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Herz und Wissen



Capitel XXXIX.

Sie sehen ganz erhitzt aus«, sagte der Doctor in herzlichem Tone zu seinem Besucher, als er wieder in’s Zimmer trat. »Nehmen Sie einen Trunk. Altes englisches Ale vom Faß.« Dabei schenkte er mit gastfreundlicher Zuvorkommenheit die perlende Flüssigkeit in einen großen Krug.

Mr. Mool war von der guten Laune des Doctors —— die qualitativ durch die Erinnerung an die Scene mit der Köchin noch vermehrt worden —— des höchsten und angenehmsten überrascht. »Ich wohne in der Vorstadt an dieser Seite Londons, Herr Doctor«, erklärte er, »und habe von meinem Hause bis hier einen hübschen Spaziergang gehabt. Wenn ich Sie gerade am Sonntag besuche, so geschieht das, weil ich die Woche über von Geschäften in Anspruch genommen werde ——«

»Schon recht. Ein Tag ist so gut wie der andere, vorausgesetzt, daß man mich nicht stört; und Sie stören mich jetzt nicht. Rauchen Sie?«

»Nein, ich danke«

»Ist es Ihnen nicht unangenehm, wenn ich rauche?«

»Ich habe es sogar gern, Herr Doctor.«

»Sehr liebenswürdig von Ihnen. Wie, sagten Sie, sei Ihr werther Name?«

»Mool.«

Benjulia sah ihn argwöhnisch an. »Sie sind kein Arzt —— wie?«

»Ich bin Rechtsanwalt.«

Nun war eins von den wenigen allgemeinen Vorurtheilen, die Benjulia mit seinen untergeordneteren Mitmenschen theilte, das gegen die Advokaten. Seine Feiertagslaune mußte wirklich ihren Gipfelpunkt erreicht haben, wenn er einem solchen, ihm fremden, erlaubte, in seinem Zimmer zu bleiben und mit ihm zu sprechen!

»Herren Ihres Berufes«, meinte er, »machen Leuten, die sie nicht kennen, nie Besuche ohne dabei besondere Absichten zu verfolgen. Sie wünschen etwas von mir, Mr. Mool. Um was handelt es sich?«

»Ich nahm mir die Freiheit, bei Ihnen vorzukommen, infolge einer kürzlich von Mrs. Gallilee in meinem Bureau gemachten Behauptung«, sagte Mr. Mool, den sein professioneller Takt warnte, die Zeit mit einleitenden Phrasen zu vergeuden.

»Halt!« rief Benjulia. »Ich muß sagen, Ihr Anfang gefällt mir nicht. Ist es nothwendig, den Namen dieser alten V——l zu erwähnen?« Er gebrauchte eine Bezeichnung, die den Rechtsanwalt frappierte.

»Wirklich, Herr Doctor!«

»Das heißt, Sie müssen durchaus von ihr sprechen?«

»Nun, sagen wir, daß ich das meinte«, antwortete Mr. Mool lächelnd.

»Dann fahren Sie fort und erledigen Sie, bitte, die Sache schnell. Sie machte also eine Behauptung in Ihrem Bureau —— heraus damit, Verehrtester. Hat dieselbe etwas mit mir zu thun?«

»Sonst würde ich mir nicht die Freiheit genommen haben, Herr Doctor.« Und dann erzählte Mr. Mool kurz und klar Alles, was zwischen ihm und Mrs. Gallilee vorgegangen war.

Beim Beginn des Berichtes stellte Benjulia ärgerlich die Pfeife bei Seite und war auf dem Punkte, den Advokaten zu unterbrechen. Aber er wurde anderer Meinung, beherrschte sich und hörte ihn schweigend an.

»Ich hoffe, Herr Doctor«, so schloß Mr. Mool, »daß Sie mein Motiv nicht falsch auffassen werden. Es ist die reine Wahrheit, wenn ich Ihnen sage, daß ich mich für das Wohlergehen Miß Carmina’s interessiere. Ich hegte für ihre Eltern die aufrichtigste Achtung und Zuneigung. Sie kannten dieselben ja auch; es waren gute Leute. Es wird Ihnen sicherlich leid thun, wenn Sie ein falsches Gerücht unüberlegt wiederholt haben. Wollen Sie mir nicht behilflich sein, das Andenken der Mutter von diesem abscheulichen Flecke zu reinigen?«

Nachdem Benjulia eine Zeit lang schweigend geraucht hatte, sagte er endlich: »Sie sind ein Mann in mittleren Jahren, und ich nehme an, daß Sie einige Erfahrung mit den Frauen gemacht haben.«

Mr. Mool erröthete. »Ich bin verheirathet, Herr Doctor«, entgegnete er ernst.

»Sehr wohl, dann haben Sie also Erfahrung —— von einer Art. Wissen Sie, wie geschickt die Frau den Mann nehmen kann, wenn er nicht bei Laune ist und sie etwas von ihm haben will; wie sie ihn so lange plagt, bis er Alles zu thun im Stande ist, damit sie ihn nur in Ruhe läßt? Auf solche Weise kam ich dazu, Mrs. Gallilee das zu sagen, was sie Ihnen erzählt hat.«

Nach einigen Zügen aus der Pfeife fuhr er wieder fort:

»Ich behaupte nicht, ein Interesse für das Mädchen zu empfinden; wenn Sie übrigens das, was ich Ihnen jetzt sagen will, zu ihren Gunsten verwerthen können, thun Sie es. Dieser Scandal begann mit dem Renommieren eines meiner Studiencollegen in Rom, den es ärgerte, daß ich und noch Jemand ihn auslachten, als er sich für den Liebhaber Mrs. Graywell’s ausgab. Derselbe bot uns eine Wette an, daß wir noch an demselben Abend die Frau allein in seinem Zimmer sehen sollten. Und hinter einem Vorhange versteckt, sahen wir sie dort. Ich bezahlte das Geld, welches ich verloren hatte, und verließ Rom bald darauf. Der Andere weigerte sich zu zahlen.«

»Aus welchem Grunde?« fragte Mr. Mool begierig.

»Weil sie einen dichten Schleier trug und das Gesicht nicht zeigte.«

»Das war ein stichhaltiger Einwand, Herr Doctor!«

»Mag sein; ich für meine Person war nicht der Ansicht. Denn ich hatte Mrs. Graywell zwei Stunden vorher auf der Straße getroffen, wo sie einen Anzug von damals auffallender Farbe —— einer Art Seegrün —— mit einem dazu passenden Hute getragen hatte, den jeder ansah, weil derselbe nicht halb so groß war wie die damaligen großen Modehüte. Es war ganz dieselbe auffallende Kleidung und dieselbe große Figur und jeder Irrthum ausgeschlossen, als ich sie wieder im Zimmer meines Collegen sah. Deshalb bezahlte ich die Wette.«

»Wissen Sie noch den Namen des andern Herrn, der sich weigerte zu bezahlen?«

»Er hieß Egisto Baccani.«

»Haben Sie seitdem wieder etwas von ihm gehört?«

»Jawohl. Derselbe kam in politische Verwickelungen und floh wie die Uebrigen nach England; wo er sich, wie sie alle, seinen Unterhalt durch Sprachunterricht verschaffte. Er schickte mir seinen Prospect —— so erfuhr ich wieder etwas von ihm.«

»Haben Sie den Prospect noch?«

»Der ist längst zerrissen.«

Mr. Mool schrieb den Namen in sein Notizbuch und fragte: »Weiter können Sie mir nichts sagen?«

»Nein, nichts.«

»Empfangen Sie dann meinen besten Dank, Herr Doctor Guten Morgen.«

»Wenn Sie Baccani auffinden, so lassen Sie mich es wissen. Wollen Sie nicht noch einen Schluck Ale? Sehen Sie Mrs. Gallilee bald?«

»Ja —— wenn ich Baccani finde.«

»Spielen Sie je mit Kindern?«

»Ich habe selbst fünf zum Spielen«, antwortete Mr. Mool.

»Fragen Sie doch nach dem jüngsten Mädchen, wenn Sie Mrs. Gallilee besuchen —— wir nennen sie Zo; legen Sie derselben den Finger auf das Rückgrat —— hier, eben unter dem Halse, und drücken Sie die Stelle —— so. Und wenn sie sich windet, so sagen Sie ihr, der große Doctor ließe grüßen.«

Bei seiner Rückkehr nach seiner Wohnung war Mr. Mool überrascht, einen offenen Wagen vor dem Gartenthore halten zu sehen, in welchem ein elegant gekleidetes Mädchen auf dem Rücksitze saß, die ihn mit unruhigem Aussehen betrachtete und zu ihm sagte: »Wollen Sie die Güte haben, Miß Carmina zu sagen, daß wir wirklich nicht länger warten dürfen?«

Die Unruhe des Mädchens spiegelte sich auf Mr. Mool’s Gesichte wieder, denn derselbe sagte sich, daß dieser Besuch Carmina’s in seiner Privatwohnung keinen gewöhnlichen Anlaß haben könne, und er fürchtete, daß Mrs. Gallilee mit derselben von ihrer Mutter gesprochen haben könnte.

Als er aber noch vor seinem Eintritt in den Salon Carmina mit seiner Frau und seinen Töchtern sprechen hörte, verschwand diese Besorgniß.

»Kann ich eben ein Wörtchen mit Ihnen sprechen?« fragte Carmina.

Er führte sie in sein Arbeitszimmer. Sie war schüchtern und verwirrt, aber durchaus nicht ärgerlich oder bekümmert.

»Wenn es schönes Wetter ist«, sagte sie, »schickt mich meine Tante jeden Tag im Wagen aus. Und da wir hier vorüberfuhren, so dachte ich, ich könnte Sie um etwas fragen.«

»Gewiß, meine Liebe. Fragen Sie, so viel Sie wollen.«

»Es handelt sich um gesetzliche Sachen. Meine Tante sagt, sie habe jetzt die Autorität über mich, die mein seliger Vater früher gehabt habe. Ist das wahr?«

»Jawohl.«

»Wie lange ist sie meine Vormünderin?«

»Bis Sie einundzwanzig Jahr alt sind.«

Aus Carmina’s Gesicht verschwand der Anflug von Farbe. »Also vielleicht noch mehr als drei Jahre des Leidens!« sagte sie traurig.

»Des Leidens? Was meinen Sie damit, liebes Fräulein?«

Sie wurde noch bleicher und antwortete eine Zeit lang nicht. Dann sagte sie zaghaft: »Noch eins möchte ich wissen. Würde meine Tante noch meine Vormünderin bleiben, wenn —— wenn ich mich verheirathete?«

»In diesem Falle«, antwortete der Rechtsanwalt, die Augen ernst und forschend auf sie richtend, »wäre Ihr Gatte der Einzige, dem eine Autorität über Sie zustände. Das sind ziemlich sonderbare Fragen, Carmina. Wollen Sie mir nicht Ihr Vertrauen schenken?«

Sie ergriff in plötzlicher Bewegung seine Hand und küßte dieselbe.

»Ich muß fort!« sagte sie. »Ich habe den Wagen schon zu lange warten lassen.«

Damit eilte sie hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.


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