzuziehen und das Licht der untergehenden Sonne strömte voll ins Zimmer, das eben mein Reisegefährte in heiterster Stimmung betrat, um mir von seinem Fischfang zu berichten. Ich musste mich wirklich besinnen, ob die verschleierte Gestalt mit der Harfe und der Tanz der Katzen nicht bloß fantastische Gebilde meiner erregten Einbildungskraft gewesen waren, so groß war der Kontrast zwischen dem, was ich jetzt sah und hörte und was hier vor wenigen Augenblicken vorgegangen war. Ich fragte darum wirklich meinen Freund, ob er mich bei seinem Eintreten wachend oder schlafend gefunden habe.

Die Nacht folgte dem Abend und der Meister der Bücher erschien, um sich die neusten Nachrichten über mein Befinden zu holen. Seine Gedanken schienen auch ganz bei seinen Büchern zu sein, denn er war sehr zerstreut, während er sich mit mir unterhielt und wurde erst aufmerksam, als ich dankbar der Freundlichkeit seiner Tochter Erwähnung tat. Bei ihrem Namen leuchteten seine blassblauen Augen, erhob sich sein gesenktes Haupt und seine leise Stimme tönte voller.

»Nehmen Sie ja ihre Dienste an,« sagte er, »denn Alles, was sie zerstreut und erfreut verlängert ihr Leben und ihr Leben ist der Atem für das Meine. Sie ist mir mehr als eine Tochter, sie ist der Schutzgeist meines Hauses und Himmelsluft weht, wo sie erscheint. O, mein Herr, beten Sie für mich, dass meine Tochter mir noch etwas länger erhalten bleibt.«

Mit einem tiefen Seufzer und wiederum gesenkten Hauptes verließ er mich.

Zu vorgerückter Stunde wurde das Nachtessen an meinem Bett aufgetragen. Der stumme Peter wurde, als er sich für die Nacht beurlaubte, etwas gesprächiger. »Ich schlafe hier nebenan,« sagte er, »bitte klingeln Sie, wenn Sie etwas wünschen.« Mein Reisegefährte, der neben mir in dem andern Bette lag, schlief bereits den süßen Schlaf der Jugend. Im Hause herrschte tiefe Stille und draußen hörte man nur den sanften Gesang des Nachtwindes, der anschwellend und sinkend über den See und das Moorland hinstrich. So beschloss ich den ersten Tag in dem gastfreien Hause auf Schottland.

Zwanzigstes Kapitel

Die grüne Flagge

»Welch eine Gabe haben Sie in Worten zu malen, Mr. Germaine, nach Ihrer Beschreibung habe ich ein deutliches Bild von Frau van Brandt.«

»Und gefällt Ihnen das Bild, Miss Dunroß?«

»Darf ich so aufrichtig sein, wie immer?«

»Gewiss!«

»Nun denn, ehrlich gesagt, gefällt mir Ihre Frau van Brandt nicht!«

Im Verlauf von zehn Tagen hatte ich Miss Dunroß schon so weit in mein Vertrauen gezogen!

Wodurch hatte sie mich bewogen, ihr die geheimnisvollen und heiligen Schmerzen meines Lebens anzuvertrauen, die bis jetzt nur das Ohr meiner Mutter vernommen hatte? So deutlich ich mich auch der schnellen, zarten Weise erinnere, in der sie mich mit ihrer herzgewinnenden Teilnahme bestrickte, so bleibt mir unklar, wie es ihr gelang, sich mir unbewusst so nah zu stellen, dass sie meine angeborene Zurückhaltung überwand, da ihr die wirksamste Macht, der Einfluss des Blickes, doch fehlte. Sobald das Licht in das Zimmer drang, war sie tief verschleiert und sonst waren die Vorhänge zugezogen. Der Schirm deckte das Feuer und ich konnte kaum die Umrisse ihres Gesichtes erkennen. Teilweise ist ihr Einfluss vielleicht durch die einfache, schwesterliche Art zu erklären, in der sie zu mir sprach und andernteils durch das unbeschreibliche Behagen, das mir ihre bloße Anwesenheit im Zimmer schon erregte. Ihr Vater hatte mir gesagt, dass sie Himmelsluft um sich verbreite, ich kann aus meiner Erfahrung nur sagen, dass ein Etwas sie umgab, das sich sanft und unwiderstehlich meines Willens bemächtigte und mich, wie ein Hündchen, ihr gehorchen machte. So getreu wie diesem Buche habe ich ihr alle Ereignisse, alle Leiden meines bisherigen Lebens anvertraut. Von der Liebesgeschichte meiner Knabenzeit mit allen ihren Einzelheiten bis zum Empfange der grünen Flagge, von den geheimnisvollen Prophezeiungen der Dame Dermody, dem gänzlichen Verschwinden der kleinen Mary und der Errettung der Frau van Brandt aus dem Flusse, bis zu der Erscheinung in dem Lusthause und unseren nachherigen Zusammenkünften in Edinburgh und London. Mit der vorschnellen anspruchsvollen Beurteilungsart der Frauen fasste sie nun, während sie in dem dunkeln Zimmer bei mir saß, den Eindruck, den meine Erzählung gemacht hatte in die Worte zusammen, die ich vorhin schon niederschrieb: »Mir gefällt Ihre Frau van Brandt nicht.«

»Warum nicht?« fragte ich.

Sie antwortete sofort: »Weil Sie niemand Anderes als Mary lieben dürfen!«

»Aber seit ich ein Knabe von dreizehn Jahren war, ist Mary für mich verloren.«

»Geduld und Sie werden sie wiederfinden, Mary ist geduldig und harrt Ihrer. Wie werden Sie von ihr beschämt über Ihre Liebe zu Frau van Brandt sein! Wenn Sie sie wiederfinden, dann werden Sie auf Ihre Trennung von Frau van Brandt als auf das glücklichste Ereignis in Ihrem Leben zurücksehen. - Ich werde das Ende nicht erleben, aber Sie werden die Bestätigung meiner Worte erleben.«

Teils stutzte ich über ihre vollkommen grundlose Überzeugung, dass ich Mary noch einmal wiederfinden würde und halb belächelte ich sie.

»Sie scheinen die Ansicht der Dame Dermody zu teilen,« sagte ich, »dass unsere beiden Schicksale in eins zusammenfließen müssen. Wie lange es auch sein mag und welche Ereignisse auch dazwischen liegen, so glauben Sie immer, dass unsere Vereinigung nur eine Zeitfrage ist und nichts weiter?«

»Das glaube ich fest.«

»Ohne einen anderen Grund, als dass Sie nicht wünschten, dass ich Frau van Brandt heirate?«

Sie war sich sehr wohl bewusst, dass dieses ihr hauptsächlicher Grund war und gab nach Frauenart der Abhandlung darüber eine andere Wendung.

»Warum nennen Sie sie Frau van Brandts?« fragte sie. »Frau van Brandt ist ja die Namensschwester Ihrer ersten Liebe, warum nennen Sie sie nicht auch Mary, wenn sie Ihnen so teuer ist?«

Der Grund, den ich dafür hatte, war eines Mannes von Geist und Verstand so unwürdig., dass ich mich schämte ihn anzuführen, aber als sie mein Zögern bemerkte, bestand sie auf einer Antwort, bis ich ihr mein demütigendes Bekenntnis machte.

»Der Mann, um dessentwillen ich sie aufgeben musste,« sagte ich, »nannte sie Mary. Deshalb ist mir der Name verleidet, denn ich hasse ihn mit aller Kraft der Eifersucht. Seit seine Lippen diesen Namen aussprachen, hat er jeden Reiz für mich verloren.«

Statt dass sie mich auslachte, wie ich vorausgesetzt hatte, erhob sie plötzlich den Kopf, als wollte sie mich trotz der Dunkelheit scharf ansehen.

»Wie sehr müssen Sie diese Frau lieben,« sagte sie. »Träumen Sie jetzt auch noch von ihr?«

»Jetzt niemals.«

»Hoffen Sie ihre Erscheinung einmal wiederzusehen?«

»Vielleicht, wenn eine Zeit tiefer Not über sie hereinbricht und sie keinen anderen Freund zum Helfer hat, als mich.«

»Sahen Sie je eine Erscheinung Ihrer kleinen Mary?«

»Niemals!«

»Aber Sie hatten sie doch einmal im Traum gesehen, wie Dame Dermody vorausgesagt hatte?«

»Ja, als Knabe.«

»Und später erschien in Ihren Träumen nicht Mary, sondern Frau van Brandt, sie war im Geiste bei Ihnen, wenn sie auch leiblich weit entfernt war? Die arme Dame Dermody, wenn sie je gedacht hätte, dass ihre Prophezeiungen durch eine falsche Person erfüllt werden würden!"

Das war also das Resultat, zu dem sie unbegreiflicherweise durch ihre Fragen gekommen war! Hätte sie, anstatt mich durch ihre nächste Frage wieder ganz von der rechten Fährte abzubringen, nur noch etwas weiter geforscht, so hätte sie mir unwillkürlich den Gedanken mitteilen müssen, der in ihr selbst unbewusst aufkeimte, dass möglicherweise Mary, meine erste Liebe, und Frau van Brandt ein und dieselbe Person waren.

»Wenn Sie nun Ihrer kleinen Mary jetzt wieder begegneten,« fuhr sie fort, »wie dächten Sie sie zu finden. Sagen Sie mir das, welch eine Art von Frau glauben Sie, dass sie geworden ist?«

Ich konnte kaum das Lachen verbergen. »Wie soll ich das nach so langer Zeit wissen?« erwiderte ich.

»Denken Sie einmal nach!« sagte sie.

Ich versuchte mir das Bild der kleinen, zarten Mary vorzuführen, wie sie noch in meiner Erinnerung vor mir stand und von der bekannten Person auf die unbekannte schließend, entwarf ich daraus das Bild einer schlankem zarten Frau, die den möglichst denkbaren Gegensatz zu Frau van Brandt bildete.

Meine sichtliche Überzeugung von dem Gegensatz, der aus dem Vergleich zwischen Beiden entstand, veranlasste Miss Dunroß den halb erwachten Gedanken an die Identität der Beiden völlig aufzugeben.

Wir hatten uns nun gegenseitig irre geführt, indem wir Beide die spätere Entwickelung zu vollkommener Gesundheit, Kraft und Schönheit nicht in Betracht zogen, die Zeit und Umstände an der kindlichen Mary aus meiner Jugendzeit hervorgebracht haben konnten. Wieder war ich um eines Haares Breite an der Enthüllung der Wahrheit vorbeigegangen.

»Ich liebe das Bild Ihrer kleinen Mary unendlich mehr, als das der Frau van Brandt,« sagte Miss Dunroß, »weil es ganz dem entspricht, was ich von einer wirklich anziehenden Frau denke. Wie Sie sich so um den Verlust dieser anderen Person grämen können, begreife ich nicht, ich hasse diese aufgeregten Frauen. Sie glauben nicht wie warm ich mich für Mary interessiere, erzählen Sie mir mehr von ihr. Wo haben Sie die geschenkte Handarbeit, an der das arme, kleine Ding so fleißig für Sie gestickt hat? Lassen Sie mich die grüne Flagge sehen!«

Sie setzte unbedingt voraus, dass ich die grüne Flagge bei mir trug und ich war um die Antwort ein wenig verlegen.

»Ich bedaure, dass ich das nicht kann, da die Flagge irgendwo in meinem Hause in Pertshire aufbewahrt ist.«

»Wie, die haben Sie nicht bei sich?« rief sie aus, »Sie lassen ihr Andenken irgendwo herumliegen? Ja, Mr. Germaine, dann haben Sie Mary in der Tat vergessen. Eine Frau hätte an Ihrer Stelle lieber ihr Leben gelassen, als dass sie sich von dem einzigen Andenken getrennt hätte, das sie aus der Zeit ihrer ersten Liebe besaß!«

Der außergewöhnliche Ernst, ich möchte fast sagen, die Erregung, in der sie sprach, setzte mich in Erstaunen.

»Aber liebe Miss Dunroß,« beruhigte ich sie, »die Flagge ist ja nicht verloren.«

»Hoffentlich nicht,« warf sie schnell ein, »denn wenn Sie die grüne Flagge verlieren, verlieren Sie die letzte Reliquie von Mary und wenn mich mein Glaube nicht täuscht, mehr als das.«

»Was glauben Sie denn?«

»Wenn ich es Ihnen sagte, fürchte ich, dass sie mich auslachen würden. Ich glaube jetzt, dass Sie ein harter Mann sind - ich habe mich doch zuerst in Ihren Zügen getäuscht.«

»Sie tun mir wahrlich Unrecht. Ich beschwöre Sie, antworten Sie mir so ehrlich wie immer, was verliere ich, wenn ich die letzte Reliquie von Mary verliere?«

»Sie verlieren die einzige Hoffnung, die ich für Sie hege,« antwortete sie ernst, »die Hoffnung, dass Sie Mary wiederfinden und einst mit ihr vereint sein werden. In der letzten Nacht dachte ich, statt zu schlafen, an Ihre reizende Liebesgeschichte an den Ufern des klaren, englischen Sees und je mehr ich nachdachte, je fester wurzelte in mir die Überzeugung, dass die grüne Flagge des armen Kindes, das unschuldige Bindeglied zwischen Ihrer Beider Zukunft ist. Das Glück Ihres Lebens haftet an dem unscheinbaren Andenken! Weshalb ich das glaube, kann ich Ihnen nicht erklären, es mag das mit zu meinen Exzentrizitäten gehören - wie meine Katzenaufführungen bei den Klängen meiner Harfe. Wäre aber unsere Freundschaft, statt dieser wenigen Tage, schon Jahre alt, so würde ich Ihnen keine Ruhe lassen. Ich würde Sie mit aller Beharrlichkeit einer Frau bitten, anflehen, beschwören, dass Sie Marys Andenken nie von sich ließen, sondern es zu Ihrem stehenden Begleiter machten wie das Bild Ihrer Mutter, das Sie dort in der Kapsel immer an Ihrer Uhrkette tragen. Mit der Flagge weilt auch Marys Einfluss bei Ihnen, Marys Liebe ist durch dieses teure, alte Band an Sie geknüpft und Sie werden Mary nach Jahren der Trennung wiedersehen!«

Der Gedanke war an sich schön und poetisch, dem Einflusse des Ernstes aber, mit dem er ausgesprochen wurde, hätte sich eine viele verhärtetere Natur, als die meine, nicht entziehen können. Ich gestehe, dass ich mich meiner Vernachlässigung der grünen Flagge wahrhaft schämte, was diese Worte bewirkt hatten, war aber viel tiefer gehend.

»So wie ich nach Hause zurückkehre, will ich sie suchen«, sagte ich, »und will sie in Zukunft sorgsamer behüten.«

»Ich verlange mehr als das,« versetzte sie. Wenn Sie die Flagge nicht bei sich tragen können, so muss sie Sie doch immer begleiten, wohin Sie auch gehen mögen. Als man Ihr Gepäck vom Schiffe hieher brachte, waren Sie besonders besorgt um Ihre Briefmappe, die dort auf dem Tische liegt. Enthält sie irgend etwas besonders Wertvolles?«

»Sie enthält mein Geld und andere Sachen, die mir sehr wert sind, als die Briefe meiner Mutter zum Beispiel und einige Familienandenken, die ich sehr ungern verlieren würde, auch die Mappe selbst ist mir besonders lieb, weil sie seit vielen Jahren meine treue Reisebegleiterin gewesen ist.«

Miss Dunroß stand auf und kam dicht an den Stuhl, auf dem ich saß.

»So lassen Sie Marys Flagge auch Ihre treue Reisebegleiterin sein,« sagte sie. »Sie haben meiner Dienste als Ihre Pflegerin viel zu dankbar erwähnt, belohnen Sie mich jetzt über mein Verdienst, indem Sie den abergläubischen Wunsch einer einsamen Träumerin erfüllen. Versprechen Sie mir, dass die grüne Flagge einen Platz zwischen den anderen Schätzen in Ihrer Mappe finden soll.«

Ich brauche wohl nicht zu sagen, dass ich ihr das Zugeständnis machte und ihr versprach, die grüne Flagge mit mir zu führen. Zum ersten Male seit wir uns kannten, legte sie ihre kleine abgezehrte Hand auf die meine und drückte sie einen Augenblick lang. Ehe ich sie wieder losließ, zog ich sie an meine Lippen und küsste sie im Gefühl meiner Dankbarkeit. Sie erschrak - zitterte und verließ still und eilig das Zimmer.

Einundzwanzigstes Kapitel

Sie tritt zwischen uns

Welche Bewegung hatte ich unbewusst in Miss Dunroß hervorgerufen, hatte ich sie betrübt oder beleidigt? Hatte ich, ohne es zu wollen, in ihrer Seele ein tief verborgenes Gefühl wach gerufen, das sie bis jetzt standhaft unterdrückt hatte?

Ich gedachte der Tage, die ich hier im Hause verlebt hatte und prüfte meine eigenen Gefühle und Eindrücke, um dadurch vielleicht zur Lösung des Rätsels zu gelangen, weshalb sie aus dem Zimmer geflohen war.

Welchen Eindruck hatte sie auf mich gemacht?

Um die Wahrheit zu gestehen, hatte sie einfach allen Raum in meinem Innern eingenommen und alles Andere daraus verdrängt. Sie hatte in zehn Tagen meine Teilnahme in einem so hohen Grade erregt, wie es einer anderen Frau kaum in zehn Jahren gelungen wäre. Mit Schamgefühl gestand ich mir ein, dass ich meiner Mutter sehr selten gedacht hatte, selbst das Bild von Frau van Brandt war, außer, wenn wir von ihr sprachen, in meinem Gedächtnis sehr verblichen.

Meine Freunde in Lerwick hatten mich alle der Reihe nach, Sir James an der Spitze, besucht und undankbarerweise hatte ich stets eine heimliche Freude empfunden, wenn sie sich wieder empfahlen und meiner Pflegerin das Feld räumten.

In zwei Tagen sollte das Regierungsschiff sich auf die Rückreise begeben. Obgleich meine Hand mich beim Gebrauch noch empfindlich schmerzte, war ich doch hinreichend hergestellt, um die Reise nach Lerwick zu ertragen, da die viel bedenklichere Verletzung an der wiedergeöffneten Wunde durchaus weder für mich noch irgend jemand Anderes mehr ein Gegenstand der Sorge war und ich zudem auf dem Wege zwischen Lerwick und Dunroß's Hause noch in einem Gehöft übernachten konnte.

Trotzdem ich das Alles wusste, hatte ich die Frage, ob ich zu dem Schiffe zurückkehren würde, bis zum letzten Augenblick offen gelassen und meinen Freunden als Grund dafür den Zweifel an der Zulänglichkeit meiner Kräfte angegeben. Der Grund, den ich mir jetzt selbst gestand, war, dass ich zögerte Miss Dunroß zu verlassen.

Welche geheime Macht hatte sie über mich ausgeübt, welches Gefühl, welche Leidenschaft hatte sie in mir erweckt? War es Liebe?

Nein, Liebe war es nicht. An der Stelle, die Mary einst eingenommen, die später Frau van Brandt ausgefüllt, stand Miss Dunroß nicht. Wie konnte ich im gewöhnlichen Sinn des Wortes eine Frau lieben, deren Antlitz ich nie gesehen hatte, deren Schönheit verwelkt war, um nie wieder zu erblühen? Deren verödetes Leben an einem Faden hing, der jeden Augenblick zerreißen konnte. An jeder Neigung zwischen den verschiedenen Geschlechtern, wenn man sie anders Liebe nennen soll, haben die Sinne ihren Anteil, an meinem Gefühl für Miss Dunroß hatten sie keinen. Welch ein Gefühl war es denn? Diese Frage konnte ich nur auf eine Weise beantworten, da das Gefühl zu tief in mir verborgen war, um es ergründen zu können.

Welchen Eindruck hatte ich ihr gemacht? Welche Saite ihres Gefühls hatte ich, ohne es zu wissen, berührt, als meine Lippen ihre Hand berührten?

Ich zagte diese Frage weiter zu verfolgen, die ich mir selbst vorgelegt. Ich gedachte ihrer zerrütteten Gesundheit, ihres Daseins in Schatten und Einsamkeit, ich gedachte der reichen Schätze dieses Herzens und dieses Gemütes, die mit ihrem welkenden Leben auch hinwelken mussten und ich sagte mir: Ihr Geheimnis sei Dir heilig! Nie soll eines meiner Worte oder eine meiner Handlungen sie wieder in Unruhe und Schmerzen versetzen, mag ihr Herz vor mir verschleiert bleiben, wie ihr Antlitz.

In dieser Stimmung erwartete ich ihre Rückkehr.

Dass ich sie im Laufe des Tages noch wiedersehen würde, bezweifelte ich nicht, da die Post nach dem Süden am nächsten Tage abging und es daher im Hause allgemeine Sitte war, die Briefe am Abend vorher zu schreiben, weil sie der Bote am Morgen ganz früh abholte. Miss Dunroß hatte sich daran gewöhnt nach meinem Diktat die Briefe in meine Heimat zu schreiben, da ich meine Hand noch immer nicht gebrauchen konnte. Sie wusste, dass ich meiner Mutter einen Brief schuldete und auf ihre Hilfe angewiesen war. So war ihre Umkehr zu mir nur eine Zeitfrage, da jede Verpflichtung, wie gering sie auch immer sein mochte, in ihren Augen zur dringenden Pflicht wurde.

Stunde auf Stunde verging, der Tag neigte sich zu Ende und sie erschien noch immer nicht.

Ich verließ mein Zimmer, um noch die letzten Strahlen der Sonne in dem Garten hinter dem Hause aufzufangen, ließ aber Peter zurück, wo ich aufzufinden war, im Fall Miss Dunroß mich suchte. Nach meinen südländischen Begriffen war der Garten sehr wild, aber er zog sich weit an der Küste der Insel hin und bot manche hübsche Aussicht über den See und das Moorland hinaus. Während ich langsam dahin schlenderte, beschloss ich meine Gedanken nützlich zu beschäftigen, indem ich mir den Brief an meine Mutter, den Miß Dunroß für mich schreiben sollte, immer durchdachte.

Ich fand es aber zu meinem Erstaunen ganz unmöglich, meine Gedanken auf diesen Gegenstand zu richten. Wie oft ich es auch versuchte, immer schweiften meine Gedanken wieder von dem Briefe an die Mutter zu Miss Dunroß hinüber. Doch nein! Verweilten sie bei der Frage, ob ich mit dem Regierungsschiff nach Pertshire zurückkehren sollte oder nicht, oder wohin wendeten sie sich eigentlich? Wunderbarerweise waren alle meine Gedanken durch eine unerklärliche Abschweifung meines Gefühls plötzlich auf einen Gegenstand gerichtet, dem ich jetzt lange nicht mehr nachgedacht hatte, auf - Frau van Brandt. Unwillkürlich dachte ich, so sehr sich mein Wille auch dagegen sträubte, an unsere letzte Unterredung zurück. Ich sah sie, hörte sie wieder, empfand die augenblickliche Wonne unseres letzten Kusses und vergegenwärtigte mir die Qualen und Schmerzen, die ich empfand, als ich von ihr gegangen war und mich allein auf der Straße befand. Tränen, deren ich mich schämte, obgleich sie niemand sah, füllten meine Augen, als ich der Monate gedachte, die seit unserem letzten Beisammensein verflossen waren und wie viel Herzeleid konnten, mussten sie über sie gebracht haben!

Obgleich Hunderte von Meilen zwischen uns lagen, war sie mir diesen Augenblick so nah, als ginge sie im Garten neben mir.

Wie mein Geist, befand auch mein Körper sich in wunderbarem Zustande, ein geheimnisvolles Beben durchschauerte mich von Kopf bis zu den Füßen. Ohne den Boden unter mir zu fühlen, schritt ich vorwärts, meine Augen ruhten auf den Gegenständen umher, ohne dass ich mir ihrer bewusst war, meine Hände waren kalt, ohne dass ich es eigentlich fühlte, mein Kopf glühte, doch empfand ich keinen Schmerz, fühlte mich wie umgeben und eingehüllt in eine elektrische Atmosphäre, die alle meine Gefühle wunderbar verwandelte. In dem Glauben, dass ein Gewitter im Anzuge war, blickte ich zum Himmel auf, der war ruhig und klar. Ich stand still, um meinen Rock zuzuknöpfen und fragte mich, ob ich mich erkältet haben könnte oder ob ein Fieber im Anzuge war. Die Sonne versank hinter dem Horizonte des Moorlandes, das graue Zwielicht zitterte über den dunklen Wassern des Sees, ich kehrte zum Hause zurück und auch dahin begleitete mich die lebhafte Erinnerung an Frau van Brandt, als treue Gefährtin. Das Feuer in meinem Zimmer war während dessen niedergebrannt. Einer der geschlossenen Vorhänge war ein paar Zoll weit zurückgezogen, so dass ein Strahl des ersterbenden Lichts hindurchdringen konnte und an der Stelle, wo Licht und Finsternis sich schieden, sah ich Miss Dunroß im dunklen Teil des Zimmers sitzen. Sie hatte den Schleier herabgelassen und ihr Schreibzeug auf dem Schoß, so erwartete sie meine Rückkehr.

Ich entschuldigte mich und sagte ihr, dass ich aus Vorsorge dem Diener hinterlassen hätte, wo ich zu finden wäre; sie unterbrach mich aber sanft, so dass ich meinen Satz nicht vollenden konnte.

»Peter ist unschuldig«, sagte sie, »ich wünschte, dass er Sie nicht zu früh ins Hans zurückrufen möchte. Hat Ihr Spaziergang Ihnen gut getan?« Sie sprach sehr ruhig, die schwache, trübe Stimme war schwächer und trüber denn je. Während dieser Worte hielt sie ihren Kopf über das Schreibzeug gebeugt, statt wie sonst ihn mir während unseres Gesprächs zuzuwenden. Ich fühlte immer noch jenes geheimnisvolle Beben wie im Garten und zog meinen Stuhl nah an das Feuer, dessen Kohlen ich anzuschüren versuchte, um mich daran zu erwärmen. Dadurch war ein kleiner Zwischenraum zwischen unseren Plätzen im Zimmer. Ich konnte sie nur von der Seite sehen, wie sie in der schützenden Dunkelheit des vorgezogenen Vorhanges am Fenster saß.

»Ich fürchte, dass ich mich zu lange im Garten aufgehalten habe,« sagte ich, »mich durchrieselt die eisige Abendluft.«

»Soll mehr Holz auf das Feuer gelegt werden?« fragte sie. »Soll ich irgend etwas für Sie besorgen?«

» Nein, ich danke, ich bedarf nichts. Ich sehe, dass Sie die Güte haben wollen für mich zu schreiben.«

»Ja,« sagte sie, ,wenn Sie es wünschen; so wie Sie bereit sind, ist meine Feder es auch.«

Sie schien die ausgesprochene Rückhaltung, die zwischen uns entstanden war, seit wir uns zuletzt gesprochen hatten, ebenso schmerzlich zu empfinden als ich und hätten wir nur gewusst, wie es anzufangen war, so hätten wir sie gern durchbrochen. Jedenfalls musste das Briefschreiben uns beschäftigen. Wiederum versuchte ich meine Gedanken darauf zu richten und wiederum war der Versuch vergebens. Obgleich ich sehr gut wusste, was ich meiner Mutter zu sagen hatte, war es mir, so wie ich es aussprechen wollte, als fehlte mir die Fähigkeit dazu. Ich kauerte am Feuer und sie wartete mit ihrem Schreibzeuge auf dem Schoß.

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Sie bedarf wiederum meiner

Als die Zeit verfloss und das Schweigen zwischen uns andauerte, versuchte Miss Dunroß mich zu ermuntern.

»Haben Sie sich entschlossen in Gesellschaft Ihrer Freunde in Lerwick nach Schottland zurückzukehren?« fragte sie.

»Es wird mir nicht leicht,« erwiderte ich, »meine Freunde hier zu verlassen.«

Sie ließ den Kopf sinken und antwortete mir mit leiser Stimme:

»Denken Sie an Ihre Mutter, die Pflichten gegen sie gehen allen anderen vor. Es ist sehr schwer für sie gewesen, Sie so lange zu entbehren und sie leidet sicher darunter.«

»Sie leidet?« wiederholte ich, »davon sagen ihre Briefe aber nichts.«

»Sie vergessen, dass Sie mir die Erlaubnis gaben ihre Briefe zu lesen,« warf Miss Dunroß ein, »und ich habe aus dem was sie schreibt, obgleich sie nichts davon ausspricht, sehr wohl ihre Sorge um Sie herausgelesen und Sie wissen so gut, wie ich, dass sie Grund hat zu sorgen. Beglücken Sie sie durch die Nachricht, dass Sie mit Ihren Freunden heimkehren werden und mehr noch in dem Sie sie versichern, dass Sie nicht länger den Verlust von Frau van Brandt beklagen. Darf ich ihr das in Ihrem Namen mit diesen Worten schreiben?«

Es war mir unmöglich ihr zu gestatten, dass sie in diesen oder irgend welchen anderen Worten über Frau van Brandt schrieb. Obwohl meine unglückliche Liebesgeschichte bisher immer zwischen uns besprochen worden war, warum war es mir jetzt, als wäre sie ein verbotenes Thema, warum konnte ich mich nicht entschließen ihr auf ihre Frage zu antworten?

»Wir haben ja noch viel Zeit übrig«, sagte ich, »ich möchte erst über Sie selbst sprechen.« In der Dunkelheit, die sie umgab erhob sie die Hand, als wollte sie sich gegen dieses Gespräch verwahren, ich aber bestand darauf es dennoch anzubahnen. »Wenn ich denn doch abreisen muss,« fuhr ich fort, »so darf ich Ihnen wohl beim Scheiden sagen, was ich bis jetzt verschwieg, dass ich Sie nicht für unheilbar halte. Sie wissen, dass ich Arzt bin und daher kenne ich mehrere der im Augenblick berühmtesten Ärzte in Edinburgh sowohl als in London. Gestatten Sie mir, dass ich Männern, die in der Behandlung verwickelter Nervenkrankheiten geübt sind, Ihren Zustand, so wie ich ihn auffasse, schildere und darf ich Ihnen den Erfolg schriftlich mitteilen?«

Ich erwartete ihren Bescheid, aber weder Wort noch Gebärden ermutigten meinen Wunsch in Zukunft mit ihr in Verbindung zu bleiben. Da versuchte ich noch einen anderen Weg, auf dem ich sie zu vermögen hoffte, einen Brief von mir zu empfangen.

»Jedenfalls muss ich mir erlauben Ihnen zu schreiben,« fuhr ich fort, »denn Sie werden doch sicher von mir hören wollen, ob Ihre Ahnungen, die Sie mit so großer Sicherheit an ein Wiedersehen zwischen der kleinen Mary und mir glauben lassen, richtig sind!«

Wieder erwartete ich vergebens eine Antwort. Sie sprach, aber nur um den Gegenstand unseres Gesprächs zu wechseln.

»Die Zeit vergeht und wir haben den Brief an Ihre Mutter immer noch nicht angefangen,« war Alles, was sie sagte.

Da ihre Stimme mir verriet, dass sie litt, wäre es grausam gewesen sie noch länger zu quälen. Der matte Lichtschein, der durch die Spalte des Vorhanges drang, nahm schnell ab, so war es wirklich Zeit den Brief zu schreiben. Ich hoffte noch eine andere Gelegenheit zu finden, um mit ihr sprechen zu können, ehe ich das Haus verließ.

»Ich bin bereit,« sagte ich »wollen Sie beginnen?«

Der erste Satz, worin ich meiner Mutter mitteilte, dass meine verrenkte Hand fast heil sei und dass nichts mich hinderte Schottland zu verlassen, sobald Sir James abzureisen beschlösse, war meinem geduldigen Schreiber bald diktiert. Da meiner Mutter aus triftigen Gründen verschwiegen war, dass sich meine Wunde bei dem Unfall wieder geöffnet hatte, war damit Alles gesagt, was über meine Gesundheit zu sagen war und Miss Dunroß wartete auf die folgenden Worte, nachdem sie den Eingang des Briefes geschrieben hatte.

Im nächsten Satze bezeichnete ich meiner Mutter den Tag, an dem das Schiff von hier abgehen sollte und sagte ihr, wenn sie bei günstigem Wetter meine Heimkehr erwarten könne. Auch das schrieb Miss Dunroß und wartete wieder. Ich dachte nach, was ich nun weiter sagen sollte, und nahm mit Erstaunen wahr, dass ich meine Gedanken unmöglich auf den Brief zu richten vermochte. Sie wanderten in rätselhafter Weise immer zu Frau van Brandt hin. Ich war beschämt, ich zürnte mir selbst und beschloss, was ich auch sagen mochte, wenigstens um jeden Preis den Brief zu beenden. Aber, wie ich mich auch bemühte, selbst die äußerste Anstrengung meiner Willenskraft half nichts. In meinen Ohren widerhallten nur Frau van Brandts Worte bei unserem letzten Begegnen - kein Wort für meine Mutter kam mir in den Sinn. Miss Dunroß legte die Feder nieder und wendete langsam den Kopf, um mich anzusehen.

»Sie wollen doch wohl Ihrem Briefe noch Einiges hinzufügen?« sagte sie.

»Gewiss« antwortete ich, »aber ich weiß nicht, was mir fehlt, das Diktieren übersteigt heute Abend entschieden meine Kräfte.«

»Kann ich Ihnen helfen?« fragte sie.

Ich nehme den Vorschlag dankbar an. »Es gibt ja vieles, was meine Mutter mit Freuden hören würde, wenn ich nur Kraft hätte darüber nachzudenken. Wollen Sie es nicht gütigst für mich tun?«

Durch diese unvorsichtige Antwort bot sich Miss Dunroß die Gelegenheit auf Frau van Brandt zurückzukommen. Sie ergriff sie auch mit der festen Entschlossenheit einer Frau, die ihr Ziel im Auge hat und es auf jeden Fall erreichen will.

»Wollen Sie nicht Ihrer Mutter in Ihren eigenen Worten sagen, dass Ihre Verblendung für Frau van Brandt nun zu Ende ist oder soll ich es für Sie niederschreiben, indem ich versuche möglichst Ihre Ausdrucksweise zu wählen?«

Ihre Beharrlichkeit besiegte mich in der Verfassung, in der ich mich eben befand. Ich dachte nachlässig bei mir selbst: »Sie wird wieder auf den Gegenstand zurückkommen, wenn ich jetzt auch Nein sage und mich, nach allen den Freundlichkeiten, die ich ihr verdanke, doch veranlassen Ja zu sagen.«

Ehe ich ihr antworten konnte, verwirklichte sie meine Vermutungen schon, indem sie auf den Gegenstand zurückkam und mir ein Ja entlockte.

»Wie soll ich Ihr Schweigen deuten?« sagte sie. »Erst bitten Sie um meine Hilfe und dann verwerfen Sie den ersten Vorschlag, den ich Ihnen mache!«

»Nehmen Sie die Feder zur Hand,« erwiderte ich, »ich werde Ihren Wunsch erfüllen.«

»Wollen Sie mir die Worte selbst diktieren?«

»Ich will es versuchen.«

Ich versuchte es und dieses Mal gelang es mir. Indem Frau van Brandts Bild lebhaft vor mir stand, stellte ich in Gedanken den Satz zusammen, der meiner Mutter verkünden sollte, dass meine »Verblendung« über Frau van Brandt zu Ende sei.

»Du wirst Dich freuen, wenn Du hörst, dass die Zeit und die Abwechselung von Erfolg waren.«

Miss Dunroß schrieb die Worte nieder und erwartete meinen nächsten Satz. Das Licht erlosch allmählich, das Zimmer wurde dunkler und ich fuhr fort:

»Hoffentlich werde ich Dir wegen Frau van Brandt keine Sorgen mehr bereiten, teure Mutter!«

Bei der herrschenden Stille konnte ich vernehmen, wie die Feder meines Schreibers über das Papier hin und her ging, während ich diese Worte schreiben ließ.

Als der Ton verstummte, fragte ich: »Haben Sie das geschrieben?«

»Ich habe es geschrieben,« antwortete sie in ihrem ruhigen Ton.

Ich fuhr in meinem Briefe fort.

»Die Tage vergehen und ich gedenke selten oder gar nicht ihrer. Ich glaube, ich habe den Verlust von Frau van Brandt nun überwunden.«

Als ich den Satz schloss, stieß Miss Dunroß einen leisen Schrei aus und ich sah im Augenblick trotz der zunehmenden Dunkelheit, dass ihr Kopf hinten gegen die Lehne ihres Stuhles gesunken war. Meinem natürlichen Antrieb folgend, sprang ich auf, um zu ihr zu gehen, aber eine unbeschreibliche Furcht bannte mich an meinen Platz. Ich hielt mich am Kaminsims und war unfähig einen Schritt zu tun, mit Anstrengung gelang es mir zu sprechen.

»Sind Sie krank?« fragte ich.

Sie antwortete mir im flüsternden Tone ohne den Kopf zu erheben: »Ich bin sehr erschrocken.«

»Was erschreckte Sie?«

Ich hörte durch die Dunkelheit, wie sie schauderte. Anstatt mir zu antworten, flüsterte sie vor sich hin: »Was soll ich ihm sagen?«

»Sagen Sie mir, was Sie erschreckt hat,« wiederholte ich, »Sie wissen, Sie können mir die Wahrheit anvertrauen.«

Sie raffte sich auf und antwortete mir diese seltsamen Worte:

»Es trat etwas zwischen mich und den Brief, den ich schreiben wollte.«

»Was war es denn?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Sehen Sie es nicht?«

»Nein.«

»Fühlen Sie es nicht?«

»Ja.«

»Wie erscheint es Ihnen denn?«

»Wie ein kalter Luftzug zwischen mir und dem Briefe.«

»Ist das Fenster aufgegangen?«

»Nein, das ist fest zu.«

»Und die Tür?«

»So viel ich sehen kann ist die Tür auch zu. Überzeugen Sie sich selbst davon. Wo sind Sie und was tun Sie?«

Ich sah nach dem Fenster und nahm, während sie diese Worte sprach, eine Veränderung in dem Teile des Zimmers wahr.

Durch die Spalte zwischen den Vorhängen schien ein neues Licht - nicht das matte, natürliche Zwielicht, sondern ein reiner, sternenheller Schein, ein bleiches, überirdisches Licht. Während ich es beobachtete, zitterte dieser Sternenschimmer, als wenn irgend ein Luftzug ihn bewegte und als es wieder ruhig wurde, trat aus dem überirdischen Glanz die Gestalt einer Frau hervor. Ganz allmälig wurde sie deutlicher. Ich kannte die edle Gestalt und das trübe, liebliche Lächeln wohl, ich stand zum zweiten Male vor Frau van Brandts Erscheinung.

Sie war nicht wie bei unserem letzten Begegnen gekleidet, sondern trug den Anzug, den sie an jenem entwürdigenden Abende trug, als wir uns auf der Brücke trafen und in dem sie mir zuerst an dem Wasserfall in Schottland erschienen war. Der Sternenschimmer umgab sie wie ein Heiligenschein. Sie sah mich mit denselben traurigen, bittenden Augen an, wie damals in dem Lusthause, sie erhob die Hand, aber nicht, wie damals, winkend, dass ich mich ihr nähern sollte, sondern um mich sanft an meinen Platz zu bannen.

Ich wartete voller Ehrfurcht aber ohne Furcht, mein ganzes Herz gehörte ihr, als sie so vor mir stand.

Sie bewegte sich und glitt vom Fenster zu dem Stuhl, auf dem Miss Dunroß saß und ihn leise umgehend, stellte sie sich hinter die Lehne. Bei dem Lichte des matten Schimmers, der sie umgab und der Geistererscheinung auch folgte, sah ich die dunkle Gestalt der lebenden Frau regungslos in ihrem Stuhle sitzen, mit dem Schreibzeug auf dem Schoß und der darauf liegenden Feder. Ihre Arme hingen kraftlos herab, der verschleierte Kopf war jetzt nach vorn gebeugt, sie machte den Eindruck, als wäre sie, im Begriff aufzustehen, in einen Stein verwandelt worden.

Nach einem Augenblick sah ich wie die Geistererscheinung sich über die lebende Gestalt neigte und das Schreibzeug von ihrem Schoße nahm. Das Schreibzeug auf ihre Schulter setzend, ergriffen die bleichen Finger die Feder und schrieben auf den unvollendeten Brief. Dann setzte sie das Schreibzeug der Lebenden wieder auf den Schoß und wendete sich von ihrem Platze aus zu mir. Sie sah mich wieder an und winkte mir wieder, winkte aber dieses Mal, dass ich herankommen sollte.

Willenlos bewegte ich mich, wie damals, als ich sie zum ersten Male in dem Lusthause sah. Durch eine unwiderstehliche Macht näher und näher gezogen, blieb ich einige Schritt vor ihr stehen. Sie trat zu mir und legte mir die Hand auf die Brust und wiederum erfüllte mich das wunderbar gemischte Gefühl von Wonne und Ehrfurcht, das mich schon damals ergriffen hatte, als ich im Geiste ihre Berührung gefühlt. Sie sprach wieder in den leisen, melodischen Tönen, die mir so wohlbekannt waren und sagte dieselben Worte: »Gedenke mein und komm zu mir.« Ihre Hand glitt von meiner Brust herab, das bleiche Licht, das sie umgab, zitterte, sank und verschwand. Das Dämmerlicht schien durch die Vorhänge, das war Alles, was ich sah. Sie hatte gesprochen und war verschwunden. Ich war Miss Dunroß so nah, dass ich sie mit der ausgestreckten Hand erreichen konnte.

Sie erschrak und schauderte, wie jemand, der plötzlich aus einem schweren Traum erwacht.

»Sprechen Sie mit mir!« flüsterte sie. »Sagen Sie mir, dass Sie es waren, der mich berührte.«

Ehe ich sie näher befragte, sagte ich ihr einige beruhigende Worte.

»Haben Sie etwas im Zimmer gesehen?«

Sie erwiderte: »Mich hat eine tödliche Furcht befallen, ich sah nichts, als dass das Schreibzeug von meinem Schoß genommen wurde.«

»Sahen Sie die Hand, die es nahm?«

»Nein.«

»Sahen Sie eine Art Sternenschimmer und eine Gestalt darin stehen?«

»Nein.«

»Sahen Sie das Schreibzeug, nachdem es von Ihrem Schoß genommen war?«

»Ich sah es auf meiner Schulter stehen.«

»Sahen Sie in dem Briefe eine Handschrift, die nicht die Ihrige war?«

»Ich sah auf dem Papier einen dunkleren Schatten, als den, in welchem ich mich befinde.«

»Bewegte er sich?«

»Er ging über das Papier.«

»Nach welcher Richtung hin?«

»Von links nach rechts.«

»Wie man eine Feder beim Schreiben bewegt?«

»Ja, wie man eine Feder beim Schreiben bewegt.«

»Kann ich den Brief nehmen?«

Sie reichte ihn mir hin.

»Darf ich ein Licht anstecken?«

Sie nickte schweigend und zog den Schleier dichter um ihr Gesicht. Ich steckte hinter ihr auf dem Kaminsims das Licht an und sah nach der Schrift.

Dort, auf der leeren Stelle des Briefes, wie einst auf der leeren Stelle in meinem Skizzenbuche, fand ich die Schrift, welche die Geistererscheinung mir zurückgelassen hatte, wie damals in zwei Reihen geschrieben, die ich hier folgen lasse:

Am Ende des Monats

Im Schatten von St. Paul.

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Der Kuss

Ich fühlte die alte Liebe, die alte Hingebung wieder in voller Kraft, da sie meiner wieder bedurfte, mich wieder gerufen hatte. Alles was mich bei unserem letzten Beisammensein geschmerzt und verletzt hatte, war vergessen und mein ganzes Wesen erbebte in einer Mischung von Wonne und Ehrfurcht, als ich die Erscheinung wieder sah, die zum zweiten Male zu mir kam. Minuten vergingen und ich stand noch immer wie verzaubert vor dem Feuer, nur ihre Worte wiederholend: »Gedenke mein und komm zu mir,« und die geheimnisvollen, geschriebenen Worte betrachtend: »Am Ende des Monats im Schatten von St. Paul.«

Da das Ende des Monats noch fern war, hatte ihre Erscheinung sich mir also in Voraussicht von Schmerzen, die noch für sie kommen sollten, gezeigt und ich hatte noch reichlich Zeit für die Pilgerfahrt, die fest in mir beschlossen war - die Pilgerfahrt zum Schatten von St. Paul.

Mancher andere in meiner Lage wäre wohl unsicher gewesen, welches der bezeichnete Ort sein sollte. Andere hätten wahrscheinlich ihr Gedächtnis angestrengt, um unter den zahlreichen Kirchen, Anstalten, Straßen und Städten im Auslande, die die christliche Verehrung dem Namen des großen Apostels geweiht hat, den Ort ausfindig zu machen, zu dem sie ihre Schritte lenken sollten. Diese Schwierigkeit beschäftigte mich nicht, denn ich machte sofort den einzigen Schluss, der mir richtig zu sein schien. »St. Paul« sollte die berühmte Kathedrale in London bezeichnen. Wo am Ende des Monates der Schatten der großen Kirche hingerichtet war, da sollte ich sie oder eine Spur von ihr finden. Also war es wiederum in London und nirgend anders, wo ich die Frau, die ich liebte, leiblich vor mir sehen sollte, ebenso gewiss, wie ich eben ihre Geistererscheinung sah.

Wie war die geheimnisvolle Sympathie zu erklären, die uns trotz Zeit und Raum immer wieder verband? Wer wollte voraussagen, welchem zukünftigen Ziele unsere beiden Existenzen im Laufe der Jahre zustrebten?

Während ich diese Betrachtungen in mir bewegte und meine Augen fest auf die Schrift gerichtet waren, fiel mir unwillkürlich die tiefe Stille, die im Zimmer herrschte, auf und damit kehrte meine Erinnerung zu Miss Dunroß zurück. Im Bewusstsein meiner Schuld, drehte ich mich sofort um und sah nach dem Fenster, wo ihr Stuhl stand.

Der Stuhl war leer und ich war im Zimmer allein.

Warum verließ sie mich ohne ein Abschiedswort? Litt sie an Geist oder Körper oder hatte es sie verletzt, dass ich sie so unbeachtet gelassen?

Den Gedanken sie verletzt zu haben, konnte ich nicht ertragen. Ich klingelte um nach ihr zu fragen.

Dem Rufe der Klingel folgte nicht, wie sonst, der stille Diener Peter, sondern eine Frau in mittleren Jahren, die einfach und sauber gekleidet war und der ich mehrmals beim Herein- und Hinausgehen und aus meinem Zimmer begegnet war, ohne zu wissen, welche Stellung sie eigentlich hier im Hause einnahm.

»Wünschen Sie, dass Peter kommt?« fragte sie.

»Nein, ich wollte nur wissen, wo Miss Dunroß ist.«

»Miss Dunroß ist in ihrem Zimmer und sendet Ihnen durch mich diesen Brief.«

Mit Erstaunen und Unbehagen nahm ich ihr den Brief ab, da es das erste Mal war, dass Miss Dunroß schriftlich mit mir verkehrte. Ich hoffte auf Befragen von ihrer Botin etwas über sie zu hören.

»Sind Sie in Miss Dunroß's Diensten?« fragte ich.

Die sehr unfreundliche Antwort lautete: »Ich habe Miss Dunroß seit vielen Jahren gedient.«

»Glauben Sie, dass sie mich jetzt empfangen würde, wenn ich sie durch Sie darum bitten ließe?«

»Ich weiß es nicht, mein Herr. Vielleicht sagt der Brief etwas darüber, wollen Sie ihn nicht erst lesen?«

Wir sahen einander an. Entschieden war die vorgefasste Meinung dieser Frau über mich eine ungünstige. Hatte ich Miss Dunroß wirklich weh getan oder sie beleidigt und hatte ihre Dienerin, die ihr treu und ergeben war, das entdeckt und hasste mich dafür? Bei dem finsteren Aussehen der Frau wäre es Torheit gewesen, noch fernere Fragen zu tun, so entließ ich sie.

Als ich allein war, las ich den Brief, der ohne Anrede mit folgenden Zeilen begann:

»Da meine Selbstbeherrschung schon auf harte Proben gestellt ist und meine Kraft nicht mehr ausreicht, so schreibe ich Ihnen, was ich sonst sagen würde. Nicht um meiner selbst willen, aber um meines Vaters willen, muss ich sparsam mit dem Rest umgehen, der mir geblieben ist.

Halte ich das nebeneinander, was Sie mir über die Geistererscheinung in dem Lusthause in Schottland erzählten und was ich vor einer Weile in Ihrem Zimmer durch Ihre Fragen von Ihnen erfuhr, so muss ich unfehlbar daraus schließen, dass Sie dieselbe Erscheinung zum zweiten Male hatten. Die Furcht, die ich empfand, die seltsamen Dinge, die ich sah oder zu sehen glaubte, geben in mir nur ein schwaches Abbild von dem, was in Ihnen vorgeht. Ich will nicht untersuchen, ob wir beide die Opfer einer Täuschung sind oder ob wir uns für die auserwählten Zeugen überirdischer Beziehungen halten sollen. Der Erfolg genügt mir, dass Sie wiederum ganz dem Einflusse von Frau van Brandt gewonnen sind. Wozu soll ich Ihnen von den Sorgen und Vorahnungen sprechen, die mich beunruhigen. Ich will Ihnen nur sagen, dass die einzige Hoffnung, die ich für Sie hege, in der schleunigsten Vereinigung mit dem Gegenstande, der Ihrer Treue und Hingebung würdiger ist, beruht. Meine Überzeugung, dass Sie Ihre erste Liebe wieder finden werden, steht fest und tröstet mich.

Nun ich Ihnen das geschrieben habe, verlasse ich den Gegenstand und werde nur noch in meinen eigenen Gedanken darauf zurückkommen.

Alle nötigen Vorbereitungen zu Ihrer Abreise sind auf morgen getroffen und es bleibt mir nichts zu tun, als Ihnen eine frohe, glückliche Heimkehr zu wünschen. Ich bitte, halten Sie mich nicht für undankbar für Alles, was ich Ihnen schulde; weil ich Ihnen meine Abschiedsworte hierdurch sende.

Die kleinen Dienste, die es mir vergönnt war, Ihnen zu leisten, haben meine gemessenen Lebenstage erhellt und Sie haben mir einen Schatz von glücklichen Erinnerungen zurückgelassen, die ich mit der Sorgfalt eines Geizhalses aufspeichern will, wenn Sie fort sind. Wenn Sie sich noch ein neues Anrecht auf meine dankbare Erinnerung erwerben wollen, so erbitte ich als letzte Gunst von Ihnen, dass Sie keinen Versuch machen, mich wiederzusehen. Ich habe nicht die Absicht, Ihnen persönlich »Lebewohl« zu sagen, es ist das schmerzlichste aller Worte und ich habe eben nur die Kraft es zu schreiben. Gott erhalte und behüte Sie - leben Sie wohl!

Noch eine Bitte. Vergessen Sie nicht, was Sie mir versprachen, als ich Ihnen meine törichte Ahnung über die grüne Flagge aussprach und wohin Sie auch gehen, behalten Sie das Andenken von Mary bei sich. Ich wünschte nicht, dass Sie mir diese Zeilen beantwortetem sehen Sie, wenn Sie morgen das Haus verlassen zu dem Mittelfenster über dem Torweg hinauf, das ist mir Antwort genug.«

Dass diese melancholischen Zeilen mir die Augen mit Tränen füllten, beweist nur, dass ich Gefühle habe, die zu rühren sind. Der Drang, der mich trieb, an Miss Dunroß zu schreiben, als ich meine Fassung einigermaßen wiedergewonnen hatte, war unwiderstehlich. Ich schrieb keinen langen Brief, sondern bat sie nur mit aller mir zu Gebote stehenden Überredungskunst, ihren Entschluss noch einmal zu erwägen. Die Person, die Miss Dunroß bediente, brachte mir die Antwort zurück, die in drei entschiedenen Worten bestand: »Es kann nicht sein.« Dieses Mal sagte die Frau, ehe sie mich verließ, fast streng: »Wenn Sie Rücksicht für meine Herrin haben wollen, veranlassen Sie sie nicht Ihnen wieder zu schreiben.« Sie warf mir einen letzten drohenden Blick zu und verließ das Zimmer.

Dass die Worte der treuen Dienerin meinen Wunsch nur noch steigerten, Miss Dunroß noch einmal, vielleicht überhaupt zum letzten Male, ehe ich abreiste, zu sehen, brauche ich nicht zu sagen. Vielleicht gelang es mir durch die Vermittlung ihres Vaters, ohne ihr Wissen, in ihre Nähe zu kommen, das war meine einzige Hoffnung.

Ich beauftragte Peter bei seinem Herrn anzufragen, ob ich ihm noch vor Abend meine Aufwartung machen könnte, aber mein Bote brachte mir eine Antwort zurück, die mich von Neuem entmutigte. Mr. Dunroß bat mich um Entschuldigung, wenn er den Empfang meines Besuches auf morgen verschöbe, also auf den Tag meiner Abreise. Sollte ich die Botschaft so auffassen, dass er mich nur kurz vor meiner Abreise zusehen wünschte, um gleich Abschied von mir zu nehmen? Ich fragte Peter, ob sein Herr diesen Abend besonders beschäftigt wäre, worauf er mir keinen Bescheid geben konnte. »Der Meister der Bücher« war nicht wie gewöhnlich, in seinem Zimmer, sondern saß, als er die Bestellung an mich machte, neben dem Sofa seiner Tochter.

Nach dieser Antwort verließ mich der Mann bis zum nächsten Morgen. Meinem ärgsten Feinde wünsche ich keine trüberen Stunden in seinem Leben als die, die ich während der letzten Nacht unter Mr. Dunroß's Dach verlebte.

Nachdem ich bis zur Erschöpfung in dem Zimmer auf- und abgegangen war, wollte ich versuchen meine trüben Gedanken durch Lesen zu verscheuchen, aber das eine Licht, das ich hatte, erleuchtete das Zimmer nicht ausreichend. Ich trat an den Kaminsims, um ein zweites Licht, das dort stand, anzustecken und fand den angefangenen Brief an meine Mutter, den ich dort aus der Hand gelegt hatte, als Miss Dunroß's Dienerin zum ersten Male zu mir eintrat. Als das Licht brannte, nahm ich den Brief fort, um ihn meinen anderen Papieren beizufügen und entdeckte, als mein Blick, während meine Gedanken mit Miss Dunroß beschäftigt waren, zufällig darauf fiel, dass eine Veränderung damit vorgegangen war.

Die Handschrift der Erscheinung war verschwunden.

Unter dem von Miss Dunroß geschriebenen Briefe befand sich nichts als das leere Papier.

Ich griff zuerst nach meiner Uhr.

Damals, als die Geistererscheinung die Worte in mein Skizzenbuch geschrieben hatte, war die Schrift nach drei Stunden verlöscht, soviel ich es berechnen konnte, war dieses Mal die Schrift nach Verlauf einer Stunde unsichtbar geworden.

Ich kann nur vermuten, dass Frau van Brandt wiederum der Gegenstand einer Verzückung oder eines Traumes gewesen war, als sie mir zum zweiten Male erschien; das musste ich nach der Unterredung, die ich mit ihr am St. Antoniusbrunnen hatte und aus Entdeckungen, die ich in einer viel späteren Lebensepoche machte, schließen. In dem träumenden Zustande, in dem ihr Geist den meinen erkannte, hatte sie mich, wie damals, rückhaltlos um Hilfe angerufen und mir rückhaltlos vertraut. Als sie nach einer Stunde zur Besinnung gekommen war, hatte sie sich wieder der vertraulichen Weise geschämt, in der sie während ihres Traumes mit mir verkehrt, und somit durch ihren Willen als Wachende den Einfluss ihres Traumwillens vernichtet. Deshalb war die Schrift auch eine Stunde nachdem die Feder sie ausgeführt hatte oder auszuführen schien, vernichtet.

Das ist die einzige Erklärung, die ich geben kann. Um die Zeit als das Ereignis sich zutrug, besaß ich durchaus nicht Frau van Brandts volles Vertrauen und konnte darum keinerlei Lösung finden. Ich konnte nur den Brief mit dem unsicheren Gefühl fortlegen, ob meine Sinne mich getäuscht hatten oder nicht. Tief versunken in die verzweifelten Gedanken, die Miss Dunroßs Brief in mir erzeugt hatte, war ich nicht in einer Stimmung, in der ich meinen Verstand hätte anstrengen mögen, um den Schlüssel zu dem Verschwinden der Handschrift zu suchen. Meine Nerven waren gereizt. Ich haderte mit mir und Anderen. »Der beunruhigende Einfluss der Frauen scheint, wohin ich auch gehe, der einzige Einfluss zu sein, den ich verdammt bin zu empfinden,« dachte ich ungeduldig. Während ich rückwärts und vorwärts mein Zimmer durchschritt, denn ein Buch konnte meine Gedanken unmöglich fesseln, glaubte ich mir ganz klar zu sein, aus welchen Gründen junge Männer meines Alters zu dem Entschlusse kommen, in ein Kloster zu gehen. Ich zog die Vorhänge zurück und sah hinaus, mein Blick entdeckte aber keinerlei Aussicht, als die schwarze Masse der Finsternis, die den See verhüllte. Ich sah nichts, ich mochte nichts denken, ich konnte nichts tun, es blieb mir nichts übrig als den Versuch zu machen, ob ich schlafen konnte. Meine medizinische Wissenschaft sagte nur klar genug, dass natürlicher Schlaf für diese Nacht, bei der Verfassung, in der sich meine Nerven befanden, zu den unerreichbaren Üppigkeiten des Lebens gehörte. Da sich aber der Medizinkasten, den Mr. Dunroß mir zur Verfügung gestellt hatte, noch in meinem Zimmer befand, mischte ich mir einen kräftigen Schlaftrunk und flüchtete mich vor allen Sorgen in mein Bett.

Es ist eine Eigentümlichkeit aller Schlaf bewirkenden Mittel, dass sie nicht bloß auf verschiedene Konstitutionen verschieden wirken, sondern, dass man sich auch nicht darauf verlassen kann, dass sie auf dieselbe Person immer gleichmäßig wirken. Ich hatte die Lichte ausgelöscht ehe ich mich ins Bett legte. Unter gewöhnlichen Umständen würde der Trank, den ich genommen hatte, mich, nachdem ich eine halbe Stunde ruhig im Finstern gelegen hätte, eingeschläfert haben, in dem Zustande aber in dem sich meine Nerven eben befanden, betrübte es mich und tat weiter nichts.

Stunde auf Stunde lag ich ganz still mit geschlossenen Augen in dem halb schlafenden, halb wachen Zustande, der so wunderbar charakteristisch bei Hunden während ihrer Ruhezeit ist. Im Verlaufe der Nacht bedrängte eine solche Schwere meine Augenlider, dass es mir unmöglich war sie zu öffnen, alle meine Muskeln wurden von einer so gewaltigen Schlaffheit befallen, dass ich auf meinem Kopfkissen regungslos wie ein Leichnam lag. Meine Gedanken vermochten trotz des schläfrigen Zustandes sich behaglich in langen Reihen angenehmer Bilder zu ergehen, mein Gehörsinn war so scharf, dass ich den leisesten Laut vernahm, den der Nachtwind im Vorüberziehen in den Büschen am See hervorbrachte und in meinem Zimmer selbst vernahm ich noch deutlicher das geisterhafte Nachtgeräusch in den Möbeln und das plötzliche Zusammensinken der Kohlen im Kamin, das Leuten, die schlecht schlafen so wohl bekannt ist und übermäßig angespannte Nerven so sehr erregt. Vom wissenschaftlichen Standpunkte aus ist die Bezeichnung unrichtig, wenn ich nämlich sage, dass meine eine Hälfte wachte, während die andere schlief, und doch schildert sie meinen Zustand von dieser Nacht am genausten.

Ich kann nicht sagen wie viele Stunden ich noch gelegen halte, als mein überreizter Gehörsinn ein neues Geräusch im Zimmer wahrnahm, ich weiß nur, dass ich plötzlich aufmerksam lauschte, die Augen fest geschlossen. Der Ton, der mich aufregte, war unendlich leise, wie von etwas herrührend, das weich und sanft über die Oberfläche des Teppichs hinglitt und ihn eben nur so viel berührte, dass es vernehmbar war. Allmälig näherte sich das Geräusch meinem Bette und schwieg dann, als ich es dicht bei mir glaubte.

Ich blieb regungslos mit geschlossenen Augen liegen, träumerisch den nächsten Laut erwartend, der mein Ohr treffen würde, in meinem schläfrigen Zustande auch zufrieden, wenn Alles still blieb. Meine Gedanken, wenn man es eben Gedanken nennen konnte, begannen wieder ihrem früheren Lauf zu folgen, als ich plötzlich ein leises Atmen gerade über mir vernahm. Gleich darauf wurde meine Stirn berührt - leise, sanft, bebend, wie die Berührung von Lippen, die mich küssten. Dann schwieg Alles, bis ein leiser Seufzer die Luft durchzitterte. Wiederum hörte ich den sanften Ton eines Gegenstandes, der seinen Weg über den Teppich nahm, dieses Mal aber sich vom Bett entfernte und zwar mit solcher Schnelligkeit, dass er im nächsten Augenblick in der Stille der Nacht verschwand.

Noch immer von meinem Schlaftrunk betäubt, konnte ich mich nur in lustiger Weise über das Geschehene verwundern, nichts weiter. Hatten mich wirklich menschliche Lippen berührt? Hörte ich wirklich einen Seufzer oder war alles Täuschung, die ein Traum erzeugt? Die Zeit verstrich ohne, dass ich mir darüber klar wurde oder auch nur bestrebt war, mir es klar zu machen. Von Minute zu Minute gelang es mehr dem beruhigenden Einflusse des Trankes Herrschaft über mein Gehirn zu gewinnen, eine Wolke zog sich leise über die letzten Eindrücke, deren ich mir bewusst war. Allmälig lösten sich die Bande, die mich an das bewusste Leben fesselten und ich versank friedlich in einen ruhigen Schlaf.

Kurz nach Sonnenaufgang erwachte ich. Meine erste deutliche Erinnerung, nachdem mein Bewusstsein zurückgekehrt war, war die Erinnerung an den sanften Atem, den ich über mir gefühlt hatte - dann fielen mir die Berührung meiner Stirn und der Seufzer, den ich vernommen hatte, ein. War es möglich, dass jemand in der Nacht mein Zimmer betreten hatte. Warum nicht? Ich hatte die Tür nicht verschlossen, wie ich es überhaupt nicht getan hatte, seit ich unter Mr. Dunroß's Dach weilte.

Nachdem ich die Sache noch etwas durchgedacht hatte, stand ich auf, um mein Zimmer zu untersuchen.

Keinerlei Entdeckung entschädigte mich für mein Suchen, bis ich zur Türe gelangte. Diese war, wie ich mich ehe ich zu Bett ging sicherlich überzeugt hatte, fest zu gemacht, wenn auch nicht verschlossen, jetzt stand sie offen. War sie aufgesprungen, weil ich sie nicht gut geschlossen hatte oder vergaß jemand, der mein Zimmer betreten hatte und wieder hinaus gegangen war, sie zu schließen?

Zufällig sah ich zur Erde, während ich diese Möglichkeiten erwog, und bemerkte einen kleinen, schwarzen Gegenstand auf dem Teppich, der gerade unter dem Schlüssel an der innern Seite der Tür lag. Ich hob ihn auf und sah, dass es ein zerrissenes Stückchen schwarzer Spitzen war.

So wie ich das Stückchen Spitze sah, erinnerte ich mich des langen, schwarzen Schleiers, den Miss Dunroß gewohnt war, weit über die Taille herabhängend, zu tragen. War es also ihr Kleid, das ich leise über den Teppich hingleiten hörte? Ihr Kuss, der meine Stirn berührte? Ihr Seufzer, der durch die Stille der Nacht gedrungen war? Hatte dies edle, schwergeprüfte Wesen in der Todesruhe der Nacht von mir Abschied genommen, indem sie den trügerischen Erscheinungen, die mir den Anschein eines Schlafenden gaben, die Bewahrung ihres Geheimnisses anvertraut hatte? Ich sah die schwarze Spitze wieder an. Wahrscheinlich war ihr Schleier durch den hervorstehenden Schlüssel erfasst und zerrissen worden, als sie sich auf ihrem schnellen Rückzuge aus meinem Zimmer befand. Ernst und feierlich legte ich das Stück Spitze zu den teuren Andenken, die ich aus meiner Heimat mitgebracht hatte und gelobte, dass sie bis an ihr Lebensende ruhig in dem Glauben bleiben sollte, dass ihr Geheimnis in ihre eigene Brust verschlossen war. So brennend ich auch wünschte noch einmal zum Abschied ihre Hand zu drücken, so beschloss ich nun keinen Versuch mehr zu machen, um sie zu sehen. Wer weiß, ob ich so ganz Herr meiner Gefühle war, dass nicht irgend etwas in meinem Gesicht oder Benehmen mich ihrer schnellen und feinen Auffassungsgabe verriet. Nachdem was ich jetzt wusste, konnte ich ihr kein größeres Opfer bringen, als ihren Wünschen gehorsam zu sein und ich brachte es.

Nach einer Stunde benachrichtigte mich Peter, dass die Ponys vor der Tür ständen, und dass sein Herr mich auf dem äußeren Flur erwarte. Ich bemerkte, dass Mr. Dunroß mir, ohne mich anzusehen, die Hand reichte. Er erhob seine verblichenen, blauen Augen während der wenigen Minuten, die unser Gespräch dauerte, nicht einmal vom Boden. »Gott geleite Sie auf Ihrer Reise und führe Sie glücklich in Ihre Heimat«, sagte er. »Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie nicht einige Meilen weit auf Ihrer Reise begleite, ich habe zwingende Gründe, die mich veranlassen bei meiner Tochter zu Hause zu bleiben.«

Er war auserlesen, fast peinlich höflich, aber ein gewisses Etwas in seinem Wesen, das ich nie zuvor bemerkt hatte, machte mir seine Absicht, mich möglichst fern zu halten, fühlbar. Da ich die innige Sympathie und das volle Vertrauen kannte, das zwischen Vater und Tochter bestand, überkam mich ein Zweifel, ob das Geheimnis der verflossenen Nacht für Mr. Dunroß wohl auch ein völliges Geheimnis sein mochte. Seine nächsten Worte beseitigten meinen Zweifel und enthüllten mir die Wahrheit.

Als ich ihm für seine wohlgemeinten Wünsche dankte, versuchte ich ihm und durch ihn auch Miss Dunroß meine aufrichtig empfundene Dankbarkeit für alle Freundlichkeiten, die ich unter seinem Dache erfahren hatte, auszusprechen. Er unterbrach mich höflich, aber entschieden, indem er in jener ziemlich gewählten Weise sprach, die mir schon bei unserer ersten Unterredung, als so charakteristisch aufgefallen war.

»Es steht ganz in Ihrer Macht, mein Herr," sagte er, »jede Freundlichkeit, die Ihnen nach Ihrer Ansicht in meinem Hause zu Teil geworden ist, zu erwidern. Wenn Sie gefälligst Ihren hiesigen Aufenthalt als einen unwichtigen Lebensabschnitt für sich betrachten wollen, welcher mit Ihrer Abreise endet - unwiderruflich endet - so vergelten Sie mehr als reichlich, Alles, was Sie an Gastfreundschaft von mir genossen haben. Ein Pflichtgefühl veranlasst mich Ihnen das zu sagen und ich lasse Ihnen dabei als Ehrenmann volle Gerechtigkeit widerfahren. Ihrerseits hoffe ich, dass Sie meine Gründe nicht falsch beurteilen werden, wenn ich mich auch einer näheren Erklärung enthalte.«

Eine leichte Röte überzog seine bleichen Wangen, während er mit stolzer Zurückhaltung meine Antwort erwartete Ich ehrte ihr Geheimnis und ehrte es ihrem Vater gegenüber vollends.

»Nach Allem, was ich Ihnen zu danken habe, mein Herr, sind Ihre Wünsche mir Befehle,« antwortete ich, verneigte mich mit besonderer Ehrerbietung und verließ schweigend das Haus.

Wie sie es gewünscht hatte, sah ich, als ich meinen Pony bestieg, nach dem Mittelfenster hinauf. Es war geöffnet, aber die zugezogenen Vorhänge versperrten dem Licht eifersüchtig den Eingang in das Innere des Zimmers. Als sich der Pony in Bewegung setzte und sein Hufschlag auf dem steinigen Boden der Insel erscholl, wurde der Vorhang ein wenig zurückgezogen. In dem Zwischenraum der dunklen Verhüllungen erschien eine zarte, weiße Hand, winkte mir zitternd ein letztes Lebewohl zu und verschwand vor meinen Blicken. Der Vorhang schloss sich wieder vor ihrem düsteren, einsamen Leben. Der melancholische Wind sang über den leicht bewegten Wassern des Sees leise sein eintöniges Klagelied. Die Ponys bestiegen die Fähre, die den Transport von Tieren nach und von der Insel vermittelte. Mit langsamen, regelmäßigen Schlägen ruderten uns die Männer zum Festlande hinüber und verabschiedeten sich dort. Ich schaute nach dem fernen Hause zurück und gedachte ihrer, die im dunklen Zimmer geduldig des Todes harrte. Heiße Tränen verschleierten mir den Blick so, dass der Führer meinen Zügel ergriff, indem er sagte: »Ihnen ist nicht wohl, mein Herr lassen Sie mich Ihren Pony führen.«

Wir waren bereits von dem höher gelegenen Teile der Insel in den niederen gelangt, als ich mein Interesse wieder der Landschaft zuwendete. Haus und See waren meinen Blicken auf Nimmerwiedersehen entschwunden.

Vierundzwanzigstes Kapitel

Im Schatten von St. Paul

Nach Verlauf von zehn Tagen befand ich mich wieder daheim in den Armen meiner Mutter.

Da ihre Gesundheit sehr angegriffen war, hatte ich sie, um dieser Seereise willen sehr ungern verlassen. Mit großer Betrübnis entdeckte ich bei meiner Rückkehr eine Verschlimmerung ihres Zustandes, von der sie in ihren Briefen nichts erwähnt hatte. Als ich unsern ärztlichen Freund, Mr. Mac Glue, darüber zu Rate zog, erfuhr ich, dass auch er den ungünstigen Gesundheitszustand meiner Mutter kannte, ihn aber einer leicht zu hebenden Ursache, nämlich dem schottischen Klima, zuschrieb. Meine Mutter hatte ihre Kindheit und frühere Jugend an der Südküste Englands verlebt. Die Übersiedlung in das rauhe, scharfe Klima des Nordens, war für eine Frau in ihrem Alter immerhin bedenklich. Nach Mr. Mac Glues Ansicht konnten wir nichts besseres tun, als noch vor dem Herbst nach dem Süden zurückzukehren und uns so einzurichten, dass wir den bevorstehenden Winter in Penzance oder Torquay verlebten.

Mr. Mac Glues Vorschlag stieß meinerseits auf keinerlei Widerspruch, da ich so wie so entschlossen war am Ende des Monats meiner geheimnisvollen Berufung nach London Folge zu leisten. Für mich hatte die Sache den großen Vorteil, dass, wenn meine Mutter dem Vorschlage des Arztes beistimmte, damit einer zweiten Trennung von ihr vorgebeugt war. Ich legte ihr noch am selben Tage die Frage vor. Sie war zu meiner großen Freude nicht nur erbötig die Reise nach dem Süden zu unternehmen, sondern sogar begierig es zu tun. Die Jahreszeit war, selbst für Schottland, ungewöhnlich feucht gewesen und meine Mutter gestand endlich mit Zögern ein, dass sie sich nach der milden Luft und dem heitren Sonnenschein der Küste von Devonshire sehne.

Wir beschlossen in unserem eigenen, behaglichen Wagen mit Postpferden zu reisen und nachts in den Gasthäusern an der Straße zu rasten. Vor der Zeit der Eisenbahnen war es für einen Kranken kein geringes Unternehmen von Portshire nach London zu reisen, selbst nicht in einem leichten Wagen mit vier Pferden. Ich fand, als ich die Zeit berechnet, die wir für unsere Reise gebrauchten, dass es nur eben nicht möglich war, London am letzten Tage des Monats zu erreichen. Welche geheime Unruhe mein Gemüt unter diesen Umständen belastete, will ich nicht aussprechen. Zu meinem Glück hielt wenigstens die Gesundheit meiner Mutter die Reise aus. Die behagliche und, wie wir damals fanden, schnelle Weise zu reisen, wirkte belebend auf ihre Nerven. Sie schlief nachts in den Herbergen auf dem Wege besser, als sie zu Hause geschlafen hatte. Am letzten Tage des Monats nachmittags um drei Uhr langten wir in London an, nachdem wir zwei Mal einen Aufenthalt auf der Reise gehabt hatten. War es noch Zeit für mich, als ich meinen Bestimmungsort erreichte?

Nach meiner Auffassung der Worte, die mir die Erscheinung aufgeschrieben hatte, standen noch einige Stunden zu meiner Verfügung. Ich deutete mir den Satz: am Ende des Monats, als wäre die letzte Stunde des letzten Tages im Monate damit gemeint. Wenn ich diesen Abend um zehn Uhr meinen Platz »im Schatten von St. Paul« einnahm, so befand ich mich ja noch zwei Stunden lang an dem bestimmten Ort, ehe die Uhr mit ihrem letzten Schlage den Anfang des neuen Monats verkündete.

Um halb neun Uhr verließ ich meine Mutter, damit sie sich nach der langen Reise zur Ruhe begeben konnte und begab mich heimlich auf den Weg. Vor zehn Uhr war ich zur Stelle. Die Nacht war klar und schön und der riesige Schatten der Kirche bezeichnete deutlich die Grenzen in denen ich die kommenden Ereignisse erwarten sollte.

Die große Glocke von St. Paul schlug zehn und Alles blieb still.

Die nächste Stunde verging sehr langsam. Ich schritt auf und ab, bald in meine eigenen Gedanken vertieft, bald beobachtend, wie die Zahl der Fußgänger mit den vorrückenden Nachtstunden abnahm. Die City, wie man sie nennt, ist am Tage der bevölkertste Teil von London. Nachts aber, wenn sie aufhört der Mittelpunkt des Geschäftslebens zu sein, verschwindet ihre tätige Bevölkerung und die leeren Straßen gewinnen das Ansehn, als bildeten sie eines der entlegensten Viertel der Hauptstadt. Als es halb Elf, dann drei Viertel und endlich die volle Stunde schlug wurde es stiller und stiller ringsumher. Die Fußgänger kamen nur noch zu Zweien und Dreien vorüber und die öffentlichen Lokale, die ich beobachten konnte, wurden schon für die Nacht geschlossen.

Ich sah nach der Uhr, sie zeigte auf zehn Minuten nach Elf. Konnte ich hoffen Frau van Brandt um diese Zeit allein auf der Straße zu begegnen?

Je mehr ich darüber nachdachte, je unwahrscheinlicher wurde mir diese Aussicht. Vernünftiger war es auf die Möglichkeit eines Begegnens in Gesellschaft von Freunden zu hoffen, vielleicht begleitete sie van Brandt selbst. Ich erwog in wie weit es mir gelingen würde, diesem Menschen gegenüber zum zweiten Male meine Selbstbeherrschung zu bewahren.

Während meine Gedanken diese Richtung verfolgten, wurde meine Aufmerksamkeit durch ein dünnes, trübes Stimmchen, das eine seltsame, unscheinbare Frage an mich richtete, wieder auf meine Umgebung gelenkt.

»Mein Herr, wissen Sie vielleicht, wo ich um diese Nachtzeit eine Apotheke offen finde?«

Ich sah mich um und erblickte einen kleinen, ärmlich gekleideten Knaben mit einem Korbe am Arm und einem Zettel in der Hand.

»Die Apotheken sind alle geschlossen,« sagte ich, »wenn Du Medizin haben willst, musst Du die Nachtglocke ziehen.«

»Das getraue ich mich nicht zu tun, lieber Herr,« antwortete der kleine Fremde. »Ich bin noch so klein, ich fürchte sie schlagen mich, wenn ich sie, ohne dass jemand für mich spricht, aus ihren Betten heraus klingle.«

Das kleine Wesen sah mir beim Schein der Straßenlaternen wohl danach aus, als hätte es manche Erfahrung über Schläge für geringfügige Anlässe gemacht. Ich vermochte dem Drange ihm zu helfen unmöglich zu widerstehen.

»Ist jemand ernstlich erkrankt?« fragte ich.

»Ich weiß nicht, lieber Herr.«

»Hast Du ein Rezept vom Arzte?«

Er zeigte mir seinen Zettel.

»Dieses hier habe ich,« sagte er.

Ich nahm ihm das Papier ab und besah es.

Es war das gewöhnliche Rezept zu einer stärkenden Medizin. Die Unterschrift des Arztes zeigte einen Namen, der mir vollständig unbekannt war. Darunter stand der Name des Kranken für den die Medizin verschrieben war. Ich erstaunte, als ich ihn las. Der Name war: »Mrs. Brand«.

Sofort bemächtigte sich meiner der Gedanke, dass wenigstens dem Klange nach, dies die englische Übertragung des Namens van Brandt sein sollte.

»Kennst Du die Dame, die Dich nach der Medizin schickte?« fragte ich.

»Oja, lieber Herr! Sie wohnt bei meiner Mutter und schuldet ihr die Miete. Ich habe Alles getan, was sie mir aufgetragen hat, nur die Medizin habe ich nicht geholt. Ich habe ihren Ring verpfändet und habe Brot und Butter und Eier gekauft, habe auch auf das Geld gut Acht gegeben. Meine Mutter hofft aus dem Gelde die Miete zu erlangen. Ich kann nichts dafür, lieber Herr, dass ich mich verlaufen habe. Ich bin erst zehn Jahre alt - und alle Apotheken sind geschlossen!«

Hier übermannte meinen kleinen Freund das Bewusstsein seines unverdienten Missgeschicks und er begann zu weinen. »Weine nicht, ich will dir helfen, kleiner Mann,« sagte ich. »Erst erzähle mir aber noch mehr von der Dame. Ist sie allein?«

»Sie hat Ihr kleines Töchterchen bei sich, lieber Herr.«

Mein Herz schlug schneller. Des Knaben Antwort erinnerte mich an jenes kleines Mädchen, das meine Mutter einst gesehen.

»Ist der Gemahl der Dame bei ihr?« fragte ich weiter.

»Jetzt nicht, lieber Herr. Er war bei ihr, ist aber fortgegangen und nicht wieder gekommen.«

Ich tat nur noch eine Frage zum Schluss.

»Ist der Mann ein Engländer?«

»Meine Mutter sagt, er sei ein Ausländer,« antwortete der Knabe. Ich wendete mich ab um meine Aufregung zu verbergen. Selbst dem Kinde hätte sie auffallen müssen!

War ich in diesem Augenblicke wiederum auf ihrer Spur? War sie es, die unter dem Namen einer Mrs. Brandt, arm, so arm, dass sie ihren Ring verpfänden musste, mit ihrer kleinen Tochter hier lebte, wiederum von dem Manne, der ein Ausländer war, verlassen. Sollte dieses Kind, das sich verlaufen hatte, unbewusst mein Wegweiser zu der Frau sein, die ich liebte, und die ich in tiefster Not ohne Teilnahme und Hilfe finden sollte? Je mehr ich darüber nachdachte, je mehr befestigte sich der Gedanke in mir, dass ich mit dem Knaben zu dem Hause zurückgehen sollte, wo sich die Mieterin seiner Mutter befand. Die Uhr schlug ein Viertel nach Eöf. Wenn meine Vermutungen mich irre leiteten, so hatte ich ja immer noch drei Viertelstunden übrig, ehe der Monat zu Ende ging.

»Wo wohnst du?« fragte ich.

Der Knabe nannte eine Straße, deren Namen ich zum ersten Male hörte. Als ich ihn nach einer näheren Angabe fragte, war Alles, was er mir sagen konnte, dass er noch am Fluss wohne, aber er war zu verwirrt und erschrocken, um mir die Richtung bezeichnen zu können.

Während wir bemüht waren uns zu verständigen, fuhr nicht fern von uns eine Droschke langsam vorbei. Ich rief den Kutscher heran und nannte ihm den Namen der Straße. Er kannte sie ganz genau. Die Straße lag ungefähr eine Meile weit in östlicher Richtung. Er war bereit mich hin und, wenn ich es wünschte auch zurück nach der St. Pauls Kathedrale zu fahren und brauchte dazu nur zwanzig Minuten. Ich öffnete den Wagenschlag und hieß meinen kleinen Freund einsteigen. Der Knabe zögerte.

»Um Vergebung, lieber Herr, fahren wir nach der Apotheke?« fragte er.

»Nein. Erst wirst Du mit mir nach Hause fahren.«

Der Knabe fing wieder an zu weinen.

»Die Mutter schlägt mich, wenn ich ohne Medizin nach Hause komme.«

»Ich werde dafür sorgen, dass Deine Mutter Dich nicht schlägt. Ich bin selbst ein Arzt und wünsche die Dame zu sehen, ehe wir ihr die Medizin holen.«

Die Mitteilung über meinen Beruf schien dem Knaben ein gewisses Vertrauen einzuflößen, dennoch zeigte er keine Lust mich nach Hause zu seiner Mutter zu begleiten.

»Werden Sie sich von der Dame bezahlen lassen?« fragte er. »Ich habe für den Ring nicht viel Geld bekommen. Die Mutter würde das nicht gerne von der Miete abziehen lassen.«

»Die Dame braucht mir keinen Pfennig zu bezahlen.« erwiderte ich. Sofort bestieg der Knabe die Droschke. »Wenn die Mutter ihr Geld bekommt, so ist mir Alles recht.«

Armer Knabe! Dieses Kindes Erziehung für die schmutzigsten Sorgen des Lebens, war mit zehn Jahren schon beendet!

Wir fuhren ab.

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Ich folge meiner Berufung

Die meisten Menschen in meiner Lage würden durch das ärmliche Aussehen der Straße, in die wir einbogen sowohl, als durch den unsauberen, verfallenen Zustand des Hauses vor dem wir anhielten, darauf vorbereitet worden sein, dass ihrer, wenn sie die Wohnung darin betreten, eine furchtbare Entdeckung harren musste. Mir hingegen drängte sich beim ersten Anblick dieses Ortes die Befürchtung auf, dass die Antworten des Knaben mich irre geleitet hatten denn es war mir geradezu unmöglich Frau van Brandt, wie sie mir vorschwebte, mit dem Schmutze und der Armut in Verbindung zu bringen, die ich vor mir sah. Ich klingelte mit der festen Überzeugung, dass meine Fragen zu keinem befriedigenden Resultate führen könnten.

Meines kleinen Begleiters Furcht vor Strafe kehrte in aller Kraft zurück, als ich die Hand an die Klingel legte. Er verbarg sich hinter mir und als ich ihn fragte, was er beginne, antwortete er vertrauensvoll: »Bitte, lieber Herr, bleiben Sie zwischen uns stehen, wenn die Mutter die Tür öffnet.«

Eine große, furchtbar aussehende Frau, öffnete uns. Es bedurfte keiner Vorstellung, da sie einen Rohrstock in der Hand hielt, erkannte ich sie sofort als die Mutter meines kleinen Freundes.

»Ich glaubte es sei mein Junge, dieser Vagabunde,« erklärte sie, wohl um die Begrüßung mit dem Rohrstock zu entschuldigen »der seit zwei Stunden fort ist, um etwas einzuholen. Was ist Ihnen gefällig, mein Herr?«

Ehe ich über meine eigene Angelegenheit sprach, bat ich für den unglücklichen Knaben.

»Dieses Mal bitte ich für Ihren Sohn um Verzeihung,« sagte ich, »ich fand ihn verirrt auf der Straße und bringe ihn nun nach Hause.«

Die Frau wurde buchstäblich stumm vor Erstaunen, als sie hörte, was ich getan hatte und ihren Sohn hinter mir entdeckte. Der Ausdruck ihrer Augen, die bei dieser Gelegenheit beredter waren, als ihre Zunge, enthüllte mir vollständig den Eindruck, den ich auf sie gemacht hatte. - »Sie bringen meinen verirrten Jungen in einer Droschke nach Hause? Mein Herr Unbekannter Sie sind toll.«

»Ich höre, dass eine Dame namens Brandt in Ihrem Hause wohnt,« fuhr ich fort. »Ich setze wohl irrtümlicherweise voraus, dass sie eine Dame aus meiner Bekanntschaft ist, die denselben Namen trägt, aber ich würde mich doch gerne versichern, ob ich mich täusche oder nicht. Ist es zu spät um Ihre Mieterin noch heute Abend zu stören?«

Die Frau erlangte die Sprache wieder.

»Meine Mieterin ist noch auf, um den kleinen Narren hier, der sich noch nicht einmal in London zurechtfinden kann, zu erwarten.« Sie gab ihren Worten Nachdruck indem sie ihre braune Faust gegen ihren Sohn erhob, der sofort in sein Versteck hinter meinen Rockschößen zurückkehrte. »Hast Du das Geld bekommen?« fragte das entsetzliche Weib, indem sie ihren verborgenen Sprössling, über meine Schulter weg, anschrie, »oder hast Du das auch, wie Dich selbst verloren, dummer Junge?«

Der Knabe kam wieder zum Vorschein und legte das Geld in die schwielige Hand seiner Mutter. Sie zählte es, während ihre Augen gierig forschten, ob auch jede Münze von gutem, echten Silber war - dann wurde sie ruhiger. »Geh hinauf!« brummte sie zu ihrem Sohne gewendet, und lass die Dame nicht länger warten.« Dann setzte sie, indem sie sich nach mir umwendete hinzu: »Sie und ihr Kind sind halb verhungert. Die Esswaren, die mein Sohn im Korbe für sie geholt hat, sind das Erste, was die Mutter heute genießen wird. Sie hat jetzt Alles versetzt und ich weiß nicht, was sie anfangen wird, wenn Sie ihr nicht helfen. Der Arzt tut was er kann, aber er sagte mir heute, dass seine Besuche unnütz wären, wenn sie nicht besser genährt werden könnte. Folgen Sie dem Knaben und sehen Sie selbst, ob sie die Dame ist, die Sie kennen.

Ich hörte der Frau noch immer in der Überzeugung zu, dass mich nur eine Täuschung in dieses Haus geführt hatte. Wie war es möglich, dass mein Herz den reizenden Gegenstand seiner Verehrung mit der Schilderung von Elend und Verfall in Verbindung bringen konnte, die ich soeben vernahm. Ich hielt den Knaben auf dem ersten Treppenabsatz an und sagte ihm, dass er mich einfach als einen Arzt anmelden möchte, der von Mrs. Brandts Krankheit gehört habe und sie besuchen wolle.

Wir stiegen eine zweite und dritte Treppe hinauf. Im obersten Stockwerk des Hauses angelangt, klopfte der Knabe an die auf dem Flur zunächst belegene Tür. Wir hörten keine Erwiderung. Er öffnete ohne Umstände die Tür und trat ein, während ich von draußen belauschte, was gesprochen wurde. Die Tür blieb offen. Ich beschloss in rücksichtsvollster Weise meine Hilfe anzubieten, wenn die Stimme der Mrs. Brandt mir, wie ich mit Sicherheit voraussetzte, fremd sein sollte und dann schleunig aus meinen Posten »im Schatten von St. Paul« zurückzukehren.

Zuerst sprach eine Kinderstimme zu dem Knaben.

»Jemmy, ich bin so hungrig, so sehr hungrig!«

»Schon gut, Fräuleinchen, ich bringe Ihnen etwas zu essen.«

»Schnell, schnell, Jemmy!«

Es entstand eine kleine Pause und dann hörte ich die Stimme des Knaben wieder.

»Da ist ein Stückchen Butterbrot, Fräuleinchen, auf das Ei müssen Sie warten bis ich es gekocht habe. Essen Sie nicht zu schnell, sonst müssen Sie ja ersticken. Was fehlt Ihrer Mama? Schlafen Sie Madame?« Ich konnte kaum die Antwort vernehmen, so schwach war die Stimme und sie sagte auch nur das eine Wort »Nein!«

Der Knabe sprach wieder:

»Freuen Sie sich Mrs. draußen wartet ein Arzt, der Sie besuchen will.«

Ich konnte dieses Mal keine Antwort vernehmen. Der Knabe erschien in der Tür. »Bitte treten Sie näher, lieber Herr, ich weiß nicht, was ich aus ihr machen soll.«

Da es eine sehr falsche Rücksicht gewesen wäre, wenn ich mich geweigert hätte in das Zimmer zu kommen, trat ich ein.

Am entgegengesetzten Ende des erbärmlich ausgestatteten Schlafzimmers, in einen zerlumpten Armstuhl gelehnt, erblickte ich eines von den Tausend verlassenen Geschöpfen, die in der großen Stadt diese Nacht elend dem Hungertode entgegen gingen. Ein weißes Taschentuch war über ihr Gesicht gedeckt, wohl um es vor der hellen Flamme des nahen Feuers zu schützen. Als ich das Zimmer betrat und sie meine Schritte vernahm, lüftete sie das Tuch. Ich sah sie an und erkannte in dem farblosen, verfallenen, todesbleichen Gesicht - das Antlitz der Frau, die ich liebte!

Für einen Augenblick machte der Schreck über diese Entdeckung mich ganz ohnmächtig und schwindlig, im nächsten Augenblick kniete ich an ihrem Stuhl. Mein Arm hielt sie umschlungen - ihr Kopf ruhte an meiner Schulter. Sie vermochte nicht mehr zu sprechen, nicht aufzuschreien, sie erbebte leise, das war Alles. Ich schwieg. Kein Wort kam über meine Lippen, keine Träne linderte meine Qualen. Ich drückte sie an mich und - sie ließ es geschehen. Das Kind, das sein Butterbrot an einem kleinen, runden Tischchen verzehrte, sah uns erstaunt an. Träge schlichen die Minuten vorüber, während das Summen einer Fliege das einzige Geräusch im Zimmer war.

Es war weniger das volle Bewusstsein der entsetzlichen Lage in der ich mich befand, als das Pflichtgefühl des Berufes, in dem ich erzogen war, das mich endlich aufschreckte. Sie war dem Hungertode nahe, das sah ich an der todesbleichen Farbe ihrer Haut, das fühlte ich an den matten, unruhigen Schlägen ihres Pulses. Ich rief den Knaben herbei und schickte ihn nach dem nächsten Laden nach Wein und Biskuit. »Hole es so schnell als möglich,« sagte ich, »und ich will Dir mehr Geld dafür geben, als Du in Deinem ganzen Leben besessen hast!« Der Knabe sah mich an - blinzelte nach dem Gelde, das er in der Hand hielt und lief so schnell, wie je ein Knabe gelaufen ist davon, indem er ausrief: »Welch ein Glück!«

Als ich mich eben umwendete um der Mutter die ersten Trostesworte zu sagen, hielt der Schrei des Kindes: »Ich bin so hungrig, ich bin so hungrig,« mich davon zurück.

Ich reichte ihr noch mehr zu essen und küsste sie, worauf sie mich verwundert anblickte.

»Bist Du ein neuer Papa?« fragte das kleine Geschöpf. »Mein anderer Papa küsst mich nie.«

Ich sah die Mutter an. Sie hatte die Augen geschlossen und leise rollten die Tränen über ihre bleichen, hageren Wangen. Ich erfasste ihre abgezehrte Hand, indem ich sagte: »Es werden bessere Tage kommen, jetzt sorge ich für Sie.« Sie antwortete nicht. Sie zitterte leise - das war Alles.

Nach kaum fünf Minuten kehrte der Knabe zurück und hatte den versprochenen Lohn verdient. Als einziges, glückliches Wesen in diesem Zimmer saß er an der Erde beim Feuer und zählte seine Schätze. Ich tauchte einige Biskuitbrocken in den Wein und belebte allmählich ihre sinkende Kraft, indem ich ihr in dieser vorsichtigen Weise Nahrung zuführte. Nach einer Weile erhob sie den Kopf und sah mich mit erstaunten Augen an, die rührende Ähnlichkeit mit den Augen ihres Kindes hatten. Ein schwaches, zartes Rot überflog ihr Gesicht. In flüsternden Tönen, die ich nur vernehmen konnte, weil ich dicht neben ihr saß, sprach sie die ersten Worte zu mir:

»Wie fanden Sie mich auf? Wer zeigte Ihnen den Weg hierher?«

Sie schwieg, indem sie mühsam eine Erinnerung zurückzurufen schien. Ihre Farbe stieg, endlich fand sie die verlorene Erinnerung wieder und blickte mich mit schüchterner Neugierde an. »Wie kommen Sie hierher? Führt Sie ein Traum zu mir?«

»Warten Sie bis Sie kräftiger sind, Teuerste, dann will ich Ihnen Alles sagen.«

Ich hob sie leise auf und trug sie auf ihr elendes Lager. Das Kind folgte uns und kletterte mit meiner Hilfe auf das Bettstell, um sich dicht an die Mutter zu schmiegen. Ich schickte den Knaben hinaus und ließ der Hauswirtin sagen, dass ich die Nacht bei der Kranken bleiben würde, um ihre Fortschritte in der Genesung zu beobachten. Er ging, fröhlich mit seinem Geld in der Tasche klappernd, um seinen Auftrag auszuführen. So waren wir drei denn allein.

Von Zeit zu Zeit fiel sie in einen unruhigen Schlaf, während die Stunden langsam dahin schlichen, dann erwachte sie wieder mit einem Schreck und starrte mich wild an, als ob ich ein Fremder sei, der an ihrem Bette säße. Gegen Morgen tat die Nahrung, die ich ihr immer sorgfältig beigebracht hatte, ihre Wirkung, indem der Puls sich besserte und sie ruhiger zu schlafen begann. Als die Sonne aufging schlief sie so friedlich, wie das Kind an ihrer Seite. Ich konnte es wagen sie in der Obhut ihrer Wirtin zu lassen bis ich im Laufe des Tages zurückkehrte. Der Zauber des Geldes verwandelte diese lärmende, entsetzliche Person in eine sanfte, aufmerksame Krankenwärterin, die so bestrebt war alle meine Anforderungen pünktlich zu befolgen, dass sie mich bat, sie, ehe ich ging, niederzuschreiben. Einen Augenblick lang weilte ich noch allein am Bette der schlafenden Frau und vergewisserte mich selbst zum hundertsten Male ehe ich sie verließ, dass ihr Leben außer Gefahr sei. Sie dem Leben erhalten zu wissen, leise ihre kalte Stirn mit meinen Lippen berühren zu dürfen, wieder und immer wieder in das elende, bleiche Antlitz blicken zu können, das trotz aller Wechsel meinen Augen immer schön erschien, das war mir der süßeste Lohn. Leise schloss ich die Tür und schritt, nun wieder ein glücklicher Mensch, in den hellen Morgen hinaus. So nah bei einander liegen die Quellen des Glückes und des Unglückes im menschlichen Leben! So nah ist der hellste Sonnenschein den schwärzesten Wolken, in unserem Herzen, wie an unserem Himmel.

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Ein Gespräch mit meiner Mutter

Ich langte zu Hause noch zeitig genug an um mir zwei oder drei Stunden Ruhe zu gönnen, bevor ich meiner Mutter den gewohnten Morgenbesuch in ihrem Zimmer abstattete. Die eigentümliche Weise in der sie mich bei dieser Gelegenheit empfing und die mir an ihr ganz fremd war, konnte mir unmöglich entgehen.

Als unsere Blicke sich zuerst begegneten, sah sie mich so unruhig und fragend an, als quälte sie irgend ein Zweifel, den sie nicht auszusprechen wagte, und als ich mich wie gewöhnlich nach ihrem Befinden erkundigte, gab sie mir zu meinem Erstaunen eine so ungeduldige Antwort, als zürne sie mir, dass ich den Gegenstand berührte. Zuerst schrieb ich ihr verändertes Benehmen dem Umstande zu, dass sie meine Abwesenheit während der Nacht vielleicht gewahr geworden war, und den wahren Grund davon vermutete.

Sie spielte aber nicht in entferntester Art auf Frau van Brandt an und keines ihrer Worte deutete auch nur annähernd an, dass ich sie betrübt oder verletzt hätte. So blieb mir nur die Erklärung denkbar, dass sie in Bezug auf sich selbst oder auf mich etwas Wichtiges zu sagen hatte, und aus mir unbekannten Gründen mit der Mitteilung zurück hielt, weil ihr der Augenblick nicht geeignet erschien.

Zu unserem gewöhnlichen Gesprächsgegenständen zurückkehrend, kamen wir auf meinen Besuch in Schottland, der meiner Mutter immer ein willkommenes Thema war. Natürlich berührten wir dabei auch Miss Dunroß und da harrte meiner wiederum, wo ich es am wenigsten erwartete, eine Überraschung.

»Du sprachst neulich von der grünen Flagge,« sagte meine Mutter, »die des armen Dermody Tochter für Dich arbeitete, als ihr noch beide Kinder wart. Hast Du sie wirklich bis jetzt aufgehoben?«

»Ja.«

»Wo hast Du sie gelassen? In Schottland?«

»Ich habe sie mit nach London gebracht.«

»Warum?«

»Ich versprach Miss Dunroß die grüne Flagge mit zu nehmen wohin ich ginge.«

Meine Mutter lächelte.

»George, ist es möglich, dass Du darüber ebenso denkst wie die junge Dame auf Schottland? Glaubst Du nach Verlauf so vieler Jahre an die grüne Flagge immer noch als an das Mittel, das Dich mit Mary Dermody wieder vereinen soll?«

»Sicher nicht! Ich willfahre damit nur einem der Wünsche der armen Miss Dunroß. Durfte ich ihr nach Allem, was ich ihrer Güte dankte, die kleine Bitte abschlagen?«

Meiner Mutter Gesicht wurde wieder ernst und sie sah mich aufmerksam an.

»Es scheint als hätte Miss Dunroß Dir einen sehr günstigen Eindruck gemacht,« sagte sie.

»Ja, das gestehe ich. Ich fühle ein tiefes Interesse für sie.«

»Wäre sie nicht unheilbar krank, George, so hätte sie auch mein näheres Interesse erregt - ich hätte dann vielleicht an Miss Dunroß gern als an meine Schwiegertochter gedacht.«

»Was nutzt es, Mutter, wenn man über Unmögliches grübelt. Die traurige Wirklichkeit genügt.«

Meine Mutter zögerte einen Augenblick ehe sie mir die nächste Frage vorlegte.

»Blieb Miss Dunroß in Deiner Gegenwart immer verschleiert, wenn es hell im Zimmer war?«

»Immer.«

»Sie gestattete Dir nie einen Blick in ihr Gesicht zu tun?«

»Niemals.«

»Und, dass das Licht ihr Schmerzen verursacht, wenn es ihre Haut berührt, war der einzige Grund, den sie dafür angab?«

»Deine Worte klingen, Mutter, als ob Du die Wahrheit dessen, was mir Miss Dunroß sagte, anzweifeltest.«

»Nein, George ich, zweifele nur ob sie Dir die volle Wahrheit sagte.«

»In wie fern meinst Du das?«

»Verzeih mir mein lieber Sohn, aber ich glaube, dass Miss Dunroß einen viel tieferen Grund hatte, ihr Gesicht zu verbergen, als der, den sie nannte.«

Ich schwieg. Noch nie war mir der Verdacht aufgestiegen, den diese Worte in mir erweckten. Es hatte mir genügt, dass ich in medizinischen Büchern von Fällen krankhafter Nervosität gelesen hatte, die dem Zustande den Miss Dunroß beschrieb ganz ähnlich waren. Nun die Vermutung meiner Mutter aber den Weg zu mir gefunden hatte, machte sie mir einen im höchsten Grad peinlichen Eindruck. Mein Gehirn schuf sich die entsetzlichsten Zerrbilder und entweihte mir die reinsten, teuersten Erinnerungen an Miss Dunroß. Vergeblich wechselten wir den Gegenstand des Gesprächs - der schmerzliche Einfluss, der sich meiner bemächtigt hatte, war zu stark um durch eine Unterhaltung verwischt zu werden. Mit der bestmöglichsten Entschuldigung die ich erfinden konnte, verließ ich das Zimmer und eilte zu Frau van Brandt, in deren Gegenwart allein ich hoffen durfte mir selbst zu entfliehen.

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Ein Gespräch mit Frau van Brandt

Die Wirtin stand vor der Tür als ich an dem Hause anlangte. Was sie mir auf mein Befragen berichtete bestätigte meine freudigsten Erwartungen. Die arme Mieterin sah schon »wie ein anderer Mensch« aus, und das Kind befand sich eben auf der Treppe, um die Rückkehr ihres »neuen Papas« zu erwarten.

»Etwas aber möchte ich Ihnen noch sagen, mein Herr, ehe Sie hinauf gehen,« fuhr die Frau fort. »Geben Sie der Dame nicht mehr Geld auf einmal, als für die Ausgaben des Tages erforderlich ist. Wenn sie etwas übrig hat so verschwendet sie es aller Wahrscheinlichkeit nach an ihren Taugenichts von Mann.«

Ich hatte über die höheren und teueren Interessen, die alle meine Gedanken erfüllten, ganz vergessen an das Dasein von Herrn van Brandt zu denken.

»Wo ist er?« fragte ich.

»Wo er hingehört,« war die Antwort. »Im Schuldgefängnis.«

In jener Zeit, war jemand, der wegen Schulden verhaftet war, nicht selten lebenslang ein Gefangener. Ich brauchte also nicht zu fürchten, dass mein Besuch durch Herrn van Brandts Erscheinen abgekürzt werden könnte.

Als ich die Treppe hinauf stieg, fand ich das Kind das mich auf dem Flur mit einer zerrissenen Puppe im Arm erwartete. Ich hatte unterwegs einen Kuchen für sie gekauft. Sogleich überließ sie mir die Sorge für ihre Puppe und lief mit dem Kuchen in der Hand vor mir her ins Zimmer, wo sie mein Erscheinen mit den Worten ankündigte: »Mama mir gefällt dieser Papa besser als der andere. Du hast ihn wohl auch lieber?«

Das abgehärmte Gesicht der Mutter errötete für einen Augenblick und erblasste dann, als sie mir die Hand entgegen streckte. Ich sah sie prüfend an und entdeckte deutlich die willkommenen Anzeichen der Genesung. Ihre großen, grauen Augen ruhten wieder mit einem Schimmer ihres alten Lichtes auf mir. Die Hand, die in der letzten Nacht so kalt in der meinen lag, hatte nun wieder Leben und Wärme.

»Wäre ich gestorben ehe der Tag anbrach, wenn Sie nicht gekommen wären?« fragte sie leise. »Haben Sie mir zum zweiten Mal das Leben gerettet? Ich will es gern glauben!«

Ehe ich mich dessen versah, neigte sie ihren Kopf über meine Hand und berührte sie zärtlich mit ihren Lippen.

»Ich bin wahrlich nicht undankbar,« flüsterte sie, »und doch weiß ich nicht, wie ich Ihnen danken soll.« Das Kind blickte schnell von seinem Kuchen auf. »Warum gibst Du ihm keinen Kuss?« fragte das süße, kleine Geschöpf mit einem langen Blick voller Erstaunen.

Ihr Kopf sank auf die Brust. Sie seufzte schwer.

»Nun nichts mehr von mir!« sagte sie, indem sie ihre Selbstbeherrschung wieder erlangte und sich plötzlich zwang zu mir aufzusehen. »Sagen Sie welch glücklicher Zufall Sie diese Nacht hierher führte?«

»Derselbe Zufall,« erwiderte ich, »der mich nach St. Antonius Brunnen leitete.«

Sie erhob sich heftig in ihrem Stuhl.

»So bin ich Ihnen also wiederum erschienen, wie einst in dem Lusthause beim Wasserfall!« rief sie aus. »Geschah das wieder in Schottland?«

»Nein. In einer größeren Entfernung als Schottland ist - es geschah auf Shetland.«

»O erzählen Sie mir davon! Bitte, bitte erzählen Sie mir Alles!«

Ich erzählte so genau als möglich Alles, was sich ereignet hatte, nur über einen Punkt bewahrte ich natürlich das tiefste Schweigen. Ich veranlasse sie zu der Annahme, dass der Herr des Hauses der Einzige war, der mich dort empfing und mit dem ich während meines Aufenthalts bei Mr. Dunroß verkehrte, des Vorhandenseins seiner Tochter erwähnte ich gar nicht.

»Wie seltsam!" rief sie aus, nachdem sie mich bis zu Ende angehört hatte.

»Was ist seltsam?« fragte ich.

Sie zögerte, indem sie meine Züge mit ihren großen, grauen Augen genau zu erforschen suchte.

»Ich spreche nur ungern darüber,« sagte sie »und doch darf ich Ihnen über diesen Punkt nichts vorenthalten. Ich verstehe Alles, was Sie mir gesagt haben bis auf Eines. Es erscheint mir unwahrscheinlich, dass Sie in dem Hause auf Shetland nur einen alten Mann als Gesellschafter gehabt haben wollen.«

»Von welcher anderen Gesellschaft erwarteten Sie zu hören?« fragte ich.

»Ich glaubte Sie würden mir von einer Dame sprechen, die im Hause war.«

Diese Antwort überraschte mich im Grunde nicht, aber sie veranlasste mich genau zu überlegen ehe ich weiter sprach. Aus den früheren Vorgängen wusste ich, dass sie mich während meiner Abwesenheit wiederum in einer Verzückung oder in einem Traume gesehen hatte. Hatte sie auch Miss Dunroß, meine treue Gefährtin während des Aufenthalts in Shetland gesehen?

Ich ließ es mir, durch die Weise wie ich sie befragte offen, ob ich sie rückhaltlos in mein Vertrauen ziehen wollte oder nicht.

»Nicht wahr, ich irre nicht,« begann ich, »wenn ich annehme, dass Sie von mir träumten, während ich in Shetland war, wie sie einst in meinem Hause in Pertshire von mir geträumt?«

»Sie haben recht,« antwortete sie. »Es geschah dieses Mal gegen Abend. Ich schlief ein oder verlor das Bewusstsein - ich weiß nicht wie mir war, und Sie erschienen mir in einem Traum oder in einer Vision.«

»Wo sahen Sie mich?«

»Zuerst sah ich Sie auf jener Brücke über dem Flusse in Schottland, gerade da, wo ich Ihnen an dem Abend begegnete, als Sie mir das Leben retteten. Nach einer Weile verschwand der Fluss und die Landschaft und mit ihnen versanken auch Sie in Dunkelheit. Ich wartete ein wenig - da lichtete sich das Dunkel allmälig. Mir war's als stünde ich in einem Sternenschein vor einem Fenster; hinter mir lag ein See, vor mir ein verfinstertes Gemach. Ich blickte in das Gemach und der Lichtschein um mich her, ließ mich Sie erkennen.«

»Wann geschah das? Entsinnen Sie sich des Datums?«

»Dass es zu Anfang des Monats war, weiß ich. Die schrecklichen Ereignisse, durch die ich seitdem in dieses Elend geraten bin, hatten sich damals noch nicht zugetragen - und dennoch, als ich Sie dort erblickte, ahnte mir, dass ich einem trüben Geschick entgegen ging. Das Gefühl, dass es allein in Ihrer Macht stehen würde, mir zu helfen, überkam mich wieder voll und ganz, wie in jenem Traum in Schottland. Ich tat genau, was ich damals tat. Ich legte meine Hand auf Ihre Brust und sagte: »Gedenke mein. Komm zu mir« ich schrieb selbst -«

Sie hielt schaudernd inne, als ob eine plötzliche Furcht sie beschlich. Besorgt um die Folgen, die eine heftige Erregung für sie haben konnte, wollte ich sie, als ich das sah, veranlassen, an diesem Tage nicht weiter über den Gegenstand zu sprechen.

»Nicht doch,« antwortete sie bestimmt. »Damit dass Sie mir Zeit lassen wollen, ist nichts gewonnen. Der Traum hat in mir eine entsetzliche Erinnerung zurück gelassen. Ich glaube ich werde, so lange ich lebe, erbeben, wenn ich daran denke, was ich neben Ihnen in dem dunklen Gemach erblickte.«

Sie schwieg wiederum. Wollte sie mir von der verhüllten Gestalt mit dem schwarz verschleierten Kopfe reden?

Wollte Sie mir schildern, wie sie durch ihren Traum die Existenz von Miss Dunroß erfahren hatte?

»Beantworten Sie mir nun zuerst eine Frage,« fuhr sie fort. »War Alles, was ich Ihnen bis jetzt sagte, richtig. Waren Sie in einem dunklen Zimmer, als Sie mich sahen?«

»Es ist Alles richtig.«

»War es an einem Tage zu Anfang des Monats und um die Abendstunde?«

»Ja.«

»Sagen Sie mir die Wahrheit. Waren Sie allein im Zimmer?«

»Ich war nicht allein.«

»War der Hausherr bei Ihnen oder befanden Sie sich in Gesellschaft eines anderen?«

Sie zu täuschen wäre nach dem, was ich soeben gehört hatte, mehr als nutzlos gewesen.

»Es war jemand anderes bei mir,« antwortete ich. »Die Person die sich mit mir im Zimmer befand war eine Frau.«

Während sie sprach, sah ich an ihrem Gesicht, dass dieselbe schreckliche Erinnerung, deren sie eben erwähnt hatte, sie wiederum durchschauerte. Nachgerade wurde es mir nun selbst schwer meine Fassung zu bewahren, dennoch war ich entschlossen kein Wort über meine Lippen kommen zu lassen, dass meine Gefährtin zu irgend einer Vermutung veranlassen konnte.

Ich fragte darum nur: »Wollen Sie noch irgend etwas Anderes von mir wissen?«

»Eines noch,« antwortete sie. »War an der Kleidung Ihrer Gefährtin irgend etwas Ungewöhnliches?«

»Ja. Sie trug einen langen schwarzen Schleier, der über Kopf und Gesicht weit herab bis über ihre Taille hing.«

Frau van Brandt lehnte sich in ihren Stuhl zurück und bedeckte sich das Gesicht mit den Händen.

»Ich begreife den Grund, weshalb Sie mir verschwiegen, dass dieses elende Weib in jenem Hause lebte,« sagte sie. »Es ist wohlgemeint wie Alles, was Sie für mich tun, aber es ist nutzlos. Ich sah in meinem Traume Alles genau so, wie es in der Wirklichkeit ist und auch ich erblickte das entsetzliche Gesicht!«

Diese Worte elektrisierten mich vollständig.

Augenblicklich fiel mir das Gespräch wieder ein, das ich diesen Morgen mit meiner Mutter hatte. Ich sprang auf.

»Großer Gott!« rief ich aus, »was meinen Sie damit?«

»Verstehen Sie mich denn noch nicht?« fragte sie, ihrerseits voller Erstaunen. »Muss ich noch deutlicher werden? Bemerkten Sie, dass ich schrieb, als Sie meine Erscheinung sahen?«

»Ja. Sie schrieben auf einem Briefe, den die Dame für mich verfasste. Ich sah später die Worte, die Sie geschrieben und eben diese Worte führten mich in der letzten Nacht hierher. Am Ende des Monats im Schatten von St. Paul.«

»In welcher Weise schien es, dass ich auf dem unvollendeten Brief schrieb?«

»Sie nahmen die Schreibmappe, auf der Brief und Feder lagen, vom Schoß der Dame und stützten die Mappe während Sie schrieben, auf ihre Schulter.«

»Konnten Sie wahrnehmen ob sie es bemerkte, dass ich die Mappe nahm?«

»Ich sah nicht dass sie es bemerkte,« antwortete ich, »denn sie blieb regungslos in ihrem Stuhl.«

»Mein Traum zeigte mir das anders. Danach hob sie die Hand hoch, freilich nicht die Hand, die Ihnen zunächst war, sondern die an meiner Seite. Als ich die Schreibmappe hob, erhob sie die Hand und zog die Falten des Schleiers von ihrem Gesichte zurück - ich konnte Alles deutlicher sehen als Sie. Es war nur ein Augenblick, wo mir gestattet war zu schauen, was der Schleier barg. Lassen Sie uns davon schweigen! Sie müssen von dem entsetzlichen Anblick in der Wirklichkeit zurückgeschaudert sein, wie ich es im Traume tat. Sie müssen sich, wie ich mich, gefragt haben, ob keine barmherzige Hand dem furchtbaren Geschöpf Gift reichen will um sie mitleidig im Grabe zu verbergen?«

Bei diesen Worten hielt sie plötzlich inne. Mir versagte die Sprache - meine Züge waren beredter als meine Lippen. Als sie mein Entsetzen sah, vermutete sie die Wahrheit.

»Gütiger Himmel!« rief sie aus. »Sie haben sie nicht gesehen! Sie hat Ihnen ihr Gesicht hinter dem Schleier verborgen! Ach, warum, warum verleiteten Sie mich davon zu sprechen? Nie will ich wieder dessen erwähnen. Sehen Sie, wir ängstigen das Kind! Komm her, mein Liebling und fürchte Dich nicht. Komm und bringe Deinen Kuchen her. Du bist nun eine Dame und gibst ein großes Diner und wir sind Deine beiden Freunde, die Du eingeladen hast, die Puppe ist Dein kleines Mädchen, die nach dem Essen hereinkommt und vom Obst und Dessert bekommt!«

So fuhr sie fort mit dem Kinde allerlei Spielereien zu treiben, in der vergeblichen Hoffnung, mich dadurch den Schmerz vergessen zu machen, den sie mir bereitet hatte.

Als ich einigermaßen meine Fassung wiedererlangt hatte, tat ich mein Möglichstes ihr in ihrem Bestreben behilflich zu sein. Bei ruhiger Überlegung sagte ich mir, dass sie vielleicht einer Selbsttäuschung unterlag, indem sie das entsetzliche Bild, das sie in ihrer Vision gesehen, nun auch wirklich vorhanden glaubte. Unmöglich konnte ich, wenn ich Miss Dunroß nur die allgemeine Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte, einzig auf das Zeugnis eines Traumes hin, die Überzeugung von ihrer Ungestaltenheit in mir Wurzel schlagen lassen und doch, so vernünftig diese Ansicht war, blieben in meinem Herzen, nach dem was ich gehört hatte, gewisse Zweifel zurück. Des Kindes richtiger Instinkt entdeckte bald, dass seine Mutter und ich schlechte Spielgefährten wären, die sich nicht mit ganzer Seele der Sache widmeten. Sie entließ die vorgeblichen Gäste ohne Umstände und kehrte mit ihrer Puppe nach dem Flur vor der Tür zurück, wo ich sie vorgefunden hatte und wo sie am liebsten spielte. Es gelang weder ihrer Mutter noch mir, sie durch irgend welche Überredungskünste zurückzulocken. Wir blieben uns selbst überlassen und setzten uns nun ratlos gegenüber, indem das verbotene Thema über Miss Dunroß zwischen uns stand.

Achtundzwanzigstes Kapitel

Liebe und Geld

Frau van Brandt, die die augenblickliche Verlegenheit sehr bitter empfand, sprach zuerst:

»Sie haben mir nichts über sich selbst gesagt«, begann sie. »Hat sich Ihr Leben seit unserem ersten Begegnen glücklicher gestaltet?«

»Wenn ich ehrlich sein will, kann ich das nicht sagen,« antwortete ich.

»Haben Sie irgendeine Aussicht sich zu verheiraten?«

»Die Möglichkeit einer solchen Aussicht steht nur bei Ihnen.«

»Sagen Sie es nicht!« sprach sie mit einem flehenden Blick. »Verkürzen Sie mir die Freude Sie zu sehen nicht dadurch, dass Sie über Unmöglichkeiten sprechen. Soll ich Ihnen sagen, wie es gekommen ist, dass Sie mich mit meinem Kinde hier in diesem Elende finden?«

Ich zwang mich lieber van Brandts Namen zu nennen, als ihn von ihren Lippen zu vernehmen.

»Man hat mir gesagt, dass Herr van Brandt sich im Schuldgefängnis befindet,« sagte ich. »Und dass er Sie hilflos zurückgelassen, davon habe ich mich in der vorigen Nacht selbst überzeugt.«

»Er ließ mir das wenige Geld, das er bei seiner Verhaftung besaß, zurück,« versetzte sie traurig. »Seine grausamen Gläubiger sind mehr zu tadeln als er es um der Armut willen ist, die uns befallen hat.« Selbst dass sie van Brandt durch diese Worte negativ verteidigte, verletzte mich tief.

»Ich hätte Ihnen rücksichtsvoller von ihm sprechen sollen,« sagte ich bitter. »Ich hätte bedenken sollen, dass eine Frau dem Manne, den sie liebt, jedes Unheil verzeiht, das er über sie bringt.«

Sie hielt mir ihre Hände vor den Mund und gebot mir so Schweigen, ehe ich fortfahren konnte.

»Wie können Sie in so grausamer Weise zu mir sprechen?« fragte sie. »Sie wissen, da ich es Ihnen zu meiner Schande bei unserem letzten Beisammensein selbst gestand, dass mein ganzes Herz Ihnen im Geheimen gehört. Von welchem »Unheil« reden Sie? Meinen Sie das Unheil, das van Brandt über mich brachte, als er mich heiratete, während sein rechtmäßiges Weib lebte und noch lebt? Glauben Sie, dass ich das furchtbarste Missgeschick meines Lebens je verschmerzen kann, das Missgeschick, Ihrer unwert zu sein? Obgleich ich, Gott weiß es, schuldlos daran bin, so ist die Tatsache immer nicht wegzuleugnen, dass ich nicht verheiratet bin, und dass dennoch mein kleiner Liebling, der dort draußen mit einer Puppe spielt, mein Kind ist. Und mit diesem Bewusstsein wollen Sie davon sprechen, Ihr Weib zu werden!«

»Das Kind nimmt mich als seinen zweiten Vater an,« sagte ich. »Wenn Sie ebenso wenig Stolz hätten als Ihr Kind, wäre es für uns beide besser.«

»Stolz?« wiederholte sie. »In meiner Lage Stolz? Ein hilfloses Weib, deren angeblicher Gatte im Schuldgefängnis sitzt? Wenn Sie mir sagen, dass ich noch nicht tief genug gesunken bin, um zu vergessen, was ich Ihnen schuldig bin, so würde das Kompliment, das Sie mir machen wollen, etwas mehr Anschein von Wahrheit haben. Soll ich Sie heiraten um ein Obdach und Nahrung zu haben? Soll ich Sie heiraten, weil mich kein gesetzliches Band an den Vater meines Kindes knüpft? Dieses Anrecht an mich bleibt ihm doch, wie grausam er auch gegen mich gehandelt haben mag. Er hat mich trotz seiner Schlechtigkeit doch nicht verlassen, sondern man hat ihn hinweggerissen. Ist es möglich, dass Sie, der Sie mein einziger Freund sind, mich für so undankbar halten, dass ich einwilligen könnte Ihr Weib zu werden? Ein Weib in meiner Lage müsste kein Herz haben, wenn sie im Stande wäre Ihre geachtete Stellung in der Welt und die Liebe Ihrer Freunde so zu zerstören! Die gesunkenste Bettlerin auf der Straße würde davor zurückschrecken, Ihnen das anzutun. Ach, was denken die Männer? Wie ist es Ihnen möglich davon zu mir zu sprechen!«

Ich gab ihr nach und sprach nicht mehr darüber. Jedes ihrer Worte steigerte meine Bewunderung für die Frau, die ich geliebt und verloren hatte. Welch ein Ausweg blieb mir nun noch übrig? Nur der einzige, dass ich ihr anbot mich selbst für sie zu opfern. So bitter ich den Mann auch hasste, der sich zwischen uns gestellt hatte, so war doch meine Liebe zu ihr so groß, dass ich mich stark genug fühlte ihm, um ihretwillen, zu helfen. Es war eine hoffnungslose Täuschung! Ja, ich leugne es weder, noch will ich es entschuldigen, es war eine hoffnungslose Täuschung!

»Sie haben mir vergeben,« sagte ich, »so gestatten Sie mir auch, mich Ihrer Verzeihung wert zu machen. Ihr einziger Freund zu sein ist auch ein Glück, sagen Sie mir denn rückhaltlos, welches sind Ihre Zukunftspläne und wie kann ich Ihnen helfen.«

»Vollenden Sie das gute Werk, das Sie begonnen haben,« erwiderte sie dankerfüllt. »Helfen Sie mir, dass ich meine Gesundheit wieder erlange. Stellen Sie mich insoweit her, dass ein Arzt, dessen Beurteilung ich mich unterziehe, mich für fähig halten kann, noch einige Jahre zu leben.«

»Eines Arztes Urteil über Ihre Lebensfähigkeit?« wiederholte ich. »Wie soll ich das verstehn?«

»Wie soll ich Ihnen das erklären, ohne wieder von Herrn van Brandt zu sprechen?«

»Meinen Sie damit, dass Sie mir von seinen Schulden sprechen wollen?« fragte ich. »Warum zögern Sie dann? Sie wissen, dass ich alles tun will, um Sie von Ihren Sorgen zu befreien.«

Sie blickte mich einen Augenblick lang in stummer Verzweiflung an.

»Ach! Glauben Sie, dass ich es zulassen würde, dass van Brandt Geld von Ihnen annähme?« fragte sie, sobald sie zu sprechen vermochte. »Wie könnte ich das wollen, die ich Ihnen Alles verdanke. Nein, niemals! Ich will Ihnen die volle Wahrheit sagen. Es ist dringend wünschenswert, dass er aus dem Gefängnis entlassen wird. Er muss also seine Gläubiger befriedigen und hat auch einen Weg ersonnen, wie ihm das mit meiner Hilfe möglich ist.«

»Mit Ihrer Hilfe!« rief ich aus.

»Ja! In wenigen Worten ist also das seine Lage. Er erhielt kürzlich ein glänzendes Anerbieten von einem reichen Verwandten für eine Anstellung nach außerhalb. Unglücklicherweise kehrte er hierher zurück, um mir von seinem Glücke Kunde zu bringen und wurde an demselben Tage wegen Schulden verhaftet. Sein Verwandter erbot sich die Stelle während einiger Zeit offen zu lassen und der Zeitraum, den er bestimmte, ist noch nicht abgelaufen. Wenn er seinen Gläubigern einen Teil der Schuld bezahlen kann, so wollen sie ihn freilassen und hofft er das Geld dadurch zu erlangen, dass ich darin willige mich in eine Lebensversicherung einzukaufen.«

Also ihr Leben zu versichern! Aus diesen wenigen Worten ging deutlich genug hervor, welche Falle ihr gestellt war!

In den Augen des Gesetzes war sie ja eine einzeln stehende Frau, sie war mündig und allem Anscheine nach ganz ihre eigene Herrin. Was stand im Wege, dass sie ihr Leben versicherte, wenn sie es wollte und da die Versicherung in der Weise ausgefertigt wurde, dass van Brandt ein entschiedenes Interesse daran haben musste, dass sie starb? Nach Allem, was ich über ihn wusste und da ich ihn jeder Rohheit fähig hielt, zitterte ich bei dem bloßen Gedanken, was geschehen wäre, wenn es mir erst in einer späteren Zeit gelang, sie wieder aufzufinden. Glücklicherweise lag der einzig sichere Weg sie zu schützen durch die günstige Lage, in der ich mich befand, vollkommen in meinem Bereich. Ich konnte mich erbieten dem Schurken nach einer Stunde das Geld zu geben, dessen er bedurfte - und er war ganz der Mann, der meinen Vorschlag mit derselben Leichtigkeit annahm, mit der ich ihn machte.

»Ihnen scheint unser Plan nicht zu gefallen,« sagte sie, als sie mit sichtlicher Verlegenheit wahrnahm, welchen Eindruck ihre Worte auf mich gemacht hatten. »Ich habe Sie, wie es scheint, unglücklicherweise zum zweiten Male verletzt und erregt, ohne es zu wollen.«

»Sie irren sich,« erwiderte ich. »Ich bezweifle nur, dass der Plan, durch dessen Ausführung Sie Herrn van Brandt aus seinen Verlegenheiten zu ziehen hoffen, ganz so einfach ist, wie Sie es voraussehen. Sind Sie sich auch klar, dass es sich möglicherweise lange hinzögern kann, ehe es Ihnen gelingt, aus Ihrer Lebensversicherung Geld geliehen zu bekommen?«

»Ich verstehe nichts davon,« sagte sie traurig.

»Gestatten Sie, dass ich den Rat meiner Anwälte einhole? Sie sind zuverlässige und erfahrene Männer und können Ihnen sicher von Nutzen sein.«

So vorsichtig ich mich auch ausgedrückt hatte, ihr Zartgefühl ließ sie doch Verdacht schöpfen.

»Wenn Sie mir versprechen, dass Sie mir nie anbieten wollen, von Ihnen Geld für Herrn van Brandt zu leihen,« erwiderte sie, »so will ich Ihre Hilfe dankbar annehmen.«

Das konnte ich aufrichtig versprechen. Meine einzige Hoffnung sie zu retten, lag darin, dass ich sie ganz in Unwissenheit über den Weg ließ, den ich jetzt einzuschlagen gedachte. I erhob mich um zu gehen, da mein Entschluss mir neue Kräfte gab. Ich machte sie darauf aufmerksam, dass, je eher ich meine Erkundigungen einzöge, es uns um so eher gelingen würde unsere Zweifel und Schwierigkeiten zu lösen.

Sie erhob sich mir mit tränenfeuchten Augen und geröteten Wangen.

»Küssen Sie mich ehe Sie gehen!« flüsterte sie, »und seien Sie meiner Tränen wegen unbesorgt. Nun bin ich wieder ganz glücklich. Ihre Güte überwältigte mich nur.«

Ich drückte sie mit der unbewussten Zärtlichkeit einer letzten Umarmung an mein Herz. Unmöglich konnte ich mich über die Stellung, in die ich mich nun selbst gebracht hatte, täuschen, ich hatte, so zu sagen, meinen eigenen Bannspruch gefällt. Wenn mein unwürdiger Nebenbuhler durch meine Vermittlung die Freiheit wieder erlangt hatte, konnte ich mich denn der erniedrigenden Notwendigkeit fügen sie in seiner Gegenwart zu sehen, unter seinen Augen zu ihr zu sprechen? Diese Art der Selbstaufopferung wäre unter meiner Würde gewesen, dessen war ich mir bewusst. »Zum letzten Male!« dachte ich, als ich sie noch einen Augenblick in meinen Armen hielt - »zum letzten Male!«

Das Kind lief mir mit offenen Armen entgegen, als ich auf den Flur hinaustrat. Meine Manneskraft hatte mich bei dem Abschiede von der Mutter aufrecht erhalten, aber als des Kindes volles, unschuldiges Gesichtchen sich zärtlich an das meine schmiegte, brach ich zusammen. Mir versagten die Worte - ich setzte sie still zur Erde nieder und wartete unten an der Treppe, bis ich fähig war, in die Welt hinauszutreten.

Neunundzwanzigstes Kapitel

Äußere Schicksale trennen uns

Unten auf dem Hausflur angelangt, ließ ich mir die Wirtin auf einen Augenblick rufen. Ich musste noch ermitteln, in welchem der Londoner Gefängnisse van Brandt sich befand und sie war die einzige Person, an die ich eine Frage darüber richten konnte.

Nachdem die Frau meine Frage beantwortet hatte, legte sie sich in ihrer eigenen, schmutzigen Weise die Gründe zurecht, die mich veranlassen konnten, van Brandt aufzusuchen.

»Ist das Geld, das Sie oben ließen, auch schon wieder in seinen gierigen Taschen verschwunden?« fragte sie. »Wäre ich so reich wie Sie, so würde ich das ruhig geschehen lassen, aber ihn würde ich an Ihrer Stelle nicht mit einer Zange anfassen.«

Ich zog wirklich Nutzen aus der rohen Warnung der Frau - ein neuer Gedanke stieg mir auf! Bis ich sie sprach, war ich zu verstimmt oder zu benommen gewesen, um mir klar zu machen, wie überflüssig es sei, dass ich mich bis zu einem persönlichen Verkehr mit van Brandt in seinem Gefängnisse erniedrigte. Jetzt erst sah ich ein, dass, selbstredend, meine Rechtsbeistände meine geeignetsten Vertreter in dieser Angelegenheit waren, und dass mir daraus noch der Vorteil erwuchs, selbst van Brandt meinen Anteil an dieser Veränderung zu verschweigen. Ich fuhr sogleich zu meinen Anwälten. Der Älteste von ihnen, der erprobte Freund und Ratgeber meiner Familie, empfing mich.

Mein Auftrag setzte ihn natürlich in Erstaunen Er sollte sofort auf meine Anweisung die Gläubiger des Gefangenen befriedigen, ohne zu irgendjemand meinen Namen zu nennen und sollte in allem Ernst als Bürgschaft für die Rückzahlung Herrn van Brandts bloße Unterschrift annehmen!

»Ich glaubte mit allen den verschiedenen Wegen vertraut zu sein, auf denen ein Ehrenmann sein Geld wegwerfen kann,« bemerkte der alte Herr. »Ich muss Sie beglückwünschen, Mr. Germaine, dass Sie eine ganz neue Weise, Ihre Börse zu leeren, erfunden haben. Eine Zeitung zu gründen, ein Theater zu pachten, Rennpferde zu halten, in Monaco zu spielen - das Alles sind sehr wirksame Mittel um Geld los zu werden, aber sie Alle müssen vor dem Einen, Herrn van Brandts Schulden zu bezahlen, die Segel streichen!«

Ich verließ ihn und kehrte nach Hause zurück.

Der Diener, der mir die Tür öffnete, brachte mir eine Bestellung von meiner Mutter. Sie wünschte mich sobald als irgend möglich zu sprechen.

Ich ging sofort zu ihr in ihr Wohnzimmer.

»Nun, George ?« sagte sie, ohne ein Wort der Vorbereitung auf das was folgen sollte. »Wie hast Du Frau van Brandt verlassen?«

Mir stand der Verstand völlig still.

»Wer sagte dir, dass ich bei Frau van Brandt war?« fragte ich.

»Lieber Sohn! Dein Gesicht hat es mir verraten. Sollte ich noch nicht wissen, wie Du aussiehst, und wie Du sprichst, wenn Frau van Brandt Dir im Sinn liegt? Setze Dich zu mir. Ich weiß nicht warum, aber ich kam heute Morgen nicht dazu, Dir etwas zu sagen, wie ich es vorhatte, mir fehlte der Mut. Jetzt bin ich beherzter und kann es aussprechen. Du liebst Frau van Brandt immer noch, mein Sohn! Ich gebe meine Einwilligung, dass Du sie heiratest.«

Das waren ihre Worte! Vor kaum einer Stunde hatte ich von Frau van Brandts eigenen Lippen gehört, dass unsere Verbindung eine Unmöglichkeit sei. Eine halbe Stunde war noch kaum verflossen seit ich Anordnungen getroffen hatte, um den Mann in Freiheit zu setzen, der ein großes Hindernis für unsere Verheiratung war. Diese Zeit grade hatte meine Mutter, ahnungslos, gewählt, um darein zu willigen,· dass ich ihr Frau van Brandt als Schwiegertochter zuführte!

»Ich sehe, dass ich Dich überrasche,« fuhr sie fort. »Ich will dir meine Gründe so klar als möglich auseinandersetzen. Es würde unwahr sein, George, wenn ich Dir sagen wollte, dass die Einwürfe, die gegen Deine Verbindung mit dieser Dame zu machen sind, für mich nicht mehr vorhanden wären. Meine Denkweise hat sich nur in sofern geändert, als ich jetzt, um Deines Glückes willen, bereit bin, alle meine Einwendungen bei Seite zu setzen. Ich bin eine alte Frau, mein lieber Sohn. Nach den Naturgesetzen kann ich nicht annehmen, dass ich noch lange bei Dir bin. Wen aber soll ich zurück lassen, um für Dich zu sorgen und Dich zu lieben, wie ich es getan, wenn ich von Dir gehe? Ich weiß niemand außer Frau van Brandt. Dein Glück ist meine vornehmlichste Sorge und die Frau, die Du liebst, wie schrecklich sie auch irre geführt ist, verdient ein besseres Los. Heirate sie.«

Ich wagte nicht zu sprechen. Ich kniete zu den Füßen meiner Mutter und verbarg meinen Kopf in ihrem Schoß, als wäre ich wieder ein-Knabe geworden.

»Überlege es Dir, George,« sagte sie, »und komme wieder zu mir, wenn Du ruhig genug geworden bist, um über die Zukunft zu sprechen, wie ich es tue.«

Sie hob meinen Kopf hoch und küsste mich. Als ich aufstand um sie zu verlassen, erfüllte mich ein gewisses Etwas in diesen alten, lieben Augen, die mich so zärtlich anblickten, mit einer plötzlichen Furcht, die mich scharf und schneidend, wie ein Messerstich durchzuckte.

So wie ich die Tür geschlossen hatte, ging ich die Treppe hinab zu dem Portier nach dem Flur.

»Ist meine Mutter während ich fort war, ausgewesen?« fragte ich.

»Nein, Herr.«

»Waren Besuche bei ihr?«

»Ein Herr war hier, mein Herr.«

»Kannten Sie ihn?«

Der Portier nannte den Namen eines berühmten Arztes, eines Mannes, der damals als einer der Ersten in seinem Fache galt. Ich nahm sofort meinen Hut und ging zu ihm.

Er war eben von seinen Besuchen zurückgekehrt. Meine Karte wurde ihm übergeben, worauf er mich sofort in sein Sprechzimmer führen ließ.

»Sie haben heute früh meine Mutter besucht," sagte ich. »Finden Sie sie bedenklich krank, und konnten Sie ihr das nicht verschweigen? Sagen Sie mir um Gotteswillen die Wahrheit, ich bin auf Alles gefasst.«

Der berühmte Mann nahm mich freundlich bei der Hand.

»Ihre Mutter bedarf keiner Vorbereitung, sie ist sich ihres bedenklichen Gesundheitszustandes vollkommen bewusst,« sagte er. »Sie ließ mich rufen, damit ich ihre Ansicht bestätigen sollte. Ich konnte, ich durfte ihr nicht verhehlen, dass ihre Lebenskräfte im Abnehmen sind. In einem milderen Klima kann sie sich einige Monate länger erhalten, als hier in der Luft von London. Das ist Alles was ich sagen kann. In ihrem Alter sind ihre Tage gezählt.«

Er ließ mir Zeit mich von dem Schlage zu erholen, dann stellte er mir seine reiche Erfahrung, sein gereiftes und vollkommenes Wissen zur Verfügung. Nach seiner Anleitung schrieb ich die nötigen Verordnungen nieder, nach denen ich nun über meinem vergänglichsten Besitze, dem Leben meiner Mutter, wachen wollte.

»Ein Wort lassen Sie mich noch zu Ihrer Beachtung hinzufügen«, sagte er, als ich mich verabschiedete. »Ihre Mutter ist besonders darauf bedacht, dass Sie nichts von ihrem bedenklichen Gesundheitszustande erfahren sollen. Ihre einzige Sorge ist, Sie glücklich zu sehen. Wenn Sie erfährt, dass Sie mich aufsuchten, kann ich nicht für die Folgen stehen. Ersinnen Sie einen möglichst triftigen Grund, um sie sofort von London zu entfernen und, wie schmerzlich Ihr Inneres auch bewegt sein mag, zeigen Sie ihr immer eine heitere Außenseite.«

Noch an demselben Abend suchte ich den gewünschten Vorwand und er war leicht gefunden. Ich brauchte meiner armen Mutter nur mitzuteilen, dass Frau van Brandt meinen Heiratsantrag abgelehnt hatte und damit war ein augenscheinlicher Grund gefunden, weshalb es mir erwünscht sein musste London zu verlassen. Gleichzeitig schrieb ich an Frau van Brandt und teilte ihr das traurige Ereignis mit, das meine plötzliche Abreise veranlasse; auch benachrichtigte ich sie, dass es durchaus nicht mehr notwendig sei, ihr Leben zu versichern. »Meine Anwälte,« so schrieb ich , »haben es übernommen, Herrn van Brandts Angelegenheiten sofort zu ordnen. In wenigen Stunden wird er frei sein und kann dann die Stellung annehmen, die ihm angeboten ist.« Die letzten Zeilen meines Briefes versicherten sie meiner unwandelbaren Liebe und beschworen sie mir zu schreiben, ehe sie England verließe.

Damit war nun Alles getan. Wunderbarerweise war ich in dieser traurigsten Zeit meines Lebens mir keines wirklich empfindlichen Schmerzes bewusst. Unsere Fähigkeit zu leiden, hat leiblich, wie geistig, eine Grenze. Ich kann den Zustand, in dem ich mich, unter der Last der Sorgen, die über mich hereingebrochen waren, befand, nur in der einen Weise beschreiben - ich hatte das Gefühl eines Menschen, dessen Fähigkeiten zu empfinden ganz betäubt waren. Am nächsten Morgen brachen meine Mutter und ich zu unserer ersten Tagereise nach der Südküste von Devonshire auf.

Dreißigstes Kapitel

Ein Rückblick

Ich erhielt von Frau van Brandt, drei Tage nachdem ich mit meiner Mutter in Torquay angekommen war, eine Antwort auf meinen Brief. Sie benachrichtigte mich im Eingange, dass van Brandt allerdings in Freiheit gesetzt worden sei, aber unter Umständen, die sie mit der quälenden Vermutung erfüllten, dass meinerseits dabei Opfer gebracht worden seien, zu denen ich mich nun nicht bekennen wollte. Dann lautete der Brief weiter:

»Die Anstellung, die Herr van Brandt nun erhalten hat, sichert uns, wenn auch kein üppiges, so doch ein behagliches Auskommen. Vor mir liegt nun, seit meine Lebenssorgen begannen, zum ersten Male wieder ein friedliches Leben, da ich, nicht um meinetwillen, aber für mein Kind hoffe, dass unter einem fremden Volke die falsche Stellung, in der ich mich befinde, ein Geheimnis bleiben wird. Damit muss ich mir genügen lassen, denn ein Glück, wie es manchen Frauen beschieden ist, darf ich, wage ich nicht zu erstreben.

»Wir reisen morgen früh von England nach dem Kontinent ab. Soll ich Ihnen sagen, in welchem Teile von Europa ich meine neue Heimat finden werde?

Nicht doch! Sie würden mir wiederum schreiben und ich würde Ihnen antworten. Der einzige, armselige Dank, den ich dem guten Engel meines Lebens aber abstatten kann, ist, dass ich ihn lehre, mich zu vergessen. Mit welchem Rechte dürfte ich den Platz in Ihrer Achtung wohl behaupten, dessen ich mich bemächtigt habe. Sie werden einst einer Frau Ihr Herz geben, die dessen würdiger ist, als ich. Lassen Sie mich aus Ihrem Leben verschwinden und gedenken Sie meiner nur noch gelegentlich, wenn Sie sich an glückliche Tage erinnern, die nie wiederkehren werden.

Mir wird der Rückblick in die Vergangenheit einigermaßen zum Troste gereichen. Seit ich Sie kennen lernte bin ich besser geworden und so lange ich lebe, werde ich dessen gedenken.

Ja! Vom Anfang bis ans Ende ist der Einfluss, den Sie auf mich ausgeübt haben, ein günstiger gewesen. Wenn ich au zugeben muss, dass es für mich ein Unrecht war Sie zu lieben - und mehr noch, Ihnen dieses Gefühl zu gestehen, - so war diese Liebe doch rein, und ich habe wenigstens aufrichtig gestrebt, ihrer Herr zu werden. Mein Herz fühlt sich, abgesehen davon, durch das sympathische Gefühl, das uns vereint, beglückt. Nun da wir so weit getrennt sind und uns wahrscheinlich nie wiedersehen werden, darf ich Ihnen bekennen, was ich bisher nie eingestand, dass meine innersten Eingebungen mich immer, wenn ich ihnen rückhaltlos Gehör gab, auf Sie zu verweisen schienen. Wenn mein Gemüt einmal wirklich Frieden gefunden hatte, und ich mit aufrichtig reuigem Herzen zu beten vermochte, so überkam mich das Gefühl, als führte ein geheimer Zug uns näher und näher zu einander und seltsamerweise geschah das immer nur, wenn ich von van Brandt getrennt war, wie ich auch dann nur jene Träume von Ihnen hatte. Es hat mir in solchen Zeiten, ob denkend oder träumend, immer geschienen, als wären Sie mir viel näher bekannt, als wenn wir uns dann wirklich leiblich gegenüber standen. Ich möchte wissen ob es doch ein Dasein vor diesem jetzigen, bewussten gibt? Ob wir einst in einer anderen Sphäre vor tausenden von Jahren treue Gefährten waren? Müßige Vermutungen! Ich will mir daran genügen lassen, dass ich so glücklich war Sie zu kennen, ohne das Wie oder Warum zu ergründen.

Leben Sie wohl, mein geliebter Wohltäter, mein einziger Freund! Mein Kind sendet Ihnen einen Kuss und die Mutter zeichnet sich, als Ihre dankbare und getreue

M. van Brandt.«

Es erschien mir damals höchst wunderbar, dass mich diese Zeilen, als ich sie zum ersten Male las, wiederum an die Prophezeiungen der Dame Dermody aus meiner Knabenzeit erinnerten. Die vorausgesagten, sympathischen Bande, die mich an Mary knüpfen sollten, fesselten mich ja nun wirklich, aber an eine Fremde, die ich zufällig in einer späteren Lebenszeit kennen gelernt hatte! Drang ich aber dennoch nicht weiter vor, da meine Gedanken doch einmal diese Richtung einschlugen? Brachten sie mich keinen Schritt vorwärts? Nein, selbst jetzt überkam mich noch keine Ahnung von der Wahrheit.

War meine eigene, schwerfällige Auffassungsgabe daran Schuld? Hätte jemand anderes in meiner Lage entdeckt, was mir noch verborgen blieb?

Ich blicke auf die Verkettung der Ereignisse zurück, die sich durch meine Erzählung ziehen, und frage mich selbst, worin sollte für mich oder irgend einen Anderen die Möglichkeit liegen, eine Übereinstimmung zwischen dem Kinde, welches Mary Dermody war, und der Frau, die ich als Frau van Brandt kannte, zu finden? War in unseren Zügen noch etwas übrig geblieben, was uns bei unserem Begegnen an dem schottischen Flusse an unsere Jugenderscheinungen erinnern konnte? Wir hatten uns in der Zwischenzeit vom Knaben und Mädchen zum Manne und Weibe entwickelt und keine äußere Spur verriet, dass wir der George und die Mary aus früheren Tagen waren. Wie unser Aussehn uns über einander täuschte, so taten es auch unsere Namen.

Ihre Scheinehe hatte ihren Zunamen verändert, das Testament meines Stiefvaters den meinen. Ihr Taufname war einer der gebräuchlichsten Frauennamen, und der meine war weit entfernt zu den gewählteren Männernamen zu gehören. Betrachtet man nun die verschiedenen Gelegenheiten wo wir uns sahen, so waren sie niemals geeignet, ein jeder Erkennen zu ermöglichen, wie es im ruhigen Gespräch geschehen konnte. Wir waren uns überhaupt nur vier Mal begegnet, das eine Mal auf der Brücke, dann in Edinburgh und zwei Mal noch in London. Die überwältigenden Sorgen und Interessen des Augenblicks hatten bei allen diesen Gelegenheiten ihre Gedanken, wie die meinen in Anspruch genommen und ihre, wie meine Worte beeinflusst. Wann hätten die Ereignisse, die uns zusammenführten, uns Ruhe und Muße genug gelassen, um gemächlich auf unser Leben zurückzublicken und die Gegenwart ruhig mit unseren Jugenderinnerungen zu vergleichen? Niemals! Der Lauf der Ereignisse hatte uns vom Beginn bis zum Ende von jedem Resultate weiter und weiter entfernt, das auch nur zu einer Vermutung der Wahrheit hätte führen können. Als sie mir bei ihrer Abreise von England schrieb und während ich ihren Brief las, konnten wir beide nur annehmen, dass wir uns am Flusse dort zuerst gesehen hatten, und dass nun unsere Lebenswege auseinander gingen und wir für immer getrennt waren.

Nun ich in späteren Tagen ihren Abschiedsbrief im Lichte meiner gereiften Erfahrung wieder lese, sehe ich erst ein, wie wunderbar Dame Dermodys Glaube an die Einheit des Bandes, das unsere verwandten Geister verknüpfte, durch den Erfolg gerechtfertigt worden ist.

Nur wenn meine anerkannte Mary von van Brandt getrennt war, also mit anderen Worten, nur wenn sie ein reiner Geist war, geschah es, dass sie meinen Einfluss wohltuend auf ihr Leben wirken fühlte, und dass ihre Erscheinung mit mir in ihrer sichtbaren und vollkommen ähnlichen Gestalt verkehrte. Und wo träumte ich meinerseits je von ihr als in Schottland, und wo fühlte ich im wachen Zustande die geheimnisvolle Mahnung ihrer Gegenwart als auf Shetland? Immer also nur dann, wenn meine Herz sich ihr und Anderen am innigsten erschloss, wenn mein Geist am freiesten von den bitteren Zweifeln und den selbstsüchtigen Bestrebungen war, die die Gottheit in uns erniedrigen. Dann, aber eben nur dann war meine Übereinstimmung mit ihr jene vollendete Sympathie, die, unerreicht von Zufällen und Wechseln, von den Täuschungen und Versuchungen dieses Lebens, die Treue hält.

Einunddreißigstes Kapitel

Miss Dunroß

Meinen einzigen Trost bei dem gänzlichen Zusammensturz meiner Hoffnungen auf eine Heirat mit Frau van Brandt fand ich darin, dass ich mich ganz der heiligen Pflicht widmete, meine Mutter in ihren letzten Lebenstagen treu zu pflegen.

Ihr wurde allmählig der erfrischende Einfluss einer ruhigen Lebensweise und milderen Luft fühlbar. Leider konnte die Besserung in ihrer Gesundheit nur eine vorübergehende sein, das wusste ich nur zu wohl, dennoch war es mir ein Trost sie schmerzfrei zu wissen und sie in der Nähe ihres Sohnes harmlos glücklich zu sehen. Außer den Tages- und Nachtstunden, die der Ruhe gewidmet werden mussten, verließ ich sie nie. Bis zu dieser Stunde gedenke ich noch der Bücher, die ich ihr vorlas, der sonnigen Stelle am Meeresstrande, wo ich mit ihr saß, der Kartenspiele, die wir miteinander spielten, des unbedeutenden Alltagsgesprächs, das sie belustigte, wenn sie sich zu angegriffen für andere Beschäftigungen fühlte, mit einer Innigkeit wie sie an keiner anderen meiner Erinnerungen haftet. Das sind meine unvergänglichen Reliquien; auf diese Taten aus meinem Leben werde ich am freudigsten zurücksehen, wenn die Alles verhüllenden Schatten des Todes mich umschließen.

Meine Gedanken, die sich in einsamen Stunden meist mit Personen und Ereignissen aus der Vergangenheit beschäftigten, wanderten unzählige Male zu Miß Dunroß und Shetland zurück. Kein Gefühl des Grauens begleitete nun mehr meine lästigen Zweifel über das, was der schwarze Schleier mir in Wirklichkeit verborgen haben mochte, wenn ich jetzt daran zurückdachte. Je entschiedener meine späteren Erinnerungen an Miss Dunroß mit der Vorstellung eines unsagbaren, körperlichen Gebrechens verknüpft waren, um so höher stieg die edle Natur dieses Weibes in meiner Achtung.

Die Versuchung, dem Versprechen, das ich scheidend ihrem Vater gegeben hatte, ungetreu zu werden, trat zum ersten Male seit ich Shetland verlassen hatte an mich heran. Wenn ich wieder des in tiefer Nacht gestohlenen Kusses gedachte, wenn ich mir die zarte weiße Hand vergegenwärtigte, die mir durch die dunklen Vorhänge ihr letztes Lebewohl zuwinkte und wenn sich zu diesen Bildern die Erinnerung an das gesellte, was meine Mutter vermutete und Frau van Brandt im Traume gesehen hatte, wurde mein Verlangen, Miss Dunroß auf irgend eine Weise zu versichern, dass ihr Platz in meiner Erinnerung und in meinem Herzen unnehmbar sei, stärker, als dass menschliche Kraft ihr widerstehen konnte. Ich hatte mein Ehrenwort verpfändet, dass ich weder schreiben noch nach Shetland zurückkehren wollte. Tag für Tag erwog ich nun die Frage, wie ich auf irgend eine Weise im Geheimen mit ihr in Verbindung treten bunte. Es bedurfte nur eines Winkes, um mich auf die Fährte zu bringen und, aus Ironie des Zufalls, war es gerade meine Mutter durch die ich diesen Wink erhielt.

Von Zeit zu Zeit sprachen wir immer noch von Frau van Brandt. Meine Mutter hatte sich vollkommen überzeugt, indem sie mich bei Gelegenheiten, wo wir mit Bekannten in Torquay zusammen waren, beobachtet hatte, dass keine andere Frau, welches auch immer ihre Reize sein mochten, in meinem Herzen den Platz einnehmen konnte, den die Frau besaß, die ich verloren hatte. Sie wollte, weil sie nur auf diesem Wege ein Glück für mich absah, den Gedanken an meine Verheiratung mit Frau van Brandt nicht aufgeben. Meine Mutter äußerte sich dahin, dass wenn eine Frau einem Manne ihre Liebe eingestanden hat, es nur an dem Manne selbst liegen kann, wenn er sie trotz aller ersinnlichen Hindernisse nicht doch zu seiner Gattin macht· Nachdem sie wiederholentlich ihre Ansicht dahin ausgesprochen hatte, zwang sie mich durch folgende Worte, sie auch eines Tages in Erwägung zu ziehen:

»Eines stört während unseres hiesigen Aufenthalts mein Glück, Georg. Ich bin Dir in Deinem Verkehr mit Frau van Brandt hinderlich.«

»Du vergisst, dass sie England verlassen hat,« sagte ich, »ohne mir zu sagen, wo sie zu finden ist.«

»Wäre ich Dir jetzt nicht eine Bürde, mein lieber Sohn, so würdest Du sie bald genug auffinden. Aber warum kannst Du ihr nicht unter den obwaltenden Verhältnissen wenigstens schreiben? Missdeute meine Gründe nicht, George! Wenn ich die geringste Hoffnung hätte, dass Du sie vergessen könntest, wenn ich Dich von einer der reizenden Frauen, die wir hier kennen, nur einigermaßen angezogen sähe, so würde ich sagen, wir wollen nie mehr an Frau van Brandt denken oder von ihr sprechen. Dein Herz, mein lieber Sohn, ist aber allen Weibern bis auf dieses eine verschlossen. Sei denn auf Deine Weise glücklich und lass mich das noch sehen bevor ich sterbe. Sicher wird der Elende, dem dieses arme Geschöpf sein Leben opfert, sie früher oder später schlecht behandeln oder verlassen und dann muss sie sich zu dir wenden. Benimm ihr also den Glauben, dass Du ihren Verlust ruhig erträgst. Je entschlossener Du ihren Bedenken entgegentrittst, je mehr wird sie Dich im Stillen lieben und verehren. Das ist so Frauenart. Schreibe ihr erst und sende ihr dann irgend ein kleines Geschenk. Du hattest neulich die Absicht, mich in das Atelier des jungen Künstlers zu führen, der kürzlich hier seine Karte abgegeben hat. Ich höre, dass er wundervolle Miniaturbilder malt. Warum willst Du Frau van Brandt nicht Dein Bild schicken?

Das war ein Einfall, nach dem ich vergeblich gesucht hatte! Wenn das Bild auch ganz überflüssig war, um meine Sache bei Frau van Brandt zu vertreten, so war es das günstigste Mittel mit Miss Dunroß in Beziehungen zu treten, ohne gerade entschieden das Versprechen zu brechen, das ihr Vater mir abgefordert hatte. Ohne ihr ein Wort zu schreiben, ohne ihr eine Botschaft zu senden, konnte ich ihr auf diese Weise sagen, wie dankbar ich ihrer gedachte und konnte in den bittersten Augenblicken ihres trüben, einsamen Lebens, freundlich mein Andenken in ihr wach rufen.

Gleich an demselben Tage ging ich allein zu dem Künstler. Während der Stunden, die meine Mutter in ihrem Zimmer verbrachte, wurden die Sitzungen gehalten, bis das Bild vollendet war. Ich ließ es in ein einfaches, goldenes Medaillon mit einer Kette fassen und übergab sofort mein Geschenk der einzigen Person, von der ich sicher war, dass sie es an seinen Bestimmungsort befördern würde. Diese war der alte Freund, dessen in dieser Erzählung als Sir James erwähnt worden ist und der mich auf dem Regierungsschiff mit nach Shetland nahm.

Es bedurfte keiner Rückhaltung als ich Sir James die nötigen Auseinandersetzungen schrieb, denn wir hatten damals auf der Rückreise mehr denn einmal vertraulich über Miss Dunroß gesprochen. Sir James hatte ihre traurige Geschichte von dem in Lerwick wohnenden Arzte gehört, da dieser ein alter Universitätsfreund war. Diesem Herrn bat ich ihn, mein Geschenk anzuvertrauen, und zögerte nicht, ihm bei diese Gelegenheit die Zweifel auszusprechen, die ich über das Geheimnis hegte, das der schwarze Schleier barg. Freilich war es unmöglich vorauszusagen, ob der Doktor diesen Zweifel heben konnte. Ich erlaubte mir nur den Vorschlag, durch eine ganz gebräuchliche Nachfrage nach dem Befinden der Miss Dunroß, den Gegenstand vorsichtig anzuregen.

Bei der langsamen Verbindung, wie man sie in jener Zeit nur ermöglichen konnte, musste ich auf die Antwort von Sir James, nicht wie jetzt nur Tage, sondern Wochen warten. Sein Brief erreichte mich noch obenein erst nach ungewöhnlich langer Zeit. Ob dadurch oder durch andere mir unerklärliche Gründe veranlasst, es überkam mich so entschieden die Vorahnung schlechter Nachrichten, dass ich mich nicht entschließen konnte, das Siegel in Gegenwart meiner Mutter zu erbrechen. Ich wartete bis ich mich in mein Zimmer zurückziehen konnte - und öffnete da erst den Brief.

Meine Ahnung hatte mich nicht getäuscht. Sir Jamess Antwort enthielt nur folgende Worte »Die einliegenden Zeilen erzählen ohne meine weitere Ausführung ihre traurige Geschichte selbst. Ich beklage sie nicht, aber ich bin für Sie tief betrübt.«

Der eben erwähnte Brief war von dem Arzte in Lerwick an Sir James gerichtet. Ich schreibe ihn ohne Zusatz wörtlich ab:

»Durch das stürmische Wetter der letzten Tage hat sich das Schiff, welches unseren Verkehr mit dem Festlande vermittelt, etwas verspätet. Ich erhielt Ihren Brief daher heute erst. Mit ihm zugleich kam eine kleine Schachtel an, die ein goldenes Medaillon an einer Kette enthielt, dessen Sie als das Geschenk erwähnen, welches ich auf Ihren Wunsch eigenhändig im Auftrage eines Ihrer Freunde, dessen Namen Sie nicht nennen können, an Miss Dunroß übergeben soll.

»Sie haben mich unbewusst, indem Sie mir diese Verhaltungsmaßregeln gaben, in eine sehr schwierige Lage gebracht.

Die unglückliche Dame, für die das Geschenk bestimmt ist, geht raschen Schrittes ihrem Ende entgegen - sie beschließt ein Leben, dessen mannigfache und furchtbare Leiden den Tod für sie wirklich als Gnade und Befreiung erscheinen lassen. Unter diesen traurigen Umständen ist es, wie ich glaube, wohl verzeihlich, wenn ich zögere ihr das Medaillon im Geheimen zu übergeben, weiß ich doch nicht mit welchen Erinnerungen dieses Andenken verknüpft ist und wie ernste Aufregungen es in ihr hervorrufen kann.

In dieser zweifelhaften Lage habe ich es gewagt, das Medaillon zu öffnen - und zögere nun um so mehr es abzugeben. Welche Erinnerungen sich für meine unglückliche Patientin an dieses Bild knüpfen, ahne ich natürlich nicht; ich weiß nicht ob sein Anblick sie in ihren letzten Lebensaugenblicken mit Freude oder Schmerz erfüllen wird. Ich habe also beschlossen es morgen bei meinem Besuche mit mir zu nehmen und es dann ganz von den Umständen abhängig zu machen, ob ich es ihr gebe oder nicht. Unsere Post geht erst in drei Tagen nach dem Süden ab, ich lasse diesen Brief also offen, bis ich Ihnen das Resultat mitteilen kann.

»Soeben komme ich von meinem Besuch bei ihr nach Hause zurück. Ich bin ganz verzweifelt, dennoch will ich versuchen Ihnen klar und genau mitzuteilen, was sich zutrug.

Als ich sie heut morgen zuerst sah, hatten ihre sinkenden Kräfte sich für einige Augenblicke erholt. Die Wärterin meldete mir, dass sie die ersten Morgenstunden hindurch geschlafen hatte. Dem Schlafe waren Fiebersymptome mit leichten Fantasien vorangegangen. Die Worte, die ihr während dieses Zustandes entschlüpften, schienen sich hauptsächlich auf einen Abwesenden zu beziehen, den sie »George« nannte. Wie man mir berichtete, war es ihr lebhaftestes Verlangen »George« noch vor ihrem Tode wiederzusehen.

Bei dieser Mitteilung durchflog mich der Gedanke, dass das Bild in dem Medaillon möglichenfalls das Bild jenes Abwesenden sein möchte. Ich hieß die Wärterin das Zimmer zu verlassen und ergriff ihre Hand. Teils auf ihre eigene, bewundernswürdige Stärke und Willenskraft bauend, teils in dem Bewusstsein, dass sie mir als ihrem alten Freunde und Ratgeber vertraute, erwähnte ich der Äußerungen, die sie in ihrem Fieberzustande gemacht hatte. Dann sagte ich zu ihr: Sie wissen, dass jedes Ihrer Geheimnisse bei mir treu bewahrt ist, sagen Sie mir also, ob Sie von George irgend ein kleines Liebeszeichen oder Andenken erwarten?

Meine Frage war getan. Der schwarze Schleier, den sie immer trug, verhüllte ihr Gesicht, so dass nichts mir den Eindruck verraten konnte, den ich auf sie hervorbrachte, es sei denn ihre wechselnde Temperatur oder eine leichte Bewegung der Hand, die ich unter der seidenen Bettdecke in der meinen hielt.

Zuerst schwieg sie. Ihre kalte Hand wurde plötzlich heiß und drückte die meine lebhaft. Ihr Atem wurde beengt. Sie sprach mit großer Anstrengung und legte mir nur die eine Frage vor:

»Ist er hier?«

Ich sagte: »Es ist außer mir niemand hier.«

»Haben Sie einen Brief für mich?«

Ich sagte: »Nein.«

Sie lag eine Zeit lang still. Ihre Hand erkaltete wieder und ließ allmälig die meine los. Endlich sagte sie: »Eilen Sie, Doktor! Was es auch sein mag, geben Sie es mir, ehe ich sterbe.«

Ich wagte das Experiment, öffnete das Medaillon und gab es ihr in die Hand.

Zuerst zögerte sie, wie es schien es anzusehen und sagte nur: »Wenden Sie mich so im Bett um, dass mein Gesicht nach der Wand zu liegt.« Ich gehorchte. Mit dem Rücken gegen mich gekehrt, lüftete sie ihren Schleier und besah darin, wie ich glaube, das Bild. Ein langer, leiser Schrei entfuhr ihr, nicht voll Schmerz oder Qual, nein, ein Aufschrei der Wonne, des Entzückens. Ich hörte, wie sie das Bild küsste. So sehr ich durch meinen Beruf auch an ergreifende Eindrücke für Auge und Ohr gewöhnt bin, so erinnere ich mich nie durch irgend etwas so ganz überwältigt worden zu sein, wie ich es in diesem Augenblicke war. Ich musste aufstehen und an das Fenster gehen.

Kaum eine Minute war verflossen, als ich wieder an das Bett trat. Sie hatte den Schleier wieder über das Gesicht gezogen. Ihre Stimme war viel schwächer geworden, so dass ich sie nur vernehmen konnte, wenn ich mich über sie neigte und mein Ohr an ihre Lippen legte.

»Hängen Sie es um meinen Hals,« flüsterte sie.

Ich schlang ihr die Kette des Medaillons um den Hals. Sie versuchte die Hand danach auszustrecken, aber die Kräfte versagten ihr.

Sein Sie mir behilflich es zu verbergen,« sagte sie.

Ich unterstützte ihre Hand. Sie verbarg das Medaillon unter dem weißen Gewande, das sie an dem Tage trug, an ihrem Busen. Ihre Atemnot nahm zu. Ich legte sie höher auf das Kopfkissen, aber das Kissen war nicht hoch genug. So lehnte ich ihren Kopf an meine Schulter und öffnete teilweise den Schleier. Als sie eine augenblickliche Erleichterung empfand, sprach sie wieder.

»Versprechen sie mir,« sagte sie, »dass keine fremde Hand mich berühren soll. Versprechen Sie mir, mich zu begraben, wie ich bin.«

Ich gab ihr das Versprechen.

Ihr stockender Atem beschleunigte sich. Sie war kaum noch fähig die nächsten Worte auszustoßen:

»Bedecken Sie mein Gesicht wieder.«

»Ich verhüllte es mit dem Schleier. Sie lag schweigend da. Plötzlich setzte das mühsame Atmen aus. Sie fuhr zusammen und erhob den Kopf von meiner Schulter.

»Haben Sie Schmerzen?« fragte ich.

»Ich bin im Himmel,« war ihre Antwort.

»Während sie sprach, sank ihr Kopf an meine Brust zurück. In diesem letzten Ausruf der Freude hatte sie ihren Atem ausgehaucht. Der Augenblick ihrer höchsten Wonne war der Augenblick ihres Todes geworden. Endlich hatte Gottes Barmherzigkeit sie erreicht.«

Ich will meinen Brief beenden, ehe die Post abgeht.

Ich habe alle Anordnungen zur Erfüllung meines Versprechens getroffen. Das Medaillon an ihrem Busen verborgen, ihr Gesicht mit dem schwarzen Schleier verhüllt, so wird man sie begraben. Ein edleres Wesen hat nie auf dieser Welt geatmet. Sagen Sie dem Freunde, der ihr sein Bildnis sandte, dass ihre letzten Augenblicke voller Glückseligkeit waren, weil sein Geschenk ihr bewies, dass er ihrer gedachte.

Soeben finde ich eine Stelle in Ihrem Briefe, die ich noch nicht beantwortet habe. Sie fragen mich, ob dem beharrlichen Verbergen ihres Gesichts hinter dem Schleier etwas Tieferes zu Grunde lag, als das, womit sie den Personen ihrer Umgebung diesen Umstand erklärte. Es ist wahr, dass sie unter einer krankhaften Empfindlichkeit gegen die Einwirkung des Lichtes litt, aber es ist ebenso wahr, dass das nicht die einzige und nicht die schlimmste Wirkung der Krankheit war, an der sie litt. Sie hatte einen anderen Grund um ihr Gesicht zu verbergen, einen Grund, den nur zwei Personen kennen, der Arzt, der in dem Dorfe, das nah bei ihres Vaters Hause liegt, lebt und ich. Wir haben uns beide verpflichtet, nie einem sterblichen Wesen zu enthüllen, was unsere Augen gesehen haben. Selbst vor ihrem Vater haben wir unser furchtbares Geheimnis verborgen und sind entschlossen es mit ins Grab zu nehmen. So hätte ich demjenigen, in dessen Auftrag Sie mir schreiben, nichts weiter über diesen tief traurigen Gegenstand zu berichten. Wenn er jetzt ihrer gedenkt, möge er sie sich in der Schönheit vorstellen, die kein irdisches Gebrechen mehr zerstören kann - in der Vollkommenheit eines befreiten Geistes, der in der Gemeinschaft mit Gottes Engeln ewig selig ist.

Schließlich lassen Sie mich in meinem Briefe noch hinzufügen, dass der arme, alte Vater sein Leben nicht in dem Hause am See in freudloser Einsamkeit beschließen wird. Er wird den Rest seines Tage unter meinem Dache verleben; mein treues Weib wird ihn pflegen und meine Kinder werden ihn daran erinnern, dass das Leben auch noch lichte Seiten hat.«

So schloss der Brief. Ich legte ihn bei Seite und ging aus. Die Einsamkeit meines Zimmers gemahnte mich in unerträglicher Weise an die tiefe Einsamkeit meines zukünftigen Lebens. Meine Interessen in dieser geschäftigen Welt waren jetzt auf einen einzigen Gegenstand beschränkt - auf die Sorge um die zerrüttete Gesundheit meiner Mutter. Eine von den beiden Frauen, deren Herzen meist in liebevollem Verständnis für das meine geschlagen hatten, lag nun im Grabe, die andere war mir im fernen Lande für immer verloren. Ich begegnete meiner Mutter in ihrem kleinen Ponywagen auf dem Fahrwege am Strande, wie sie langsam in dem milden Wintersonnenschein dahin fuhr. Ich entließ den Kutscher, der sie fuhr und ging, die Zügel in der Hand, neben dem Wagen her. Wir plauderten ruhig über alltägliche Gegenstände. Ich verschloss der trüben Zukunft, die vor mir lag, meine Blicke und versuchte zwischen meinem Herzweh hindurch, entschlossen der gegenwärtigen Stunde zu leben.

Zweiunddreißigstes Kapitel

Der Ausspruch des Arztes

Sechs Monate sind vergangen und es ist wiederum Sommer geworden.

Der letzte Abschied ist überstanden. Das Leben meiner Mutter ist abgelaufen, so sehr meine Sorge für sie auch bemüht war es zu verlängern. Sie starb in meinen Armen; mir galten ihre letzten Worte, ihr letzter Blick auf Erden war auf mich gerichtet. In des Wortes traurigster und vollster Bedeutung, stehe ich nun allein in der Welt.

Durch diesen Trauerfall sind mir gewisse Pflichten auferlegt, die meine Anwesenheit in London erheischen und da ich mein Haus vermietet habe, wohne ich in einem Hotel. Neben mir wohnt mein Freund, Sir James, den auch Geschäfte nach London riefen. Wir frühstücken und dinieren in meinem Wohnzimmer gemeinschaftlich. So furchtbar mir die Einsamkeit augenblicklich auch ist, so kann ich mich doch nicht entschließen Gesellschaft aufzusuchen, der Gedanke an Menschen, die mir nur bekannt sind, widerstrebt mir. Auf Sir James' Wunsch haben wir indessen einen Mitbewohner unseres Hotels zu Mittag zu uns eingeladen, dem mehr Auszeichnung als einem gewöhnlichen Gaste gebührt. Der Arzt, der mich zuerst von dem bedenklichen Gesundheitszustande meiner Mutter in Kenntnis setzte, wünscht dringend von mir Näheres über ihre letzten Augenblicke zu hören. Da seine kostbare Zeit in den früheren Tagesstunden zu besetzt ist, wird er unser Mittagsmahl mit uns teilen, wenn seine Patienten ihm die Zeit gönnen werden, seine Freunde aufzusuchen.

Unsere Mahlzeit ist fast beendet. Ich bemühte mich meine Selbstbeherrschung zu erhalten und habe ihm in wenigen Worten die einfache Geschichte von den letzten Lebenstagen meiner Mutter erzählt. Darauf wendet sich das Gespräch zu gleichgültigen Gegenständen, so dass ich von der Anstrengung, die ich gemacht hatte, ausruhen kann und in gewohnter Weise Muße zu meinen Beobachtungen finde. Währen des Gesprächs entdecke ich allmälig etwas in dem Benehmen des berühmten Arztes, was mich zuerst stutzig macht und was dann in mir den Argwohn erweckt, dass seine Anwesenheit einen Grund hat, den er nicht aussprach, der aber in irgend einer Beziehung zu mir stand. Ich bemerke immer wieder, dass seine Augen heimlich mit einem Interesse und einer Aufmerksamkeit auf mir ruhen, die er mir ängstlich zu verbergen sucht. Immer wieder nehme ich wahr, wie er die Unterhaltung von allgemeinen Gegenständen abzulenken sucht und mich veranlassen will von mir selbst zu sprechen und Sir James, obgleich er ihm ganz fremd ist, versteht und ermutigt ihn. Man befragt mich unter den verschiedensten Vorwänden über meine vergangenen Leiden und über meine Zukunftspläne. Unter anderen Gegenständen, die für mich von persönlichem Interesse waren, wurde das Gespräch auch auf übernatürliche Erscheinungen gelenkt. Man befragt mich, ob ich an geheime, geistige Beziehungen und an Geistererscheinungen von gestorbenen oder entfernten Personen glaube. Ich werde in geschickter Weise dazu veranlasst, dass ich durchblicken lasse, wie meine Ansichten über diese schwierige und vielfach angefochtene Frage einigermaßen durch eigene Erfahrungen beeinflusst sind. Aber Winke genügen nicht, um des Arztes harmlose Neugierde zu befriedigen, er versucht mich zu veranlassen, dass ich ganz genau erzähle, was ich in Bezug darauf gesehen und empfunden habe. Jetzt aber bin ich auf meiner Hut, ich mache Ausreden und vermeide standhaft meinen Freund in mein Vertrauen zu ziehen. Mir wird klarer und klarer, dass man mit mir ein Experiment machen will, bei dem Sir James und der Arzt gleich beteiligt sind. Indem ich mir nun äußerlich den Anschein gebe, als wäre ich in Bezug auf das, was um mich her vorgeht, frei von jedem Argwohn, beschließe ich innerlich den wahren Grund für den Besuch des Arztes, an diesem Abende, zu ermitteln und zu erforschen, was Sir James veranlasste ihn in meinem Namen einzuladen.

Gleich nachdem das Dessert aufgetragen ist, fördert eine günstige Gelegenheit meine Wünsche.

Der Kellner überbringt mir einen Brief und meldet mir, dass der Überbringer auf Antwort wartet. Ich öffne das Kuvert und finde einliegend einige Zeilen von meinen Rechtsbeiständen, die mich von der Vollziehung irgend eines Geschäftsabschlusses benachrichtigen. Sofort ergreife ich die gebotene Gelegenheit. Statt dem Boten einen mündlichen Bescheid zu überschicken, entschuldige ich mich und benutze den Brief als Vorwand um das Zimmer zu verlassen.

Nachdem ich den Boten, der unten wartet, abgefertigt habe, gehe ich in den Korridor, an dem meine Zimmer liegen und öffne leise die Tür meines Schlafzimmers. Eine zweite Tür, die in das Wohnzimmer führt, hat in ihrem oberen Teil ein Luftloch. Unter diese Stelle brauche ich mich nur zu begeben, damit jedes Wort, das zwischen Sir James und dem Arzte gewechselt wird, mein Ohr erreicht.

»So geben Sie mir also Recht?« waren die ersten Worte, die ich Sir James sagen hörte.

»Vollkommen,« antwortete der Doktor.

»Ich habe mein Möglichstes getan, um ihn von dieser einförmigen Lebensweise abzubringen,« fährt Sir James fort. »Ich habe ihn zu mir nach Schottland eingeladen, habe ihm vorgeschlagen mit mir den Kontinent zu bereisen, habe ihn gebeten mich auf meiner nächsten Reise in der Yacht zu begleiten. Für alles das hat er nur eine Antwort - er sagt zu allen meinen Vorschlägen »Nein.« Nun haben Sie von seinen eigenen Lippen gehört, dass er gar keine Zukunftspläne hat. Was soll da aus ihm werden? Was sollen wir mit ihm anfangen?«

»Das ist schwer zu sagen,« höre ich den Arzt erwidern. »Ehrlich gesagt finde ich das Nervensystem des Mannes ernstlich erschüttert. Als er mich zum ersten Male besuchte, um sich über den Zustand seiner Mutter bei mir Rat zu holen, bemerkte ich schon etwas Seltsames in seinem Wesen. Die Trauer über den Tod seiner Mutter hat also nicht allein das Unheil angerichtet. Nach meiner Ansicht ist sein Gemütszustand schon seit längerer Zeit - wie soll ich mich ausdrücken? - in Unordnung gewesen. Er ist ein sehr verschlossener Mensch und ich fürchte, dass ihn Sorgen bedrückt haben, die er zu niemand ausgesprochen hat. In seinem Alter sind die unaussprechbaren Lebenssorgen meist durch Frauen veranlasst. Seinem Charakter nach fasst er die Liebe von der romantischen Seite auf und da mag irgend eine der praktischen Frauen unserer Tage ihn bitter enttäuscht haben. Was nun auch die Veranlassung sein mag, der Erfolg ist leider klar genug - dass seine Nerven zugrunde gerichtet sind und natürlich leidet sein Gehirn mit, wenn seine Nerven leiden. Ich habe Menschen in demselben Zustande gekannt, die ein sehr trauriges Ende genommen haben. Wenn er seine Lebensweise nicht ändert, kann eine Geistesstörung daraus entstehen. Hörten Sie seine Äußerung, als wir über Geister sprachen?"

»Reiner Unsinn!« bemerkt Sir James.

»Reiner Sinnes-Wahn würde der richtigere Ausdruck sein,« erwidert der Doktor, »und daraus können in jedem Augenblick weitere Störungen entstehn.«

»Aber was ist zu tun,« beharrt Sir James; »ich muss Ihnen aufrichtig gestehn, Doktor, dass ich ein väterliches Interesse an dem armen Jungen nehme. Seine Mutter war eine meiner ältesten und liebsten Freundinnen und er hat viele ihrer gewinnenden, liebenswürdigen Eigenschaften geerbt. Hoffentlich halten Sie den Fall doch nicht für so schlimm, dass er in Gewahrsam genommen werden muss?«

»Für jetzt sicher noch nicht,« antwortet der Doktor. »Augenblicklich ist noch keinerlei Veranlassung ihn in Gewahrsam zu bringen. Er ist in der Tat ein schwieriger, bedenklicher Fall. Lassen Sie ihn von einem zuverlässigen Menschen im Stillen beaufsichtigen und hindern Sie ihn in nichts, so lange es Ihnen irgend möglich ist. Die geringste Kleinigkeit könnte seinen Verdacht erregen und, wenn wir den erweckten, würden wir damit jede Macht über ihn verlieren.«

»Sie meinen doch nicht etwa, Doktor, dass er uns jetzt schon beargwöhnt?«

»Das hoffe ich nicht. Ich sah, wie er mich ein oder zwei Mal verwundert anblickte und jetzt ist es schon recht lange her, seit er das Zimmer verlassen hat.«

Damit hatte ich nun genug gehört. Ich kehre durch den Korridor in mein Wohnzimmer zurück und nehme meinen Platz am Tische wieder ein.

Zum ersten Male in meinem Leben werde ich durch den Unwillen, der sich unter diesen Umständen natürlich in mir regt, zum guten Schauspieler. Ich erfinde die nötige Entschuldigung für meine lange Abwesenheit und beteilige mich wieder an der Unterhaltung, bei der ich aber jedes Wort ehe ich es ausspreche wohl erwäge, ohne in meinem Benehmen die geringste Rückhaltung merken zu lassen. Der Doktor verließ uns sehr früh am Abend, um einer wissenschaftlichen Versammlung beizuwohnen. Sir James bleibt noch eine halbe Stunde länger in meiner Gesellschaft. Wohl um meinen Gemütszustand noch einer weiteren Prüfung zu unterwerfen, wiederholt er mir seine Einladung nach Schottland. Ich tue, als ob ich mich durch seine beharrliche Aufforderung sein Gast zu sein, sehr geschmeichelt fühle und verspreche die Gründe für meine ablehnende Antwort noch einmal zu prüfen und ihm meinen Entschluss am nächsten Morgen beim Frühstück mitzuteilen. Sir James ist entzückt, wir schütteln uns herzlich die Hände und wünschen uns gegenseitig eine gute Nacht. Endlich nun bin ich allein.

Ohne einen Augenblick zu zögern ist mein Entschluss über das, was ich zunächst zu tun habe, gefasst. Ich nehme mir vor, am nächsten Morgen, ehe Sir James sich erhoben hat, das Hotel im Stillen zu verlassen.

Auch die Frage über meinen nächsten Bestimmungsort, die sich natürlich demnächst erhebt, ist bald beantwortet. Ich hatte mit meiner Mutter in ihren letzten Lebenstagen oft von den glücklichen Tagen gesprochen, die wir an den Ufern des Grünwassersees verlebten. Seit ihrem Tode nun hat die Sehnsucht, die alte Gegend noch einmal wiederzusehen, noch einmal wieder eine Zeitlang in den alten Umgebungen zu leben, die durch diese Gespräche genährt wurde, sich immer gesteigert. Zum Glück habe ich weder zu Sir James noch zu irgend jemand Anderem dieses Verlangen ausgesprochen, wenn ich also in dem Hotel vermisst werde ist es unmöglich, dass man eine Vermutung darüber hegt, wohin ich meine Schritte lenkte. Ich beschließe also am nächsten Morgen nach der alten Heimat in Suffolk abzureisen. Während ich die Umgebungen meiner Jugendzeit durchwandre, kann ich mit mir zu Rate gehen, wie ich die Last des Lebens, die vor mir liegt, am leichtesten zu tragen versuche.

Nach den Erfahrungen dieses Abends traue ich niemand mehr. Vielleicht wird morgen mein eigener Diener, so genau ich ihn auch von der entgegengesetzten Seite kenne, als Spion angestellt, der meine Handlungen überwachen soll. Wenn er heute Abend erscheint, um meine Befehle für die Nacht einzuholen, so sage ich ihm nur, dass er mich morgen früh um sechs Uhr wecken solle und dass ich seiner nicht weiter bedürfe. Dann schreibe ich zwei Briefe. Ich werde sie auf dem Tische zurücklassen, dort mögen sie nach meiner Abreise für sich selber reden.

Durch den ersten Brief benachrichtige ich Sir James ganz ruhig, dass ich den wahren Grund entdeckt habe, weshalb er den Doktor zum Diner eingeladen. Indem ich ihm für die Teilnahme danke, die er an meiner Wohlfahrt nimmt, verweigere ich es entschieden, noch ferner hinsichts meines Gemütszustandes zum Gegenstande ärztlicher Beobachtungen gemacht zu werden. Ich werde ihm versprechen, ihm seiner Zeit meine Zukunftspläne mitzuteilen, bis dahin soll er ohne Sorgen über meine Sicherheit sein. Es ist eine meiner krankhaften Einbildungen, dass ich mich völlig im Stande glaube, für mich selber zu sorgen. Mein zweiter Brief ist an den Wirt des Hotels gerichtet und enthält einfach meine Bestimmungen über mein Gepäck und den Betrag meiner Rechnung.

Dann betrete ich mein Schlafzimmer und verpacke in meiner Reisetasche die wenigen Sachen, die ich mitnehmen kann. In meinem Toilettenkasten habe ich mein Geld aufbewahrt und als ich ihn öffne, finde ich meinen lieben Talisman - die grüne Flagge. Wäre es möglich, dass ich zu der Grünwasserfläche zurückkehrte und des Vogtes Häuschen wiedersähe, ohne das einzige Andenken bei mir zu haben, das ich von der kleinen Mary besitze? Habe ich nicht außerdem Miss Dunroß versprochen, dass mich Marys Gabe überall hinbegleiten soll und ist mein Versprechen, jetzt wo sie tot ist, nicht doppelt heilig? Ich setze mich nieder und betrachte müßig eine Zeit lang das Sinnbild auf der Flagge - die auf grünem Grunde gestickte weiße Taube mit dem goldenen Olivenzweig im Schnabel. Meine Erinnerung kehrt zu der unschuldigen Liebesgeschichte meiner Kinderjahre zurück und führt mir den furchtbaren Kontrast zwischen jener Zeit und dem Leben, das ich jetzt führe, vor Augen. Ich wickle die Flagge zusammen und lege sie sorgfältig in meine Reisetasche. Damit ist nun Alles getan und ich kann bis zu Tagesanbruch der Ruhe pflegen.

Doch nein! Ich bemerke bald, nachdem ich mich niedergelegt habe, dass ich in dieser Nacht keine Ruhe finden kann.

Meine Gedanken kehren, nun ich keine Beschäftigung mehr habe, die sie in Anspruch nimmt und nun das erste Triumphgefühl über die Niederlage, die ich den Freunden bereite, die ein Komplott gegen mich schmiedeten, verrauscht ist, zu der Unterredung zurück, die ich belauschte und zeigen sie mir plötzlich in einem ganz neuen Lichte. Zum ersten Male tritt die furchtbare Frage an mich heran, ob ich denn sicher sein kann, dass der Arzt nicht Recht hat, der seine Meinung doch so ganz entschieden aussprach?

Dieser berühmte Mann hat sich nur durch seine Geschicklichkeit zu einem der ersten Ärzte emporgearbeitet. Er ist nicht einer von den Ärzten, die nur durch einnehmende Manieren und geschickte Benutzung gegebener Gelegenheiten Erfolge erzielen. Selbst seine Feinde räumen ihm ein, dass er bei Feststellung seiner Diagnose unerreicht in der Kunst dasteht, die wahren Symptome von den unwichtigeren zu unterscheiden und unbeirrt die Wirkungen auf ihre tief verborgenen Ursachen zurückzuführen weiß. Soll sich solch ein Mann grade über mich täuschen? Ist es nicht vielmehr wahrscheinlicher, dass ich mich über mich selbst täusche?

Blicke ich zurück in die verflossenen Jahre und gedenke der wunderbaren Ereignisse, die ich zeitweise zu erleben glaubte, wie kann ich sicher sein, dass sie nicht statt der Wirklichkeiten, für die ich sie hielt, nur ein eingebildetes Erzeugnis meines kranken Gehirns waren und von jedem Anderen dafür gehalten wurden? Was sind die Träume von Frau van Brandt, was ihre Geistererscheinungen, die ich mir einbilde gesehn zu haben? Sind sie nicht heimlich mit den Jahren herangewachsene Täuschungen? Täuschungen, die mich ganz allmälig dem endlosen Wahnsinn näher und näher bringen? Ist es nicht etwa krankhafter Argwohn, der mich gegen die treuen Freunde, die meine Vernunft retten wollen, so bitter macht? Ist es nicht krankhaftes Entsetzen, das mich treibt aus dem Hotel zu entfliehen, wie ein Verbrecher aus seinem Kerker flieht?

Diese Fragen quälen mich in der Stille der Nacht, während ich einsam wache. Mein Bett wird mir zur unerträglichen Folterbank. Ich stehe auf und kleide mich an und erwarte, indem ich aus dem geöffneten Fenster auf die Straße sehe, den Anbruch des Tages.

Die Sommernacht ist kurz. Wie eine Erlösung begrüße ich das graue Dämmerlicht, die Glut des herrlichen Sonnenaufgangs erhellt und erheitert meine Seele wiederum. Warum soll ich in dem Zimmer verweilen, das noch von den düsteren Zweifeln der Nacht erfüllt ist? Ich nehme meine Reisetasche zur Hand, lege meine Briefe im Wohnzimmer auf den Tisch und gehe die Treppe hinab nach der Haustür. Der Portier, der den Nachtdienst hat, schläft in seinem Stuhl. Er erwacht, als ich an ihm vorübergehe und sieht mich, Gott steh mir bei! auch an, als ob er mich für wahnsinnig hielte.

»Wollen Sie uns schon verlassen, mein Herr?« sagt er, indem er die Reisetasche in meiner Hand erblickt.

Ob toll oder vernünftig, meine Antwort habe ich bereit.

Ich sage, dass ich eine Landpartie für den Tag vorhabe und dass ich früh ausbrechen müsse, um den Tag recht auszunutzen.

Der Mann starrt mich noch immer an. Er fragt, ob er jemand rufen soll, der mir meine Tasche trägt. Ich wünsche nicht, dass jemand um meinetwillen gestört werde. Er fragt, ob ich irgend etwas an meinen Freund zu bestellen habe. Ich teile ihm mit, dass ich auf meinem Zimmer einige Zeilen für Sir James und den Wirt zurückgelassen habe. Darauf hin zieht er endlich die Riegel zurück und öffnet die Tür und blickt mir schließlich noch nach, als ob er mich für wahnsinnig hält.

Hätte er Recht oder Unrecht? Wer kann für sich selber einstehn? Wie kann ich das entscheiden?

Dreiunddreißigstes Kapitel

Ein letzter Blick auf die Grünwasserfläche

Der Weg durch die hellen, leeren Straßen und das Einatmen der frischen Morgenluft ermutigten mich.

Indem ich in der Richtung nach Osten die große Stadt durchschritt, ging ich in das erste Reisebüro, das ich antraf, um mir einen Platz in dem Postwagen nach Ipswich zu sichern. Von dort reiste ich mit Postpferden nach dem der Grünwasserfläche zunächst gelegenen Marktflecken. Am kühlen Abende durchwanderte ich einige Meilen weit die wohlbekannten Nebenwege, die mich zu unserem alten Hause führten. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne beleuchteten die wohlbekannte Fensterreihe an der Front des Hauses und ich sah, dass alle Laden geschlossen waren. Ringsumher war kein lebendes Wesen zu sehen. Als ich an der großen Türklingel schellte, bellte nicht einmal ein Hund. Die Besitzung war verlassen, das Haus verschlossen.

Nach langem Warten vernahm ich auf dem Flur schwere Fußtritte. Ein alter Mann öffnete die Tür. Ich erkannte ihn, trotzdem er sich verändert hatte, als einen unserer Pächter aus früherer Zeit. Zu seinem Erstaunen redete ich ihn bei seinem Namen an. Er, seinerseits, strengte sich ernstlich, aber vergebens an, mich wieder zu erkennen. Ohne Zweifel war ich es von uns beiden, mit dem die schmerzlichste Veränderung vorgegangen war - es blieb mir nichts übrig, als mich selbst vorzustellen Das welke Gesicht des armen Burschen erhellte sich langsam und schüchtern, als wäre er halb unfähig, halb besorgt, sich den ungewohnten Luxus eines Lächelns zu gestatten. Er begrüßte mich in seiner Verwirrung mit einem: »Willkommen daheim,« als ob das Haus mir noch gehörte!

Der gute alte Mann führte mich in die kleine Hinterstube, die er bewohnte, und gab mir Alles, was er zu bieten hatte - ein Abendessen von Speck und Eiern und dazu ein Glas selbst gebrauten Bieres. Augenscheinlich war es ihm schwer, zu begreifen, dass der einzige Zweck meines Besuches, wie ich ihm versicherte, nur darin bestand, dass ich noch einmal die traulichen Umgebungen meiner alten Heimat wiedersehen wollte. Er stellte mir aber bereitwilligst seine Dienste zur Verfügung und versprach, wenn ich es wünschte, sein bestes zu tun, um mir für die Nacht ein Bett aufzuschlagen.

Seit länger als einem Jahre war das Haus geschlossen und die Dienerschaft entlassen. Der reiche Kaufmann, der sich zur Zeit unserer häuslichen Sorgen hierher zurückgezogen hatte und uns das Haus abmietete, hatte noch im späteren Leben eine Leidenschaft für Rennpferde gefasst und sich dadurch zu Grunde gerichtet. Er war mit seiner Frau in das Ausland gegangen und lebte dort von dem kleinen Einkommen, das aus den Trümmern seines Vermögens gerettet war; das Haus und die Ländereien hatte er in einem so verwahrlosten Zustande zurückgelassen, dass sich bisher noch kein neuer Pächter dafür gefunden hatte. Mein alter Freund nun, der nicht mehr arbeitsfähig war, beaufsichtigte die Besitzung. Dermodys Häuschen war ebenfalls leer und so konnte ich es nach Wohlgefallen ganz und gar durchwandern. Der Hausschlüssel war mit anderen Schlüsseln an einem Bunde befestigt und der alte Mann stand, mit seinem alten Hut auf dem Kopfe, bereit mich zu begleiten, wohin ich immer gehen wollte. Ich lehnte seine Begleitung sowohl, als seine Absicht, mir in dem einsamen Hause ein Bett zu bereiten, ab, weil ich ihn nicht bemühen wolle. Die Nacht war schön, der Mond ging eben auf. Ich hatte zu Abend gegessen und mich ausgeruht. Wenn ich die Orte aufgesucht hatte, die ich wiederzusehen wünschte, so konnte ich sehr wohl nach dem Marktflecken zurückgehen und dort in meinem Gasthause übernachten.

Ich begab mich, mit dem Schlüssel in der Hand, allein durch die Felder auf den Weg nach Dermodys Hause.

Wiederum verfolgte ich nun den Waldweg, auf dem ich einst so glücklich mit meiner kleinen Mary dahinwanderte. Bei jedem Schritt erblickte ich irgend etwas, was mich an sie erinnerte. Hier stand die ländliche Bank, auf der wir im Schatten des alten Zederbaumes saßen und uns Treue bis an unser Lebensende schworen. Dort plätscherte der kleine, klare Bach, aus dem wir an schwülen Sommertagen, wenn wir müde und durstig waren, zu trinken pflegten, fröhlich wie sonst in den See herab. Mir war es immer, wie ich seinem kameradschaftlichen Gemurmel lauschte, als müsste sie in ihrem einfachen, weißen Kleide und Strohhut hier erscheinen, wie sonst, wo sie die Musik des Baches mit ihrem Gesang begleitete und ihren Strauß von Feldblumen erfrischte, indem sie ihn in das kühle Wasser tauchte. Einige Schritte weiter vorwärts erreichte ich eine Lichtung im Walde und stand auf einem kleinen Vorgebirge, das die lieblichste Aussicht über den Grünwassersee bot. Von dem Ufer aus war ein hölzernes Gerüst angebracht, das für gute Schwimmer, die einen Sprung in das tiefe Wasser nicht fürchteten, Gelegenheit zum Baden bot. Dahin stellte ich mich und schaute rings umher. Die Bäume, die das Ufer von beiden Seiten einfassten, rauschten ihren süßen Waldgesang durch die nächtliche Stille, das Licht des Mondes zitterte leise auf den plätschernden Wellen. Weiter zur Rechten erblickte ich gerade das alte hölzerne Dach, unter dessem Schutze in jenen Tagen, wo Mary mit mir in den See hinaus fuhr und mir die grüne Flagge stickte, mein Boot lag. Zu meiner Linken lag der hölzerne Zaun, der den Windungen der sich schlängelnden kleinen Bucht folgte, und dahinter erhoben sich die braunen Bogen des Entenfanges, der, weil er nicht benutzt wurde, im Begriff stand, zu verfallen. Von dem strahlenden Mondlicht begünstigt, konnte ich die Stelle sehen, wo Mary und ich gestanden hatten, um das Einfangen der Enten zu beobachten. Jetzt schritt durch das Loch im Zaun, durch das der zum Entenfang dressierte Hund sich auf Dermodys Signal gezeigt hatte, wie ein düsterer Schatten auf dem erleuchteten Boden, eine Wasserratte und verschwand im See. Wohin ich meine Blicke auch wenden mochte, von überall her blickte die Vergangenheit mich wie höhnend an und ihre Stimmen trafen vorwurfsbeladen an mein Ohr: Sieh, wie Dein Leben einst war! Ist jetzt Dein Leben des Lebens noch wert?

Ich hob einen Stein auf und warf ihn in das Wasser. Dann beobachtete ich, wie das Wasser sich um die Stelle ringelte, an er er versank. Ich überdachte mir, ob wohl je ein geübter Schwimmer, wie ich es war, versucht hatte, sich durch Ertrinken den Tod zu geben und an seinem Entschluss zu sterben so fest gehalten hätte, dass er der Versuchung, sich durch seine eigene Geschicklichkeit vor dem Versinken zu bewahren, widerstanden. Ich fühlte mich sehr erregt, ob durch den Anblick des Sees oder durch irgend etwas, was mit den Gedanken in Verbindung stand, die er in mir erweckt hatte, weiß ich nicht. Ich kehrte aber plötzlich der schönen Aussicht den Rücken und schlug den Waldweg ein, der zu dem Hause des Vogtes führte.

Als ich die Tür aufgeschlossen hatte, tastete ich mich bis zu dem wohlbekannten Wohnzimmer vorwärts und öffnete die Fensterladen, um das Mondlicht hineinscheinen zu lassen.

Mit schwerem Herzen blickte ich um mich her. In jedem Teil des Zimmers machte die veraltete Einrichtung, die an einer oder zwei Stellen erneuert war, ihr stummes Anrecht an meine alte Bekanntschaft geltend. Das sanfte Mondlicht strömte quer durch das Zimmer in die Ecke, in der Mary und ich zusammenzusitzen pflegten, während Dame Dermody am Fenster in ihren mystischen Büchern las. In der entgegengesetzten Ecke entdeckte ich, von der Dunkelheit verhüllt den hochlehnigen Armstuhl von geschnitztem Eichenholz, in welchem die Sybille des Hauses an jenem denkwürdigen Tage saß, als sie uns von unserer bevorstehenden Trennung sprach und zum letzten Male ihren Segen gab. Als ich dann eine Umschau an den Wänden des Zimmers hielt, entdeckten meine Blicke, wohin ich sie auch richtete, alte Freunde: da die buntfarbigen Bilder, dort die eingerahmten Stickereien, die wir für wundervolle Kunstleistungen hielten, und den alten runden Spiegel, zu dem ich Mary oftmals emporheben musste, wenn sie »ihr Gesicht im Spiegel zu sehen« wünschte. Überall, wohin das Mondlicht drang, zeigte es mir wohlbekannte Gegenstände, die mich an die glücklichsten Tage meines Lebens erinnerten. Wiederum blickte die Vergangenheit mich höhnisch an. Wiederum hörte ich die Stimme aus alter Zeit mich voller Vorwurf fragen: Sieh, wie einst Dein Leben war! Ist es jetzt noch des Lebens wert?

Ich setzte mich am Fenster, von wo aus ich hin und wieder das Wasser des Sees durch die Bäume schimmern sah, nieder und dachte bei mir selbst: »So weit habe ich meine Lebensreise zurückgelegt. Warum soll ich sie nicht hier beschließen?«

Wenn morgen mein Selbstmord bekannt wird, wer würde um mich trauern? Von allen lebenden Menschen war ich es vielleicht, der die geringste Zahl von Freunden besaß; ich hatte die wenigsten Pflichten gegen Andere, hatte keinen Grund zu zögern, wenn ich eine Welt verlassen wollte, die mir für meinen Ehrgeiz kein geeignetes Feld, für meine Liebe keinen Gegenstand bot.

Und warum brauchte es überhaupt bekannt zu werden, dass ich selbst den Tod gesucht hatte? Ich konnte es sehr wohl so einrichten, dass man einem unglücklichen Zufall die Schuld beimaß.

War es nicht natürlich, dass ich an diesem schönen Sommerabende, ehe ich nach der langen Reise zu Bett ging, ein Bad in den kühlen Fluten des Sees nahm? Und konnte es mir nicht, trotzdem ich ein gewandter Schwimmer war, begegnen, dass mich unglücklicherweise ein Krampf befiel? An dem einsamen Ufer der Grünwasserfläche musste der Hilferuf eines Ertrinkenden in der Nacht ohne Erfolg bleiben, so erklärte sich also der »unglückliche« Zufall von selbst. Es stand mir also nur die Schwierigkeit im Wege, die ich mir vorhin schon vergegenwärtigt hatte. Würde ich stark genug sein, dem tierischen Instinkt der Selbsterhaltung zu widerstehen und meinem Untergehen bei dem ersten Sprunge nicht zu wehren?

Die Luft im Zimmer war dick und schwer. Ich verließ es und ging draußen, bald im Schatten, bald im Mondschein, unter den Bäumen vor der Haustür auf und ab.

In diesem Augenblick hatte keiner der moralischen Gründe, die gegen den Selbstmord sprechen, irgend einen Einfluss auf mich. Ich, der ich einst weder eine Entschuldigung noch auch nur ein Verständnis für die Verzweiflung finden konnte, die Frau van Brandt zu dem Versuche, sich das Leben zu nehmen, trieb, ich betrachtete jetzt mit voller Ruhe die Tat, die mich mit Entsetzen erfüllt hatte, als ich sie von einem anderen Wesen ausführen sah! Wir sollten aus dem einen unerklärlichen Grunde recht zögern, ehe wir die Fehltritte unserer Mitmenschen verdammen, dass wir nämlich nie sicher sein können, ob nicht ähnliche Versuchungen uns verleiten, dieselben Fehltritte auch zu begehen. Wenn ich jetzt an die Ereignisse jener Nacht zurückdenke so erinnere ich mich nur, dass eine Erwägung meinen Fuß von dem verhängnisvollen Pfade zurückhielt, der zum See führte. Ich zweifelte immer wieder, ob es für einen so geübten Schwimmer, wie ich es war, überhaupt möglich sei, sich zu ertränken. Das allein beunruhigte mich. Übrigens war mein Testament gemacht und es blieben nur wenige meiner Angelegenheiten ungeordnet zurück. Ich hegte auch nicht die geringste Hoffnung für eine Wiedervereinigung mit Frau van Brandt.

Sie hatte mir nie wieder geschrieben und seit unserer letzten Trennung war sie mir auch in meinen Träumen nie wieder erschienen. Sie war wohl ohne Zweifel mit ihrem Leben im Auslande ausgesöhnt. Ich verzieh ihr, dass sie mich vergessen hatte. Ich gedachte an sie und an Andere mit den versöhnlichen Gefühlen eines Menschen, dessen Geist schon dieser Welt entrückt ist und dessen Vorstellungen sich immer enger nur um den Gedanken an seinen eigenen Tod sammeln.

Das Auf- und Abgehen fing an mich zu ermüden. Die Einsamkeit des Ortes bedrückte mich. Meine Nerven wurden durch das Bewusstsein meiner eigenen Unentschlossenheit verstimmt. Endlich, nachdem ich noch einen langen Blick durch die Bäume auf den See geworfen hatte, kam ich zu einem festen Entschluss. Ich wollte versuchen, ob ein guter Schwimmer sich wirklich ertränken kann.

Vierunddreißigstes Kapitel

Eine nächtliche Erscheinung

Ich kehrte in das Wohnzimmer des Häuschens zurück, zog einen Stuhl an das Fenster und schlug eine leere Seite meines Notizbuches aus. Um im Falle meines Todes meinen Testamentsvollstreckern manche Mühe und Ungewissheit zu ersparen, musste ich ihnen noch einige Weisungen geben. Indem ich meinen letztwilligen Bestimmungen die gewöhnliche Aufschrift »Notizen für meine Rückkehr nach London« als Deckmantel gab, begann ich zu schreiben.

Als ich eine Seite des Notizbuches beschrieben und die andere eben aufgeschlagen hatte, überkam mich eine gewisse Schwerfälligkeit, die mich hinderte, meine Gedanken auf dem Gegenstand, den ich vor hatte, zu richten. Sofort erinnerte ich mich eines ähnlichen Zustandes, der mich in Shetland befallen hatte. als ich mich vergebens bemühte, den Brief an meine Mutter zu verfassen, den Miss Dunroß für mich schreiben wollte. Durch den Vergleich, den ich zwischen damals und jetzt anstellte, wurden meine Gedanken jetzt, wie damals, auf meine letzten Erinnerungen an Frau van Brandt, gelenkt. Eine oder zwei Minuten später gewahrte ich wiederum die seltsame körperliche Empfindung, deren ich mir zum ersten Male in dem Garten bei Mr. Dunroß's Hause bewusst wurde. Dasselbe geheimnisvolle Beben durchzitterte mich von Kopf bis Fuß. Ich blickte zwar wieder um mich, hatte aber kein klares Bewusstsein von den Gegenständen, auf denen meine Augen ruhten. Meine Nerven zitterten an diesem milden Sommerabende, als ob elektrische Strömungen in der Luft wären, denen ein Sturm folgen würde. Ich legte mein Notizbuch und Bleistift auf den Tisch und erhob mich, um wieder hinaus unter die Bäume zu gehen. Es erwies sich aber, dass selbst die kleine Anstrengung, das Zimmer zu durchschreiten, über meine Kräfte war. Ich stand an die Stelle gewurzelt und hielt mein Gesicht der offenen Tür zugewendet, durch die das Mondlicht hereinströmte.

Es verging eine Weile, da, als ich immer noch durch die Tür hinaussah, bemerkte ich, dass sich etwas, weit unten zwischen den Bäumen, die das Ufer des Sees einfassten, bewegte. Ich hatte zuerst den Eindruck, als ob zwei graue Schatten sich langsam durch die Baumstämme zu mir heranschlängelten. Allmälig aber gewannen die Schatten bestimmtere Umrisse, bis sie sich mir als zwei vollständig bekleidete Gestalten darstellten, von denen die eine größer war als die andere. Als sie näher und näher herankamen, verschwand die dunkelgraue Färbung um sie her. Sie wurden von einem ihnen eigenen, inneren Lichte sanft erhellt, als sie der geöffneten Tür näher traten. Ich stand zum dritten Male in der geisterhaften Gegenwart von Frau von Brandt und neben ihr an ihrer Hand erblickte ich eine zweite nie vorhergesehene Gestalt, es war die Erscheinung ihres Kindes.

So standen die Beiden Hand in Hand vor mir, selbst durch den hellen Mondschein hindurch umstrahlt von ihrem überirdischen Lichte. Das Antlitz der Mutter blickte mich wiederum mit den traurigen, stehenden Augen, deren ich mich so wohl erinnerte, an. Das unschuldige Antlitz des Kindes aber strahlte von einem engelhaften Lächeln. In unaussprechlicher Spannung erwartete ich das erste Wort, das sie sprechen, die erste Bewegung, die sie machen würden. Zuerst erfolgte die Bewegung. Das Kind ließ die Hand der Mutter los und, sich leise aufwärts hebend, schwebte es in der Luft als eine sanftstrahlende Erscheinung, die aus dem dunklen Hintergrunde der Bäume hervorleuchtete. Die Mutter glitt in das Zimmer und blieb vor dem Tische stehen, auf den ich mein Notizbuch und Bleistift niedergelegt hatte, als ich nicht mehr zu schreiben vermochte. Wie bei den früheren Malen nahm sie auch jetzt den Bleistift und schrieb auf die leere Seite, dann winkte sie mir wie früher, zu ihr zu kommen. Ich näherte mich ihrer ausgestreckten Hand und empfand wiederum die geheimnisvolle Wonne, als sie meine Brust berührte, wiederum hörte ich sie mit ihrer leisen, melodischen Stimme die Worte wiederholen: »Gedenke mein. Komm zu mir.« Ihre Hand sank zu meiner Brust herab. Das bleiche Licht, das mir ihre Gestalt enthüllt hatte, zitterte, erblasste und verschwand. Sie hatte gesprochen und war verschwunden. Ich ergriff das geöffnete Notizbuch und fand diesmal nur folgende Worte von der Geisterhand geschrieben:

»Folge dem Kinde.«

Ich sah in die einsame, nächtliche Landschaft wiederum hinaus. Dort, mild auf dem dunklen Hintergrunde der Bäume erglänzend, schwebte in der Luft noch immer die Erscheinung des Kindes im Sternenlichte.

Ohne es mir selbst klar bewusst zu sein, trat ich vor und überschritt die Türschwelle. Zwischen den Bäumen bewegte sich vor mir her die sanft leuchtende Gestalt des Kindes. Ich folgte ihm, als befände ich mich im Zauberbann. Die Erscheinung, die immer vor mir herschwebte, führte mich durch den Wald, an meiner alten Heimat vorbei, zurück zu den einsamen Nebenwegen, auf denen ich von dem Marktflecken nach dem Hause hergewandert war. Die lichte Gestalt des Kindes, die tief unten an dem wolkenlosen Himmel schwebte, hielt von Zeit zu Zeit still, als wir beide unseren Weg zurücklegten. Sein strahlendes Gesicht blickte lächelnd auf mich nieder, dann winkte es mit seiner kleinen Hand und schwebte wieder weiter, indem es mich geleitete, wie in alter Zeit der Stern den Weisen des Morgenlandes ihren Weg zeigte.

Ich erreichte die Stadt. Die Luftgestalt des Kindes hielt an und schwebte über dem Hause, wo ich am Abend meinen Reisewagen zurückgelassen hatte. Ich befahl, dass die Pferde zu einer weiteren Reise angespannt wurden. Der Postillon erwartete meine weiteren Bestimmungen. Ich blickte aufwärts. Des Kindes Hand deutete südwärts, den Weg nach London entlang. Ich gab dem Manne den Befehl, nach dem Orte zurückzukehren, wo ich den Wagen gemietet hatte. Im Weiterfahren sah ich von Zeit zu Zeit aus dem Fenster. Die lichte Gestalt des Kindes schwebte vor mir her, tief unten am wolkenlosen Himmel dahingleitend. Ich wechselte von Station zu Station die Pferde und fuhr die ganze Nacht hindurch immer weiter, bis die Sonne am östlichen Himmel aufging. Ob es Nacht oder Tag war, die Gestalt des Kindes schwebte in ihrem gleichmäßigen, geheimnisvollen Lichte immer vor mir her. Sie geleitete mich eine Meile nach der andern vorwärts auf dem Wege nach Süden, bis wir die ländlichen Umgebungen hinter uns ließen und durch das Getöse und Gewirre der großen Stadt hindurch, im Schatten des alten Tower anlangten, wo wir vor uns den Fluss, der daran vorüberfließt, erblickten.

Der Postillon kam an die Wagentür und fragte mich, ob ich noch ferner seiner Dienste bedürfe. Als ich die Gestalt des Kindes auf seiner lustigen Bahn stillstehen sah, hatte ich ihm zugerufen, dass er anhalten möchte. Nun sah ich wieder hinauf. Die Hand des Kindes wies nach dem Flusse. Ich bezahlte den Postillon und verließ den Wagen. Das Kind führte mich, vor mir herschwebend, zu einem Landungsplatz, der mit Reisenden und ihrem Gepäck angefüllt war. Ein Schiff lag vor der Landungsbrücke, eben zur Abfahrt gerüstet. Das Kind führte mich an Bord des Schiffes und verweilte dann über mir in der dunstigen Luft schwebend. Ich sah hinauf. Das Kind sah mit seinem strahlenden Lächeln zu mir nieder und deutete den Strom entlang, ostwärts auf die ferne See. Während meine Augen fest auf die sanft dahingleitende Gestalt geheftet waren, sah ich sie verschwinden, aufwärts, immer aufwärts zu dem höheren Lichte, wie die Lerche aufwärts und weiter aufwärts an dem Morgenhimmel verschwindet. So war ich nun wieder mit meinen irdischen Mitmenschen allein und mir blieb kein anderer Aufschluss, um mich weiter zu führen, als die Hand des Kindes, die ostwärts auf die ferne See gedeutet hatte.

Ein Matrose wickelte in meiner Nähe auf dem Deck einen losen Ankertau auf. Ich fragte ihn, nach welchem Hafen das Schiff steuere. Der Mann sah mich mit mürrischem Erstaunen an und antwortete: »Noch Rotterdam.«

Fünfunddreißigstes Kapitel

Über Land und Meer

Es kümmerte mich wenig, nach welchem Hafen das Schiff steuerte, wusste ich doch, wohin ich auch ging, dass ich auf dem sicheren Wege zu Frau van Brandt war. Sie bedurfte wiederum meiner und hatte nach mir verlangt. Wohin die Geisterhand des Kindes gewiesen hatte, dahin musste ich meinen Weg verfolgen, ob er mich ins Ausland führte oder in die Heimat wies. Ich war überzeugt, dass ich weiter geleitet werden würde, so wie ich das Festland betrat und hielt an diesem Glauben so fest, wie an dem Bewusstsein, dass mich die Geistererscheinung des Kindes bis hierher geführt hatte.

Ich hatte zwei Nächte hindurch nicht geschlafen - nun übermannte mich die Müdigkeit. Ich stieg in die Kajüte hinab und legte mich in einen leeren Winkel nieder, um zu schlafen. Als ich wieder erwachte war es Nacht geworden, das Schiff war auf der hohen See.

Ich begab mich auf Deck um die frische Luft zu genießen, nach kurzer Zeit aber kehrte das Gefühl der Müdigkeit wieder zurück und ich schlief wiederum mehrere Stunden lang. Ohne Zweifel würde der mir befreundete Arzt dieses nimmer wiederkehrende Bedürfnis nach Ruhe, dem erschöpften Zustande meines Gehirns zugeschrieben haben, das durch die Fantasiegebilde, die es ununterbrochen viele Stunden lang beschäftigt hatten zu sehr erregt worden war. Kurz ich wachte nur dann und wann einige Augenblicke lang während der ganzen Reise, mag die Ursache dazu gewesen sein, welche sie wolle, die übrige Zeit lag ich wie ein ermüdetes Tier in Schlaf versunken.

Als ich bei Rotterdam die Küste betrat, bemühte ich mich gleich zuerst den Weg nach dem englischen Konsulat zu erfahren. Da ich nur noch eine sehr kleine Geldsumme übrig behalten hatte, war es, nach allen meinen Erfahrungen das Geratenste, dass ich, ehe ich etwas Anderes unternahm, die nötigen Schritte tat, um meine Börse wieder zu füllen.

Meine Reisetasche hatte ich bei mir. Als ich nach der Grünwasserfläche reiste, hatte ich sie in dem Gasthause des Marktfleckens zurückgelassen und der Diener hatte sie mir in den Wagen gelegt, als ich wieder nach London abreiste. Diese Tasche enthielt einige Briefe, die mir, um dem Konsul meine Identität zu beweisen, von Nutzen sein konnten. Er gab mir die nötigen Empfehlungen an das Haus in Rotterdam, das mit meinen Londoner Bankiers in Verbindung stand.

Als ich mein Geld empfangen und einige notwendige Sachen eingekauft hatte, ging ich langsam die Straße entlang, ohne zu wissen, wohin ich mich zunächst wenden würde. Ich erwartete zuversichtlich ein Ereignis, das meine Schritte leiten sollte. Kaum war ich hundert Schritte weiter gegangen, als ich an den Fensterladen eines Hauses, das allem Anscheine nach kaufmännischen Zwecken diente, den Namen »van Brandt« angeschrieben sah.

Die Haustür stand offen. Eine zweite, an einer Seite des Flures belegene Tür führte in das Geschäftslokal. Ich betrat das Zimmer und fragte nach Herrn van Brandt. Man rief mir einen jungen Mann, der der englischen Sprache mächtig war, um sich mit mir zu verständigen. Er sagte mir, dass das Geschäft von drei Inhabern desselben Namens geführt werde und fragte mich, welchen davon ich zu sprechen wünsche. Ich erinnerte mich noch des Taufnamens von van Brandt und nannte ihn; es war aber in dem Geschäft kein »Herr Ernst van Brandt« bekannt.

»Unser Haus hier ist nur von der Firma van Brandt abgezweigt,« erklärte mir der junge Mann. »Das Hauptgeschäft befindet sich in Amsterdam. Wenn Sie dort nachfragen, wird man Ihnen sicher sagen können, wo Herr Ernst van Brandt sich aufhält.«

Es kümmerte mich wenig, wohin mein Weg mich führte, wenn das Ziel nur Frau van Brandt war. Da es für diesen Tag zu spät zur Abreise war, schlief ich in einem Hotel. Die Nacht verging ruhig und ohne irgend welches Ereignis. Am nächsten Tage reiste ich mit einer gewöhnlichen Fahrgelegenheit nach Amsterdam ab.

Als ich bei meiner Ankunft dort meine Nachfragen in dem Hauptgeschäft wiederholt, wurde ich an einen der Inhaber gewiesen. Er sprach vollkommen gut Englisch und empfing mich mit einer Art von Interesse, dessen Ursache ich mir zuerst nicht erklären konnte. »Ich kenne Herrn Ernst van Brandt sehr gut,« sagte er. »Darf ich fragen ob sie ein Freund oder Verwandter der englischen Dame sind, die er uns hier als seine Frau vorgestellt hat?«

Ich bejahte die Frage und fügte hinzu, dass ich gekommen sei, um der Dame jeden Beistand zu leisten, dessen sie bedürfen könnte.

Die nächsten Worte des Kaufmannes erklärten mir das scheinbare Interesse, was er an mir gleich beim Empfange zu nehmen schien. »Sie sind sehr willkommen,« sagte er, »denn Sie befreien meine Kompagnons und mich von einer großen Sorge. Was ich damit sagen will, kann ich Ihnen nur erklären, wenn ich für einen Augenblick über die Geschäftsangelegenheiten meiner Firma zu Ihnen spreche. Wir besitzen in der altertümlichen Stadt Enkhuizen, an den Ufern der Zuidersees eine Fischerei. In früheren Zeit besaß Herr Ernst van Brandt einen Anteil daran, den er später verkaufte. In den letzten Jahren nahm der Gewinn ans dieser Quelle sehr ab und wir denken daran die Fischerei aufzugeben, wenn unsere wiederholten Bemühungen in dieser Richtung nicht von besserem Erfolge gekrönt werden. Inzwischen erinnerten wir uns an Herrn Ernst van Brandt, als wir eine unbesetzte Stelle in unserem Geschäftshause in Enkhuizen hatten und boten ihm an, ob er als Schreiber dort seine Beziehungen zu unserem Hause wieder aufnehmen wollte. Er ist mit einem meiner Kompagnons verwandt und dennoch bin ich leider gezwungen Ihnen der Wahrheit gemäß zu gestehen, dass er ein sehr schlechter Mensch ist. Er hat unser Wohlwollen für ihn durch Unterschleife belohnt, die er mit unserem Gelde gemacht hat und ist nun geflohen, ohne dass es uns bis jetzt gelungen ist, die Richtung zu ermitteln. Die englische Dame hat er mit ihrem Kinde in Enkhuizen zurückgelassen - und bis Sie heute hier ankamen, waren wir eigentlich ratlos, was wir mit ihnen anfangen sollten. Ich weiß nicht, mein Herr, ob Sie davon unterrichtet sind - aber die Lage der Dame ist dadurch doppelt trostlos, dass ernste Zweifel darüber obwalten, ob sie wirklich van Brandts Frau ist. Wir wissen bestimmt, dass er vor einigen Jahren mit einer andern Frau im Geheimen getraut worden ist und haben keinerlei Beweise, dass diese erste Frau tot ist. Wenn wir Ihnen in Ihren Anstrengungen Ihrer unglücklichen Landsmännin beizustehen, irgend wie nützlich sein können, so bitten wir Sie, ganz über unsere Dienste zu verfügen.«

Ich brauche wohl nicht zu sagen, in welcher atemloser Spannung ich diesen Worten lauschte. Nun musste sie sicher zu mir zurückkehren, wie meine arme Mutter vorausgesagt.

Die Hoffnung, die mich schon ganz verlassen, erfüllte nun wiederum mein Herz und die Zukunft, an die ich so lange zagend gedacht hatte, lag nun strahlend vom bevorstehenden Glücke vor meinen Blicken. Ich dankte dem guten Kaufmanne mit einer Innigkeit, die ihn in Erstaunen setzte. »Helfen Sie mir nur auf den Weg nach Enkhuizen,« sagte ich, »alles Übrige überlassen Sie mir dann getrost.«

»Die Reise wird Ihnen größere Ausgaben verursachen,« erwiderte der Kaufmann. »Verzeihen Sie, wenn ich Sie gerade herausfrage, ob sie auch mit Geld versehen sind?«

»Sehr reichlich!«

»Gut denn! Das Übrige ist bald getan. Ich werde Sie der Obhut eines Ihrer Landsleute übergeben, der seit vielen Jahren in unserem Comptoir angestellt ist. Als Fremder wird es für Sie am Leichtesten sein die Reise zur See zu machen und der Engländer wird Ihnen bei dem Mieten eines Bootes behilflich sein.«

In wenigen Minuten war ich mit dem Schreiber auf dem Wege nach dem Hafen.

Das Auffinden eines Bootes und die Beschaffung der nötigen Leute veranlasste Schwierigkeiten, die ich nicht vorausgesehen hatte. Als es nun endlich gelungen war, mussten wir an die Verpflegung für die Reise denken. Dank der Erfahrung meines Begleiters und der herzlichen Bereitwilligkeit mit der er alles nötige ausführte, waren meine Vorbereitungen doch noch vor Einbruch der Nacht beendet. Am nächsten Morgen konnte ich nach meinem Bestimmungsorte absegeln.

Das Boot hatte für die Fahrt auf dem Zuidersee die doppelte Annehmlichkeit, groß zu sein und verhältnismäßig wenig Wasser zu ziehen. Die Kajüte des Kapitäns war am hinteren Ende des Schiffes und die zwei oder drei Leute, die die Bemannung bildeten, waren im Bug untergebracht. Nachdem der Raum an einer Seite für den Kapitän, an der anderen für die Leute abgeteilt war, blieb die ganze Mitte des Bootes für mich und wurde mir als Kajüte überwiesen. So hatte ich keinen Grund mich über Mangel an Raum zu beklagen, da das Schiff zwischen fünfzig und sechzig Tonnen maß. Ich hatte ein bequemes Bett, einen Tisch und einige Stühle. Die Küche lag in angenehmer Entfernung von mir auf dem vorderen Ende des Bootes. Ich begab mich, auf meinen eigenen Wunsch, ohne Diener oder Dolmetscher auf die Reise, denn ich zog es vor allein zu sein. Der holländische Kapitän war früher einmal in seinem Leben in Frankreich in der kaufmännischen Marine angestellt gewesen und daher konnten wir uns, wenn es einmal nötig oder wünschenswert war, durch Vermittelung der französischen Sprache verständigen.

Wir ließen die Türme von Amsterdam hinter uns und segelten über das stille Wasser des Flusses dem Zuidersee zu.

Die Geschichte dieses wunderbaren Sees ist schon an sich selbst ein Roman. Zur Zeit als Rom die Beherrscherin der Welt war, existierte er noch nicht. Wo jetzt die Wellen rauschen, umgrenzten damals weite Waldstrecken einen großen Binnensee, der nur durch einen Fluss seinen Ausgang in die See fand. Durch andauernde Stürme angeschwollen, überflutet der See seine Ufer und seine wütenden Wellen rasteten nicht, bis sie alle Hindernisse ans ihrem Wege zerstörend, die äußerste Grenze des Landes erreicht hatten. Die große Nordsee stürzte durch die verderbliche Öffnung hinein und seit jener Zeit besteht der Zuidersee so, wie wir ihn jetzt kennen. Jahre vergingen, Generationen folgten auf einander und an den Ufern des neuen Ozeans entstanden große, bevölkerte Städte, die reich an Handel und berühmt in der Geschichte wurden. Jahrhunderte hindurch währte ihr Wohlstand, bis das nächste Ereignis in der Reihe mächtiger Verwandlungen heranreifte und zum Ausbruch kam. Die Bewohner der Städte am Zuidersee versanken, abgesondert von der übrigen Welt, eitel auf sich selbst und ihr Wohlergehen, unbekümmert um den Fortschritt die benachbarten Nationen, in jene verhängnisvolle Trägheit, die abgesonderten Völkern eigen ist. Die Wenigen aus der Bevölkerung die noch die Reliquien der alten Energie bewegt hatten, wanderten aus, während die zurückbleibende Menge geduldig dem abnehmenden Verkehr und dem Verfall ihrer Institutionen zusah. Als das neunzehnte Jahrhundert herangekommen war, zählte man die Bevölkerung die sich einst auf Tausende belief, nach Hunderten. Der Handel hörte auf, ganze Straßen waren verlassen. Häfen, die sonst von Schiffen wimmelten, waren durch die Anhäufung des Sandes, der man in keiner Weise steuerte, ganz zerstört. Jetzt nun in unserer Zeit ist gegen den Verfall dieser einst blühenden Städte keine Abhülfe mehr möglich und man zieht nun für die nächste große Verwandlung den Plan in Betracht, die nutzlose Wasserfläche auszutrocknen, um den kommenden Generationen das wiedergewonnene Land zur fruchtbaren Bearbeitung zu übergeben. Das ist in kurzem die Geschichte des Zuidersees.

Als wir weiter vorwärts kamen und den Fluss verließen, bemerkte ich die schwarzgelbe Farbe des Sees, die die Sandbänke, durch die unerfahrenen Seeleuten leicht Gefahren erwachsen können, dem flachen Wasser geben. Wir rasteten für die Nacht an der Fischerinsel Marken, die mir, beleuchtet von dem letzten Schimmer des Zwielichts, als ein armseliger verlassener, ernst aussehender Ort erschien. Hier und da erhoben sich die giebligen Hütten, die an die Hügel gelehnt waren, schwarz gegen den dunkelgrauen Himmel. Hin und wieder erschien eine menschliche Gestalt am Ufer und stand in stiller Betrachtung des fremden Bootes versunken. Das war Alles was ich von der Insel Marken sah.

In manchen Augenblicken wurde mir die Wirklichkeit meiner eigenen Tage zweifelhaft, als ich in der stillen Nacht auf einem fremden Meere wach lag.

War das Alles ein Traum? Meine Selbstmordgedanken, meine Vision von Mutter und Tochter, meine Rückreise nach der Hauptstadt, die von der Erscheinung des Kindes geleitet wurde, meine Reise nach Holland, mein nächtliches Ankern auf dem unbekannten See - waren das Alles nur, so zu sagen, Bruchstücke derselben krankhaften, inneren Verwirrung, alles Täuschungen aus denen ich jeden Augenblick erwachen konnte um mich dann wieder im Vollbesitz meiner Sinne in dem Hotel in London zu befinden? Da mich meine Zweifel immer mehr verwirrten und weiter und weiter von einem entschiedenen Schlusse ablenkten, verließ ich mein Bett und begab mich auf Deck, um die Umgebung zu wechseln. Es war eine stille, bewölkte Nacht. Die Insel war nichts weiter als ein dunklerer Schatten in der dunklen Öde um mich her. Der einzige Laut, der mein Ohr erreichte, war das schwere Atmen des Kapitäns und seiner Leute, die zu beiden Seiten von mir schliefen. Ich lauschte und blickte rings um mich her in der Dunkelheit, die mich umgab. Es zeigte sich aber keine neue Erscheinung. Als ich wieder zur Kajüte zurückkehrte und endlich einschlummerte, träumte ich nicht. Es schien als hätte ich in England Alles zurückgelassen, was sich in den letzten Ereignissen meines Lebens Geheimnisvolles und Wunderbares zugetragen hatte. Als ich Holland erreicht hatte, war ja meine Handlungsweise nur durch ganz natürliche Umstände und durch ganz alltägliche Entdeckungen, die jedermann in meiner Lage gemacht haben würde, beeinflusst worden. Was bedeutete das? Hatte meine Gabe als Geisterseher mich in dem neuen Lande unter fremden Menschen verlassen? Oder hatte mein Schicksal mich an den Ort geführt, wo die Sorgen meiner irdischer Pilgerfahrt ihr Ende erreichen sollten? Wer konnte das sagen?

Am nächsten Morgen in aller Frühe segelten wir weiter.

Unsere Richtung war beinahe nordwärts. Zu einer Seite lag mir der dunkelgelbe See, dessen Farbe sich unter gewissen Witterungseinflüssen in ein trübes Perlgrau verwandelte. Zur andern Seite war die flache sich hinschlängelnde Küste, auf der gelber Sand mit grünen Wiesenstrecken wechselte, dann und wann von Städten und Dörfern unterbrochen, deren rote, ziegelgedeckte Dächer und spitze Kirchtürme heiter zum klaren, blauen Himmel hinaufragten. Der Kapitän schlug mir einen Besuch in den berühmten Städten Edam und Hoorn vor, aber ich lehnte es ab ans Land zu gehen. Mein einziger Wunsch war die altertümliche Stadt zu erreichen in der Frau van Brandt verlassen lebte. Als wir die Richtung wechselten, um auf das Vorgebirge los zu steuern auf dem Enkhuizen liegt, ließ der Wind nach, - drehte sich dann nach einer anderen Richtung und wurde so stark, dass er die Schwierigkeiten der Fahrt sehr vergrößerte. So lange als irgend möglich, bestand ich darauf, dass wir unsern Weg fortsetzten. Nach Sonnenuntergang ließ die Gewalt des Windes nach. Die Nacht war wolkenlos, und das gestirnte Firmament lieh uns sein bleiches, melancholisches Licht. Nach Verlauf einer Stunde drehte sich der launische Wind wieder zu unserm Gunsten. Gegen zehn Uhr liefen wir in den öden Hafen von Enkhuizen ein.

Der Kapitän und seine Leute aßen ihr einfaches Abendbrot und gingen zu Bett, da sie von ihren Anstrengungen ermüdet waren. Nach einigen Augenblicken war ich der Einzige, der auf dem Boote wachte.

Ich stieg aufs Deck und blickte um mich her.

Unser Boot hatte an einem verlassenen Kai geankert. Außer einigen kleinen Schiffen, die ich nah bei dem unseren erblickte, bot der Hafen dieses einst wohlhabenden Ortes mir den Anblick einer weiten, einsamen Wasserfläche, die hier und da von öden Sandbänken unterbrochen war. Landwärts sah ich nur die einsamen Gebäude der Totenstadt - die düster schwarz und grimmig in dem geheimnisvollen Sternenscheine dastanden. Nirgends war ein menschliches Wesen oder auch nur ein verirrtes Tier zu erblicken. Der Ort sah jetzt so leer und leblos aus, als wäre er durch eine Seuche verwüstet worden und vor wenig mehr als hundert Jahren erreichte die Zahl seiner Bewohner sechzig Tausend. Seine Einwohnerzahl war auf den zehnten Teil zusammen geschrumpft, als ich Enkhuizen jetzt vor mir liegen sah.

Ich überlegte mir, was ich nun zunächst tun sollte.

Jedenfalls hatte ich geringe Aussicht, Frau van Brandt aufzufinden, wenn ich zur Nachtzeit allein und ohne Führer in die Stadt zu gehen versuchte. Und würde es mir anderseits doch möglich sein, nun ich den Ort erreicht hatte, an dem sie mit ihrem Kinde freundlos und verlassen lebte, geduldig die lange Zwischenzeit abzuwarten, die vergehen musste, ehe es Morgen wurde und die Stadt erwachte. Ich kannte meine eigene selbstquälerische Natur zu gut, um das Letztere zu wählen. Komme was da wolle, ich beschloss Enkhuizen auf den Zufall hin, zu durchwandern, dass ich das Comptoir der Fischerei entdeckte und so Frau van Brandts Adresse erfuhr.

Nachdem ich zuerst vorsichtigerweise meine Kajütentür verschlossen hatte, stieg ich vom Schiff auf den einsamen Quai und begab mich auf die nächtliche Wanderung durch die Totenstadt.

Sechsunddreißigstes Kapitel

Unter dem Fenster

Nachdem ich die Lage des Hafens durch meinen Taschencompass festgestellt hatte, ging ich die nächste Straße, die vor mir lag, entlang. Wie ich vorwärts schritt, sahen mich die alten, verfallenen Häuser zu beiden Seiten finster an. Hinter dem Fenster waren keine Lichte, auf den Straßen keine Laternen. Ich ging eine Viertelstunde lang, tiefer und tiefer in das Innere der Stadt hinein, ohne einem lebenden Wesen zu begegnen, das Licht der Sterne war mein einziger Begleiter. Als ich endlich in eine Straße einbog, die breiter als die übrigen war, sah ich vor mir eine Gestalt, die sich bewegte, aber in dem Schatten der Häuser kaum zu unterscheiden war. Ich beschleunigte meine Schritte und wurde bald gewahr, dass ich einen Mann in Bauerntracht verfolgte. Als er meine Schritte hinter sich hörte, drehte er sich um und sah mich an und so wie er entdeckte, dass ich ein Fremder war, erhob er einen dicken Prügel, den er bei sich trug, schwang ihn drohend und rief mir, wie mir aus seinen Bewegungen hervorging, in seiner Sprache zu, dass ich stehen bleiben möge. Ein Fremder, der sich zu dieser Nachtzeit in Enkhuizen blicken ließ, wurde von diesem Bürger entschieden als ein Räuber betrachtet! Ich hatte unterwegs von dem Kapitän des Bootes gelernt, wie ich für den Fall dass ich mich allein in einer fremden Stadt befände, auf holländisch nach dem Wege fragen möchte und nun wiederholte ich meine Lektion, indem ich nach dem Wege zu dem Fischereigeschäft der Herren van Brandt fragte. Entweder verstand mich der Mann wegen meiner fremden Aussprache wirklich nicht, oder sein Argwohn hinderte ihn mir zu trauen.

Wiederum schwang er seinen Prügel und gab mir ein Zeichen zurückzubleiben. Weiter in ihn zu dringen, wäre nutzlos gewesen. Ich ging auf die andere Seite der Straße hinüber und er verschwand bald vor meinen Blicken in dem Portal eines Hauses.

Endlich erreichte ich, den Krümmungen der Straßen immer weiter folgend, die Stelle, die ich für das Ende der Stadt hielt.

Nach meiner Schätzung lag ungefähr eine halbe Meile oder mehr vor mir ein Strich Wiesenlandes, auf dem Schafe, die dort ihre Nachtruhe hielten, verstreut lagerten. Ich schritt über das Gras weiter und bemerkte hier und da, wo sich der Boden etwas erhob, vermoderte Überreste von Mauerwerk. Als ich mich mitten auf der Wiese befand, sah ich vor mir an der entgegengesetzten Seite einen luftigen Bogen oder Torweg schmal und dunkel in die Nacht hineinragen, ohne Mauern an den Seiten, ohne weit und breit irgend ein benachbartes Gebäude entdecken zu können. Das war, wie ich später erfuhr, eines der alten Stadttore. Die in Ruinen zerfallende Mauer war zerstört worden, weil man sie als ein unnützes Hindernis, das den Boden bedeckte, ansah. Auf der öden Wiese um mich her, hatten einst die Läden der reichsten Kaufleute, die Paläste der stolzesten Edelleute Nordhollands gestanden. Ich befand mich tatsächlich auf der Stelle, die einst das reichste Viertel von Enkhuizen gewesen war. Und was war nun davon übrig geblieben? Einige Hügel von zerbrochenen Mauersteinen, ein Weideland voll süßduftendem Grase und eine kleine, schlafende Schafherde.

Mich erfüllte schon der bloße Anblick der Verwüstung, ganz abgesehen von den geschichtlichen Erinnerungen mit einem Gefühl des Entsetzens Mir war, als wenn mein Gemüt in der schaurigen Stille um mich her, sein Gleichgewicht verlor. Ich fühlte unsagbare Vorahnungen von Leiden, die meiner warteten. Zum ersten Male bereute ich England verlassen zu haben, und meine Gedanken kehrten reuevoll zu den waldigen Ufern der Grünwasserfläche zurück. Wäre ich nur bei meinem Entschlusse geblieben, so ruhte ich jetzt friedlich in dem tiefen Wasser des Sees. Wofür hatte ich gelebt, Pläne entworfen, wozu war ich gereist, seit ich Dermodys Häuschen verließ? Vielleicht nur, um mich zu überzeugen, dass ich die Frau, die ich liebte, verloren hatte - in dem Augenblick, wo ich mich an demselben Orte mit ihr befand!

Als ich die äußerste Häuserreihe, die noch stehen geblieben war, wieder erreicht hatte, schaute ich mich in der Absicht um, die Straße zum Rückweg aufzusuchen, durch die ich hergekommen war. In dem Augenblick, als ich sie wiedergefunden zu haben glaubte, bemerkte ich ein zweites lebendes Wesen in dieser öden Stadt. Ein Mann stand an einem der letzten Häuser zu meiner Rechten vor der Tür und sah nach mir hin.

Ich beschloss, selbst auf die Gefahr hin, mich wieder einem rauhen Empfange auszusetzen, einen letzten Versuch zu wagen, um Frau van Brandt zu entdecken, bevor ich zu meinem Boote zurückkehrte.

Als der Fremde sah, dass ich mich ihm näherte, kam er mir auf halbem Wege entgegen. Seine Kleidung und Bewegungen zeigten deutlich, dass ich dieses Mal nicht jemand aus den niederen Gesellschaftsschichten vor mir hatte. Er beantwortete meine Fragen höflich in seiner Sprache. Als er sah, dass ich mich vergeblich bemühte seine Antworten zu verstehen, forderte er mich durch Zeichen auf ihm zu folgen.

Nachdem wir einige Augenblicke in einer mir ganz neuen Richtung weiter gegangen waren, blieben wir in einem kleinen Viereck, in dessen Mitte sich ein Stück gänzlich vernachlässigter Gartenanlagen befand, stehen. Mein Führer sagte auf holländisch, indem er auf ein niedriges Fenster in einem der Häuser wies, durch das ein düsteres Licht schimmerte:

»Hier ist das Geschäft von van Brandt, mein Herr« - verbeugte sich und - verließ mich.

Ich trat an das Fenster. Es stand offen, und ich reichte grade mit dem Kopfe heran. Das Licht aus dem Zimmer drang durch die Zwischenräume der hölzernen Fensterladen hinaus Ich zögerte meine Ankunft ganz plötzlich durch ein Ziehen an der Hausklingel anzukündigen, da mich immer noch eine Ahnung von bevorstehenden Sorgen bedrückte. Welch neues Ungemach konnte meiner warten, so wie die Tür geöffnet wurde? Ich blieb also unter dem Fenster und - lauschte.

Es verging kaum eine Minute bis ich die Stimme einer Frau im Zimmer vernahm. Der Zauber ihres Klanges war unverkennbar. Es war Frau van Brandts Stimme.

»Komm, mein Liebling!« sagte sie. »Es ist sehr spät, du hättest schon vor zwei Stunden zu Bett gehen müssen.«

Des Kindes Stimme antwortete: »Aber ich bin nicht müde, Mama.«

»Bedenke, dass Du krank gewesen bist, mein Kind. Du kannst wiederum erkranken, wenn Du abends so spät zu Bett gehst. Lege Dich nur erst hin, dann wirst Du schon einschlafen, wenn ich das Licht auslösche.«

»O bitte, lösche das Licht nicht aus," erwiderte das Kind mit großem Nachdruck. »Mein neuer Papa kommt an. Wie soll er den Weg zu uns finden, wenn Du das Licht auslöschst?«

Die Mutter antwortete scharf, als ob die Worte des Kindes sie gereizt hätten.

»Du sprichst Unsinn,« sagte sie, »und musst nun schlafen gehen. Mr. Germaine weiß nichts von uns, Mr. Germaine ist in England.«

Länger konnte ich mich nicht beherrschen. Ich rief unter dem Fenster: »Mr. Germaine ist hier!«

Siebenunddreißigstes Kapitel

Liebe und Stolz

Ein Aufschrei in dem Zimmer sagte mir, dass man mich gehört hatte. Einen Augenblick lang blieb dann Alles still, bis mich die wild und scharf gesprochenen Worte des Kindes erreichten: »Öffne die Laden Mama! Ich sagte Dir er würde kommen, ich will ihn sehen!«

Wiederum trat ein Augenblick des Zögerns ein, ehe die Mutter die Laden öffnete. Endlich tat sie es. Ich sah ihre dunkle Gestalt am Fenster, wie sie das Licht in der Hand hielt, und des Kindes Kopf ragte kaum sichtbar über dem niedrigsten Teile des Fensterrahmens hervor. Das niedliche Gesichtchen bewegte sich schnell hin und her, als ob meine Tochter, die mich selbst zum Vater gewählt hatte, vor Freude tanzte!

»Darf ich meinen Sinnen trauen?« sagte Frau van Brandt. »Sind Sie es wirklich Mr. Germaine?«

»Wie geht es Dir, mein neuer Papa?« rief das Kind. »Mache die große Tür auf und komme hinein. Ich möchte Dich umarmen.«

Zwischen dem kalten zweifelnden Tone der Mutter und der freudigen Begrüßung des Kindes, lag der Unterschied einer ganzen Welt. War ich zu plötzlich vor Frau van Brandt erschienen? Sie besaß, wie alle zartfühlenden Menschen den angeborenen Sinn der Selbstachtung, der eigentlich Stolz, nur unter einem anderen Namen ist. Hatte der bloße Gedanke ihren Stolz verwundet, dass ich sie hier einsam und betrogen wiederfand, verlassen von dem Manne, für den sie so viel geopfert und gelitten hatte, Fremden verächtlich als eine hilflose Bürde preisgegeben? Und der Mann war ein Dieb, der vor seinen Brotherren, die er betrogen, nun floh! Ich stieß die schwere, eichene Tür in der Befürchtung auf, dass dies der wahre Grund der Veränderung sein würde, die ich an ihr wahrgenommen. Meine Voraussetzungen wurden bestätigt, als sie die innere Türe aufschloss, die vom Hofe nach dem Wohnzimmer führte und mich einließ.

Als ich ihre beiden Hände ergriff und sie küsste, wendete sie schnell den Kopf ab, so dass meine Lippen nur ihre Wange berührten. Sie errötete tief; mit niedergeschlagenen Augen sprach sie mir in einigen förmlichen Worten ihr Erstaunen aus, mich hier zu sehen. Als das Kind in meine Arme floh, rief sie gereizt aus: »Belästige Mr. Germaine nicht!« Ich setzte mich und nahm die Kleine auf den Schoß. Frau van Brandt nahm in einiger Entfernung von mir Platz. »Ich glaube, ich brauche Sie nicht zu fragen, ob Sie von dem Geschehenen unterrichtet sind,« sagte sie und erblasste dabei so plötzlich, wie sie vorhin errötete, ihre Augen blieben beharrlich auf den Boden geheftet.

Ehe ich antworten konnte, kramte das Kind fröhlich seine Neuigkeiten über das Verschwinden seines Vaters aus.

»Mein anderer Papa ist davon gelaufen! Mein anderer Papa hat Geld gestohlen! Es ist Zeit, dass ich einen Neuen bekomme, nicht wahr?«

Sie schlang ihren Arm um meinen Hals. »Und nun habe ich ihn!« rief sie in den höchsten Tönen ihrer Stimme aus.

Die Mutter sah uns an. Für eine Weile gelang es der stolzen, gefühlvollen Frau sich zu beherrschen, aber die Qual, die sie empfand, war nicht schweigend zu erdulden. Mit einem lauten Schmerzensschrei verbarg sie ihr Gesicht in den Händen. Von dem Gefühle ihrer eigenen Erniedrigung überwältigt, schämte sie sich, selbst dem Manne, der sie liebte, ihre Tränen zu zeigen.

Ich hob das Kind von meinem Schoße. Eine zweite in dem Wohnzimmer befindliche Tür, war zufällig offen gelassen. Sie führte in ein Schlafzimmer, worin auf dem Toilettentische ein Licht brannte.

»Geh dort hinein und spiele,« sagte ich, »ich muss mit Deiner Mama sprechen!«

Das Kind schmollte, mein Vorschlag schien ihm nicht zu behagen.

»So gib mir ein Spielzeug,« sagte sie. »Meine Spielsachen mag ich nicht mehr. Lass mich sehen, was Du in Deinen Taschen hast.«

Ihre kleinen, geschäftigen Hände wühlten in meinen Rocktaschen umher. Ich ließ sie daraus nehmen, was ihr gefiel, und veranlasste sie dadurch in das hintere Zimmer zu laufen. So wie sie uns aus den Augen war, nahete ich mich der armen Mutter und setzte mich zu ihr.

»Sehen Sie die Sache so an, wie ich es tue,« sagte ich. »Jetzt wo er sie verlassen hat, sind Sie frei die Meine zu werden.«

Sie erhob schnell den Kopf.

»Nun er mich verlassen hat,« antwortete sie, »bin ich Ihrer unwürdiger denn je!«

»Warum?« fragte ich.

»Warum!« rief sie leidenschaftlich aus. »Wenn eine Frau es erleben muss, von einem Spitzbuben verlassen zu werden, hat sie dann noch nicht den tiefsten Grad der Erniedrigung erreicht?«

In ihrer augenblicklichen Gemütsverfassung war es vergeblich, mit ihr zu unterhandeln. Ich versuchte ihre Aufmerksamkeit auf einen weniger peinlichen Gegenstand zu leiten, indem ich ihr die Folge wunderbarer Ereignisse berichtete, die mich nun um dritten Male zu ihr geführt hatten. Sie unterbrach mich aber gleich beim Beginn.

»Es ist überflüssig, dass wir uns jetzt wiederholen, was wir uns schon bei anderen Gelegenheiten gesagt haben,« antwortete sie. »Ich begreife, was Sie hergeführt hat. Ich bin Ihnen wiederum im Traume erschienen, wie es zwei Mal bei früheren Anlässen geschah.«

»Nein,« sagte ich. »Nicht wie es in den beiden früheren Fällen geschah. Dieses Mal sah ich sie mit dem Kinde an Ihrer Seite.«

Diese Antwort spannte ihre Aufmerksamkeit. Sie erstaunte und blickte unruhig nach der Tür des Schlafzimmers.

»Sprechen Sie nicht laut!« sagte sie. »Lassen Sie das Kind nichts davon hören! Mein Traum von Ihnen hat mir dieses Mal einen peinlichen Eindruck zurückgelassen. Das Kind ist drin verflochten und das ist mir nicht lieb. Dann ist auch der Ort an dem ich Sie im Traum sah, vermischt mit -« Sie schwieg und ließ den Satz unvollendet. »Ich bin heute Abend erregt und elend,« fuhr sie fort, »und ich möchte nicht davon sprechen. Dennoch möchte ich gern wissen, ob sie wirklich von allen Orten in der Welt, sich grade in jenem Häuschen befanden?«

Es war mir nicht möglich die Verlegenheit zu deuten mit der sie mir diese Frage vorlegte. Ich fand nach meinen Begriffen die Entdeckung nicht so besonders merkwürdig, dass sie einmal in Suffolk gewesen war und die Grünwasserfläche kannte. Der See war als ein beliebter Aufenthaltsort für Picknickgesellschaften in der ganzen Grafschaft bekannt und Dermodys niedliches Häuschen war einer der allgemeinen Anziehungspunkte in der Umgegend. Wie ich nun deutlich sah, knüpften sich schmerzliche Erinnerungen für sie an meine alte Heimat und das setzte mich allerdings in Erstaunen.

Ich beschloss ihre Frage in einer Weise zu beantworten, die sie dazu ermutigen musste, mir ihr Vertrauen zu schenken. Noch ein Augenblick und ich würde ihr gesagt haben, dass ich meine Knabenzeit an der Grünwasserfläche verlebt hatte - noch ein Augenblick länger und wir würden uns erkannt haben - wenn nicht ein recht alltäglicher Zwischenfall die Worte von meinen Lippen zurückdrängte. Das Kind kam aus dem Schlafzimmer gelaufen und hielt einen zierlich geformten Schlüssel in der Hand.

»Was ist das?« fragte sie, als sie sich mir näherte.

»Mein Schlüssel,« antwortete ich, indem ich darin eine der Sachen erkannte, die sie mir aus der Tasche genommen hatte.

»Wozu gehört er?«

»Zur Kajütentür auf meinem Boote.«

Ihre Mutter unterbrach sie und es folgte eine neue Abhandlung über die Frage des Zubettgehns oder Aufbleibens. Inzwischen lief das kleine Geschöpf wieder mit der Erlaubnis noch einige Minuten länger zu spielen, davon, und das Gespräch zwischen Frau van Brandt und mir hatte eine neue Wendung genommen. Indem wir über die Gesundheit des Kindes sprachen, kamen wir natürlich auf die Beziehungen in denen das Kind zu dem Traume seiner Mutter stand.

»Sie lag an einem Fieber krank « begann Frau van Brandt, »und befand sich eben an dem Tage in der Besserung als ich in diesem elenden Orte verlassen zurück blieb. An demselben Abende hatte sie wieder einen Anfall, der mich in entsetzliche Angst versetzte. Sie verlor ganz die Besinnung, und ihre kleinen Glieder wurden steif und kalt. Ein einziger Doktor lebt noch hier, der die Stadt nicht verlassen hat. Natürlich schickte ich nach ihm. Er glaubte, dass die Besinnungslosigkeit von einem kataleptischen Anfalle herrührte, beruhigte mich aber zugleich, indem er mir sagte, dass keine augenblickliche Lebensgefahr vorhanden sei und gab mir gewisse Mittel, die ich anwenden sollte, wenn die bezeichneten Symptome einträten. Ich brachte sie zu Bett und drückte sie in der Absicht sie zu umarmen, an mich. Halten Sie es, ohne an Mesmerismus zu glauben, für möglich, dass wir einen gewissen Einfluss auf einander ausübten, der das Folgende erklärt?«

»Sehr wahrscheinlich. Gleichzeitig würde die Lehre vom Mesmerismus, wenn Sie daran glauben könnten, noch weitere Aufklärungen darüber geben. Durch den Mesmerismus wäre es nicht allein zu erklären, dass Sie und das Kind sich gegenseitig beeinflussten, sondern auch, dass ich, trotz der Entfernung mit unter Ihrem beiderseitigen Einflusse stand. In dieser Weise würde der Mesmerismus meine Visionen als eine im höchsten Maße zwischen uns entwickelte Sympathie erklären. Sagen Sie mir, ob Sie mit dem Kinde in Ihren Armen einschliefen?«

»Ja. Ich war gänzlich erschöpft und schlief, trotz meines Vorsatzes die Nacht zu durchmachen, fest ein. In meiner trostlosen Lage, verlassen an einem fremden Orte, mit einem kranken Kinde in meinen Armen, träumte ich wiederum von Ihnen und wendete mich wieder an Sie, als an meinen einzigen Beschützer und Freund. Das Einzige, was in diesem Traume anders war, als in den früheren, war, dass ich das Kind neben mir wusste, als ich Ihnen nahte und dass sie mir die Worte eingab, die ich in mein Buch niederschrieb. Nicht wahr, Sie sahen die Worte. Und als ich erwacht war, waren sie verschwunden? Ich fand meinen kleinen Liebling immer noch wie tot in meinen Armen liegend. Die ganze Nacht hindurch hielt dieser Zustand an. Erst am nächsten Nachmittage kam sie wieder zur Besinnung. Warum erschrecken Sie? Was überrascht Sie so in meiner Erzählung!«

Ich hatte wohl Grund zu erschrecken und drückte das auch aus. An demselben Tage und zu derselben Stunde, als das Kind wieder zu sich gekommen war, hatte ich auf dem Deck des Schiffes gestanden und ihre Erscheinung vor meinen Blicken verschwinden sehen!

»Sagte sie etwas, als sie wieder zur Besinnung kam?« fragte ich.

»Ja. Auch sie hatte geträumt und zwar, dass sie sich in Ihrer Gesellschaft befunden hätte. Sie sagte: »Er wird uns besuchen, Mama und ich habe ihm den Weg gezeigt.« Ich fragte sie, wo sie Sie gesehn hätte. Sie sprach verwirrt von verschiedenen Orten. Sie erzählte mir von Bäumen, einem Häuschen und einem See. Dann von Feldern, Hecken und einsamen Straßen. Dann wieder von einem Wagen und Pferden und einem langen, weißen Wege, von belebten Straßen und Häusern, von einem Flusse und einem Schiff. Was diese letzten Gegenstände anlangt, so liegt nichts Wunderbares in dem, was sie sagte. Sie hatte ja in Wirklichkeit auf unserem Wege von London nach Rotterdam die Häuser, den Fluss und das Schiff gesehn, das ihr nun im Traume erschienen war. Übrigens kann ich, was die anderen Orte, besonders das Häuschen und den See, wie sie sie mir beschrieb, betrifft, nur annehmen, dass ihr Traum die Rückwirkung des meinen war. Ich hatte von dem Häuschen und dem See geträumt, wie ich sie einst vor langer, langer Zeit gekannt und - Gott weiß wie - hatte ich Sie mit diesen Szenen in Verbindung gebracht. Wir wollen nicht näher darauf eingehen! Ich weiß nicht, was mich betört, dass ich im Stande bin so leicht über alte Erinnerungen zu sprechen, die mich in meiner jetzigen Lage so schmerzlich berühren. Wir sprachen von dem Gesundheitszustande des Kindes - lassen Sie uns dazu zurückkehren.«

Es war nicht leicht auf des Kindes Gesundheit zurückzukommen, nun sie meine Neugierde über ihre Beziehungen zu der Grünwasserfläche wieder erweckt hatte. Die Kleine spielte noch ruhig im Schlafzimmer. Die zweite Gelegenheit bot sich mir und ich ergriff sie.

»Ich will Sie nicht betrüben,« sagte ich. »Ich möchte Sie nur bitten, dass Sie mir, bevor wir den Gegenstand wechseln, eine Frage über das Häuschen und den See gestatten.«

Das Verhängnis, das uns verfolgte, wollte jetzt, dass sie selbst nun unbewusst das Hindernis für unser gegenseitiges Erkennen wurde.

»Ich kann Ihnen heute Abend nichts weiter sagen,« erwiderte sie, indem sie sich ungeduldig erhob. »Es ist Zeit, dass ich das Kind zu Bett bringe und übrigens kann ich nicht über Dinge sprechen, die mir schmerzlich sind. Sie müssen eine Zeit abwarten - wenn eine solche überhaupt je kommen wird - wo ich ruhiger und glücklicher bin, als jetzt.«

Sie wendete sich nach dem Schlafzimmer. In der Übereilung einer augenblicklichen Eingebung erfasste ich ihre Hand und hielt sie zurück.

»Es liegt ganz in Ihrem Willen,« sagte ich, »dass die ruhigere, glücklichere Zeit schon jetzt, schon diesen Augenblick, beginnt.«

»In meinem Willen?« wiederholte sie. »Wie meinen Sie das?«

»Sagen Sie das eine Wort,« erwiderte ich, »und Sie haben mit Ihrem Kinde eine Heimat und eine Zukunft vor sich.«

Sie sah mich halb erstaunt, halb erzürnt an.

»Bieten Sie mir Ihren Schutz an?« fragte sie.

»Ich biete Ihnen den Schutz eines Gatten an,« antwortete ich. »Ich frage Sie, ob Sie mein Weib werden wollen.«

Sie trat einen Schritt näher zu mir und heftete ihre Augen fest auf mein Gesicht.

»Sie sind augenscheinlich in Unkenntnis über das, was vorgefallen ist,« sagte sie. »Und doch sprach das Kind, Gott weiß es, deutlich genug.«

»Das Kind wiederholte mir nur, was ich auf dem Wege hierher schon erfahren hatte.«

»Sie hörten Alles?«

»Alles.«

»Und wollen mich dennoch heiraten?«

»Ich kann mir kein größeres Glück denken, als Sie mein zu nennen.«

»Selbst nachdem Sie das Alles wissen?«

»Selbst nachdem ich das Alles weiß, bitte ich Sie vertrauensvoll um Ihre Hand. Welches Recht jener Mann, als der Vater Ihres Kindes, auch an Sie gehabt haben mag, dadurch dass er Sie so nichtswürdig verlassen hat, hat er jedes Recht auf Sie verscherzt. Sie sind in jedem Sinne des Wortes, frei, mein Liebling· Wir haben der Trübsal genug in unserem Leben gehabt. Endlich nun winkt uns das Glück, o kommen Sie zu mir - sagen Sie Ja.«

Ich versuchte sie zu umarmen. Sie trat wie erschrocken zurück. »Niemals!« sagte sie fest.

Ich flüsterte die nächsten Worte so leise, dass das Kind im Nebenzimmer uns nicht hören konnte.

»Einst sagten Sie mir, dass Sie mich liebten!«

»Ich liebe Sie!«

»So innig wie einst?«

»Inniger denn je!«

»Küssen Sie mich!«

Sie gab willenlos nach. Sie küsste mich - mit kalten Lippen, mit großen Tränen in den Augen.

»Sie lieben mich nicht!« rief ich zornig aus. »Sie küssen mich, als ob Sie damit eine Pflicht erfüllten. Ihre Lippen sind kalt, - wie Ihr Herz. Sie lieben mich nimmermehr!«

Mit einem sanften Lächeln blickte sie mich traurig an.

»Einer von uns muss des Unterschiedes wischen Ihrer Lebensstellung und der meinen eingedenk bleiben,«·sagte sie. »Sie sind ein Mann von fleckenlosem Ruf, der eine unbestritten hohe Stellung in der Welt einnimmt. Und wer bin ich? Ich bin die verlassene Geliebte eines Spitzbuben. Dessen muss Einer von uns eingedenk sein. Sie haben es großmütig vergessen. Ich muss mich dessen erinnern Ich, ich bin wirklich kalt, schweres Leiden übt diesen Einfluss auf mich aus und - ich gestehe es, ich leide sehr schwer.«

Ich liebte sie zu leidenschaftlich, um bei diesen Worten die Teilnahme für sie zu fühlen, auf die sie entschieden rechnete. Ein Mann achtet die Bedenken einer Frau, so lange sie ihm stumm durch Blicke oder Tränen ausgedrückt werden, so wie sie ihm aber förmlich in Worten ausgesprochen sind, reizen oder verdrießen sie ihn nur.

»Wessen Schuld ist es, dass Sie leiden?« versetzte ich kalt. »Ich beschwöre Sie, Ihr Leben und das meinige zu einem glücklichen zu gestalten. Sie sind eine grausam Misshandelte - aber keineswegs Erniedrigte, Sie sind würdig mein Weib zu sein und ich bin bereit das öffentlich zu erklären. Kehren Sie mit mir nach England zurück, mein Boot liegt für Sie bereit.«

Sie sank auf einen Stuhl, ihre Hände fielen ihr willenlos in den Schoß.

»Wie grausam!« flüsterte sie; »wie grausam mich so zu versuchen!« Nach einigen Augenblicken gewann sie ihre entsetzliche Festigkeit wieder. »Nein!« sagte sie, und wenn es mein Leben kostet, so weigre ich mich doch standhaft Sie zu entehren. Verlassen Sie mich, Mr. Germaine. Das ist die letzte Gunst, die Sie mir erweisen können. Um Gottes willen, verlassen Sie mich!«

Ich machte einen letzten Versuch sie zu erweichen.

»Wissen Sie, welch eine Zukunft meiner wartet, wenn ich ohne Sie leben muss?« fragte ich. »Meine Mutter ist tot. Sie sind das einzige Wesen in der weiten Welt, für das ich Liebe fühle, und Sie fordern von mir, dass ich Sie verlasse? Wohin soll ich gehen? Was soll ich beginnen? Sie sprechen von Grausamkeit! Ist es nicht grausamer, dass Sie mein Lebensglück erbärmlichen Bedenken des Zartgefühls, unverständigen Befürchtungen über das Urteil der Welt, opfern wollen? Ich liebe Sie und - Sie lieben mich. Jedes andre Bedenken hat den Wert eines Strohhalms. Kehren Sie mit mir nach England zurück! Kehren Sie zurück, uni mein Weib zu werden!«

Sie sank auf die Knie, ergriff meine Hand und führte sie schweigend an ihre Lippen. Ich versuchte sie aufzuheben. Es war umsonst, sie leistete mir entschiedenen Widerstand.

»Soll dies ein Nein bedeuten?« fragte ich.

»Es bedeutet,« sagte sie in leisem, gebrochenen Tone, »dass ich Ihre Ehre über mein Glück stelle. Wenn ich Sie heirate, ist Ihre Stellung durch Ihre Frau vernichtet und - der Tag, an dem Sie mir das zugestehen, wird kommen und ich kann eher leiden, - eher sterben, als einer solchen Zukunft entgegenzugehen. Vergeben Sie mir und vergessen Sie mich. Ich kann Ihnen weiter nichts sagen!«

Sie ließ meine Hand los und fiel zu Boden. Die furchtbare Verzweiflung, die aus diesem Ereignis sprach, sagte mir beredter als alle ihre Worte, dass ihr Entschluss unwandelbar sei. Sie hatte sich freiwillig von mir getrennt, ihre eigene Handlungsweise hatte uns für immer geschieden.

Achtunddreißigstes Kapitel

Die beiden Schicksale

Ich rührte mich nicht, um das Zimmer zu verlassen, ich äußerte auch kein Zeichen der Trauer. Mein Herz verhärtete sich gegen die Frau, die mich so beharrlich abgewiesen hatte. Ich stand und sah so mitleidslos und zornig auf sie herab, dass die bloße Erinnerung daran mich noch heutigen Tages mit einem Entsetzen vor mir selbst erfüllt. Ich habe nur eine Entschuldigung für mich. Der Zusammensturz meiner letzten Lebenshoffnung war ein so harter Schlag für mich, dass mein Verstand nicht die Kraft hatte, ihn zu ertragen. In jener Nacht war ich, dessen bin ich mir selbst bewusst, ein Wahnsinniger, wie weit ich auch zu anderen Zeiten davon entfernt sein mochte.

Ich brach zuerst das Schweigen.

»Stehen Sie auf,« sagte ich kalt.

Sie erhob ihr Gesicht vom Boden und blickte im Zweifel, ob sie recht gehört hatte, zu mir auf.

»Nehmen Sie Ihren Hut und Mantel,« fuhr ich fort. »Ich muss Sie ersuchen, mit mir bis zu dem Boot zu gehen.«

Sie stand langsam auf. Ihre Augen ruhten mit einem trüben, erstaunten Blick auf mir.

»Warum soll ich mit Ihnen bis zu dem Boote gehen?« fragte sie.

Das Kind hörte sie und kam mit ihrem Hütchen in der einen, dem Schlüssel der Kajüte in der anderen Hand, zu uns gelaufen.

»Ich bin bereit!« sagte sie. »Ich werde die Kajütentür aufschließen.«

Ihre Mutter wies sie in das Schlafzimmer zurück. Sie ging bis zu der Hoftür und stand dort lauschend still. Ich wendete mich kalt zu Frau van Brandt, um die Frage, die sie an mich gerichtet hatte, zu beantworten.

»Sie haben keine Mittel, um diesen Ort zu verlassen,« sagte ich. »In zwei Stunden wird die Flut mir günstig sein und dann werde ich sofort meine Rückreise antreten. Dieses Mal trennen wir uns, um uns nie wiederzusehen. Ehe ich aber gehe, ist es mein Vorsatz, Sie wohlversorgt zurückzulassen. Mein Geld befindet sich in der Kajüte in meiner Reisetasche und aus diesem Grunde muss ich Sie bitten, mich zu dem Boote zu begleiten.«

»Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Güte,« sagte sie, »ich bin aber nicht in so hilfloser Lage, wie Sie es voraussetzen.«

»Sie bemühen sich vergeblich, mich zu täuschen,« fuhr ich fort. »Ich habe mit dem Chef des Hauses van Brandt in Amsterdam gesprochen und kenne Ihre Lage ganz genau. Ihr Stolz muss sich wirklich so tief beugen, um aus meiner Hand die Mittel für Ihre und Ihres Kindes Existenz anzunehmen. Wäre ich in England gestorben -«

Ich hielt inne. Der unausgesprochene Gedanke, der mir durch den Kopf ging, war, ihr zu sagen, dass ich in meinem Testament ein Legat für sie ausgesetzt habe und dass sie ebenso gut während meiner Lebenszeit Geld von mir annehmen könne, wie sie es später nach meinem Tode aus den Händen meiner Testamentsvollstrecker tun musste. Während ich diesem Gedanken Worte eben wollte, erinnerten mich die Beziehungen, die er natürlich wach rief, an meinen beabsichtigten Selbstmord im See. Durch das Gemisch von Erinnerungen, die in mir aufstiegen, trat ungerufen eine Versuchung an mich heran, die, so unaussprechlich böse sie auch war, dennoch in meinem augenblicklichen Gemütszustande so unwiderstehlich an mich heran trat, dass ich bis tief in die Seele erschüttert wurde. »Jetzt hast du niemand mehr, für den Du leben musst, nun sie es abgeschlagen hat, die Deine zu werden,« flüsterte der böse Feind in mir. »Wage den Sprung in eine andere Welt und nimm die Frau, die Du liebst, mit Dir!« Während ich sie noch immer anschaute, - während die letzten Worte, die ich zu ihr sprach, noch auf meinen Lippen schwebten, - enthüllte meinen Blicken die furchtbare Leichtigkeit voller Reiz, mit der dieses entsetzliche Doppelverbrechen ausgeführt werden konnte. Mein Boot lag an dem Teile des verfallenen Hafens vor Anker, wo tiefes Wasser den Quai bespülte. Ich durfte sie nur veranlassen, mir zu folgen, wenn ich das Deck bestieg, sie dann in meine Arme nehmen und mit ihr über Bord springen, bevor sie einen Hilfeschrei ausstoßen konnte. Meine verschlafenen Seeleute waren, wie ich aus Erfahrung wusste, schwer zu erwecken und selbst wenn sie wach waren, nur sehr langsam vom Fleck zu bringen. Wir wären längst beide ertrunken gewesen, ehe der Jüngste und Rascheste von ihnen aus dem Bett und auf Deck zu bringen war. Ja! Wir mussten beide im selben Augenblick aus den Reihen der Lebenden ausgelöscht werden! Und warum nicht? Sollte ich sie, die sich wieder und wieder geweigert hatte, mein Weib zu werden, freigeben, damit sie vielleicht zum zweiten Male zu van Brandt zurückkehrte? An jenem Abend, als ich sie aus den Wassern des schottischen Flusses errettet hatte, hatte ich mich zum Herrn ihres Schicksals gemacht. Sie hatte versucht, ihrem Leben durch Ertrinken ein Ende zu machen, sie sollte nun in den Armen des Mannes ertrinken, der sich einst zwischen sie und den Tod gestellt hatte!

Versunken in so wilde Betrachtungen, wie diese, stand ich ihr gegenüber und kam ruhig und überlegt auf meinen angefangenen Satz zurück. »Wäre ich in England gestorben, so wäre durch mein Testament für sie gesorgt gewesen. Sie können jetzt auch von mir annehmen, was Sie dann von mir angenommen hätten. Kommen Sie nach dem Boot.«

Ihr Gesicht veränderte sich, während ich sprach, ihre Augen drückten einen leisen Zweifel an mir aus. Sie trat ein Wenig zurück, ohne irgend etwas zu erwidern.

»Kommen Sie nach dem Boote,« wiederholte ich.

»Es ist zu spät.« Bei diesen Worten sah sie nach dem Kinde am andern Ende des Zimmers, das an der Tür wartete. »Komm, Elfie!« sagte sie, indem sie das Kind bei einem ihrer Lieblingsnamen nannte. »Komm zu Bett!«

Auch ich sah nach Elfie. War sie nicht als unschuldiges Werkzeug zu benutzen, fragte ich mich, durch das ich die Mutter veranlassen konnte, das Haus zu verlassen? Im Vertrauen auf den furchtlosen Charakter des Kindes und ihr Verlangen, das Boot zu besehen, öffnete ich die Tür. Wie ich voraussah, lief sie sofort hinaus. Die zweite Tür, die nach dem viereckigen Platze führte, hatte ich nicht geschlossen, als ich in den Hof eintrat. Im nächsten Augenblick war Elfie draußen auf dem Platze und triumphierte über ihre Freiheit. Die schrille kleine Stimme durchbrach die Totenstille des Ortes und der Stunde, indem sie mich wieder und wieder rief, um sie nach dem Boote zu führen.

Ich wendete mich zu Frau van Brandt. Die Kriegslist hatte gewirkt. Elfies Mutter zögerte nicht zu folgen, wo Elfie den Weg wies.

»Wollen Sie mit uns gehen?« fragte ich, »oder soll ich das Geld durch das Kind schicken?«

Ihre Augen ruhten einen Augenblick mit dem steigenden Ausdruck des Misstrauens auf mir - dann wandte sie sich ab. Sie erblasste. »Sie sind heute Abend ganz anders als sonst,« sagte sie. Ohne ein weiteres Wort nahm sie Hut und Mantel und trat auf den Platz hinaus. Ich folgte ihr und schloss die Türen hinter mir. Sie versuchte das Kind an sich heran zu locken. »Komm, mein Liebling,« sagte sie schmeichelnd, »komm und gib mir die Hand.«

Aber Elfie ließ sich nicht einfangen: sie begann zu laufen und antwortete erst aus einer sicheren Entfernung. »Nein,« rief das Kind, »Du willst mich zurücktragen und zu Bett bringen.« Sie ging noch ein wenig weiter zurück und zeigte den Schlüssel. »Erst muss ich gehen,« sagte sie, »und die Tür öffnen.«

Sie ging in der Richtung des Hafens voraus und wartete an der Ecke der Straße auf uns. Ihre Mutter drehte sich plötzlich um und sah mich im Sternenschein fest an.

»Sind die Seeleute an Bord des Schiffes?« fragte sie.

Die Frage setzte mich in Erstaunen. Beargwohnte sie meine Absichten irgendwie? Hatte mein Gesicht sie vor einer lauernden Gefahr gewarnt, wenn sie das Boot beträte? Das war unmöglich! Der wahrscheinlichste Grund zu ihrer Frage war wohl, dass sie eine neue Entschuldigung suchte, um mir nicht zum Hafen zu folgen. Wenn ich ihr sagte, dass die Leute an Bord waren, so konnte sie mir einwenden: »Warum schicken Sie mir nicht das Geld durch einen der Seeleute ins Haus?« Diesen Einwand sah ich voraus, als ich ihr antwortete.

»Sie mögen ehrliche Leute sein,« sagte ich, indem ich sie sorgsam beobachtete, »aber ich kenne sie nicht genau genug, um ihnen Geld anzuvertrauen.«

Zu meinem Erstaunen beobachtete sie mich mit derselben Genauigkeit, wie ich es getan und wiederholte dann geflissentlich ihre Frage.

»Sind die Seeleute an Bord des Bootes?«

Ich hielt es für weise nachzugeben und antwortete: »Ja,« dann schwieg ich, um zu sehen, was sie nun tun würde. Meine Antwort schien ihren Entschluss zu befestigen. Nachdem sie einen Augenblick überlegt hatte, wendete sie sich nach der Stelle, wo das Kind uns erwartete. »Da Sie darauf bestehen, so lassen Sie uns gehen,« sagte sie ruhig. Ich erwiderte nichts. Stumm nebeneinander hergehend, folgten wir Elfie auf dem Wege nach dem Boot. In den Straßen begegnete uns kein lebendes Wesen, kein Licht schien aus den düsteren, unfreundlichen Häusern auf uns hernieder. Zweimal blieb das Kind stehen und kam in schlau berechneter Entfernung von ihrer Mutter zu mir gelaufen, um mich über mein Schweigen zu befragen: »Warum sprichst Du nicht?« sagte sie. »Hast Du Dich mit Mama gezankt?«

Ich vermochte ihr nicht zu antworten. Ich dachte an nichts, als an das Verbrechen, das ich ausführen wollte. Weder Furcht noch Gewissensbisse beunruhigten mich. Es schien, als wäre jeder bessere Instinkt, jedes edlere Gefühl, das ich einst besaß, in mir erstorben und vernichtet. Selbst der Gedanke an des Kindes Zukunft bewegte mich nicht. Mir fehlte die Kraft an irgend etwas Anderes, als an meinen Sprung von dem Boote zu denken, darüber hinaus war nichts für mich vorhanden. Ich kann es nur wiederholen, dass in jenen Augenblicken mein moralisches Gefühl ganz umnachtet und meine geistigen Kräfte ganz aus ihrem Gleichgewicht gehoben waren. Mein tierisches Sein lebte und bewegte sich, wie immer, die niedrigeren, tierischen Instinkte in mir planten und grübelten - das war Alles. Wer mich darauf hin angesehen hätte, würde nichts an mir entdeckt haben, als eine dumpfe Ruhe auf meinem Gesichte und eine vollkommene Gelassenheit in meinen Bewegungen, und dennoch war kein Irrsinniger je reifer für die Zwangsjacke oder weniger zurechnungsfähig bei seinen eigenen Handlungen, als ich es in jenen Augenblicken war.

Der Nachtwind wehte uns schärfer ins Gesicht. Wir waren, immer von dem Kinde geführt, durch die letzte Straße gegangen, und befanden uns nun auf dem leeren, offenen Raum, der landwärts den Hafen begrenzte. Noch eine Minute mehr und wir standen an dem Quai, einen Schritt weit von dem Orte, wo das Boot ankerte.

Ich bemerkte eine Veränderung in dem Aussehn des Hafens, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte. Einige Fischerboote waren während meiner Abwesenheit eingelaufen. Sie hatten teils am oberen, teils am unteren Ende, dicht an meinem Schiffe angelegt. Ich sah mich ängstlich um, ob einer der Schiffer an Bord und wach war. Ich bemerkte aber kein lebendes Wesen ringsumher. Die Leute waren mit ihren Frauen und Familien am Lande.

Elfie hob die Arme hoch, um auf mein Boot getragen zu werden. Frau van Brandt trat zwischen uns, als ich mich niederbeugte, um sie aufzuheben. »Wir werden hier warten,« sagte sie, »während Sie in die Kajüte gehen und das Geld holen.«

Diese Worte machten es ganz klar, das sie irgend einen Verdacht gegen mich hegte, - einen Verdacht, der sie nicht für ihr Leben, aber für ihre Freiheit fürchten ließ. Vielleicht dachte sie, dass ich sie auf meinem Boot gefangen halten und gegen ihren Willen fortführen wollte. Mehr als das konnte sie unmöglich voraussetzen. Das Kind ersparte mir die Mühe irgend einer Gegenvorstellung. Sie beschloss mit zu gehen. »Ich muss die Kajüte sehen!« rief sie und hielt den Schlüssel in die Höhe. »Ich muss die Tür selbst aufschließen!«

Sie entwand sich den Händen ihrer Mutter und lief auf die andere Seite zu mir. Ich hob sie in einem Augenblick über Bord des Bootes. Ehe ich mich umwenden konnte, war ihre Mutter mir gefolgt und stand auf dem Deck.

Wie sie eben jetzt stand, lag die Tür der Kajüte zu ihrer Linken. Das Kind war dicht hinter ihr. Ich stand rechts. Vor uns lag das offene Deck und der niedrige Rand des Bootes überragte das Wasser. In einem Nu konnten wir es überschreiten, in einem Nu war der verhängnisvolle Sprung ausgeführt. Der bloße Gedanke daran brachte meine wahnsinnige Verruchtheit auf den Gipfel. Ich war unfähig mich länger zu beherrschen. Mit einem lauten Lachen schlang ich meinen Arm um ihre Taille. »Kommen Sie!« sagte ich und versuchte sie über das Deck zu ziehen. »Kommen Sie und sehen Sie in das Wasser.«

Sie machte sich mit einer plötzlichen Anstrengung, die mich in Erstaunen setzte, los. Mit einem leisen Schrei des Entsetzens wendete sie sich um, nahm das Kind an die Hand, um den Quai wieder zu erreichen. Ich stellte mich zwischen sie und den Rand des Bootes und schnitt ihr so diesen Rückzug ab. Noch immer lachend fragte ich, was sie so erschreckt habe. Sie trat zurück und entwand den Schlüssel zur Kajütentür der Hand des Kindes. Die Kajüte war der einzige Zufluchtsort, der ihr nun blieb, zu dem sie von dem Deck des Bootes gelangen konnte. Sie zögerte auch nicht, im augenblicklichen Schrecken, ihn aufzusuchen. Sie schloss die Tür auf und flog die zwei oder drei Stufen hinab in die Kajüte, das Kind mit sich führend. Ich folgte ihnen. Obgleich ich mir wohl bewusst war, dass ich mich verraten hatte, beharrte ich widerspenstiger, törichter, wahnsinnigerweise darauf mein Vorhaben auszuführen. »Wenn ich jetzt nur ganz ruhig erscheine,« dachte ich bei mir selbst, »so werde ich sie doch wieder bewegen, das Deck zu betreten.«

Meine Lampe brannte noch, wie ich sie verlassen hatte, meine Reisetasche lag auf dem Tische. Mit ihrem Kinde an der Hand stand sie bleich wie der Tod da und erwartete mich. Elfies verwunderte Augen ruhten fragend auf meinem Gesicht, als ich eintrat. Sie war im Begriff zu weinen, so sehr hatten die heftigen Bewegungen ihrer Mutter sie erschreckt. Ich bemühte mich sie zu beruhigen, ehe ich zu der Mutter sprach, indem ich ihr verschiedene Gegenstände in der Kajüte zeigte, die sie interessieren konnten.

»Geh und besieh sie Dir,« sagte ich. »Geh und amüsiere Dich, Elfie.«

Das Kind zögerte aber. »Bist Du böse auf mich?« fragte sie.

»Nein, nein!«

»Bist Du böse auf Mama?«

»Gewiss nicht!« Ich wendete mich an Frau van Brandt. »Sagen Sie Elfie, ob ich Ihnen zürne,« sagte ich.

Sie war sich wohl bewusst, dass ihre peinliche Lage ihr die Notwendigkeit auferlegte, mir zu willfahren. Es gelang uns beiden gemeinschaftlich das Kind zu beruhigen. Sie machte sich mit höchstem Vergnügen daran, die neuen und fremden Gegenstände um sich her in Augenschein zu nehmen. Ihre Mutter und ich standen inzwischen beisammen und betrachteten uns bei dem Schein der Lampe mit einer angenommenen Ruhe, die uns unsere wahren Gesichter wie eine Maske verbarg. Das Wunderliche und Entsetzliche, wie es in diesem seltsamen Leben immer bei einander liegt, streifte sich auch hier in dieser fürchterlichen Lage. Der einzige Laut, der die düstere, drohende Stille um uns her unterbrach, war zu beiden Seiten das schwerfällige Schnarchen des Kapitäns und seiner Leute.

Sie sprach zuerst.

»Wenn Sie mir das Geld geben wollen,« sagte sie und versuchte mich auf diese Weise zu besänftigen, »so bin ich jetzt bereit es anzunehmen.«

Ich schloss meine Reisetasche auf. Als ich hinein sah, um den Lederkasten mit meinem Gelde zu suchen, erwachte wiederum mein bewältigender Wunsch sie auf das Deck zu locken, meine wahnsinnige Ungeduld die verhängnisvolle Tat zu begehen, mit unbezwinglicher Gewalt in mir.

»Es würde uns kühler auf dem Deck sein,« sagte ich, »lassen Sie uns die Tasche dort mit hinauf nehmen.«

Sie zeigte großen Mut. Ich sah, wie der Hilfeschrei ihr auf den Lippen lag, sie unterdrückte ihn. Sie hatte Geistesgegenwart genug, um sich zu sagen, was Alles geschehen konnte, ehe es ihr gelang, die schlafenden Leute zu erwecken.

»Hier ist ja ein Licht, um das Geld dabei zu zählen,« antwortete sie. »Mir ist es in der Kajüte durchaus nicht zu warm. Lassen Sie uns noch ein wenig hier bleiben. Sehen Sie, wie Elfie sich amüsiert!«

Ihre Augen ruhten auf mir, während sie sprach. In ihrem Ausdruck lag etwas, was mich für den Augenblick beruhigte. Ich war im Stande auszuruhen und nachzudenken. Meiner überlegenen Kraft musste es gelingen, sie auf das Deck zu führen, ehe die Leute mich hindern konnten, aber ihre Hilferufe mussten sie erwecken, sie mussten das Aufspritzen des Wassers hören und konnten schnell genug bei der Hand sein, um uns zu retten. Es war geratener ein Wenig zu warten und in geschickter Weise zu versuchen, sie aus freiem Antriebe auf das Deck zu locken. Ich stellte die Reisetasche wieder auf den Tisch und begann von Neuem nach dem ledernen Geldkasten zu suchen. Meine Hände waren wunderbar ungeschickt und hilflos. Es gelang mir erst den Kasten zu finden, nachdem ich den halben Inhalt der Tasche auf den Tisch geworfen hatte. Das Kind stand gerade nahe bei mir und bemerkte, was ich tat.

»O, wie ungeschickt bist Du!« rief sie in ihrer offenen, furchtlosen Weise aus. »Bitte, lass mich die Reisetasche wieder ausräumen! Bitte, bitte!«

Ich bewilligte ihren Wunsch ungeduldig. Elfies ruheloses Verlangen sich fortwährend zu beschäftigen, statt mich, wie sie es sonst tat, zu unterhalten, verdross mich. Alles Interesse, das ich sonst für dieses reizende Geschöpf fühlte, war verschwunden. In jener Nacht war unschuldige Liebe ein Gefühl, das in der vergifteten Atmosphäre meines Herzens erstarrte.

Das Geld, das ich bei mir hatte, bestand meist aus englischen Banknoten. Ich legte die Summe bei Seite, die für die Rückreise nach London ungefähr erforderlich war und legte Alles, was übrig blieb, in Frau van Brandts Hände. Konnte sie danach noch glauben, dass ich ihr nach dem Leben trachtete?

»Ich kann für die Zukunft durch die Herren van Brandt in Amsterdam mit Ihnen in Verbindung treten.«

Sie nahm mechanisch das Geld. Ihre Hand zitterte, ihre Augen suchten die meinen mit einem flehendem Ausdruck. Sie versuchte meine alte Zärtlichkeit für sie wieder zu erwecken, - sie wendete sich zum letzten Male an meine Geduld und Rücksicht für sie.

»Wollen wir nicht als Freunde scheiden,« sagte sie in leisem zitterndem Tone. »Und als Freunde wollen wir uns wiedersehen, wenn Sie allmälig nachsichtiger beurteilen werden, was heute Abend zwischen uns vorgefallen ist!«

Sie reichte mir die Hand, ich aber sah sie an, ohne ihre Hand zu erfassen. Ich durchschaute ihre Gründe vollständig, da sie immer noch Verdacht gegen mich hegte, hatte sie das Möglichste versucht, um sicher das Ufer zu erreichen.

»Je weniger wir über das Vorgefallene sprechen, je besser,« antwortete ich mit ironischer Höflichkeit. »Es wird spät und Sie werden mir zugeben, dass Elfie zu Bett gehen muss.« Ich sah mich nach dem Kinde um, das noch immer mit beiden Händchen in der Reisetasche beschäftigt war, um alles darin zu ordnen.« »Beeile Dich, Elfie, Deine Mama will nach Hause gehen.« Ich öffnete die Tür der Kajüte und bot Frau van Brandt meinen Arm. »Augenblicklich ist dieses Boot mein Haus,« sagte ich. »Wenn Damen mir einen Besuch hier machen, geleite ich sie zum Abschiede bis auf das Deck. Bitte nehmen Sie meinen Arm!«

Sie schrak zurück. Zum zweiten Male war sie im Begriff nach Hilfe zu rufen - und doch behielt sie sich dieses letzte Rettungsmittel wiederum noch vor.

»Ich habe aber Ihre Kajüte noch gar nicht besehen,« sagte sie; aus ihren Augen sprachen Furcht und Schrecken, auf ihre Lippen trat ein erzwungenes Lächeln, während sie sprach. »Ich sehe hier einige Gegenstände, die mich interessieren und möchte gern noch einige Augenblicke verweilen, um sie genauer zu betrachten.«

Unter dem Vorwande sich in der Kajüte umzusehen, wendete sie sich um und versuchte sich dem Kinde zu nähern. Ich hielt die Wache an der offenen Tür und beobachtete sie. Sie machte einen anderen Versuch, indem sie nämlich mit vielem Geräusch einen Stuhl, wie aus Zufall, umwarf und dann lauschte, ob es ihrer List gelungen war, die Leute zu erwecken. Sie schnarchten aber ruhig weiter, und man hörte von keiner Seite irgend einen Laut, der auf Erwachen der Leute gedeutet hätte.

»Meine Leute schlafen sehr fest!« sagte ich, bedeutungsvoll lächelnd. »Seien Sie außer Sorge! Sie haben sie nicht gestört. Wenn die holländischen Seeleute sich im Hafen befinden, vermag nichts sie zu erwecken.«

Sie erwiderte nichts. Meine Geduld war erschöpft. Ich ging von der Tür auf sie zu. Sie zog sich in sprachlosem Entsetzen zurück und stellte sich am Ende der Kajüte hinter den Tisch. Ich folgte ihr bis sie das Ende des Zimmers erreicht hatte und nicht weiter konnte. Sie begegnete dem Blicke, den ich auf sie richtete - floh in eine Ecke und rief nach Hilfe, aber in der tödlichen Angst, die sie befallen hatte, versagte ihr die Stimme. Es kam nichts als ein leises, heiseres Stöhnen, das nicht lauter als ein Geflüster war über ihre Lippen. Im Geiste stand ich schon mit ihr am Rande des Bootes und fühlte die kalte Berührung des Wassers - als ich hinter mir einen Schrei vernahm. Ich sah mich um. Der Schrei kam von Elfie. Wahrscheinlich hatte sie wieder einen Gegenstand in meiner Tasche entdeckt, den sie eben voller Bewunderung über ihren Kopf hielt. »Mama! Mama!« rief das Kind erregt, »sieh nur diese schöne Sache! Bitte, bitte, bitte, sage ihm, dass er sie mir schenken soll!«

Ihre Mutter ergriff hastig diese Gelegenheit, um von mir loszukommen und lief zu ihr. Ich folgte und streckte die Hand nach ihr aus, um sie festzuhalten. Plötzlich drehte sie sich als ein ganz verändertes Wesen zu mir um! Ein freudiges Erröten färbte ihre Wangen, lebhafte Verwunderung strahlte aus ihren Augen. Sie nahm Elfie den begehrenswerten Gegenstand aus der Hand und hielt ihn mir vor. Ich erkannte ihn beim Lichte der Lampe. Es war der kleine, vergessene Talisman - die grüne Flagge.

»Wie kamen Sie hierzu?« fragte sie in atemloser Spannung, meine Antwort voraussehend. Ihre Züge trugen keine Spur mehr von dem Entsetzen, das sie vor kaum einer Minute noch krampfhaft verzogen hatte. »Wie kamen Sie hierzu?« wiederholte sie und ergriff mich beim Arm, indem sie mich in der unbezwinglichen Ungeduld, die sie erfasst hatte, heftig schüttelte.

Mir schwindelte der Kopf, mein Herz pochte stürmisch in dem Widerstreit der Gefühle, die sie in mir erweckt hatte. Meine Augen waren auf die grüne Flagge geheftet. Mir versagten die Worte, um auszudrücken, was ich zu sagen hatte und so antwortete ich mechanisch: »Ich besaß sie seit ich ein Knabe war.«

Sie ließ mich los und erhob ihre Hände mit dem Ausdruck begeisterten Dankgefühls. Eine liebliche, engelhafte Freude floss wie Himmelslicht über ihr Antlitz. Einen Augenblick lang stand sie wie verzückt, im nächsten aber schloss sie mich leidenschaftlich in ihre Arme und flüsterte mir ins Ohr: »Ich bin Mary Dermody - dieses arbeitete ich für Dich!«

Die Erregung dieser Entdeckung folgte zu schnell auf Alles, was ich vorher gelitten hatte, als dass ich sie ertragen konnte. Ich brach zusammen und fiel ohnmächtig in ihre Arme.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf meinem Bett in der Kajüte. Elfie spielte mit der grünen Flagge, Mary aber saß bei mir und hielt meine Hand in der ihren.

Wir wechselten einen langen, innigen Blick, in dem die verwandten Geister sich wieder vereinigten, unsere beiden Schicksale waren nun erfüllt.


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