John Jagos Geist
Neuntes Kapitel - Die öffentliche Aufforderung
Ich wartete schweigend auf die Enthüllung, welche jetzt kommen sollte. Naomi begann dieselbe mit einer Frage.
»Sie erinnern sich unseres neulichen Besuchs im Gefängnis?«
»Vollkommen.«
»Ambrosius erzählte uns etwas, was sein nichtswürdiger Bruder über mich und John Jago gesagt hätte. Erinnern Sie sich, was das war?«
»Ich erinnere mich vollkommen. Silas hatte gesagt: John Jago ist zu verliebt in Naomi, um nicht zurückzukehren.«
»Das war es,« sagte Naomi, als ich ihr die Worte wiederholte. »Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als ich hörte, was Silas geäußert hatte, und ich glaube, Sie bemerkten es.«
»Freilich bemerkte ich es.«
»Fragten Sie sich nicht, was es bedeute?«
»Das tat ich allerdings.«
»Ich will es Ihnen sagen. Was Silas Meadowcroft zu seinem Bruder über John Jago geäußert, war genau dasselbe, was ich in dem Augenblick über ihn dachte. Es erschreckte mich, meine innersten Gedanken von einem Mann laut aussprechen zu hören. Ich bin es, die John Jago von Morwick Farm fort getrieben hat — ich bin es, die ihn zurückbringen kann und will.«
In ihrer ganzen Art und Weise lag mehr noch als in ihren Worten ein Etwas, welches mich plötzlich aufklärte.
»Sie haben mir das Geheimnis bereits verraten,« sagte ich. »John Jago liebt Sie.«
»Wahnsinnig,« setzte sie, die Stimme bis zum Geflüster senkend, hinzu. »Ganz toll — das ist der einzige Ausdruck dafür. Nachdem wir einige Male aus dem Kiesweg auf- und abgegangen waren, brach er plötzlich las, als ob er nicht bei Sinnen gewesen wäre. Er kniete nieder und küsste meine Kleider, meine Füße und weinte und schluchzte vor Liebe zu mir. Für eine Frau fehlt es mir nicht gerade an Mut, Sir, und ich kann mich nicht besinnen, daß ich mich bis dahin ernstlich vor einem Mann gefürchtet hätte. Aber ich bekenne, John Jago flößte mir Furcht ein. Unbeschreibliche Furcht! Das Herz schlug mir bis in den Hals und die Knie bebten mir. Ich bat und flehte, daß er aufstehen und seiner Wege gehen mögte. Aber nein, er lag aus den Knien und hielt meine Kleider umklammert Die Worte entströmten ihm wie — wie, ich weiß kein anderes Bild als wie Wasser aus einer Pumpe. Sein Glück und sein Leben und seine Hoffnungen hier und in jener Welt und Gott allein weiß, was sonst noch alles hinge, wie er sagte, an einem Wort von mir. Ich nahm endlich meinen Mut zusammen und erinnerte ihn daran, daß ich mit Ambrosius versprochen sei. ›Sie sollten sich schämen,‹ sagte ich, ›zu bekennen, daß Sie schlecht genug sind mich zu lieben, während Sie wissen, daß ich mit einem Andern verlobt bin.‹ Daraus fing er auf einer andern Tonart an und versuchte Ambrosius schlecht zu machen. Das brachte mich wieder zu mir selbst. Ich machte meine Kleider von ihm los und sprach mit ihm, wie es mir ums Herz war. ›Ich hasse Sie,‹ sagte ich ›und selbst wenn ich nicht mit Ambrosius versprochen wäre, würde ich Sie nicht heiraten, nein, und wenn mich Niemand anderes in der Welt wollte. Ich hasse Sie, Mr. Jago — ich hasse Sie!‹ Er sah endlich, daß ich im Ernst sprach. Er stand von seinen Knien auf und wurde plötzlich ganz ruhig. ›Genug, genug,‹ sagte er, ›Sie haben mir das Leben vergiftet; ich hoffe und erwarte nichts mehr von ihm. Ich setzte meinen Stolz in die Farm und in meine Arbeit, ich ertrug die Brutalitäten Ihrer Cousins, ich nahm die Interessen Mr. Meadowcrofts wahr — alles um Ihretwillen! Das ist jetzt zu Ende. Auch ist meines Bleibens hier nicht länger. Sie werden durch mich nicht mehr belästigt worden. Ich werde es machen wie die stummen Geschöpfe, wenn sie krank sind, und mich in einem Winkel verbergen um zu sterben. Gewähren sie mir eine letzte Gunst.. Machen Sie mich nicht zum Gelächter der Umgegend. Das könnte ich nicht ertragen, schon der Gedanke daran macht mich wahnsinnig. Geben Sie mir Ihr Versprechen, niemals einer lebenden Seele zu erzählen, was ich heut zu Ihnen gesagt habe — Ihr heiliges Versprechen, dem Manne, dessen Leben Sie gebrochen haben!‹ Ich tat was er von mir forderte ;. ich gab ihm mein heiliges Versprechen mit Tränen in den Augen. Sonderbar! Nachdem ich ihm gesagt, daß ich ihn hasse, — und ich hasste ihn wirklich — weinte ich über sein Unglück. Himmel, was sind wir Frauen für törichte Geschöpfe! Ist es nicht eine schreckliche Verderbtheit, Sir, daß wir stets bereit sind, die Männer zu bemitleiden? Er gab mir die Hand und sagte:, ›Leben Sie wohlauf ewig‹ und ich fühlte inniges Mitleid mit ihm. ›Ich will Ihnen die Hand geben,‹ sagte ich, ›wenn Sie mir auch etwas versprechen wollen. Ich bitte Sie, nicht die Farm zu verlassen. Was würde mein Oheim ohne Sie anfangen? Bleiben Sie hier und seien wir gute Freunde und vergessen und vergeben Sie, Mr. John.‹ Er versprach es mir — er konnte mir nichts abschlagen — und er wiederholtes ein Versprechen auch noch am folgenden Morgen. Ja, ich will gerecht gegen ihn sein, wenn gleich ich ihn hasse. Ich glaube, er hatte die ehrliche Absicht sein Versprechen zu halten, so lange er sich unter meinen Augen befand, aber sobald er allein war, versuchte ihn der Teufel, sein Wort zu brechen und die Farm zu verlassen. Ich bin im Glauben an den Teufel erzogen, Mr. Lefrank, und finde, daß sich Vieles recht gut durch ihn erklärt. Auch John Jago wird durch ihn erklärlich. Lassen Sie mich nur ausfindig machen, wohin er gegangen ist und ich stehe dafür, daß er zurückkommen und Ambrosius von dem Verdacht reinigen soll, den sein schändlicher Bruder auf ihn geworfen. Hier ist Feder und Tinte. Schreiben Sie die Aufforderung, Freund Lefrank, und zwar gleich um meinetwillen.«
Ich hatte sie fort reden lassen, ohne sie zu unterbrechen, um ihre Schlußfolgerungen einer nähern Prüfung zu unterziehen. Als sie mir die Feder in die Hand drückte, begann ich das Avertissement so gehorsam aufzusetzen, als ob ich den Glauben teilte, daß John Jago noch am Leben wäre.
Jedem Andern gegenüber hätte ich offen bekannt, daß meine Überzeugung in nichts erschüttert worden sei. Wenn kein Streit am Kalkofen stattgefunden hätte, wäre ich allenfalls bereit gewesen zu glauben, daß John Jagos verschwinden mit der schrecklichen Enttäuschung, welche er durch Naomi erfahren, zusammenhing. Dieselbe krankhafte Furcht sich lächerlich zumachen, welche ihn in dem Streit mit Silas unter meinem Fenster zu der Behauptung verführt hatte, daß Naomi ihm völlig gleichgültig sei, konnte ihn ebenso gut dazu bestimmt haben, sich sofort von dem Schauplatz seiner Niederlage heimlich zu entfernen. Aber von mir zu verlangen, daß ich nach dem, was am Kalkofen vorgegangen war, glauben sollte, daß er noch am Leben sei, war dasselbe, als hätte man mir zugemutet, Ambrosius Erzählung für verbürgte Wahrheit zu halten.
Ich hatte derselben von Anfang an misstraut und konnte nicht umhin, in diesem Misstrauen zu verharren. Wenn man mich aufgerufen hätte zu entscheiden, wo nach meiner Ansicht die größere Wahrscheinlichkeit läge, ob in der Geschichte, wie sie Ambrosius bei seiner Verteidigung erzählt, oder in der, wie sie Silas in seinem Bekenntnis dargestellt, so hätte ich bekennen müssen, ganz gleich mit welchem Widerstreben, daß mir die des Bekenntnisses die glaubwürdigere von beiden schiene.
Konnte ich das aber Naomi sagen? Ich hätte lieber fünfzig Aufforderungen zur Auffindung von John Jago in die Zeitungen geschrieben, als ihr einen solchen Kummer bereitet. Und Keiner hätte das vermocht., dem sie so teuer wie mir gewesen wäre.
Ich entwarf den Aufruf, welcher in den »Morwicker Merkur« eingerückt werden sollte, etwa folgendermaßen:
»Mord.«
»Die Zeitungen der Vereinigten Staaten werden gebeten zu veröffentlichen, daß Ambrosius Meadowcroft und Silas Meadowcroft von Morwick Farm in Morwick County in Untersuchung sich befinden, unter der Anklage John Jago, welcher von der Farm und aus der Nachbarschaft verschwunden ist, ermordet zu haben. Wer im Stande ist, über die Existenz des besagten Jago Auskunft zu geben, wird durch unverzügliche Mitteilung derselben das Leben zweier fälschlich angeklagten Männer retten. Jago ist etwa fünf Fuß vier Zoll groß und von hagerer Gestalt; seine Gesichtsfarbe ist außerordentlich bleich; seine Augen sind dunkel, sehr glänzend und ruhelos; sein dicker schwarzer Backen- und Schnurrbart bedeckt den unteren Teil seines Gesichts. Die ganze Erscheinung des Mannes ist wild und phantastisch.«
Ich fügte das Datum und die Adresse hinzu und noch denselben Abend ward ein reitender .Bote nach Narrabee geschickt, um den Aufruf in die nächste Nummer des Blattes einrücken zu lassen.
Als wir uns an diesem Abend trennten, sah Naomi schon fast so heiter und glücklich wie sonst aus. Da sie den Aufruf auf seinem Wege zur Druckerei wußte, war sie voll sanguinischer Hoffnung — sie war des Erfolges ganz gewiss.
»Sie wissen nicht, wie sehr sie mich getröstet haben,« sagte sie in ihrer offenen, warmherzigen Weise, als wir uns gute Nacht sagten. »Alle Blätter werden es abdrucken und noch ehe die Woche herum ist, werden wir von John Jago hören.« Sie hatte sich schon einige Schritte entfernt, kehrte aber wieder um und flüsterte mir ins Ohr: »Silas werde ich dies Bekenntnis nie und nimmer vergeben.. Wenn er wieder mit Ambrosius unter einem Dache leben sollte — ich glaube, ich wäre im Stande Ambrosius nicht zu heiraten.«
Damit verließ sie mich. Ihre letzten Worte verfolgten mich in den schlaflosen Stunden der Nacht. Daß sie überhaupt den Gedanken an die Möglichkeit, Ambrosius nicht zu heiraten, fassen konnte, war, ich muß es beschämt gestehen, eine direkte Ermutigung gewisser Hoffnungen, welche ich bereits im Stillen zu hegen begonnen hatte.
Der folgende Tag brachte mir einen Geschäftsbrief. Mein Clerk fragte an, ob irgendeine Aussicht wäre, daß ich zur Eröffnung der nächsten Gerichtsperiode zurückkehrte. Ich antwortete unbedenklich: »Es ist mir vorläufig unmöglich., die Zeit meiner Rückkehr zu bestimmen.« Naomi war im Zimmer während ich schrieb. Was würde sie geantwortet haben, wenn ich zu ihr gesagt hätte, wie es, sich der Wahrheit gemäß verhielt, daß sie für diesen Brief verantwortlich wäre?
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