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Ein unverdienter Tod

Es war zu dieser denkwürdigen Zeit in der frühen Geschichte der Vereinigten Staaten, als die amerikanischen Bürger sich an der Tyrannei Georges des III. und an seinem Parlament rächten, indem sie eine Fracht besteuerten Tees vernichteten, als ein Händler aus Bristol im Hafen von Boston einlief, mit einem Passagier an Bord. Dieser Passagier war eine englische Frau namens Esther Calvert, Tochter eines Ladenbesitzers in Cheltenham und die Nichte des Kapitäns des Schiffes.

Einige Jahre vor ihrer Abreise aus England hatte sich Esthers ein Kummer bemächtigt - der mit einem beklagenswerten öffentlich bekannten Ereignis zusammenhängt -, und ihre Liebe zu ihrem Vaterland wanken ließ. Als sie später frei war, selbst zu entscheiden, faßte sie den Entschluß, England zu verlassen, sobald sie in einem anderen Land eine Anstellung finden würde. Nach einer ereignislosen Zeitspanne voller Erwartung hatte der Kapitän eine Stellung für seine Nichte erhalten: als Haushälterin der Familie von Mrs. Andekin - eine verwitwete Dame, die in Boston lebte.

Esther war durch eine lange Krankheit ihrer Mutter in haushälterischen Verpflichtungen geübt. Intelligen, bescheiden und sympathisch, wie sie war, wurde sie bald ein Liebling von Mrs. Anderkin und ihren Kindern. Die Kinder bemerkten nur einen Fehler an der neuen Haushälterin - sie kleidete sich stets in trauriges Schwarz, und es war unmöglich, sie dazu zu bringen, die Gründe dafür anzugeben. Sie war eine Waise, das wußte man, und sie räumte ein, daß kein Verwandter von ihr kürzlich gestorben war - und doch bestand sie darauf, Trauerkleidung zu tragen. Ein großer Kummer schien offensichtlich das Leben der freundlichen englischen Haushälterin zu überschatten.

In ihrer Freizeit wurde sie schnell der Liebling von Mrs. Anderkins Kindern; immer war sie bereit, ihnen neue Spiele beizubringen, gewandt, für die Puppen der Mädchen neue Röcke zu schneidern und das Spielzeug der Jungen zu reparieren, aber nur in einem war Esther ihren jungen Freunden unsympathisch: sie lachte nie. Eines Tages stellten sie ihr frech die Frage:  „Warum lachst du nicht auch, wenn wir alle lachen ?“

Esther beschritt den richtigen Weg, um Kinder ruhigzustellen, deren erste Lektionen ihnen die goldene Regel gelehrt hatten: „Was du nicht willst, das man dir tu', das füg auch keinem anderen zu.“ Sie antwortete nur mit diesen Worten: „Ich werde es nicht nett von dir finden, wenn du mich das noch einmal fragst.“

Die jungen Leute verdienten das in sie gesetzte Vertrauen: sie erwähnten den Gegenstand von diesem Zeitpunkt an nie wieder. Aber es gab ein anderes Familienmitglied, das seinen Wunsch, etwas über die Geschichte der Haushälterin zu erfahren, aus Zartgefühl vor Esther verbarg. Es war die Gouvernante - Mrs. Anderkins geliebte Freundin und die Lehrerin ihrer Kinder.

Am Tag, bevor der Seekapitän heimsegelte, meldete er sich an, um sich von seiner Nichte zu verabschieden - und fragte darauf, ob er auch Mrs. Anderkin seine Hochachtung erweisen könne. Er wurde darüber in Kenntnis gesetzt, daß die Dame des Hauses ausgegangen war, aber die Gouvernante würde sich freuen, ihn zu empfangen. Bei dem nun folgenden Gespräch unterhielten sie sich über Esther und stimmten in ihrer guten Meinung von ihr so überein, daß aus dem Besuch des Kapitäns ein sehr langer wurde. Die Gouvernante hatte ihn davon überzeugt, ihr die Geschichte des zerstörten Lebens seiner Nichte zu erzählen.

Aber er bestand auf einer Bedingung.

„Wenn wir in England wären“, sagte er, „hätte ich die Angelegenheit geheimgehalten, um der Familie willen. Aber hier in Amerika ist Esther eine Fremde - hier wird sie bleiben - und keine Schande wird über den Familiennamen daheim gebracht. Aber bedenken Sie ! Ich vertraue auf Ihr Ehrgefühl, daß Sie niemand anderen ins Vertrauen ziehen - außer der Dame des Hauses.“
Mehr als 100 Jahre sind vergangen, seit diese Worte gesprochen wurden.
Esthers traurige Geschichte kann nun, ohne Schaden anzurichten, erzählt werden: Im Jahre 1762 erstaunte ein junger Mann namens John Jennings, Kellner eines Inns in Yorkshire, seinen Herrn, als er verkündete, daß er vorhatte zu heiraten und von seinem Dienst zum nächsten Quartal zurücktreten werde.

Eine weitere Frage ergab, daß der Name der jungen Frau Esther Calvert war und daß Jennings eine weit geringere soziale Stellung einnahm. Die Zustimmung ihres Vaters zur Heirat hing ab vom Erfolg ihres Liebhabers. Freunde mit Geld waren geneigt, Jennings zu vertrauen und ihm zu helfen, ein eigenes Geschäft aufzubauen, wenn Miss Calverts Vater seinerseits ebenfalls etwas für die jungen Leute tun würde. Er leistete keinen Widerstand und die Heirat wurde folglich gutgeheißen.

Eines Abends, als die letzten Tage von Jennings Dienst heranrückten, hielt ein Gentleman auf einem Pferd vor dem Inn. Im Zustand höchster Erregung informierte er die Wirtin darüber, daß er auf den Wege nach Hull sei, aber daß er so erschrocken sei, daß es für ihn unmöglich war, seine Reise fortzusetzen. Ein Straßenräuber hatte seinen Geldbeutel mit 20 Guineen geraubt. Das Gesicht des Diebes war (wie zu dieser Zeit üblich) von einer Maske verdeckt, aber es gab eine Chance, ihn vor Gericht zu bringen. Der Reisende hatte die Angewohnheit, eine persönliche Markierung auf jedes Goldstück zu machen, das er bei seinen Reisen bei sich trug - und die gestohlenen Goldmünzen könnten möglicherweise dadurch gefunden werden.

Der Gastwirt (ein Mr. Brunell) wartete beim Abendessen auf seinen Gast. Seine Frau hatte ihm gerade von dem Raub erzählt; und er hatte Dinge zu erwähnen, die vielleicht zur Entdeckung des Diebes führen würden. Zuerst jedoch wollte er wissen, zu welcher Zeit das Verbrechen begangen worden war. Der Reisende antwortete, daß er spät am Abend ausgeraubt worden war, gerade als es begann, dunkel zu werden. Als er dies hörte, schaute Mr. Brunell sehr bekümmert drein.

„Ich habe einen Kellner hier, namens Jennings“, sagte er,„ ein Mann erhaben über seine Stellung im Leben - gute Manieren und eine gute Erziehung - in der Tat, ein allgemeiner Günstling. Aber vor kurzer Zeit habe ich beobachtet, daß er freigebiger mit seinem Geld ist und daß die Gewohnheit zu trinken in ihm herangewachsen ist. Ich fürchte, er ist der guten Meinung, die ich und andere Personen von ihm haben, nicht wert. Diesen Abend sandte ich ihn weg, um etwas Kleingeld für mich zu holen; ich gab ihm eine Guinee, die er wechseln sollte. Er kam betrunken zurück und erzählte, daß man es nicht umtauschen wollte. Ich schickte ihn zu Bett - und schaute auf die Guinee, die er zurückgebracht hatte. Unglücklicherweise hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts von dem Raub gehört und ich schmiß die Guinee zu anderem Geld in die Kasse eines Händlers. Aber dessen bin ich sicher - es war ein Zeichen auf der Guinee, die Jennings mir zurückgab. Natürlich ist es auch möglich, daß auf der Guinee, die ich aus meinem Geldbeutel holte, um sie wechseln zu lassen, schon eine Markierung war (,die mir entgangen war).“

„Oder“, schlug der Reisende vor, „es könnte eine meiner gestohlenen Guineen gewesen sein, die Ihnen von Ihrem betrunkenen Kellner aus Versehen zurückgegeben wurde anstatt der Guinee, die Sie ihm gaben. Denken Sie, er schläft ?“

„In seiner Verfassung ? Sicher schläft er, Sir.“

„Weigern Sie sich, Mr. Brunell, nach dem, was Sie mir erzählt haben, diese Angelegenheit zu klären, indem wir die Kleider dieses Mannes durchsuchen ?“

Der Gastwirt zögerte.

„Es wird Jennings hart erscheinen,“ sagte er, „wenn er erfährt, daß wir ihn ohne einen Grund verdächtigen. Können Sie mit Sicherheit sagen, Sir, daß Sie auf das Geld eine Markierung gemacht haben ?“

Der Reisende erklärte, daß er auf diese Markierung schwören könne. Der Gastwirt gab nach und die beiden stiegen die Treppe zum Zimmer des Kellners hinauf.

Jennings schlief tief und fest. Gleich zu Anfang ihrer Suche fanden sie den gestohlenen Beutel mit Geld in seiner Hosentasche. Jede Guinee - 19 an der Zahl - hatte eine Markierung und der Reisende identifizierte sie als seine. Nach dieser Entdeckung war nur eines zu tun. Des Kellners Beteuerungen seiner Unschuld, als sie ihn weckten und ihn des Raubes bezichtigten, waren Worte, die klar von den Tatsachen wurden. Er wurde vor den Friedensrichter geführt, des Diebstahls angeklagt und daraufhin vor ein Gericht gestellt.

Die Fakten lagen so stark gegen ihn, daß ihm selbst seine Freunde empfahlen, seine Schuld einzugestehen und an die Gnade des Gerichts zu appellieren. Er weigerte sich, dem Rat seiner Freunde zu folgen und er wurde von dem armen Mädchen, das mit ganzem Herzen an seine Unschuld glaubte, dazu ermutigt, bei seiner Entscheidung zu bleiben. In dieser schweren Zeit ihres Lebens sicherte sie ihm den besten rechtlichen Beistand und nahm von ihrer wenigen Aussteuer das Geld, um die Ausgaben zu bezahlen.

Beim folgenden Geschworenengericht wurde der Fall untersucht. Der Ablauf vor dem Richter war eine Wiederholung (allerdings viel länger und mit mehr Ernsthaftigkeit) des Ablaufs vor dem Friedensrichter. Kein Kreuzverhör konnte die Aussagen der Zeugen erschüttern. Der Fall wurde absolut klar, als der Händler erschien, an den Mr. Brunell die markierte Guinee gezahlt hatte. Die Münze war (so markiert) eine Seltenheit. Der Mann hatte sie behalten und legte sie nun dem Gericht als Beweismittel vor.

Der Richter faßte in wenigen Worten ehrlich zusammen, daß buchstäblich nichts für den Angeklagten spreche. Die Geschworenen befanden ihn nach der Beratung, die eine reine Formsache war, für schuldig. Eindeutiger war noch nie die Schuld eines Angeklagten bewiesen worden, das meinten alle Personen, die dem Prozeß beiwohnten, alle bis auf eine. Das Urteil für Jennings wegen Straßenraub war in diesen Tagen von Gesetz wegen der Tod am Schafott.

Freunde fanden sich zusammen, um Esther bei dem letzten Versuch zu helfen, den die treue Kreatur nun noch machen konnte - nämlich eine Milderung des Urteils zu erlangen. Sie erhielt eine Audienz beim Justizminister und ihre Petition wurde dem König vorgelegt. Hier verboten wiederum die unbestreitbaren Tatsachen die Ausübung der Gnade. Esthers Verlobter wurde in Hull gehängt. Mit seinen letzten Worten - das Seil um seinen Hals - beteuerte er seine Unschuld.

Bevor ein Jahr vergangen war, fand der einzige Trost, auf den Esther in ihrem Elend auf dieser Welt hoffen konnte, zu ihr. Der Beweis, daß Jennings aufgrund der Fehlbarkeit menschlicher Rechtssprechung zum Märtyrer gemacht worden war, wurde durch das Geständnis des Schuldigen öffentlich bekannt.

Ein weiterer Kriminalfall wurde vor dem Geschworenengericht verhandelt. Der Gastwirt eines Inns wurde darin schuldig gesprochen, das Eigentum einer im Haus übernachtenden Person gestohlen zu haben. Bei der Beweisaufnahme wurde bekannt, daß dies nicht sein erstes Verbrechen gewesen war. Er war ein gewohnheitsmäßiger Straßenräuber und sein Name war Brunell.

Der Schurke gestand, daß er der maskierte Straßenräuber gewesen war, der den Beutel Guineen gestohlen hatte. Da er einen kürzeren Weg zum Inn ritt, als ihn der Reisende kannte, war er früher als dieser da. Er fand dort einen Händler vor, der, wie sie zuor miteinander vereinbart hatten, auf die Begleichung einer Rechnung wartete. Da er nicht genug eigenes Geld bei sich hatte, um den gesamten Betrag zu bezahlen, machte Brunell Gebrauch von einer der gestohlenen Guineen und hatte von dem Reisenden erst von der Markierungen auf den Münzen erfahren, nachdem der Händler das Haus verlassen hatte. Die Rückgabe der schicksalhaften Guinee zu verlangen wagte er nicht. Aber ein anderer Ausweg bot sich an. Der unbarmherzige Schurke rettete sein eigenes Leben, indem er einen unschuldigen Mann opferte.

Nachdem der Seekapitän Mrs. Anderkins Haus besucht hatte, wurde Esthers Position Gegenstand gewisser Veränderungen. Ein kleines häusliches Privileg folgte einem anderen, und so schrittweise und langsam, daß die Haushälterin sich als geliebtes und geehrtes Mitglied der Familie fühlte, ohne zu ahnen, durch welche Ereignisse sie zu diesem neuen Posten aufgestiegen war, den sie nun bekleidete. Das Geheimnis, das den beiden Damen anvertraut worden war, hatten sie strengstens bewahrt; Esther vermutete niemals, daß sie etwas über die beklagenswerte Geschichte ihres Verlobten und dessen Tod wissen könnten. Nach dem, was sie gelitten hatte, sollte sie kein hohes Alter erreichen. Sie starb friedlich und ohne Angst vor dem Tod. Ihre letzten Worte sprach sie mit einem Lächeln. Sie schaute die geliebten Freunde, die sich um ihr Bett versammelt hatten, an und sprach: „Mein Liebling wartet auf mich. Good-bye.“

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