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Mann und Weib



Glasgow.

Zweiunddreißigstes Kapitel - Anne consultirt Advocaten

An dem Tage, wo Sir Patrick das zweite Telegramm von Edinburgh erhielt, wurden vier respectable Bewohner der Stadt Glasgow durch das Erscheinen eines interessanten Gegenstandes an dem monotonen Horizont ihres täglichen Lebens in Aufruhr versetzt. Die Personen, welche in dieser Weise aufgeregt wurden, waren Mr. und Mrs. Karnegie, Besitzer des »Schöpfen-Hotels«, und die Herren Camp und Crum, Beide Advocaten.

Es war noch früh am Tage, als eine Dame in einem Fiaker, von der Eisenbahn vor dem »Schöpfen-Hotel« anlangte; ihr Gepäck bestand aus einem schwarzen Koffer und einer abgenutzten ledernen Reisetasche. Der Name auf dem Koffer, wie er auf einem frischen Gepäck zettel geschrieben stand, war ein in Schottland und England sehr wohltönender, einer großen Anzahl von Damen gemeinsamer: Mrs Graham.

Mrs. Graham bat den in der Thür des Hotels stehenden Wirth, ihr ein Schlafzimmer anzuweisen, und wurde alsbald dem dienstthuenden Hausmädchen übergeben.

Als Mr. Karnegie in den Raum hinter dem Schenktisch, wo die Rechnungen geführt wurden, zurückkehrte, überraschte er seine Frau durch schnellere Bewegungen und ein heitereres Aussehen, als sie bei ihm gewöhnlich waren. Mr. Karnegie, der sich den schwarzen Koffer auf dem Vorplatz betrachtet hatte, meldete, daß eben eine Mrs. Graham angekommen und auf der Stelle als Bewohnerin des Zimmers No. 17. zu buchen sei. Da seine Frau ihm in wenig verbindlicher Weise zu wissen that, daß diese Mittheilung durchaus nicht genüge, um das Interesse, welches eine völlig Fremde bei ihm erregt zu haben scheute, zu erklären, rückte Mr. Karnegie mit der Sprache heraus und berichtete, daß Mrs. Graham die hübscheste Frau sei, die er seit langer Zeit gesehen habe, und daß er fürchte, es stehe mit ihrer Gesundheit nicht zum Besten.

Bei dieser Antwort wurden Mrs. Karnegie’s Augen bebeutend größer und ihre Wangen bedeutend rother. Sie erhob sich von ihrem Stuhl und erklärte, es werde wohl eben so gut sein, wenn sie die Einführung Mrs. Graham’s in ihr Zimmer selbst überwache und sich selbst überzeuge, ob Mrs. Graham ein passender Gast für das »Schöpfen-Hotel« sei.

Darauf that Mr. Karnegie was er immer that, er stimmte seiner Frau bei.

Mrs. Karnegie entfernte sich auf kurze Zeit. Bei ihrer Rückkehr richteten sich ihre Augen mit einem tigerartigen Ausdruck auf ihren Gatten; sie beorderte Thee und eine leichte Erfrischung auf No. 17 und wandte sich, nachdem sie das gethan hatte, ohne daß sie irgend wie zu einer beleidigenden Bemerkung gereizt worden wäre, gegen Mr. Karnegie mit den Worten: »Karnegie, Du bist ein Narr!«

Karnegie fragte: »Warum liebes Kind?«

Mrs Karnegie schnalzte mit den Fingern und sagte: »Das gebe ich für ihr hübsches Gesicht, wenn Du die hübsch findest, weißt Du nicht, was eine hübsche Frau ist!«

Mr. Karnegie stimmte seiner Frau bei. Dann sagten Beide nichts weiter und der Kellner erschien mit seinem Theebret am Schenktisch. Nachdem Mrs. Karnegie das Theebret hatte fortbringen lassen, ohne ihre gewöhnliche Untersuchung mit demselben anzustellen, setzte sie sich plötzlich heftig nieder und sagte zu ihrem Gatten, der inzwischen kein Wort geäußert hatte: »Sprich mir nicht von ihrer schlechten Gesundheit. Das gebe ich für ihre schlechte Gesundheit, Sie hat Kummer!«

Mr. Karnegie sagte: »In der That?s«

Mrs. Karnegie erwiderte: »Wenn ich etwas gesagt habe, so betrachte ich es als eine Beleidigung, wenn jemand Anderes fragt, ob es sich in der That so verhält.«

Mr. Karnegie stimmte seiner Frau bei.

Es entstand eine neue Pause. Mrs. Karnegie schrieb mit dem Ausdruck der Entrüstung eine Rechnung aus. Mr. Karnegie sah sie erstaunt an. Mrs. Karnegie fragte ihn möglich, »Warum er seine Zeit damit vergeude, sie anzusehen, da er doch binnen Kurzem wieder Mrs. Graham ansehen könne.«

Darauf versuchte Mr. Karnegie die Sache dadurch gütlich beizulegen, daß er inzwischen seine eigenen Stiefel ansah.

Mrs. Karnegie fragte nun, ob sie nach einer zwanzigjährigen Ehe vielleicht einer Antwort von ihrem eigenen Manne würdig wäre. Wenn er sie mit der einfachsten Höflichkeit, mehr erwarte sie nicht, behandelt hätte, so würde sie ihm noch weiter mitgetheilt haben, daß Mrs. Graham im Begriff stehe auszugehen; vielleicht hätte sie sich auch bewogen gefunden zu erwähnen, daß Mrs. Graham eine sehr merkwürdige Frage geschäftlicher Natur an sie, während sie oben war, gerichtet habe. Wie die Dinge aber nun standen, wären Mrs. Karnegie’s Lippen geschlossen und Mr. Karnegie würde nicht leugnen können, daß er eine solche Behandlung reichlich verdient habe.

Mr. Karnegie stimmte seiner Frau bei.

Eine halbe Stunde später kam Mrs. Graham die Treppe herunter und man holte einen Fiaker für sie herbei.

Mr. Karnegie hielt sich in Furcht vor den Folgen, die ein anderes Verhalten nach sich ziehen konnte, in einem Winkel. Mrs. Karnegie folgte ihm in den Winkel und fragte, wie er sich unterstehen könne, sich so zu benehmen und wie er es wagen könne, nach zwanzigjähriger Ehe zu glauben, daß seine Frau eifersüchtig sei. »Geh’, Du Dummkopf, und hilf Mrs. Graham in den Wagen.« —— Mr. Karnegie gehorchte. An dem Wagenfenster fragte er, wohin er den Kutscher dirigiren solle. —— Die Antwort lautete: »nach dem Bureau des Advocaten Mr. Camp.«

Die Voraussetzung daß Mrs. Graham eine Fremde in Glasgow sei und die Thatsache, daß Mr. Camp Mr. Karnegies Advocat war, legten diesem den Schluß nahe, daß Mrs. Graham’s merkwürdige an seine Frau gerichtete Frage, sich auf ein Rechtsgeschäft und auf die Empfehlung einer vertrauenswürdigen Person, die im Stande sei, das Geschäft für sie abzuschließem bezogen habe.

An den Schenktisch zurückgekehrt, fand Mr. Karnegie seine älteste Tochter mit der Beaufsichtigung der Bücher und Rechnungen und der Kellner beschäftigt. Mrs. Karitegie hatte sich auf ihre Zimmer zurückgezogen, mit Recht über das abscheuliche Benehmen, mit dem Mr. Karnegie, Mrs. Graham vor ihren eigenen Augen in den Wagen geholfen hatte, entrüstet.

»Es ist die alte Geschichte, Papa!« bemerkte Miß Karnegie vollkommen ruhig. »Natürlich hatte Mama Dich aufgefordert, es zu thun und erklärte dann Du habest sie vor allen Kellnern, beleidigt; ich begreife nicht wie Du das aushältst.«

Mr. Karnegie blickte auf seine Stiefel und sagte: »Ich begreife es auch nicht, liebes Kind!«

Miß Karnegie sagte: »Du willst doch nicht wieder zu Mama gehen.«

Mr. Karnegie blickte wieder von seinen Stiefeln auf und sagte: »ich muß, liebes Kind!«

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»Mr. Camp saß in seinem Arbeitscabinet in seine Akten vertieft. Zahlreich, wie diese Documente waren, schienen sie Mr. Camp doch noch nicht zu befriedigen. Er zog die Klingel und beorderte weitere Papiere. Der Schreiber erschien mit einem neuen Convolut von Papieren und überbrachte gleichzeitig die Botschaft: »Eure, von dem »Schöpfen-Hotel« empfohlene Dame wünsche Mr. Camp in Geschäften zu sprechen.« Mr. Camp sah nach seiner Uhr, die in einem kleinen Uhrgehäuse auf dem Tische, vor seinen Augen, die kostbare Zeit angab und sagte: »Führen Sie die Dame in zehn Minuten herein.« Nach zehn Minuten erschien die Dame, sie setzte sich auf den für Clienten bereit gehaltenen Stuhl und lüftete den Schleier. Denselben Eindruck, den ihr Anblick auf Karnegie hervorgebracht hatte, empfing jetzt auch Mr. Camp. Zum ersten Male seit langen Jahren fühlte er ein persönliches Interesse an einer ihm vollkommen Fremden. Vielleicht war es etwas in ihrem Wesen, aber was es auch sein mochte, es fesselte ihn und machte ihn zu seiner eigenen Ueberraschung außerordentlich begierig zu hören, was sie ihm zu sagen habe. Die Dame berichtete mit einer leisen, sanften, von einer stillen Trauer umflorten Stimme, daß sie sich eine Auskunft über eine Frage des schottischen Eherechts zu erbitten komme und daß ihr eigener Seelenfrieden und das Glück einer ihr sehr theuren Person gleich sehr von der Meinung abhingen, welche Mr. Camp, nachdem er in den Besitz der nöthigen Thatsachen gelangt sein werde, abgeben könne. Dann schritt sie dazu, die Thatsachen, ohne Namen zu nennen, anzugeben, indem sie bis auf die kleinsten Umstände genau dieselbe Folge von Ereignissen mittheilte, welche Geoffrey Delamayn bereits an Sir Patrick mitgetheilt hatte, mit dem einzigen Unterschiede, daß sie offen bekannte, selbst die Person zu sein, welche zu erfahren wünsche, ob sie nach schottischem Recht jetzt als eine verheirathete Frau zu betrachten sei oder nicht.

Die Meinung, welche Mr. Camp, nachdem er gewisse Fragen gethan und beantwortet erhalten hatte, abgab, wich von der Meinung, die Sir Patrick in Windygates ausgesprochen hatte, ab; auch er citirte den Ausspruch des berühmten Richters Lord Deafe, aber er zog seinen eigenen Schluß daraus. »In Schottland bewirkt die Uebereinstimmung beider Theile den Abschluß einer Ehe«, sagte er, »und diese Uebereinftimmung kann durch Schlüsse bewiesen werden. Ich finde genügende Veranlassung zu einem Schluß auf Uebereinstimmung in den mir von ihnen mitgetheilten Umständen und erkläre: »Sie sind eine verheirathete Frau!«

Die Wirkung, die dieser Ausspruch auf die Dame hervorbrachte, war so beunruhigend, daß Mr. Camp sich veranlaßt fand, eine Botschaft an seine Frau hinauf zu senden. In Folge dessen erschien Mrs. Camp, zum ersten Male in ihrem Leben während der Geschäftsstunden, in dem Arbeits-Cabinet ihres»Gatten. Als Mrs. Camps Dienste die Dame einigermaßen wieder zu sich gebracht hatten, stellte sich auch Mr. Camp mit einem Worte berufsmäßiger Tröstung ein. Wie Sir Patrick, so anerkannte auch er die seandalöse, durch die Verwirrung und Unsicherheit des schottischen Eherechts hervorgerufene Verschiedenheit der Ansichten. Wie Sir Patrich so erklärte auch er es für vollkommen möglich, daß ein anderer Advocat zu einem ganz anderen Schluß gelangen könne. »Gehen Sie«, sagte er, indem er ihr seine Karte mit einer geschriebenen Zeile gab, »zu meinem Collegen Crum und sagen Sie, daß ich Sie schicke!«

Die Dame sagte Mr. und Mes. Camp ihren verbindlichsten Dank und begab sich direct nach Mr. Crum’s Bureau. Mr. Crum war der ältere und härtere der beiden Advocaten und doch war auch er nicht unempfindlich für den Reiz, den diese Frau mehr oder weniger auf jeden Mann, der mit ihr in Berührung kam, ausübte. Er hörte ihr mit einer Geduld zu, die selten bei ihm war, stellte ihr seine Fragen mit einer sanften Freundlichkeit, die noch seltener bei ihm war, und sprach, als er sich im Besitz der Thatsachen befand, eine der Ansicht seines Collegen gerade entgegengesetzte Meinung aus. »Das ist keine Heirath, Madame«, erklärte er positiv, »Indicien, aus denen vielleicht Schlüsse auf eine Heirath gezogen werden können, wenn Sie beabsichtigen, einen Anspruch auf den Mann geltend zu machen, das beabsichtigen Sie aber, »wenn ich recht verstanden habe, nicht.«

Der Trost, den die Dame bei dein Ausspruch dieser Meinung empfand, überwältigte sie beinahe. Einige Minuten lang war sie unfähig, zu reden.

Mr. Crum that, was er in seinem ganzen Leben noch nicht gethan hatte, er klopfte seiner Clientin auf die Schulter und, noch unerhörter, er gestattete dieser Clientin, ihn um seine Zeit zu bringen.

»Warten Sie ruhig, bis Sie sich gefaßt haben«, sagte Mr. Crum, indem er einen Paragraphen des Gesetzes der Humanität zur Anwendung brachte. Die Dame gewann wieder Fassung.

»Ich muß noch einige Fragen an Sie richten«, sagte Mr. Crum, indem er sich nun wieder dem Gesetz des Landes zuwandte.

Die Dame verneigte sich und hörte seine Fragen an.

»Ich weiß bereits, daß Sie keinen Anspruch an den Herrn erheben wollen; ich möchte jetzt wissen, ob der Herr einen Anspruch an Sie erheben wird?«

Die Antwort auf diese Frage lautete ganz positiv; der Herr habe nicht einmal eine Ahnung von der Lage, in der er sich befinde, und noch mehr, er sei verlobt mit der theuersten Freundin, die sie auf der Welt habe.

Mr. Crum machte große Augen, dachte nach und that in möglichst delicater Weise eine andere Frage.

»Würde es nicht allzu peinlich für Sie sein, mir zu sagen, wie der Herr in die fatale Situation gekommen ist, in der er sich jetzt befindet?«

Die Dame gestand, daß es ihr unbeschreiblich peinlich sein würde, die Frage zu beantworten.

Mr. Crum versuchte es, ihr in Gestalt einer Frage die Antwort an die Hand zu geben. »Würde es Ihnen auch peinlich sein, die Umstände der Zusammenkunft —— im Interesse des künftigen Glückes des Mannes —— einer discreten Person, am besten einem Juristen mitzutheilen, der Ihnen nicht, wie, ich, völlig fremd wäre?«

Die Dame erklärte sich bereit, unter diesen Umständen, um ihrer Freundin willen, jedes noch so schmerzliche Opfer zu bringen.

Mr. Crum dachte noch eine Weile nach und gab dann seinen Rath dahin: »Bei dem gegenwärtigen Stand der Dinge brauche ich Ihnen nur den ersten Schritt anzugeben, den Sie unter den obwaltenden Umständen zu thun haben. Benachrichtigen Sie auf der Stelle den Herrn mündlich oder schriftlich von der Lage, in der er sich befindet, und autorisiren Sie ihn, den Fall einer Ihnen Beiden bekannten Person vorzulegen, die competent ist, darüber zu entscheiden, was Sie zunächst zu thun haben. Habe ich Sie recht verstanden, daß Sie eine dazu qualificirte Person kennen?«

Die Dame bejahte diese Frage.

Mr. Crum fragte, ob bereits»ein Tag für die Hochzeit des Herrn festgesetzt sei.

Die Dame antwortete, daß sie selbst diese Frage bei der letzten Gelegenheit, wo sie die Verlobte des Herrn gesehen, an diese gerichtet und von ihr erfahren habe, daß die Hochzeit an einem später festzusetzenden Tage Ende Herbst stattfinden solle.

»Das ist ein glücklicher Umstand«, sagte Mr. Gram. »Sie haben also noch Zeit, und die Zeit ist hier von großer Wichtigkeit, sehen Sie sich wohl vor, daß Sie sie nicht ungenützt verstreichen lassen.«

Die Dame erklärte, sie wolle in ihr Hotel zurückkehren, um noch mit der Abendpost an den Herrn zu schreiben, ihn über die Lage, in der er sich befinde, aufzuklären und ihn zu autorisiren, die Angelegenheit einem ihnen Beiden befreundeten, competenten und vertrauenswürdigen Mann zu übergeben. Als sie aufstand, um das Zimmer zu verlassen, ergriff sie ein Schwindel und ein plötzlicher Schmerz, der sie tödtlich erbleichen machte und sie zwang, sich wieder niederzusetzen.

Mr. Crum war unverheirathet, hatte aber eine Haushälterin und bot der Dame an, diese kommen zu lassen. Die Dame machte eine abwehrende Bewegung, sie trank etwas Wasser und bekämpfte ihren Schmerz.

»Es thut mir leid, daß ich Sie beunruhigt habe«, sagte sie. »Es ist nichts, es geht mir schon besser.« Mr. Crum gab ihr den Arm und führte sie an den Wagen; sie sah so bleich und schwach aus, daß er sich erbot, seine Haushälterin mitzuschicken, und bemerkte, es seien nur fünf Minuten nach dem Hotel zu fahren. Die Dame dankte und fuhr allein fort.

»Der Brief!« sagte sie, als sie allein war, »wenn ich nur noch so lange lebe, um den Brief zu schreiben.«


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