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Herz und Wissen



Capitel XLIII.

Als Carmina am Sonntag das Haus des Rechtsanwalts verlassen hatte, waren demselben ernste Besorgnisse gekommen. Ihr aufgeregtes Wesen, ihre sonderbaren Fragen und dann der plötzliche Abschied riefen in ihm die Vermuthung hervor, daß sie sich mit irgend einem ungewöhnlichen Plane trüge, vielleicht sogar mit dem Gedanken an Flucht. Für jeden Anderen wäre es nun wohl das Nächste gewesen, Mrs. Gallilee diese Vermuthungen mitzutheilen; dem Rechtsanwalt stand aber jene Szene in seinem Büreau noch zu lebhaft vor Augen; das Vergnügen, mit welchem Mrs. Gallilee das Andenken der Mutter Carmina's zu beschmutzen versucht, hatte ihn so angeekelt und entsetzt, daß er vor dem Gedanken, noch fernerhin irgendwie mit derselben zu verkehren, zurückschrak, mochte es sich auch um eine noch so dringende Sache handeln. Da es übrigens möglich war, daß Carmina sich nach dem Vorgefallenen zu einer schriftlichen Erklärung verpflichtet fühlen mochte, so entschloß er sich, bis zum nächsten Morgen zu warten.

Am Montag Morgen kam indeß kein Brief von Carmina, und als Mr. Mool zu seinem Büreau ging, fand er eine solche Geschäftskorrespondenz vor, daß jede Minute Zeit davon in Anspruch genommen wurde und sein Vorhaben, an Carmina zu schreiben, nicht zur Ausführung kam. Erst nach Beendigung seines Tagewerks hatte er Muße, an eine Sache von größerer Wichtigkeit zu denken, nämlich an die Notwendigkeit, Benjulia's früheren Freund, den italienischen Lehrer Baccani zu entdecken. Deshalb gab er einem seiner Schreiber den Auftrag, am folgenden Morgen in den ausländischen Buchhandlungen nachzufragen; das war die einzige Möglichkeit, zu erfahren, ob Baccani überhaupt noch lebte und sich in London aufhielte.

Die Nachforschungen erwiesen sich als erfolgreich, und am Dienstag Nachmittag hatte Mr. Mool die Adresse Baccani's in Händen. Obgleich noch Geschäfte auf ihn warteten, setzte er dieselben doch der heiligen Pflicht nach, den guten Namen der Todten zu vertheidigen, und der dringenden Notwendigkeit, Mrs. Gallilees böse und lästerliche Zunge zum Schweigen zu bringen. Sofort begab er sich in Person nach der Wohnung des Sprachlehrers, wo ihm mitgetheilt wurde, daß derselbe nach einem benachbarten Restaurant zum Essen gegangen sei. Er schickte demselben einige Zeilen und wartete in der Wohnung. Nach zehn Minuten erschien ein ältlicher Mann von asketischem Aeußern, dessen Blick und Ton darauf schließen ließen, daß er sehr empfindlich war und in dem Advokaten vielleicht einen Spion argwöhnte.

Aber Mr. Mool hatte Erfahrungen hinter sich und war seiner Aufgabe gewachsen; er erklärte klar und voll, was ihn hierher geführt, und schloß mit einem Appell an die Sympathie eines Ehrenmannes.

Baccani, welcher sich, während er schweigend zuhörte, ein Urtheil über den Rechtsanwalt gebildet hatte, antwortete:

»Ich habe bis jetzt herzlich bittere Erfahrungen mit der Menschheit gemacht; seit ich Sie aber gesehen, habe ich wieder eine bessere Meinung von der menschlichen Natur bekommen, und das will in meinem Alter und meinen Verhältnissen etwas sagen.«

Dann verbeugte er sich ernst, ging zu seinem Bette, zog unter demselben einen plumpen eisernen Kasten hervor, öffnete das verrostete Schloß desselben nicht ohne Schwierigkeit, nahm aus demselben ein altes Taschenbuch und aus diesem ein Papier, das wie ein alter Brief aussah.

»Hier,« sagte er, Mr. Mool das Papier überreichend, »haben Sie ein Dokument, welches den Ruf jener Dame gegen diese Verunglimpfung schützt. Ehe Sie indessen dasselbe öffnen, muß ich Ihnen sagen, wie ich dazu gekommen bin.«

Da es ihm große Verlegenheit zu bereiten schien, den Gegenstand zu berühren, so bemerkte der Rechtsanwalt:

»Ich bin bereits mit einigen von den Umständen, auf die Sie Bezug nehmen wollen, bekannt; kenne z. B. die Wette, welche die Verleumdung veranlaßte, und die Weise, in welcher dieselbe entschieden wurde. Um was ich Sie bemühen muß, ist nur, mir das, was folgte, zu beschreiben.«

Baccani machte aus der Erleichterung, die er nach diesen Worten fühlte, kein Geheimniß »Ich empfinde« sagte er, »Ihre Freundlichkeit ebenso wie das Schimpfliche der Handlung, daß ich den Ruf einer Frau zum Gegenstande einer Wette machen ließ. Von wem haben Sie Ihre Auskunft?«

»Aus derselben Quelle, aus welcher ich Ihren werthen Namen erfuhr —— von Doktor Benjulia.«

Mit einer Gebärde entrüsteter Abwehr erhob Baccani die Hand. »Erwähnen Sie dessen vor mir nicht wieder, Mr. Mool!« rief er. »Dieser Mensch hat mich beleidigt. Als ich hier in England vor politischer Verfolgung Schutz suchte, schickte ich ihm meinen Prospekt. Von meiner bescheidenen Stellung als Sprachlehrer sah ich ohne Neid zu dem Range empor, den er unter den Aerzten einnahm, und dachte, er würde sich vielleicht nicht ungünstig unserer früheren Freundschaft erinnern —— jener Zeit, wo ich ihm hunderte von Gefälligkeiten gethan. Er aber hat auch nie die geringste Notiz von mir genommen, nicht einmal etwas über den Empfang meines Prospektes verlauten lassen. Erwähnen Sie dieses Verächtlichen nicht wieder.«

»Bitte, verzeihen Sie, wenn ich noch einmal —— zum letzten Mal —— auf ihn zurückkomme,« entgegnete Mr. Mool höflich. »Hatten Sie nach Entscheidung der Wette noch länger Umgang mit ihm?«

»Nein, mein Herd« antwortete Baccani. »Als ich einige Tage darauf Muße hatte, wieder den Klub aufzusuchen, in welchem wir uns gewöhnlich trafen, hatte er Rom verlassen, seit der Zeit habe ich ihn —— wie ich zu meiner Freude sage —— nie wieder gesehen.«

Damit war also erklärt, weshalb Benjulia nichts von der Widerlegung der Verleumdung erfahren hatte. Das Nächste war also nur noch, zu erfahren, wie Baccani zu der Widerlegung gekommen war. »Wollen wir nun zu dem Manuskripte zurückkehren, das Sie mir zu lesen erlauben?« fragte er.

»Sehr gern. Meine Stellung in der Sache ist leicht erklärt. Ich hatte mir vorgenommen, erst das Gesicht der Frau zu sehen, ehe ich glauben wollte, daß eine achtenswerthe verheirathete Dame sich mit einem Elenden kompromittiert hätte, der damit geprahlt hatte, daß sie seine Geliebte wäre. Deshalb wartete ich in der Straße, bis die Frau herauskam, folgte ihr und sah sie einen Mann treffen, mit dem sie in ein Theater ging. Ich nahm einen Platz in ihrer Nähe, und als sie den Schleier in die Höhe zog, ward mein Argwohn, daß hier eine Täuschung vorläge, bestätigt. Nach der Vorstellung folgte ich ihr wieder bis zum Hause Mr. Graywells, der mit seiner Frau in Gesellschaft abwesend war. Meine Entrüstung ließ mich die Rückkehr derselben nicht erwarten, und unter der Drohung, die Person anzuzeigen, weil sie die Kleider ihrer Herrin gestohlen, nöthigte ich sie zu dem schriftlichen Geständnisse, welches Sie da in Händen haben. Wegen frechen Betragens gegen ihre Herrin war ihr der Dienst gekündigt worden, und das falsche Spiel, das mich hatte täuschen sollen, war ein zwischen ihr und dem Schurken, der sie benutzt hatte, um seiner Lüge den Schein der Wahrheit zu geben, abgekarteter Racheakt. Eins muß ich noch hinzufügen, ehe Sie das Geständniß lesen. Mrs. Graywell sandte ihm unklugerweise etwas Geld, weil er es verstanden hatte, in einem Bittschreiben ihr Mitleid zu erregen. Als er dann zum zweiten Male mit derselben Bitte kam, wies ihn ihr Mann ab —— und was darauf folgte, wissen Sie bereits.«

Als Mr. Mool das Geständniß gelesen hatte, erlaubte ihm Baccani, eine Abschrift davon zu nehmen und jeden gewünschten Gebrauch von derselben zu machen. Der Rechtsanwalt wünschte dann nur noch zu wissen, was aus dem Menschen geworden wäre, der den Betrug angestiftet hatte.

»Der Schurke ist doch jedenfalls seiner Strafe nicht entgangen,« meinte er.

Baccani antwortete in seiner bitteren Weise: »Bester Herr, wie können Sie eine so simple Frage stellen? Diese Art Menschen entgehen immer der Bestrafung, und in der äußersten Armuth führt Ihnen das Glück noch immer Jemanden zu, den sie betrügen können. Gewöhnliche Achtung gegen Mrs. Graywell schloß mir die Lippen, und ich war der Einzige, der' die Umstände kannte. In einem Schreiben an den Klub erklärte ich den Menschen für einen Betrüger —— die Auslegung zulassend, daß er beim Kartenspiel betrüge. Er hütete sich, eine Erklärung meinerseits zu fordern, trat aus und verschwand. Wahrscheinlich lebt er noch; was schön und gut ist, stirbt frühzeitig dahin, solches Gelichter aber wuchert fort.«

Mr. Mool hatte weder Zeit noch Neigung, für den hoffnungsvolleren Glauben an die angenehme Fiktion der »poetischen Gerechtigkeit« einzutreten. Er versuchte beim Scheiben seiner Verbindlichkeit Ausdruck zu geben, Baccani aber wollte nichts davon hören.

»Die Verpflichtung ist ganz auf meiner Seite,« sagte er. »Ihr Besuch ist mir wie ein Sonnenstrahl gewesen. Möglich, daß wir uns auf unserer Pilgerfahrt durch diese Welt voll Schurken und Narren nie wieder begegnen; dann lassen Sie uns dankbar daran erinnern, daß wir uns einmal getroffen haben. Leben Sie wohl.«

So schieden sie. In sein Büreau zurückgekehrt, legte Mr. Mool der Abschrift des Geständnisses eine kurze Darlegung der Umstände bei, unter welchen der Italiener in den Besitz desselben gekommen war, und sandte dies mit folgenden Zeilen an Benjulia: »Durch Sie ist das falsche Gerücht in Umlauf gekommen. Ich überlasse es Ihrem Pflichtgefühl, ob Sie zu Mrs. Gallilee gehen wollen, um derselben zu sagen, daß die von Ihnen wiederholte Nachrede sich als Lüge herausgestellt hat. Sollten Sie nicht diese Absicht haben, so muß ich selbst zu ihr gehen und bitte Sie in diesem Falle, mir die beiliegenden Papiere durch den Ueberbringer wieder zurückzuschicken.«

Der Schreiber wurde angewiesen, den Auftrag so schnell als möglich zu besorgen, und Mr. Mool erwartete die Rückkehr desselben in seinem Büreau.

Des Doktors liebenswürdige Laune war noch im Steigen, denn zu seinem Erfolge im Quälen der unglücklichen Köchin war noch ein Telegramm von seinem Freunde in Montreal gekommen mit der befriedigenden Antwort: »Keine Gehirnkrankheit.« Und jetzt, da sein Gemüth beruhigt war, hatte auch der Gentleman in ihm wieder freie Bewegung und er schrieb an Mr. Mool zurück: »Ich bin vollständig Ihrer Meinung; die Droschke Ihres Schreibers wird mich vor Mrs. Gallilee's Thür absetzen.«

Als der Rechtsanwalt diese Antwort gelesen hatte, fragte er den Schreiber: »Warteten Sie, um zu hören, ob Mrs. Gallilee zu Hause war?«

»Dieselbe war zu einer Vorlesung gegangen.«

»Und was that Doktor Benjulia?«

»Er ging ins Haus, um ihre Rückkehr abzuwarten.«


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